Autor: Stefan Niggemeier

Kann Kühn Kerner kucken?

Kollege Alexander Kühn vom „Stern“ hat sich in seiner Fernseh-Video-Kolumne „Was kuckt Kühn“ auch gefragt, welchen Jahresrückblick er denn sehen soll. Den von Günther Jauch, der in dem Sender, mit dem der „Stern“ verwandt ist, „Stern-TV“ moderiert und produziert. Oder den von Johannes B. Kerner im ZDF.

Dann hat er verglichen, wer da eingeladen ist:

„Beim Jauch sehen wir heute Mario Barth, Sarah Connor, Sarah Connor ihre Mutter und Paul Potts. Der Kerner, der hat den grantelnden Reich-Ranicki, der hat die feuchte Charlotte Roche, der hat den starken Mathias Steiner und als Special Guest den Udo Lindenberg. Deswegen — so ungern man’s auch sagt: Heut‘ entscheide ich mich mit vollem Herzen für Johannes B. Kerner, ‚Menschen 2008‘.“

Stern.de hat diese Empfehlung auf seiner Startseite und in der Video-Übersicht wie folgt bebildert:

Goldene Kamera

Wenn man sich dereinst einmal vergegenwärtigen will, wie das damals war, Anfang 2008, in der Zeit vor der Großen Krise, dann wird man einfach den Satz von Jochen Beckmann zitieren können. Der Verlagsgeschäftsführer von Axel Springer erzählte im vergangenen Februar stolz, man habe die Goldene Kamera, den Preis der Fernsehzeitschrift „Hörzu“, überarbeitet: „Sie sieht aus wie ihre Vorgängerin, aber nun ist mehr Gold dran.“ Es muss eine Zeit gewesen sein, in der innere Werte noch zählten, weshalb der Verlag nicht nur in das unsichtbare Aufpäppeln der Kameras von 600 auf 900 Gramm Gewicht investierte, sondern erstmals auch den Drei-Sterne-Koch Juan Amador für das Catering engagierte.

Im kommenden Jahr übernimmt seinen Posten ein Herr Schmalhans. Springer will morgen beschließen, alle größeren Veranstaltungen und Preisverleihungen im nächsten Jahr abzusagen – neben der Goldenen Kamera unter anderem auch das Goldene Lenkrad und den „Bild“-Preis Osgar. Selbst die Kinder müssen dran glauben und auf die große Gala verzichten, mit der die Boulevardzeitung zuletzt gestern im ZDF ihr Herz für sie feierte. „Wir wollen nicht bei unserer wichtigsten Ressource, den Mitarbeitern und dem Journalismus, sparen, sondern lieber bei Partys und Events.“ Dabei waren die Vorbereitungen für die 44. Verleihung der „Goldenen Kamera“ am 4. Februar schon weit fortgeschritten: Frank Elstner war in der Nachfolge von Thomas Gottschalk gebucht und verkündet, und die Restleser der „Hörzu“ hatten schon ihre liebsten amerikanischen Fernsehserien gewählt. Die Absage ist vermutlich teurer, als es die ganze Show gewesen wäre, was man aber als langfristige Investition verbuchen muss. Das ist auch deshalb nur konsequent, weil das Ausfallen der Sendung den Menschen vermutlich eher in Erinnerung bleiben wird als die Sendung selbst.

Was für eine merkwürdige Krise: Die radikale, bis gestern völlig undenkbare Absage all dieser Vorzeigeveranstaltungen ist ein Fanal, ein unübersehbares Symbol dafür, dass nichts mehr heilig ist und alles hinweggeschwemmt werden kann von der Werbeflaute – und gleichzeitig völlig egal. Kein Zuschauer wird sie vermissen. Und Robert de Niro, Chuck Berry, Alfred Biolek, Kylie Minogue und Tokio Hotel haben ja die letzten Kameras in diesem Jahr noch abgestaubt. Die schweren, mit der Extraportion Gold.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Die Inflation des Elends


Foto: RTL

Man tut Michael Hirte nicht unrecht, wenn man sagt, dass er kein großer Mundharmonikerspieler ist. Dass die RTL-Show, die er am vergangenen Samstag gewonnen hat, zwar „Das Supertalent“ heißt, er aber vielleicht eher nur ein So-mittel-Talent ist. Den Fernsehzuschauern, die ihn wählten, war es egal, ob es bessere Mundharmonika-Spieler gibt und größere Talente. Das Publium war sich mit überwältigender Mehrheit einig: Dieser Mann hatte es verdient zu gewinnen. Weil er so sympathisch wirkt und in seinem Leben viel Pech hatte. Es gibt Dinge, die sind wichtiger als Talent.

