Autor: Stefan Niggemeier

Das Zeitungs-Präteritum II

„Futur II“ nennt der Linguist die Verbform, die anzeigt, dass in der Zukunft etwas Vergangenheit ist („er wird gelesen haben“).

Zeitungsjournalisten kennen noch Aufregenderes: Formulierungen, die anzeigen, dass in der Vergangenheit etwas Zukunft ist. Das ist für ein Medium, bei dem Produktion und Rezeption relativ weit auseinanderliegen, gelegentlich notwendig, um über Dinge zu schreiben, die erst nach Redaktionsschluss stattfinden, aber zum Zeitpunkt des Lesens schon passiert sind.

Wie schillernd diese Form sein kann, demonstriert uns heute die „Berliner Morgenpost“ mit einem Artikel über Annemarie Eilfeld:


Mal abgesehen von der erstaunlichen Lust am Detail (das geht noch einige Zeilen so weiter): Der Artikel richtet sich also an Menschen, die kein Internet, kein Radio, keinen Fernseher und keine Freunde haben, sich aber so sehr für die Fernsehshow „Deutschland sucht den Superstar“ interessieren, dass sie genau wissen wollen, was die Kandidaten am Samstagabend im Halbfinale getragen haben, und zwar so dringend, dass sie nicht bis Montag abwarten wollen, wenn ihnen ihre Lieblingszeitung verraten könnte, wie es war, sondern schon am Sonntag erfahren wollen, wie es hätte werden können?

Das nenn ich mal Leserservice.

Katja Burkard

Die eine Möglichkeit ist, dass Katja Burkard irgendein dunkles Geheimnis über RTL kennt, das niemals an die Öffentlichkeit kommen darf und mit dem sie die Verantwortlichen erpresst. Es wäre eine vergleichsweise plausible Erklärung, warum sie seit dreihundert Jahren das Mittagsmagazin „Punkt 12“ moderieren darf.

Sie steht als eine Art Rauschgoldengelroboter in der Kulisse einer Nachrichtensendung und meldet mit großer Ernsthaftigkeit über Britney Spears: „Die 27-Jährige ist ziemlich mopsig geworden.“ Das würde allein schon für eine „Punkt 12“-Reportage samt Straßenumfrage reichen, aber diesmal kommt hinzu, dass während eines Auftrittes der Sängerin ihr Tamponbändchen zu sehen war. „Punkt 12“ dokumentiert das in Großaufnahme, Zeitlupe und mit rotem Pfeil, und Katja Burkard sagt: „peinlich, peinlich, peinlich“.

Wenn ein Beitrag läuft wie der über schlimme Vorwürfe gegen eine Kita, nimmt sie sich hinterher eine Sekunde Zeit, um fassungslos auf den Monitor zu schauen, bevor sie fassungslos den Kopf schüttelt und sicherheitshalber hinzufügt: „Man fasst es nicht.“ Nach süßen Tierfilmen sagt sie: „süß“, und das ist süß, weil sie einen Sprachfehler hat und S-Laute immer so sehr verzischt, dass man denkt, sie könne alles werden außer Fernsehmoderatorin.

Gelegentlich passieren allerdings Sachen, die noch krasser sind, als dass Prinz Charles zu spät zu einer Ausstellungseröffnung kommt. Amokläufe zum Beispiel. Dann muss Katja Burkard – trotz Sprachfehler und allem – Dinge tun, für die sie gar nicht programmiert ist. Bei Winnenden führte sie mehrere traumatische Gespräche mit einer hoffnungslos überforderten RTL-Reporterin vor Ort; am Donnerstag musste sie ahnungslos Bilder kommentieren, wie ein Autofahrer in den Niederlanden in eine Menschenmenge raste, und plapperte: „Hier sehen wir, wie einer durch die Luft flog, regelrecht . . . Auf jeden Fall ist hier ein großes Tohuwabohu . . .“

In den Nachrichten am Abend moderierte Peter Kloeppel einen Beitrag zum Thema mit den Worten an: „Mein Kollege hat die schlimmsten Bilder herausgeschnitten, dennoch bleiben viele Szenen verstörend.“ Wie nett. Zur Mittagszeit hatte RTL die schlimmsten Bilder von blutenden Körpern und über die Straße schleudernden Menschen weder herausgeschnitten noch vor ihnen gewarnt. Direkt zuvor informierte der Sender seine jungen Zuschauer über Neues von den „DSDS“-Kandidaten, direkt danach lockte Katja Burkard goldig mit tausend Euro, wenn jemand wisse, ob der Mai der „Wonne-“ oder der „Wannemonat“ sei.

