Autor: Stefan Niggemeier

„Ich bin ein Star – legt vernünftige Musik unter mich!“

Ein Fluch liegt auf dem deutschen Fernsehen, der Terror der naheliegendsten musikalischen Untermalung. Egal ob ein Bauer seine Frau sucht, ein Restaurant seinen Rach oder ein Auswanderer sein Glück – unter jeder Szene liegt ein Musiktitel, der das Geschehen oder die aktuelle Stimmung doppelt. Die Auswahl scheint sich auf eine Doppel-CD mit den größten Hits der 80er und 90er zu beschränken (plus „Viva la Vida“ von Coldplay). Fast immer handelt es sich um die naheliegendste Idee oder den ersten Treffer bei der Titelsuche. Keine Kornfeld-Szene ohne Jürgen Drews; wenn jemand sagt, dass ihm etwas egal ist, kommt Shakespeare’s Sister mit „I Don’t Care“, und wenn Hilfe naht, naht sie nicht ohne die Beatles und „Help!“ Manchmal ist die Textzeile, die das Gesehene exakt wiederholt, sogar nur für drei Sekunden zu hören.

Zu den unterschätzten Qualitäten von „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ gehört es, anders mit Musik umzugehen. Zum Abschluss der letzten Staffel, als die Kandidaten das Camp verließen, in der vagen Hoffnung, ihrer Karriere neues Leben eingehaucht zu haben, und mit der realistischen Aussicht, ihr den endgültigen Todesstoß versetzt zu haben, war „Vielleicht“ von den deutschen Indierockern Madsen zu hören: „Vielleicht ist das der Anfang / Vielleicht ist das das Ende…“

Wenn Giulia Siegel Peter Bond zärtlich im Teich wäscht, liegt „Underwater Love“ von Smoke City darunter. Und das intime Gespräch zweier Männer am Lagerfeuer wird vom Soundtrack zu „Brokeback Mountain“ begleitet.

Die Titel sind oft hintergründige Kommentare zum Gezeigten – und die Interpretenliste kann sich sehen lassen: Am Dienstag untermalten die Smashing Pumpkins, The Verve, Sigur Rós, Feist, Babyshambles, Justin Timberlake, Air, Amy MacDonald und die Dust Brothers das Geschehen im Dschungel.

Anlass für einen Anruf in Australien: bei Markus Küttner, 37, dem Ressortleiter Comedyshow bei RTL.

Das Fernsehblog: Sind Sie der Mann, der die Musik für die Dschungelshow aussucht?

Markus Küttner: Nicht jede Musik für jede Sendung, das sind ja hundert Titel. Aber ich sorge schon dafür, dass wir nicht zu jedem Sonnenaufgang „Morning has broken“ spielen, dass nicht immer „Money“ von Pink Floyd zu hören ist, wenn über Geld geredet wird, und nicht die Miss-Marple-Musik kommt, wenn eine alte Frau durchs Bild geht.

Das heißt, es gibt eine bewusste Vorgabe von RTL, es anders zu machen als in der typischen Doku-Soap?

Das ist eine Vorgabe von mir.

Manchmal entscheiden Sie sich aber auch für die naheliegendste musikalische Illustration. Wenn die Österreicherin „Mausi“ Lugner ins Bild kommt, erklingt zum Beispiel „Der dritte Mann“ oder Falcos „Vienna Calling“.

Die Producer, die den Film geschnitten haben, als Mausi auf der Dachterasse im Hotel erscheint, hatten ursprünglich Wiener Walzer darunter gelegt – das war mir doch eine Nummer zu hart. „Vienna Calling“ war dann der kurzfristige Ersatz – das fand ich noch ganz okay.

Wie läuft das ab bei der Produktion?

Die Producer sitzen hier in Australien ganz normal an Schnittprogrammen wie sonst auch – nur wenn man hier vor die Tür geht, ist nicht ein trauriges Industriegebiet, sondern Dschungel. Die Producer arbeiten dann ziemlich unabhängig und legen unter den Rohschnitt schon Musikvorschläge. Inzwischen wissen alle, in welche Richtung wir da gehen wollen – da schlägt keiner mehr „Money“ vor.