Bevor Michael Hirte zum ersten Mal in der Show spielte, hatte RTL den Zuschauern schon seine Geschichte erzählt: Dass der LKW-Fahrer 1991 schwer verunglückt ist, für zwei Monate Koma fiel, seitdem gehbehindert ist und auf einem Auge nicht sehen kann, zur Zeit arbeitslos ist, von Hartz-IV lebt und sich ein paar Euro als Straßenmusiker verdient. Ohne diese traurige Geschichte wäre der große Erfolg des Mundharmonika-Spielers nicht zu erklären, und das ist völlig in Ordnung so: für ihn, für das Publikum, für die Show, für alle.

Dieser Effekt ist auch nicht neu. Neu ist, dass das noch nicht genug ist: die Behinderung, die Arbeitslosigkeit, die Geldnot. Dass Michael Hirtes Schicksal gerade fast jeden Tag noch tragischer werden muss.

Inzwischen ist bekannt: Dass er von seiner Ehefrau verlassen wurde, angeblich war sie eines Tages einfach weg. Dass seine Frau ihn anzeigte, wegen Körperverletzung, und ihn als Trinker bezeichnet. Dass zwei Männer in seine Wohnung eingedrungen sein und ihn verprügelt haben sollen. Dass er einen Offenbarungseid ablegen musste.

Heute informierte „Bild“ die Öffentlichkeit darüber, dass sein „Stiefpapa“ dement sei und von Michael Hirtes Mutter betreut werde. Dass sie schweren Krebs habe, sich regelmäßig ärztlichen Behandlungen unterziehen müsse und einen künstlichen Darmausgang trage. „Was keiner weiß“, hat die Zeitung davor geschrieben. Das wird man nicht mehr so oft schreiben können im Zusammenhang mit diesem „Supertalent“.

Michael Hirte setzt gerade ungewollt Maßstäbe, wie viel ein Mensch erlitten haben muss, um sich unsere Anteilnahme zu verdienen. Es ist eine Entwertung des Elends. Aber jede weitere Veröffentlichung von traurigen Details aus seinem Privatleben lässt uns nun sogar doppelt Mitleid haben mit ihm: nicht nur, dass er das alles erleiden muss, sondern auch, dass all das nun öffentlichkeitswirksam ausgebreitet wird, verwurstet zu Schlagzeilen, Bilderstrecken, „Explosiv“-Beiträgen.

Joey Kelly, der selbst mit der Kelly-Family jahrelang als Straßenmusiker über die Dörfer zog, bevor der große Erfolg kam, hat Michael Hirte am Montag in der RTL-Sendung „Extra“ einen erstaunlich offenen Ratschlag gegeben: Er solle jetzt „alles mitnehmen, was geht und richtig Vollgas geben, die nächsten ein, zwei Jahre, weil: Das kann schneller aussein, als man denkt.“ Joey Kelly weiß, wovon er spricht, und vermutlich hat er Recht. Nur dass es so scheint, als sei Michael Hirte einer dieser neuen „Stars“, für die „alles mitnehmen, was geht“ in Wahrheit bedeutet „alles abgeben, was geht“ – von seiner Privatsphäre.

2008 vs 2008! – Die Konferenzschaltung

In einem ungewohnten Akt von Zuschauerfreundlichkeit haben sich das ZDF und RTL entschlossen, ihre ausführlichen vorzeitigen Jahresrückblicke auf einen gemeinsamen Termin zu legen, um die Zahl der jahresrückblickfreien Tage im Dezember zu erhöhen — ein Vorbild, dem sich im nächsten Jahr hoffentlich weitere Sender anschließen werden. Wir würdigen die historische Entscheidung mit einer Konferenzschaltung: Niggemeier schaut Jauchs „2008! Menschen, Bilder, Emotionen“ (RTL), Schader Kerners „Menschen 2008“ (ZDF). Und wenn Sie mögen, sparen Sie sich einfach beide Rückblicke und verfolgen Sie hier live, was passiert. Um 20.15 geht’s los.

20:12 Uhr: Foul im ZDF! Kerners Show hat drei Minuten zu früh begonnen. Frühstart. Müsste zur unmittelbaren Disqualifikation führen. Pfeift aber keiner ab.

20:20 Uhr: Ein sehr merkwürdiger Effekt stellt sich bei der Begrüßung ein. Es sieht aus, als würden Jauch und Kerner in der gleichen Dekoration, vor dem gleichen Publikum, in der gleichen Show stehen. Die totale Verwechselbarkeit. Jauch beginnt mit Fabian Hambüchen — oder, wie er allgemein formuliert: Einem Mann, der wie viele von uns, sich in diesem Jahr Großes vorgenommen hat, es dann aber nicht ganz schaffte. Der Turner darf seinen missglückten Auftritt am Reck aus Peking noch einmal wiederholen. „Diesmal im Gold-Standard“, wie Jauch ankündigt.