Die andere Möglichkeit ist, dass man bei RTL irgendein dunkles Geheimnis über Katja Burkard kennt, das niemals an die Öffentlichkeit kommen darf und mit dem man sie zwingt, diese Sendung zu moderieren.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ein grofef Tohuwabohu

Am Schlimmsten ist es, wenn sich Unglücke und Verbrechen zwischen zwölf und 14 Uhr ereignen, während der Sendezeit des RTL-Mittagsmagazins „Punkt 12“. Die Live-Berichterstattungs-Katastrophe vom Amoklauf in Winnenden war, wie es in diesem Genre gerne heißt, kein Einzelfall.

Um 12:25 Uhr kamen gestern die ersten Meldungen, dass bei den Feiern zum Königinnentag in Apeldoorn ein Auto in die Menge gerast sei und mehrere Menschen verletzt habe. Um 12:48 Uhr brachte „Punkt 12“ Bilder. Ohne Vorwarnung zeigte der Film ungeschnittene Aufnahmen von den Verletzten und Toten: Körper, die über den Asphalt geschleudert werden, blutende Menschen auf den Straßen, die ersten Sekunden, in denen sich Polizisten über die Opfer beugen und ihnen für Wiederbelebungsversuche die Hemden aufreißen, alles live kommentiert von der ahnungslosen Katja Burkard.

Ich habe mich entschieden, den Ausschnitt nur als Audio und nicht als Video zu dokumentieren. Nicht, weil RTL Probleme damit hat, das Zitatrecht anzuerkennen, und vermutlich versuchen würde, dagegen vorzugehen. Sondern weil ich glaube, dass sich die besondere Qualität der „Punkt 12“-Berichterstattung auch so erschließt. ((Wenn Sie genau wissen wollen, wie es auf einer Straßenszene nach so einem Anschlag aussieht, versorgen Sie die Online-Medien dazu freundlicherweise mit ungezählten Großaufnahmen — mehr dazu bei Lukas.)) Um einen Eindruck davon zu vermitteln, in welchem programmlichen Umfeld sich ein solches Unglück bei RTL ereignet, habe ich den Ausschnitt etwas länger gewählt.

[audio:http://www.stefan-niggemeier.de/blog/wp-content/punkt12.mp3]

Medien im Blutrausch (2)

Zugegeben: Die Hoffnung, dass Politiker wie der bayerische Innenminister Joachim Herrmann oder Journalisten wie der „Tagesspiegel“-Krawallkommentator Malte Lehming für die im folgenden genannten Argumente zugänglich sein könnten, stellt selbst meinen Glauben an die Kraft der Aufklärung auf eine harte Probe.

Trotzdem.

Matthias Dittmayer schreibt mir:

Ich hatte vor etwas längerer Zeit frustriert von der sogenannten Berichterstattung über „Killerspiele“ ein Youtube-Video veröffentlicht, das durch den Blogeintrag „Medien im Blutrausch“ ein voller Erfolg wurde. 1,5 Millionen Zugriffe, Artikel in der „Welt“, dem „Tagesspiegel“ und sogar eine kleine Meldung in der „FAZ“. Dachte ich mir zumindest. Jetzt nach Winnenden ist alles schlimmer als zuvor. Journalisten, Polizisten, Politiker und Wissenschaftler geben mehr Schwachsinn von sich als je zuvor. Und ihnen wird geglaubt. So sprang der „Focus“ mit dem Artikel „Killt die Killerspiele“ und viele anderen Formate auf die allgemeine Hetze an. Was haben z.B. diese Aussagen gemeinsam:

— Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Hessen, Heini Schmitt:

„Es ist bekannt, dass in allen Fällen, in denen es zu Amokläufen kam, die Täter einen ausgeprägten Hang zu sogenannten Killerspielen hatten. […] Die Welt wird nicht ärmer, wenn es keine Killerspiele mehr gibt.“

„Tagesspiegel“, Malte Lehming:

„Es ist kein Zufall, dass Killerspiele ursprünglich in Militärkreisen entwickelt wurden, um Soldaten emotionsloser, sprich: effektiver, zu machen.“