Haben Sie eine ganze Digital-Bibliothek dabei? Oder haben Sie Hundert CDs in den Dschungel mitgenommen?

Das haben wir tatsächlich bei den ersten beiden Staffeln gemacht. Das Internet hier war damals noch sehr langsam, und wenn man morgens um sechs eine Livesendung hat und um vier anfängt, bei iTunes einen Song runterzuladen und es nur millimeterweise vorwärts geht – dann wird man wahnsinnig. Ich habe mein iTunes komplett mitgenommen, was schon mal ganz gut ist, und viele Producer haben ihre Sammlungen mitgebracht. Wir kaufen aber auch viel spontan. Gerade für die Eröffnungssequenz, vor der Begrüßung durch Sonja und Dirk, da liegen ziemlich bombastische Titel drunter. Da ist oft auch Filmmusik drauf, die man nicht unbedingt parat hat.

Zum Einzug, als alle sich zum ersten Mal in dem Lageplatz mit dem Teich umsahen, war Peter Fox zu hören mit „Haus am See“ – allerdings nur der Instrumentalteil. Solche Anspielungen funktionieren also nur für Leute, die das Lied kennen. Was ist die Idee dahinter?

Zunächst einmal hat die Musik gut zu der Szene gepasst. Selbst wenn das Stück einen ganz anderen Text gehabt hätte, hätte die Musik alleine trotzdem gepasst. Das ist natürlich die Hauptsache. Aber wenn man noch einen kleinen Insider-Gruß für, ich weiß nicht, fünfzehn Prozent unserer Zuschauer mit hineinpacken kann, die es erkennen und sich freuen: um so besser. Die ganze Show ist vielschichtiger als ein Großteil derer, die darüber berichten, überhaupt erkennen. Es steckt viel mehr drin.

Als Giulia Siegel klagte, dass sie ohne eine aufgestockte Zigarettenration nicht im Dschungel bleiben könnte, lief „Better Living Through Chemistry“ von Queens Of The Stone Age.

Ja. Und in der letzten Staffel hatten wir Julia Biedermann, die gleichzeitig im „Playboy“ mit Hochglanzbildern war und im Camp aussah wie Rod Stewart nach einer durchsoffenen Nacht. Darunter haben wir von den Sternen „Was hat dich bloß so ruiniert“ gelegt – lustigerweise auch erst nur das Intro, ohne Text. Wir haben auch gerne mal schöne Intros von Radiohead, allerdings eher die älteren Sachen. Die neuen sind selbst für abgefahrenere Shows ein bisschen zu hart.

Ist es eine bewusste Entscheidung, so stark auf für RTL untypische Musikfarben zu setzen?

Ich weiß nicht, ob die Musikfarben wirklich so untypisch für RTL sind. Ich bin zum Beispiel auch für die Doku-Soap „Teenager außer Kontrolle“ zuständig. Da nehme ich nicht so viel Einfluss und wir haben mehr Filmmusiken, aber das geht in eine ähnliche Richtung. Auch bei der „Super-Nanny“. Ich bin seit Jahren großer Radiohead-Fan, und immer wenn Radiohead in der Show zu hören ist, bekomme ich innerhalb von drei Minuten 15 SMS von Freunden, die sagen: Du Idiot, was spielt ihr Radiohead im RTL-Programm?!

Schöne Situation: Sie müssen sich vor RTL rechtfertigen, dass sie Radiohead spielen, und vor den Radiohead-Fans, dass sie es bei RTL spielen? Sie machen beiden das Programm kaputt!

Vielleicht bringe ich da Welten zusammen, die in Wahrheit zusammen gehören… Nein, das macht einfach Spaß, und am Ende geht es immer um die Sendung.

Haben Sie, so weit weg von der Zentrale, mehr Freiheiten als sonst?

