Autor: Stefan Niggemeier

Fakten sind nicht der GEMA liebstes Kind

Die GEMA hat eine Pressemitteilung veröffentlicht. Sie trägt den Titel: „Umfrage bestätigt: Musik ist der Deutschen liebstes Kind“, und natürlich könnte man hier schon wegen Beklopptheit aufhören zu lesen. Aber die Art, wie die GEMA dann die Ergebnisse einer Meinungsumfrage, die sie bei TNS Infratest in Auftrag gegeben hat, manipuliert, ist durchaus subtil und perfide.

Die GEMA fasst die Ergebnisse so zusammen:

Eine Umfrage von TNS Infratest im Auftrag der GEMA bestätigt, dass Musik in Deutschland einen hohen Stellenwert genießt. Für 38 Prozent der Befragten steht Musik an erster Stelle der Kulturbereiche. Auch der Wert der Musik wird anerkannt: 90 Prozent halten es für wichtig, dass Musikschaffende angemessen für ihre schöpferische Leistung bezahlt werden. Als angemessene Vergütung bei Veranstaltungen nennen die Deutschen im Durchschnitt 30 Prozent der Einnahmen aus Eintrittskarten.

Auf die „liebstes Kind“-Formulierung kommt die GEMA, weil sie den „persönlichen Stellenwert“ von „Musik“ im Vergleich zu „Literatur“, „Film“ und „Bildender Kunst“ verglichen hat. Dass sich 90 Prozent der Deutschen für eine „angemessene“ Vergütung der „Musikschaffenden“ ausgesprochen haben, stimmt genau genommen übrigens nicht. Sie haben bloß gesagt, dass sie es „angemessen“ finden, dass Komponisten und Texter eine Vergütung bekommen. Aber darum soll es hier gar nicht gehen.

Um sich ihre umstrittene Tarifreform scheinlegitimieren zu lassen, hat die GEMA die Menschen gefragt:

Wenn Sie eine Musikveranstaltung besuchen, welcher prozentuale Anteil am Eintrittsgeld sollte für die Komponisten und Textdichter bestimmt sein?

Die angeblichen Antworten fasst die GEMA wie folgt zusammen:

30,1 Prozent des Eintrittsgeldes halten die Befragten für eine angemessene Vergütung der kreativen Leistung der Urheber. Auch hier messen die Jüngeren der Musik den höheren Stellenwert bei: Die 14- bis 29-Jährigen fordern mit 33,7 Prozent mehr als der Durchschnitt aller Befragten.

Diese Sätze sind falsch. Die Prozentangaben beziehen sich nämlich nicht auf die Gesamtheit der Befragten, sondern nur auf diejenigen, die eine Frage zuvor angegeben hatten, dass sie es grundsätzlich für angemessen halten, dass Komponisten und Texter für ihre Arbeit entlohnt werden.

Die 9 Prozent der Befragten, die gar nicht der Meinung waren, dass Komponisten und Texter entlohnt werden müssten, sind praktischerweise in der Berechnung des durchschnittlich für „angemessen“ gehaltenen Anteils vom Eintrittsgeld gar nicht mehr enthalten. Mit anderen Worten: Die GEMA gibt einen Durchschnittswert an, der all jene, die die von ihr unerwünschte Antwort „null“ gegeben haben, gar nicht berücksichtigt. Bei den 14- bis 29-jährigen, die der Musik angeblich einen ganz besonderen Stellenwert beimessen, sind das sogar 12 Prozent der Befragten.

Schaut man sich die Angaben im Detail an, wird die Behauptung, es gebe eine Art Konsens unter den Deutschen, dass gut 30 Prozent des Eintrittsgeldes bei einer Musikveranstaltung an die Urheber gehen sollte, noch weniger tragfähig. Immerhin 56 Prozent der Befragten haben nämlich Anteile von weniger als 31 Prozent genannt. 15 Prozent machten gar keine Angaben. Dem stehen gerade einmal 29 Prozent der Befragten gegenüber, die für eine Beteiligung von mehr als 30 Prozent plädierten.