Sie sind in jeglicher Hinsicht falsch. Das interessiert aber niemanden. Die Bahn stellt Werbung für „Killerspiele“ ein, Galeria Kaufhof hat Spiele mit einer höheren Freigabe als „ab 16“ aus dem Sortiment genommen, Media Markt aus den Regalen, und die „ab 16“ zum Teil gleich mit. Vor dem Kauf eines Killerspieles werden nun Name und Anschrift der wohl potentiellen Amokläufer erfasst, ohne rechtlich wohl erforderliche Einwilligung. In Stuttgart und Nürnberg wurden Veranstaltungen der ESL (quasi die Bundesliga der Videospiele) untersagt, da dort CounterStrike gespielt wird. Die Medien zeigen ihre Macht, die Wahrheit ist dabei unerheblich.

Ich habe ein neues Video gemacht, das Aussagen wie die obigen als das entlarvt, was sie sind. Schlichtweg falsch. Ich finde es übrigens bedauerlich, dass man sowas kaum in den etablierten Medien findet. Schließlich studiere ich Rechtswissenschaften, und verständlich, geschweige denn ansprechend zu schreiben, ist nun wahrlich keine Qualifikation eines Juristen.

Hier ist seine neue „Gegendarstellung“:

Deutschland, ein Stilblütenmeerchen

Manchmal, wenn ich keine Lust zum Arbeiten habe, klicke ich mich durch das Internet-Angebot von RTL. Da gibt es immer was zu entdecken. RTL.de ist mit über 1,5 Millionen Visits am Tag eines der erfolgreichsten Online-Angebote in Deutschland und schafft das durch konsequenten Verzicht auf Qualität.

Ich bin immer versucht, die Texte, die dort erscheinen, dadurch zu erklären, dass sie von indischen Kindern neben ihrer Teppichknüpfarbeit geschrieben werden, aber dann wären sie besser. Wahrscheinlicher ist die Theorie, dass es sich um Rückübersetzungen aus dem Klingonischen handelt.

Mein aktueller Favorit ist das „60 Jahre BRD“-Special von „RTL aktuell“. Man täte ihm Unrecht, wenn man es auf die schlichten Fehler reduzierte wie die These, dass der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder 1998 wegen der Oderflut im Vorjahr Bundeskanzler wurde:

Gerhard Schröder allerdings rettete sein Krisenmangement die Wahl 1998. Durch seine Tätigkeit als Krisenmanager wurde auch der damalige brandenburgische Minister für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung, ’Deichgraf’ Matthias Platzeck, bundesweit bekannt.

Beeindruckend ist vielmehr die Kunst, aus den Möglichkeiten, die die deutsche Sprache bietet, konsequent immer jene zu wählen, die einen Sachverhalt so haarscharf nicht ganz trifft, dass es sich schlimmer liest, als wäre es völlig daneben:

Jemand, der viele deutsche Formulierungen schon mal gehört, aber nie richtig verstanden hat, schreibt über Dinge, von denen er schon mal gehört, die er aber nicht richtig verstanden hat.

1999 fegte der Orkan Lothar über Süddeutschland. Er gilt bis heute als Zeichen des Klimawandels. Immer heftigere Stürme in Mitteleuropa setzen den verliebenen Wäldern zu.

Bestenfalls liest es sich, als hätte jemand in der Redaktion aus dem Bestücken der Rubrik einen Wettbewerb gemacht und zum Beispiel gerufen: „Die Geschichte der deutschen Kanzler in einem Satz!“, und wer als erstes antwortete, bekam den Zuschlag:

Von Adenauer bis Merkel - Die deutschen Kanzler: Adenauer führte Deutschland nach Westen, Brandt nach Osten, Merkel ist die erste Frau im Amt und Alt-Kanzler Schmidt mittlerweile eine Ikone.

„Willy Brandts Biographie in drei Sätzen, passend zu einem Foto von ihm im Zug!“?

Brandt führte ein bewegtes Leben. Er floh vor den Nazis nach Skandinavien, wurde norwegischer Staatsbürger. Auf dem Foto sehen Sie ihn auf dem Weg nach Erfurt, wo er DDR-Ministerpräsident Willi Stoph traf und von den DDR-Bürgern begeistert empfangen wurde.