Freiheit habe ich sonst auch. Aber hier im Dschungel gibt es nur wenige Stellen mit Handyempfang. Da ist man nicht immer erreichbar, das kann schon mal praktisch sein. Wir haben uns in früheren Staffeln zum Beispiel über die wunderbaren Dschungelsongs lustig gemacht. Soviel Selbstironie muss erlaubt sein, schließlich machen Sonja und Dirk bei ihren Sprüchen auch vor sich selbst nicht halt.

Und trotzdem hatten sie den schrecklichen aktuellen Song, die Zipfelbuben mit „Hier im Dschungel“ neulich in die Sendung eingebaut.

Ach, das passiert.

Dann ist RTL Enterprises glücklich?

Ja. Aber der eigentliche Kampf als Programmverantwortlicher beginnt eher jetzt, wenn die Single im Handel erhältlich ist und Promo dafür gemacht wird. Ich wehre mich natürlich nicht grundsätzlich dagegen, aber so, wie Sonja und Dirk die Sendung moderieren, würde es nicht passen, das in der üblichen Manier zu tun.

Warum ist es so schwer, in anderen Shows auch so ambitioniert und überraschend bei der Musikauswahl zu sein? Ist es wirklich so, dass die Zuschauer eigentlich nur den Wiedererkennungseffekt wollen, dass in jeder Szene genau die Textzeile kommt, die sie kennen und die das Geschehen eins-zu-eins illustriert?

Tatsache ist, dass beides funktioniert. Es funktioniert der typische Doku-Soap-Stil genauso wie unser eher abwechselungsreiches Konzept. Es gibt eine Berechtigung für beides.

Darf ich mir noch was wünschen?

Klar.

Echt?

Na, ich habe ja nicht gesagt, dass ich Ihren Wunsch erfülle.

(Aber was läuft am Abend, in Folge 7, nach 14 Minuten, wenn sich die Kandidaten auf ein unerwartetes Belohnungsfrühstück mit Toast und Marmelade stürzen? „When Will I Ever Get Home“ von den Kilians!)

(Nichts) Neues von Kalle Schwensen

Seit vergangenem Freitag gehöre ich zu der stetig wachsenden Zahl von Menschen, die von Karl-Heinz Schwensen abgemahnt wurden. Karl-Heinz Schwensen ist bekannter als Kalle Schwensen und noch bekannter unter seinem Rufnamen, den er vor Jahren als Größe des Hamburger Rotlichtmilieus bekam. Inzwischen scheint ihm dieser Spitzname unangenehm zu sein oder ihn bei seinen neuen Geschäften zu behindern, und so begann er vor ein paar Jahren damit, juristisch gegen Menschen vorzugehen, die ihn bei diesem Namen nennen.

Im Juli 2007 traf es eine Reihe von Blogs, die sich plötzlich mit der Forderung, den Namen zu entfernen, und Kosten von jeweils vielen Hundert Euro konfrontiert sahen. Ich nahm das zum Anlass, in einem Eintrag ausführlich den Sinneswandel von Schwensen zu dokumentieren. Wenige Jahre zuvor noch hatte er zum Beispiel dem „Stern“ einen „Neger“-Witz erzählt, 1998 sogar selbst in einem Musikvideo mitgewirkt, in dem er bei dem Namen genannt wird, unter dem er bundesweite Berühmtheit erlangte.

Nun ist es aber so, dass Schwensen nicht nur verhindern will, dass er heute noch mit dem Namen angesprochen wird, den er inzwischen als rassistisch und diskriminierend empfindet. Es versucht auch, den alten Namen quasi rückwirkend zu tilgen, als hätte es ihn nie gegeben, und er hat bei diesem Versuch starke Verbündete: die Hamburger Pressekammern, die in ihren Urteilen regelmäßig im Zweifel gegen die Meinungsfreiheit entscheiden.