Hinzu kommt natürlich die fundamentale Frage, wie viele Befragte überhaupt verstanden haben, worum es geht und wie fundiert sie darüber Auskunft geben können. Wussten die relativ große Zahl, die offenbar pauschal „50 Prozent“ als angemessener Anteil für Komponisten und Texter genannt und damit den Durchschnittswert in die Höhe gezogen hat, dass damit nicht der Anteil für die Interpreten gemeint ist? Und wie sinnvoll ist es überhaupt, alle Arten von „Musikveranstaltungen“, Konzerte wie Club-Veranstaltungen, über einen Kamm zu scheren?

Wie viele Befragte würden auf die Frage: „Finden Sie, dass die GEMA die Einnahmen aus Musikveranstaltungen lieber an die Komponisten und Texter ausschütten sollte anstatt sie für Meinungsumfragen auszugeben“ wohl mit Ja antworten?

Okay, das war billig. Aber fest steht: Die Zahlen, die die GEMA in ihrer Pressemitteilung veröffentlicht hat, ergeben sich nicht aus ihrer eigenen Umfrage. Ich würde wetten, dass sie trotzdem von den Medien so weitergetragen werden.

Die Löwenmutter und der böse Wolf

Anfang der Woche bekam ich eine Interview-Anfrage vom Medienmagazin „Zapp“. Sie wollten sich in der Sendung in dieser Woche Frau Kachelmann widmen und ihrer Rolle im Medienspektakel um Herrn Kachelmann: „Wie tritt sie auf, warum, woher nimmt sie ihre Selbstsicherheit, warum macht sie seine Sache zu ihrer?“ In den gemeinsamen Interviews der beiden sei den „Zapp“-Leuten unter anderem aufgefallen, dass Frau Kachelmann oft das Wort ergreife, wenn Herr Kachelmann gefragt werde.

Das geht natürlich gar nicht: Dass Ehefrauen einfach für ihre Ehemänner antworten. Sowas hätte es früher nicht gegeben, und wenn es das heute gibt, ist das natürlich ein dringender Auftrag für das Medienmagazin des NDR, dieser Absonderlichkeit auf den Grund zu gehen.

Ich habe „Zapp“ geantwortet, dass ich Miriam Kachelmann nicht kenne. Dass ich über alle in der Anfrage genannten Fragen spekulieren müsste. Dass ich aber nicht wüsste, warum ich das tun sollte.

Es haben sich dann glücklicherweise andere Leute gefunden. Christopher Lesko, der Leiter der Pferdeakademie Berlin. Und ein Experte für Krisenkommunikation. (mehr …)

Was Günther Jauch alles egal ist

Vielleicht könnten wir uns als Mindestanforderung für öffentlich-rechtliche Moderatoren darauf einigen, dass sie nicht so ahnungslos sein sollten wie Hans-Hermann Tiedje. Das Problem ist, dass Günther Jauch selbst diese Latte reißt.

Ich wünschte mir, man könnte ein Experiment machen und jemandem, der das deutsche Fernsehen nicht kennt, die „Günther Jauch“-Sendung vom vergangenen Sonntag zeigen. Und ihm dann sagen, dass der Moderator der berühmteste deutsche Fernsehmoderator ist, und dass die ARD Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, um ihn diese Show auf diesem Sendeplatz moderieren lassen zu können. Und dann sehen, wie groß der Unglaube ist.

Am Montag sagte der ARD-Chefredakteur Thomas Baumann zu dpa, man werde aus dem kritischen Echo auf die Jauch-Sendung mit Jörg Kachelmann „keine Lehren ziehen, weil wir unsere redaktionelle Linie für richtig erachten“.

Andreas Zaik, Chefredakteur und Geschäftsführer von Jauchs Produktionsfirma, suggerierte, dass man aus Kritik ohnehin nichts lernen könnte, weil unterschiedliche Kritiker ja unterschiedliche Meinungen hätten. Und gerade die Diskussion um den Fall Kachelmann habe gezeigt, dass es „keine allgemeingültige ‚Wahrheit‘ gibt und jeder Standpunkt einem bestimmten Blickwinkel geschuldet ist. Diese Argumente, durch den Moderator strukturiert, gerade in ihrer Widersprüchlichkeit zuzulassen, ist Aufgabe der Sendung.“

Ach?

Am Sonntag behauptete der Boulevard- und PR-Mann Hans-Hermann Tiedje bei „Günther Jauch“, dass der Fernsehmoderator Andreas Türck im Gegensatz zu Jörg Kachelmann vom Vorwurf der Vergewaltigung wegen erwiesener Unschuld freigesprochen wurde. Kachelmann widersprach. Und Strukturator Jauch ließ beide Argumente in ihrer Widersprüchlichkeit zu.