20.25 Uhr, ZDF: Im ZDF geht’s mit dem „Horror von Hamburg“ los: dem Lufthansa-Flieger, der im März bei der Landung beinahe verunglückt wäre, und die Kamera zoomt passend dazu im Schwenkflug auf Kerner und seine Gäste hinab – den Premiere-Moderator Hansi Küpper (der in der Maschine saß) und Lufthansa-Chefpilot Jürgen Raps. „Hat die Lufthansa den Passagieren inzwischen mal ein Freiticket geschenkt – vielleicht für eine Bahnfahrt“, witzelt Kerner.

20.30 Uhr, RTL: Wir lernen einen 96-jährigen Rentner kennen, der dreifacher Uropa ist und Klimmzüge macht wie viele 26-jährige nicht. Nun turnt er mit Jauch und Hambüchen um die Wette. So ein Jahresrückblick ist für Jauch auch nur Stern-TV-XXL. Zu seinem hundertsten Geburtstag will er ihn wieder einladen, zum Jahresrückblick 2012 (der dann vermutlich schon in den frühen September vorgerutscht ist).

20.31 Uhr, ZDF: Das ZDF wiederholt gerade den halben Fernsehpreis, weil gleich Marcel Reich-Ranicki kommt. Also: nicht ins Studio, sondern bloß per Schaltung auf den Bildschirm. Und die sieht nicht so aus als sei sie live.

20.36 Uhr, RTL: Der Komiker Mario Barth ist in diesem Jahr vor 70.000 Menschen im Olympia-Stadion aufgetreten. RTL hat damit schon viele Stunden Programm bestritten. So gesehen natürlich nur konsequent, auch den Jahresrückblick damit zu füllen.

20.38 Uhr, ZDF: Gute Nachrichten, kündigt Kerner an: Die Geburtenrate in Deutschland steigt – und zählt dann die deutschen Promigeburten auf, gefolgt von denen aus Übersee: „Auch Hollywood ist endlich wieder fruchtbarer Boden.“ Hat er wahrscheinlich aus der „Bunten“ abgelesen. Bisher ist im Zweiten aber noch kein Live-Promi in Sicht.

20.40 Uhr, RTL: 2008 war anscheinend das Jahr, in dem eine Frau eine Gabel verschluckt hat.

20.43 Uhr, ZDF: Und Kerner spielt Rudi Carrell: Die Dame mit den Zwillingen, von denen einer helle Hautfarbe hat und einer dunkle, bekommt als Überraschung ihre lange nicht gesehene Mutter aus Ghana eingeflogen, drückt Kerner deswegen beinahe in die Bewusstlosigkeit und will gar nicht mehr weg. Kerner sagt: „Wir wollten die eigentlich alleine lassen, weil wir dachten: ist ne Familienangelegenheit. Aber jetzt bleiben die einfach auf der Bühne.“

20.48 Uhr, ZDF: Das Zweite erledigt Florian Hambüchen übrigens im Olympia-Rückblick-Einspieler. Wenigstens sieht man darin, was in Peking alles los war. Dem Kollegen Niggemeier fehlt das ja offenbar ein bisschen bei RTL. Anschließend sitzen Britta Heidemann, Matthias Steiner, Hinrich Romeicke – klarer Olympionikenvorteil für Kerner.

20.51 Uhr, RTL: Ich bereue ein bisschen, mich nur wegen einer gewissen Kerner-Allergie für RTL entschieden zu haben. Die Beliebigkeit hier ist grenzenlos. Andererseits, immerhin, klarer Pluspunkt: Werbepausen!

20.55 Uhr, ZDF: Hilfe, Johannes B. Kerner hat sich Fips Asmussen als Gagschreiber ausgeliehen? Oder wer erfindet sonst Sätze wie: „Hinrich Romeicke ist im richtigen Leben Zahnarzt, hat also von Natur aus mit Gold zu tun.“ (Wir sind noch bei Olympia.) Und der erzählt dann, dass es ein bisschen doof ist, dass er als Springreiter immer erst nach Feierabend üben kann, auf dem Pferd zu sitzen. Ha, was sollen denn das all die Marathonläufer mit Bürojob sagen?