Erfolgreich zwang Schwensen zum Beispiel die Tageszeitung „taz“, alte Artikel aus ihrem Online-Archiv zu löschen, in denen sein alter, ihm damals offenbar noch genehmer Spitzname genannt wurde. Die „taz“ unterlag mit ihrem Widerspruch in zwei Instanzen vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht Hamburg.

Am Freitag nun traf es also mich. In einem „Blogger-Beitrag“ werde er „in rassistischer und diskriminierender Weise als            bezeichnet“, schrieb er per Mail. Er habe den Anspruch, bei seinem richtigen Namen genannt zu werden, gerichtlich durchgesetzt („HansOLG, Az: 7 U 120/05, und LG Hamburg, Az. 324 O 400/05“, „HansOLG, Az: 7 U 53/07, und LG Hamburg, Az. 324 O 395/06“) und verlange „von jedermann“, also auch von mir, „die Unterlassung der Verwendung des diskriminierenden, meine Persönlichkeitsrechte ebenso wie mein Namensrecht verletzenden Pseudonyms“.

Ich habe Schwensen zwar nicht selbst so genannt, aber gestern eine entsprechende Unterlassungserklärung abgegeben.

Die Rechtslage ist nämlich dank des unermüdlichen Wirkens der Hamburger Richter einigermaßen unübersichtlich. Es spricht zwar vieles dafür, dass ich den Eintrag damals veröffentlichen durfte: Es muss eigentlich erlaubt sein, anlässlich einer juristischen Auseinandersetzung die Hintergründe zu schildern. Nicht so eindeutig ist aber, ob mein Eintrag mit der Nennung des Spitznamens nach dem Rechtsverständnis der Hamburger Gerichte auch heute, eineinhalb Jahre später, noch öffentlich sein darf. Es ist möglich, die Richter das in meinem Fall ähnlich verneinen würden wie bei den Archiveinträgen der „taz“.

Nach und nach radiert Schwensen seine Vergangenheit aus den Archiven.

Am 23. Mai 2005 erschien im „Spiegel“ zum Beispiel ein Artikel „Guck mal, ob da was geht!“ über den Berliner Wettkönig Ante Sapina. Er ist allerdings nicht identisch mit der Fassung, die im Online-Archiv zu finden ist. Sie wurde — ohne jeden Hinweis auf eine nachträgliche Zensur — um den von Schwensen nicht mehr akzeptierten Rufnamen bereinigt. Die „Spiegel“-Titelgeschichte „Der Fall Reeperbahn“ aus dem Jahr 1997, in der Schwensen ebenfalls samt Spitznamen vorkam, scheint ganz verschwunden zu sein. In anderen Archiven das gleiche Bild. Artikel, in denen Schwensen unter seinem geläufigen Namen vorkam, fehlen entweder ganz, oder das Wort wurde nachträglich klammheimlich gestrichen — wie in diesem Artikel des „Tagesspiegels“ aus dem Jahr 2000.

Ich habe angesichts der zweifelhaften Erfolgsaussichten darauf verzichtet, mich auf einen Rechtsstreit mit Karl-Heinz Schwensen einzulassen, und deshalb die Unterlassungserklärung abgegeben und die entsprechenden Passagen in meinem Eintrag geschwärzt. Ich hoffe, dass die „taz“ ihre Archive am Ende doch noch erfolgreich vor den Zugriffen Schwensens und möglicher Nachahmer schützt. Sie hat am 14. November 2007 Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Bis das entscheidet, kann es dauern.

Kabeljau, Büroklammer & Co.

Da sind sie bestimmt ganz schön ins Rödeln gekommen, die Leute von der stern.de-Infografik, als sie erfuhren, dass der „Stern“ schon wieder einen Bespitzelungsskandal aufgedeckt hat, diesmal bei der Deutschen Bahn, und sie sich an eine angemessene Aufbereitung für Online machen sollten. Glücklicherweise war die Bahn so nett, jeder ihrer Ausspähaktionen einen anderen Namen zu geben, dann lohnt sich das auch bei den Klickzahlen.