Die Wahrheit, sie liegt hier nicht irgendwo in der Mitte. Sie ist auch nicht einem bestimmten Blickwinkel geschuldet. Kachelmann hat Recht, Tiejde hat Unrecht.

Wäre es zuviel verlangt, wenn ein Moderator das wüsste? In einer Diskussion zum Thema „Was ist ein Freispruch wert“, zwei Tage, nachdem Andreas Türck seine Rückkehr auf den Bildschirm angekündigt hat?

Kachelmann sagte, er habe „Hundert und noch mehr Verfahren“ gegen Medien geführt. Tiedje sagte, es waren „höchstens fünf“, weil Kachelmann jeden einzelnen Fall mit der Zahl der Medien multipliziert habe. Tja, das muss man wohl in seiner Widersprüchlichkeit so stehen lassen, wenn das die Aufgabe der Sendung ist (und gerade nichts passendes auf der Moderationskarte steht). Sonst könnte man das Buch von Kachelmann gelesen haben und wissen, dass es sich tatsächlich um viele Dutzend verschiedene einstweilige Verfügungen handelt.

Wäre es zuviel verlangt, von der am wichtigsten gemeinten Talkshow im deutschen Fernsehen zu erwarten, dass sie ihre Zuschauer ein bisschen klüger machen will? Der Jauch-Sendung vom vergangenen Sonntag ist das in spektakulärer Weise nicht gelungen, und die Äußerungen von Baumann und Zaik verstärken den Eindruck, dass sie es nicht einmal versuchen wollte.

Man hätte sonst zum Beispiel darauf verzichtet, einen Heini wie Hans-Hermann Tiedje einzuladen, der nichts mit dem Fall zu tun hat, der Wenigerwissen durch Lautermeinen kompensiert und der die bequeme Position hat, stellvertretend für seine Kumpel von „Bild“ Kachelmann angreifen zu können, ohne sich für das Handeln von „Bild“ rechtfertigen zu müssen.

Aber das Problem ist natürlich nicht Tiedje. Das Problem sind Jauch und seine Redaktion. Jauch erweckte zum Beispiel in der Sendung den Eindruck, Kachelmann dürfe das angebliche Opfer nicht der „Falschbeschuldigung“ bezichtigen, dabei gibt es nach Angaben von Kachelmanns Anwalt bisher kein entsprechendes Verbot.

Jauchs Redaktion machte nicht nur den Fehler, den falschen Anwalt von Kachelmanns Beschuldigerin Claudia D. einzublenden. Sie stellte auch die Ergebnisse einer Studie falsch dar, mit der Jauch die Behauptung Kachelmanns widerlegen wollte, dass Falschbeschuldigungen von Frauen in Vergewaltigungsfällen ein weit verbreitetes Problem seien.

In einem Einspielfilm sagte der Off-Sprecher:

Die Fakten: Eine von der EU in Auftrag gegebene Studie der London Metropolitan University geht für Deutschland davon aus, dass nur etwa vier Prozent aller angezeigten Vergewaltigungen Falschbeschuldigungen sind.

Das ist falsch. Das sagt die Studie nicht, und das sagt insbesondere die Grafik aus der Studie nicht, die „Günther Jauch“ zeigt. Die eingekringelte „4“ steht in einer Tabelle, die die Überschrift trägt: „Why cases were discontinued before court across case-tracking samples“.

Es geht hier also ausschließlich um (echte oder angebliche) Vergewaltigungsfälle, die eingestellt wurden, bevor sie ein Gericht erreichten. Bei vier Prozent davon war die explizite Begründung der Behörden, dass die Vorwürfe falsch seien. Das besagt die Zahl „4“.

Die Studie weist ausdrücklich darauf hin, dass es sich nicht um eine Schätzung der tatsächlichen Fälle von Falschbeschuldigungen handelt, sondern nur um offiziell als solche gekennzeichnete. Und sie weist auch darauf hin, dass unklar ist, wie viele Falschbeschuldigungen nicht eindeutig als solche erkannt wurden und sich in der Kategorie von Verfahren verbergen, die wegen „ungenügender Beweise“ eingestellt wurden. Das sind (in der gleichen Tabelle angegeben) in Deutschland immerhin 19 Prozent der eingestellten Verfahren.