Manche Formulierungen klingen zunächst wie aus einem Privatfernseh-Wetterbericht und enthüllen ihre ganze vage, Metaphern mischende Schönheit erst beim zweiten oder dritten Lesen:

1945-49: Der Weg zur Staatsgründung. Die zunehmende Verhärtung der Fronten zwischen West und Ost seit der Konferenz von Potsdam im Sommer 1945 bestimmte den Weg in die Teilung des Deutschen Staates. Eine Einigung bezüglich der Rolle Deutschlands rutschte bis 1949 in immer weitere Ferne.

Im Abschnitt über Konrad Adenauer erfährt man erstaunliche Neuigkeiten über einen amerikanischen Präsidenten:

(Gut, dass JFK Katholik war, ist bekannt.)

Gelegentlich flüchtet sich die Formulierungsschwäche überraschend in Meinungsstärke:

Merkel stellt sich im September zum ersten Mal zur Wiederwahl. Anfangs sammelte sie große Lorbeeren, doch in der derzeit herrschenden Finanzkrise erweist sie sich nicht als führungstauglich. Angela Merkel (2005 - ?)

Unter die Überschrift „Negative Momente der BRD-Geschichte“ bzw. „Die trüben Momente unserer Republik“ hat rtl.de auch die Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss, gegen die Startbahn West („Der Flughafenausbau war unvermeidlich, doch es gab militante Gegner, die ein Lager im Kelsterbacher Wald errichteten“) und gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf einsortiert. Und dann:

Mit dem Amoklauf von Winnenden (16 Toten) endet dieser Rückblick auf die Unglücke und weniger schönen Ereignisse aus 60 Jahren BRD.

(Muss ich dazu sagen, dass das zugehörige Foto nicht Winnenden zeigt?)

Und wo bleibt das Positive, das extrem Positive? Hier:

Die WM in Deutschland zeigte der Welt: Die Deutschen können friedlich feiern, Party machen und sind dabei extrem gastfreundlich. Im Ausland verankerte sich ein neues Bild des Ordnung liebenden humorlosen Deutschen. Ein extrem positives.

Nachtrag, 13:30 Uhr. Ein paar der oben genannten Formulierungen hat RTL.de geändert. Keine Sorge: Die meisten Stilblüten blühen weiter, aber JFK ist zum Beispiel nicht mehr so leicht mit Adenauer zu verwechseln, das Foto zu Winnenden zeigt nicht mehr Erfurt, und über Angela Merkel heißt es jetzt: „Anfangs sammelte sie große Lorbeeren, doch in der derzeit herrschenden Finanzkrise werfen ihr Kritiker ein zögerliches Verhalten vor.“

Im Zweifel hat sich „RTL aktuell“ für den Zweifel entschieden. Über Orkan Lothar ist nun zu lesen: „Ob Klimawandel oder nicht: Immer heftigere Stürme in Mitteleuropa setzen den verbliebenen Wäldern zu.“

Und was die Oderflut 1997 angeht, behauptet RTL.de sicherheitshalber nur noch, dass sie Gerhard Schröder „möglicherweise“ die Wahl 1998 gerettet hat. Noch wahrscheinlicher ist natürlich, dass es weder die Oder noch 1997 war.

Nachtrag, 22.15 Uhr. Jetzt geht RTL.de kein Risiko mehr ein und hat den ganzen Absatz über die politische Dimension der Oderflut 1997 ersatzlos gestrichen — mitsamt dem eigentlich richtigen Verweis auf die Rolle Platzecks. Aber was sollen die „RTL aktuell“-Leute auch machen? Sowas nachschlagen??

Happiness Is A Sticky Note

Schauen Sie sich an, was die Jungs von EepyBird mit Post-its machen:


EepyBird’s Sticky Note experiment from Eepybird on Vimeo.

Und jetzt schauen Sie sich an, wie sich Art Fry, der Erfinder des Post-its, anschaut, was die Jungs von EebyBird mit Post-its machen:


Post-it Note inventor watches Sticky Note Experiments from Ironic Sans on Vimeo.

Und wenn Sie jetzt kein breites, glückliches Grinsen auf dem Gesicht haben, kann ich Ihnen auch nicht helfen.

(Die Jungs von EepyBird können übrigens auch erstaunliche Sachen mit Cola Light und Mentos machen.)

[via „Ironic Sans“]