Und so präsentiert Ihnen stern.de: „Die Codenamen der Spitzel-Aktionen.“ Als superinformative 16-teilige Bildergalerie zum Durchklicken.

etc.

Und als wär das nicht schon genug Arbeit gewesen, mussten die stern.de-Infografiker dann in den vergangenen Minuten auch noch Bild für Bild das Gesicht des armen Lokführers auf dem Symbolfoto, der da mal als „Kabeljau“, mal als „Büroklammer“ herhalten muss, unkenntlich machen. Als ich die Screenshots gemacht habe, waren sie bis Bild 4 gekommen, inzwischen scheinen sie durch zu sein.

(Mal abgesehen von dem Klickschinderwahn und der Sinnlosigkeit des Ganzen: Was mag wohl ein Leser denken, der zufällig auf der Seite mit der Bildergalerie landet, die nicht einmal einen erklärenden Satz, geschweige denn einen Link zum zugehörigen Artikel bereithält?)

[mit Dank an Jan-Claude Bischoff]

Online-Geschäftsmodelle aus der Hölle

Der Verlag Oberauer gibt das renommierte „Medium Magazin“ und zahlreiche Fachzeitschriften für Fachjournalisten heraus. Außerdem betreibt er eine Seite mit „Nachrichten für Journalisten“ namens newsroom.de. Die hatte eine geniale Idee, wie man mit einem Nachrichtenangebot im Internet Geld verdienen kann. Aktuelle News gibt es nur für zahlende Abonnenten. Alle anderen sehen nur Meldungen wie diese:

Tja, wenn einen das interessiert, bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als die 1 Euro im Monat für das Premium-Abo zu zahlen. Also, außer, versuchsweise die Überschrift zu googlen und festzustellen, dass sie überall steht, weil es sich um eine AFP-Meldung von heute handelt, die wiederum auf einer Pressemitteilung von Sony von vor zwölf Tagen beruht.

Das sind die Online-Geschäftsmodelle, die Zeitschriftenverlegern einfallen: Lesen Sie für nur einen Euro im Monat heute schon, was andere erst seit zwei Wochen wissen.

Die „B.Z.“ lässt Roland Koch richtig gewinnen

„Überwältigender Sieg von CDU und FDP“, titelt die „B.Z.“ heute.

Ach was, auch die CDU mit ihrem winzigen Prozentzuwachs, der einem realen Wählerverlust entspricht, hat überwältigend gewonnen? Aber ja. Wenn Sie sich mal die Grafik anschauen wollen, die laut „B.Z.“ das „vorläufige amtliche Endergebnis“ darstellt:

Das ist ja wohl ein Supersprung, den der schwarze CDU-Balken gegenüber seinem grauen Vorgänger gemacht hat.

Die lustigen Experten von der kleinen Berliner „Bild“-Schwester haben sich anscheinend nicht die Mühe gemacht, die Graphen dem tatsächlichen Ergebnis anzupassen, sondern beim Malen frei improvisiert. Wie frei, sieht man, wenn man versucht, ein Raster über die Grafik zu legen. Es ist schwer, das genau zu machen, weil die Balken nicht einmal auf gleicher Höhe beginnen, aber nimmt man die 36,8 Prozent der CDU vom letzten Jahr zum Maßstab, ergibt sich folgendes Bild:

Der CDU-Balken entspricht einem Wert von über 42 Prozent. Das ist fast schon überwältigend.

Nachtrag, 22.40 Uhr. Das hatte ich ganz übersehen: Auch die Zahlenangaben sind falsch, die „B.Z.“ hat die 2008er-Ergebnisse von FDP und Grünen vertauscht. Dadurch erscheint der Zuwachs bei der FDP noch dramatischer, als er tatsächlich war.