Tatsächlich kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass die Öffentlichkeit und auch die Ermittlungsbehörden die Zahl von Falschanschuldigungen eher überschätzten, und widerspricht insofern deutlich Kachelmanns These. Was die Redaktion von „Günther Jauch“ ihm aber als „Fakten“ entgegenhält, ist schlicht unwahr.

Man könnte das als Schlamperei abtun, aber nach den Aussagen von Zaik nehme ich an, dass es Desinteresse an der Wahrheit ist, die ja für die Verantwortlichen der ARD-Sendung doch eh nur relativ ist.

Der Sprecher im Einspielfilm sagt weiter:

Im Gegenteil: Die Hemmschwelle, eine Vergewaltigung überhaupt anzuzeigen, sei gewaltig.

Das wird, auch im weiteren Verlauf der Diskussion, als Widerspruch zur Position der Kachelmanns dargestellt. Das ist es aber gar nicht. Jörg Kachelmann behauptet zwar: Eine Mehrzahl der angezeigten Vergewaltigungen hat nicht stattgefunden. Aber er sagt gleichzeitig: Eine Mehrheit der Vergewaltigungen, die stattgefunden haben, wird nicht angezeigt.

Das steht auch so in seinem Buch:

Es ist eine furchtbare Schere: Die Mehrheit der Vergewaltigungen wird nicht angezeigt — die Mehrheit der Anzeigen sind Falschbeschuldigungen.

Hier sind wir nun tatsächlich in einem Bereich, in dem sich die „Wahrheit“ nicht einfach ermitteln lässt. Aber es ließen sich Anhaltspunkte, Annäherungen, Zeugen auftreiben und, ja: widersprüchliche Argumente austauschen. Dazu müsste man aber als Redaktion entsprechende Studien richtig lesen, verstehen und wiedergeben können. Und überhaupt müsste man Kachelmanns These verstehen und richtig wiedergeben. Günther Jauch und „Günther Jauch“ haben das nicht geschafft.

Deshalb mussten sich Miriam und Jörg Kachelmann die Sendung lang nicht nur für das rechtfertigen, was sie behaupten, sondern auch für das, was sie nicht behaupten. Ein guter Moderator, eine gute Redaktion, hätten das verhindert.

Es musste dem unbefangenen Zuschauer auch so scheinen, als seien Kachelmanns Angriffe auf das Mannheimer Gericht nur Auswüchse einer blinden Rachsucht. Das liegt auch an Kachelmann selbst, der sicher nicht der beste Kämpfer in eigener Sache ist. Aber es gibt handfeste Gründe dafür, die Prozessführung skandalös zu finden. Man muss, wenn man sie kennt, nicht Kachelmanns Wut teilen. Aber man muss sie kennen, um über Kachelmanns Wut fundiert urteilen zu können. Ist der Gedanke völlig abwegig, dass eine Talkshow das versuchen könnte? Dass die Vorzeige-Talkshow der ARD das versuchen müsste?

Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass Jauch und seine Redaktion sich für die Wahrheit interessieren und an Tatsachen glauben: Als Grund, auf dem man stehen kann, und von dem aus man dann über Folgen, Ursachen, Interpretationen streitet.

Die Kachelmann-Sendung war vielleicht auch deshalb besonders schlimm, weil Jauch nicht einmal auf dem Gebiet des Menschelns Tritt fand. Er fragte Miriam Kachelmann angesichts der Tatsache, dass sie nach der Festnahme ihres damaligen Freundes erfahren musste, dass er noch andere Frauen hatte, zu Beginn der Sendung allen Ernstes: „Kam Ihnen nicht der Gedanke, naja, wenn der mich schon so belogen hat, dann wird er möglicherweise demzufolge auch eine Vergewaltigung leugnen?“

Die Kachelmann-Sendung war vielleicht besonders schlimm, aber sie war auch typisch. Typisch für die zutiefst unjournalistische Art, eine Sendung zu machen und zu moderieren. Ich habe vor einem Jahr im „Spiegel“ über Jauchs erste Sendungen geschrieben:

Gelegentlich liest er mit großem Ernst Zuschriften von Zuschauern vor wie den Hinweis eines Mannes, man müsse die Frau Merkel doch auch mal loben für ihre Konstanz: „Fragen Sie doch mal zwei Wirtschaftsexperten, und Sie bekommen drei Meinungen.“ Diese Kapitulation vor einem gemeinschaftlichen Versuch, zu verstehen und im Streit die beste Lösung zu finden, steht dank Jauch und seiner Redaktion stolz am Ende einer einstündigen Gesprächssendung mit der Kanzlerin.

Bei dieser Kapitulation ist es bis heute geblieben.

Always believe in your soul

Heute neu am Kiosk:

So sieht’s aus: Wer Verstand hat, kauft Gold, wer nicht, bloß „Focus Money“.

Die Zeitschrift aus dem Hause Burda ist das Fachblatt für Hysteriker mit Alzheimer. Wie ein hilfsbereiter Nachbar mit Zwangsstörung gibt „Focus Money“ seinen Lesern immer wieder dieselben Empfehlungen, die die dann entweder sofort vergessen oder ignorieren oder längst befolgt haben, in jedem Fall aber anscheinend immer wieder gerne lesen. (mehr …)

Beipackzettel zum SPIEGELblog

Am 8. November 1947 erschien im „Spiegel“ ein toller Verriss. In Hannover war ein Theaterstück namens „Die Zeit ist nahe“ uraufgeführt worden. Der Rezensent schrieb:

Die Zuhörer hatten zum andern Male Anlaß, sich an Goethe erinnert zu fühlen: Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis.

Das Gleichnis dauerte fast drei Stunden, dem Publikum kam es länger vor. Es saß, als sich zum Schluß auf der Bühne alle Figuren verlaufen hatten (was ihnen nicht zu verdenken war), ziemlich ratlos da. Es dauerte etwas, bis man sich dem traditionellen Genuß des Beifallspendens einigermaßen hingab. Ein vorsorglich bestellter Photograph trat in Aktion und hielt den Applaus bei Blitzlicht im Bilde fest. Es wurde eine ausgesprochene Momentaufnahme.

Auf der Bühne verneigte sich inmitten der von ihm heraufbeschworenen Renaissance der Autor, ein nicht sehr großer Herr, der älter als seine 24 Jahre aussieht: Rudolf Augstein, Lizenzträger und Chefredakteur der viel besseren Zeitschrift „DER SPIEGEL“.

Der ungenannte Autor des Artikels war Hans J. Toll, damals Feuilletonchef und zweiter Mann des Nachrichtenmagazins hinter Augstein. Er soll Augstein vorgeschlagen haben, sein Stück nicht zu rezensieren und „das unangenehme Ereignis einfach zu übergehen“. Augstein aber habe abgelehnt, weil er sich mit der Duldung solch harscher Kritik als „ebenso souveräner wie toleranter Chef und Zeitgenosse“ darstellen konnte. So schilderte es Leo Brawand, einer der Mitbegründer des „Spiegel“, gegenüber Augstein-Biograph Peter Merseburger. (mehr …)

Ekelhaft

Vermutlich werde ich es bereuen, Julia Schramm zu verteidigen, aber bei einer Frau, die so viele tatsächliche Angriffspunkte für Kritik bietet, erscheint es mir besonders abwegig, sie noch für Dinge zu beschimpfen, die sie gar nicht getan hat.

Die Piraten-Politikerin Julia Schramm hat ein Buch geschrieben, angeblich für ein gutes Honorar. Jemand hat das Buch bei Dropbox hochgeladen, wo man es sich kostenlos herunterladen konnte, bis der Verlag erreichte, dass es gelöscht wird.

Angeblich steckt darin eine große Ironie und ein Beweis für die Verlogenheit der Piraten insgesamt. Denn eigentlich, so geht die Argumentation, seien die Piraten doch dafür, dass man sich an urheberrechtlich geschützen Inhalten einfach frei bedienen kann. Um es auf die unnachahmliche Art von Bild.de zu formulieren:

Wasser trinken und Wein predigen ist auch bei den Piraten schwer in Mode.

(Sic!, inzwischen korrigiert.)

Bild.de meint, es sei „eine Geschichte so grotesk wie eigentlich auch komisch“:

Julia Schramm selbst hat die Idee des geistigen Eigentums als „ekelhaft“ bezeichnet. Doch bei ihrem eigenen Buch sieht sie das plötzlich ganz anders.