Programmhinweis (25)

Wenig Stoff hier die letzten Tage. Wer Entzugserscheinungen hat, kann auf FAZ.net meinen Artikel aus der heutigen „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ nachlesen, warum die Berichterstattung über das RTL-Dschungelcamp menschenverachtender ist als die angeblich so menschenverachtende Show. Besonders die Berichterstattung von stern.de ist ekliger als die madenreichste Prüfung in Australien. Offenbar ist der Versuch abgesagt, „Spiegel Online“ Konkurrenz zu machen, und man profiliert sich (was angesichts der Konkurrenz von „RP Online“ und anderen auch nicht so leicht ist) lieber als Trashportal:



(Abgesehen von der widerlichen Art, über die Transsexuelle Lorielle London zu schreiben — kann mir jemand erklären, was die Autorin mit der Formulierung „Günther Kaufmann gibt den lustigen Onkel. Hat einiges hinter sich, was nicht nur an seiner schwarzen Hautfarbe liegt“ sagen wollte?)

Ach ja, und meine „Teletext“-Kolumne über Roland Koch ist auch bei FAZ.net kostenfrei online.

Die Maden und die Medien

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Warum das RTL-Dschungelcamp nicht annähernd so menschenverachtend ist wie die Berichterstattung darüber.

Lorielle London hatte sich die bordeauxfarbenen Haare mit selbstgebastelten Spangen zu zwei langen Zöpfen zusammengebunden und es geschafft, durch geschicktes Auf- und Hochschlagen sogar die Dschungeleinheitskleidung ein kleines bisschen feminin wirken zu lassen. Mit den geschminkten Augen in ihrem extrem auf weibliche Formen operierten Gesicht wirkte sie nach fünf Tagen im Camp gleichzeitig übertrieben aufgedonnert und schrecklich heruntergekommen. Neben ihr saß eine vergleichsweise burschikose Gundis Zámbó und hörte zu, was Lorielle ihr über sich erzählte: „Du musst dir vorstellen, du gehst dein ganzes Leben lang durchs Leben und wirst von allen nur gehänselt, geschlagen, von so gut wie keinem gemocht. Dann glaubt man auch selbst irgendwann, dass man nicht so toll ist.“

Lorielle London wurde vor 24 Jahren als Lorenzo Woodard geboren und hat sich in den vergangenen Monaten vor diversen Fernsehkameras in eine Frau verwandelt. Sie hat viele Operationen hinter sich, aber eine entscheidende noch vor sich. In ihrem knappen Badeanzug zeichnet sich zu ihrem Missvergnügen ihr Penis ab. Und weil die Tage lang sind im Dschungel und die üblichen Hemmungen irgendwann fallen, stellte Gundis Zámbó ihr ein paar Fragen, die man für blöd halten kann, aber direkt und ehrlich waren: „Transsexuelle, haben die normalerweise auch andere Transsexuelle als Partner? Ganz ehrlich: Jemand, der mit dieser Szene nichts zu tun hat und sich in dich verliebt und nicht weiß, dass du da untenrum noch was hast – was ist denn dann?“ Lorielle erklärte später noch, dass sie sich schon als „heterosexuell“ bezeichnen würde, und dann diskutierten die Frauen entspannt und ernsthaft, was das im konkreten Fall bedeutet.

Es war eine fast anrührende Szene in der RTL-Show „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“: So ungelenk und direkt, so freundlich schonungslos, und wer weiß, wann je zuvor so viele Fernsehzuschauer in einer Unterhaltungssendung so viel über Transsexualität erfahren haben. Wie absurd, dass ausgerechnet in dieser bizarren, künstlichen Extremsituation im australischen Dschungel Gespräche entstehen, die dem schwierigen Thema angemessener sind als die übliche Boulevardberichterstattung. Lorielle, deren ganze traurige Medienkarriere bislang darauf aufgebaut war, ein Freak zu sein, wirkt plötzlich im besten Sinne des Wortes normal: menschlich, verletzlich, echt.