Das Wort „ekelhaft“ hat eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf fast alle, die über Julia Schramm und ihr vermeintlich bigottes Verhältnis zum Urheberrecht schreiben. Es fiel im April in einem Podcast, den man sich hier anhören kann. Sie sagt darin wörtlich:

Das ist das Ekelhafte an dem Begriff [geistiges Eigentum], das ist das Widerliche an dem Begriff: Dieser Begriff wird genutzt, um Immaterialgüter auf Grundrechtsniveau zu heben. Und das ist ein Problem.

Sie lehnt nicht das Urheberrecht ab, sondern den Begriff des „Geistigen Eigentums“. Man muss natürlich nicht ihrer Meinung sein, aber das ist eine Position, für die es gute Gründe gibt. Der Begriff des „Geistigen Eigentums“ ist eine Metapher, die Parallelen zwischen materiellen und geistigen Gütern behauptet, die nicht zwingend vorhanden sind. Sie suggeriert zum Beispiel, dass das Anfertigen einer illegalen digitalen Kopie dasselbe ist wie der Diebstahl eines Gegenstands, und wird entsprechend häufig als Kampfbegriff benutzt.

Wolfgang Michal hat auf „Carta“ einen lesenswerten Beitrag über die Entstehung und Problematik des Begriffs vom „Geistigen Eigentum“ geschrieben. Er plädiert dafür, dass Netzaktivisten ihn nicht mehr bekämpfen, sondern ihm sein „ideologisches Mäntelchen ausziehen“ sollen.

Jedenfalls ist es möglich und argumentativ nachvollziehbar, wenn jemand den „Begriff“ des „Geistigen Eigentums“ „ekelhaft“ findet, und trotzdem das Urheberrecht nicht ablehnt.

Julia Schramm sagt in dem berüchtigten Podcast ausdrücklich:

Die Piraten wollen das Urheberrecht nicht abschaffen.

Und sie spricht sogar damals schon, im April, dezidiert darüber, was ihre Haltung zum Urheberrecht für den Umgang mit ihrem Buch und möglichen illegalen Kopien bedeutet:

Ich versuch das auch gerade meinem Verlag zu vermitteln. Ich saß in so’ner Vertreterkonferenz und dann kam die Marketinchefin und sagte: „Ja, Frau Schramm, wie sieht das denn aus, wenn das illegal runtergeladen wird?“ Ich so: „Naja gut, ich will natürlich, dass die Leute dafür bezahlen, aber ich will auch nicht, a), dass Sie sie behandeln, als wären das Mörder, und, b), dann schaffen Sie doch legale Angebote. Es müssen legale Angebote geschaffen werden.“

Worin soll nun der Widerspruch zwischen diesen Äußerungen vorher und dem aktuellen Vorgehen von ihr und ihrem Verlag bestehen? Was genau ist die Heuchelei?

Das Hauptproblem an der Durchsetzung des existierenden Urheberrechtes sieht Schramm laut Podcast in der Kriminalisierung der Nutzer sowie in der Gefahr, dass sich die Weitergabe und das Anfertigen illegaler Kopien nur durch eine totale Überwachung von Kommunikation verhindern ließen. Beides passiert aber in diesem Fall nicht.

Im übrigen demonstriert das Gespräch eindrucksvoll, wie wenig Schramm von einem Thema wissen muss, um sich dazu meinungsstark zu äußern, aber davon mal ab: Sie hat nicht das Urheberrecht als „ekelhaft“ bezeichnet, sondern den Begriff des „Geistigen Eigentums“. Die Frage ist nun: Wollen oder können Journalisten den Unterschied nicht verstehen? (Nicht-Journalist und Julia-Schramm-Hasser „Don Alphonso“ schreibt es auf FAZ.net natürlich auch falsch auf.)

Das Online-Angebot der „Süddeutschen Zeitung“ musste seinen Artikel zum Thema schon nachträglich korrigieren. Die beiden Autoren hatten Schramm mit den außerordentlich sinnlosen Worten zitiert:

„Ich lehne nicht das Urheberrecht, sondern den Begriff des Urheberrechts ab, weil er ein Kampfbegriff ist.“

Gesagt hatte sie aber:

„Ich lehne nicht das Urheberrecht, sondern den Begriff des geistigen Eigentums ab, weil er ein Kampfbegriff ist.“

Verstanden hat sueddeutsche.de den Unterschied aber immer noch nicht. Am Ende des Artikels heißt es:

Wie Spiegel Online berichtet, hatte die Piratin das Urheberrecht in einem Podcast als „ekelhaft“ bezeichnet.