Das ahnt man nicht, wenn man nicht die Show verfolgt, sondern die Berichterstattung über die Show. Dort geht es ausschließlich um Freaks und Deppen. Der mediale Umgang mit der Sendung hat sich seit der Premiere der ersten Staffel 2004 dramatisch verändert. Wurde sie anfangs noch verteufelt oder ignoriert, springen viele Medien jetzt hemmungslos auf den Zug auf und versuchen, von ihrem erstaunlichen und sogar noch zunehmenden Erfolg zu profitieren. Bei „Welt Online“ sieht das dann so aus: Neben dem langen Artikel, in dem Großkritiker Hellmuth Karasek mit vielen Ausrufezeichen und auf dem Niveau eines mittelguten Schulaufsatzes beschreibt, wie schlimm es gewesen sei, dass ihn die Redaktion gezwungen habe, sich eine Folge anzusehen, sind zigteilige Bildergalerien verlinkt; ein eigenes Dossier verspricht, „alle Ekel-Prüfungen und Lästereien“ zu dokumentieren; „Welt-TV“ zeigt, wie Giulia Siegel sich für ihre Halbnacktaufnahmen im „Playboy“ verrenkt; und eine Autorin berichtet jeden Tag aufs ausführlichste, was in der Sendung zu sehen war (und hat, haha, „auf sämtliche möglichen Ansprüche auf Schmerzensgeld sowie die Erstattung eventuell anfallender Folgekosten für eine psychologische Nachbehandlung vorab schriftlich“ verzichtet).

Die angeblich so ordinäre und niveaulose Show ist für manche der Vorwand, einmal so richtig ordinär und niveaulos sein zu dürfen. Das untere Ende des Spektrums markiert dabei konsequent der Online-Auftritt des „Sterns“. „In den Augen Pipi, im Höschen Kakerlaken“, titelte er am Dienstag. Die Redaktion treibt (anders als die Show selbst) eine unheilige Faszination von Fäkalien und Genitalien. Die erste Tageszusammenfassung auf „Stern.de“ hieß „Kot und Spiele“, später folgten Titel wie: „Mit Penis und Schwanz ins Dschungelcamp“, „Männer, wo sind eure Eier“.

Die madenreichsten Prüfungen im australischen Dschungel sind nicht halb so eklig wie diese Texte, die ihre sprachliche Hilflosigkeit und gedankliche Armut durch Drastik wettzumachen versuchen. Giulia Siegel habe sich von Ratten annagen lassen, „damit van Bergen, die olle Hexe, nicht verreckt“, heißt es da. Und für Lorielle (von „Bild“ gerne „er/sie/es“ genannt) hat „Stern.de“ nur Begriffe wie „die Staffeltunte“, „die Quotentunte“, „die Tränen-Transe“, die „Transentränen“ weint – insgesamt: „Eine unansehnliche Nervenprobe, wie sie schlimmer kaum sein kann.“

Sie schlagen einen absurden Doppelpass, versuchen gleichzeitig, sich über die angeblich menschenverachtende Sendung zu empören und sie an Menschenverachtung zu übertreffen. Dabei geht die Show selbst mit ihrem Personal zwar auch nicht immer pfleglich, aber ungleich differenzierter um. Lorielle ist dort zum Beispiel längst nicht mehr die Witzfigur. „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ gelingt es auf verblüffende Weise, die Kandidaten sowohl zu Karikaturen ihrer selbst zu machen, als auch zu vermenschlichen. Gerade die krassen Prüfungen, an denen sich die Kritiker besonders stoßen, spielen dabei eine wichtige Rolle.

Lorielle war in der zweiten Sendung von den Zuschauern ausgewählt worden, ihren Ekel zu überwinden und eine Abfolge von Cocktails mit teils noch lebendigen Tiereinlagen zu trinken. Es war nicht leicht, sich das anzusehen, aber das sonst so überkandidelte Wesen wurde in dieser Situation nicht noch überkandidelter, sondern verweigerte sich der vermutlich von größeren Teilen des Publikums erhofften hysterischen Rolle als Ultra-Daniel-Küblböck, riss sich zusammen, kämpfte, war tapfer – und plötzlich war es viel leichter, mit dieser Frau mitzufühlen, als sie zu verachten.

Bei Ross Antony gab es im vergangenen Jahr eine ähnliche Entwicklung. Am Anfang war er ein nervöses Wrack und erschien wie das fleischgewordene übelste Tunten-Klischee. Am Ende lachte das Publikum nicht mehr nur über ihn, sondern auch mit ihm, und er gewann als stolzer schwuler tuntiger Mann.

Es ist ein bisschen beunruhigend, dass es so viele Dreiviertel-Prominente zu geben scheint, die sich offenbar unter einem Zwang sehen, der Welt zu beweisen, wie tough und echt sie sind. Und es ist noch beunruhigender, dass sie glauben, dass der Gang in das Dschungelcamp der richtige Weg dafür ist. Aber so unwahrscheinlich es klingt: In dem Moment, in dem Lorielle diese Cocktails trank, verlor sie nicht, sondern gewann an Würde.

Im Gegensatz zu der Berichterstattung außerhalb der Show. In seinem Online-Auftritt zeigte RTL genau das, was vielen anderen Medien auch am naheliegendsten erschien: Ein großes Foto von Lorielle in dem Moment, als ihr etwas, das aus pürierten Kängurupenissen bestehen sollte und „Penis Colada“ genannt wurde, aus dem Mund quoll. Es sah aus wie Sperma.

Die Show spielt ein perfides Spiel mit uns. Sie ist über weite Strecken intelligent gemacht – aber sie bietet die Vorlage für die dümmstmögliche Berichterstattung. Sie balanciert durchaus gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen einer fairen Darstellung der Kandidaten, ihrer Sorgen und Nöte, und der Maximierung der Schadenfreude und Häme durch ihre Reduzierung auf reine Witzfiguren. Aber sie weiß, dass sie damit den Vorwand liefert, nur die Witzfiguren zu sehen, und profitiert natürlich von dem Hype und der Skandalisierung.

Die Show hat eine Distanz zu sich selbst, die der Berichterstattung über sie fehlt. So ist sie selbst erstaunlicherweise auch der Ort, an dem die wenigsten schlechten Wortspiele über den Nachnamen des Models Nico Schwanz gemacht werden. Während „Spiegel Online“ vorauseilend einen Artikel mit sämtlichen naheliegenden Assoziationen veröffentlichte, ging die Show selbst das Thema sofort auf der Meta-Ebene an: Mit einem Sparschwein, in das die Moderatoren Dirk Bach und Sonja Zietlow für jede anzügliche Anspielung fünfzig Cent werfen müssen.

Zum Geheimnis des überwältigenden Erfolges von „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ gehört, dass die Show nicht nur an die niedersten Instinkte appelliert (aber natürlich auch), sondern auch das Gehirn intelligenter Menschen anspricht. Sie ist hervorragend produziert, von Menschen, die offensichtlich Spaß an der Arbeit haben, und vielschichtig – im Gegensatz zu den Trittbrettfahrern in den anderen Medien mit ihren einfältigen Nacherzählungen und Hau-drauf-Witzen bei gleichzeitiger Distanzierung vom schrecklichen Programm. Die Show nimmt sich selbst viel weniger ernst, als es zum Beispiel „Bild“ oder auch die anderen RTL-Magazine tun, die bei jeder Wendung ins Hyperventilieren geraten, erlaubt sich aber genau dann, wenn es angemessen ist, auch Ernsthaftigkeit.

Als Ingrid van Bergen eines Abends am Lagerfeuer erzählte, wie es war, als sie ihren Lebensgefährten im Affekt tötete, war es eine faszinierende, etwas verstörende Erzählung, die einen Einblick in das Innenleben eines Menschen gewährte, für den Reinhold Beckmann vermutlich töten würde. „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ zeigte das ausführlich, ruhig, ohne Effekte, und hinterher sagen die Witzbolde Sonja Zietlow und Dirk Bach genau das Richtige: nichts.