Nein, das hat sie nicht, und das berichtet auch „Spiegel Online“ in dem von sueddeutsche.de verlinkten Artikel nicht. „Spiegel Online“ formuliert dort nur, „Julia Schramm findet geistiges Eigentum ‚ekelhaft'“, was allerdings natürlich auch irreführend ist.

Die „Bild“-Zeitung nennt Schramm heute die „gierige Piratin“ und fragt: „Wie verlogen ist diese Partei?“ Dabei sollte, wenn überhaupt jemand, doch dieses Blatt Verständnis aufbringen für den Unterschied zwischen Theorie und Praxis bei diesem Thema. Welcher Kleptomane verteidigt sonst so entschieden die Idee, dass man nicht stehlen darf?

Am Mittwochabend hat Bild.de im Jagdrausch noch einmal nachgelegt und treibt die Verleumdung der Politikerin auf die Spitze:

Der eigentliche Aufreger ist eine andere Tatsache. Schramm bezeichnete Urheberrechte einst als „ekelhaft“. Jegliches geistiges Eigentum sollte ihrer Meinung nach für alle gratis zur Verfügung stehen.

Das gilt aber anscheinend nicht für sie.

Falsch. Und weiter:

In der Zeitung „Die Welt“ hat sich Schramm dazu jetzt in einem Interview geäußert. Auf die Frage, ob sie das Vorgehen gut finde, versucht Schramm das als generöse Geste zu verkaufen: „Ich bin froh, dass mein Verlag und ich uns dazu entschieden, nicht gleich eine hohe Strafzahlung zu fordern, sondern zunächst eine kostenpflichtige ‚Gelbe Karte‘ zu vergeben.“

Nein, das hat sie nicht gesagt. Der Satz lautet wörtlich (Hervorhebung von mir):

„Ich bin froh, dass mein Verlag und ich uns dazu entschieden haben, nicht gleich eine hohe Strafzahlung zu fordern, sondern zunächst eine nicht kostenpflichtige ‚Gelbe Karte‘ zu vergeben.“

Welche Möglichkeit ist beunruhigender? Dass die Leute bei Bild.de sogar zu doof sind, einen Satz zu kopieren, ohne seinen Sinn ins Gegenteil zu verkehren? Oder dass sie den Kampf gegen ihre politischen Gegner mit solch plumpen Lügen und Fälschungen führen?

Nachtrag, 13:00 Uhr. Sueddeutsche.de hat sich transparent korrigiert, Bild.de unauffällig, als wäre nichts gewesen.

Medienlexikon: Liveticker

Der Spiegel

Liveticker, onlinejournalistische Form, die zugunsten des Gefühls, dabei zu sein, auf Kriterien wie Relevanz und Erkenntnisgewinn verzichtet.

12:05. Kaffee gemacht. Gleich geht es los mit dem Schreiben der Kolumne über Liveticker.
12:07. Textverarbeitungsprogramm gestartet, neue Datei geöffnet und „Kolumne Liveticker“ genannt.
12:08. Warten auf Inspiration.
12:09. Lustiges YouTube-Video gefunden und auf Facebook gepostet.
12:11. Warten auf Inspiration.
12:58. Puh. Mal nachsehen, wie die Kollegen das machen. Am Mittwochabend um sieben hat Apple die neue Version seines erfolgreichen Mobiltelefons vorgestellt. Die Präsentation wurde nicht direkt live übertragen, sondern nur über den Umweg der livetickernden Journalisten. Um 18.50 Uhr notiert „Die Welt“: „Es sind noch 10 Minuten bis zum Start der Apple-Präsentation – und der Konzern ist erfahrungsgemäß sehr pünktlich damit.“ 18.58 Uhr, Bild.de: „Ankündigung: ‚The Event will begin shortly‘! Es geht los!“ 19:05 Uhr, sueddeutsche.de: „Apple-Chef Tim Cook hat pünktlich die Bühne in San Francisco betreten.“
13:10. Da ist sie, die Inspiration! Große Pointe eingefallen!!
13:11. Doch nicht.
13:55. Anruf aus der Redaktion, Nachfrage, wo die Kolumne bleibt.
14:02. Zweifel an der Idee. Sind im Vorfeld doch zu große Erwartungen geweckt worden? War das nicht alles längst bekannt? Wo ist der Witz?
14:25. Verzweiflungstat Recherche. Nachlesen diverser „Liveticker“ von der Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zum Rettungsschirm. Nicht so wichtig wie das neue iPhone natürlich, aber auch nicht ganz unbeachtet. 10.02 Uhr, stern.de: „Die Anwesenden erheben sich. Die Verfassungsrichter betreten den Saal. Es geht los.“ 10.26 Uhr, stern.de: „Aus Versehen sagt Voßkuhle die Eil-Anträge seien ‚begründet‘. Gemurmel. Er korrigiert sich: ‚unbegründet‘.“ 9.58 Uhr, Spiegel Online: „Bei Phoenix heißt es, das Urteil sei 85 bis 87 Seiten lang – die Urteilsverkündung werde wohl bis 11.15 oder 11.30 Uhr dauern.“
14:27. Tippfehler gefunden und berichtigt.
14:28. Länge des bisher Geschriebenen noch einmal nachgezählt. Immer noch elf Zeilen zu kurz.
14:55. Warten auf Inspiration.
14:58. Plötzlich kommt Spannung auf: Wird der Text rechtzeitig vor Redaktionsschluss fertig werden? Kommt am Ende doch noch ein Knaller?
14:59. „Eine Sache noch.“
15:00. Ja, das war dann wohl der Liveticker vom Schreiben einer Kolumne über Liveticker. Vielen Dank für Ihr Interesse, wir bleiben an der Sache dran.

Wolfgang Blau: Auch das schärfste Urheberrecht würde den Verlagen nicht helfen

„Das Leistungsschutzrecht war eine Machtprobe für den Springer-Verlag, und Springer hat gewonnen.“ So hat es Wolfgang Blau, der Chefredakteur von „Zeit Online“, in einer Keynote formuliert, die er am 31. August bei einer Urheberrechts-Fachtagung von Bündnis 90/Die Grünen hielt. Er erläuterte, warum das geplante Gesetz nicht nur nicht hilfreich, sondern schädlich ist. Er forderte von Politikern den Mut, offen auszusprechen, dass infolge der Digitalisierung „ganze Branchen und ganze Berufszweige verschwinden werden“. Und er plädierte dafür, sich mit den heute kaum noch nachvollziehbaren Argumenten zu beschäftigen, mit denen frühere umwälzende Technologien wie der Buchdruck und die Eisenbahn bekämpft wurden.

Ich möchte dazu beitragen, dass diese bemerkenswerte Rede möglichst große Verbreitung findet, und dokumentiere sie hier mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung von Wolfgang Blau:

Urheberrecht, Internet, Eisenbahn und Buchdruck

Worüber ich mit Ihnen heute reden will, ist etwas, das mir nun schon seit mehreren Jahren auffällt: Wie hitzig und geradezu verbittert der Streit um das Urheberrecht ausgetragen wird und wie oft es dabei gar nicht ums Urheberrecht geht, sondern um viel Grundlegenderes, um ein grundsätzliches Unbehagen gegenüber dem Netz und sogar um die Frage nach persönlicher Identität. Fragen wie: „Wer bin ich als Schriftsteller, wenn jeder sich als Autor bezeichnen und jeder publizieren kann?“ oder „wer sind wir eigentlich noch als Verleger und als Journalisten, wenn zum Beispiel soziale Netzwerke fast beiläufig — wie etwa in den ersten Fukushima-Nächten oder während der Frühphase der arabischen Revolutionen im letzten Jahr — genuin journalistische Funktionen übernehmen?“

Auch in den meisten meiner Diskussionen mit Befürwortern des Leistungsschutzrechtes geht es erstaunlich selten um das Urheberrecht und die angebliche Schutzlücke darin. Stattdessen höre ich regelmäßig Aussagen wie: „Ja, kann durchaus sein, dass uns ein Leistungsschutzrecht finanziell überhaupt nichts bringen wird oder sogar einen Imageschaden bei netzaffineren Lesern verursacht, aber man muss doch jetzt mal ein Zeichen setzen!“

Ein Zeichen wofür? (mehr …)