20.58 Uhr, RTL: RTL scheint sich für einen reinen Kuriositätenjahresrückblick entschieden zu haben. Nun kommt ein Mann, der bei einer dieser Freier-Fall-Anlagen ungesichert außen an einem Sitz hing und dann damit 40 Meter in die Tiefe raste. Nach einer Minute war sein gefährlicher Hängeakt vorbei. Der Sprecher sagt: „Es ist vorbei.“ Aus dem Off singt Peter Heppner: „Es ist vorbei.“ Erste Frage von Jauch an den Mann im Studio: „Hatten Sie zwischenzeitlich mit dem Leben abgeschlossen?“ Antwort: „Eigentlich nicht.“ Sympathischer Mann.

21.00 Uhr, ZDF: Zum wievielten Mal muss Gewichtheber Matthias Steiner jetzt erzählen, wie er sich dazu entschieden hat, bei seiner Olympia-Siegerehrung das Foto seiner verstorbenen Frau hochzuhalten? Kürzlich erst beim Bambi, vor einigen Wochen bei Oliver Geißen in der „Show der Woche“ (müssen Sie nicht kennen, hat RTL längst wieder abgesetzt) – und jetzt eben im ZDF-Jahresrückblick. „Ich hab’s ja bei der Europameisterschaft schon genau so gemacht – da hat’s nur keiner gesehen“, sagt Steiner. Wenn die Fernsehleute das gewusst hätten!

21.04 Uhr, RTL: Michael Ballack sitzt vor einem Kamin in London und versucht wortreich, nichts zu sagen. Jauch fragt ihn dann wenigstens noch, warum er denn geheiratet hätte, obwohl er doch schon vorher ganz gut mit seiner Frau zusammen gelebt hätte. Ballack weiß es erst auch nicht, aber dann: „War ein bisschen Zeit im Sommer, deshalb haben wir das auch gemacht.“

21.07 Uhr, ZDF: Oh, apropos Kuriositätenrückblick: Ich hab hier gerade Gertrud Scheu, 82, die ihrem Mann Eugen zur diamantenen Hochzeit einen selbst gemachten Rückwärtssalto vom Drei-Meter-Brett geschenkt hat. Sind die Herrschaften etwa bei RTL entwischt?

21.11 Uhr: „dankegut“ schlägt unten in den Kommentaren vor: „Nächstes Jahr bitte den Rückblick im ZDF mit Jauch als Moderator!“ Wir sind dafür.

21.13 Uhr, ZDF: Eckart von Hirschhausen ist im ZDF ein Mann des Jahres, weil er gestern bei der ZDF-Sendung „Ein Herz für Kinder“ aus eigener Kasse 250.000 Euro gespendet hat. Oder weil seine Comedy-CD sich sechs Milliarden Mal verkauft hat (geschätzt). Eins von beidem halt.

21.24 Uhr, RTL: Sarah Connor, in der Rubrik „Trennungen des Jahres“. Jauch spricht einen typischen kleinen „RTL-Exclusiv“-Beitrag. Es klingt merkwürdig, mit seiner Stimme Sätze zu hören wie: „Aber die beiden bleiben Eltern.“ Oder: „Auf ihrem T-Shirt steht ‚Always Family“, und das gilt auch für ihre Musik.“ Sie singt, will aber zu ihrer Trennung nichts sagen. Gleich kommt ihre Mutter, die ja in diesem Jahr Zwillinge bekommen hat, bringt aber ihre Zwillinge nicht mit, weil sie schon schlafen. (Wenn sich das hier langweilig liest, könnte das an der Sendung liegen.)

21.25 Uhr, RTL: Breaking News: Sarah Connors Mutter (ca. 50) nimmt jetzt die Pille.

21.26 Uhr, ZDF: So. Jetzt wird‘s wieder ernst. Finanzkrise bei Kerner. Also: nicht bei ihm direkt, sondern in der Sendung. Und wen hat das ZDF dazu eingeladen? Island? Nee, Karlheinz Bellmann, der seine Ersparnisse in Island angelegt hatte und dann dorthin gefahren ist, um sich zu beschweren. „Wiso“-Chef Michael Opoczynski soll derweil mal erklären, wo es hin ist, das Geld. Kann er aber auch nicht sagen. Und Kerner fragt eine Rentnerin, die von ihrer Bank Anlagen bei Lehman Brothers angedreht bekommen hat: „Sie sind aber nicht so ne Zockerin?“

21.32 Uhr, ZDF: Das Zweite lässt in der Fußgängerzone wieder die Hits des Jahres nachsingen. In der Mainzer Innenstadt natürlich, wo sonst? Die lustigsten Minuten bisher. Ehrlich.

21.36 Uhr, RTL: ölkjölmö.öööölyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyy

Oh Verzeihung, kurz auf der Tastatur eingenickt. Kurt Beck war da. Die kurzen Filme zur Vorstellung werden anscheinend von den gleichen Leuten mit Musik unterlegt, die sonst „Bauer sucht Frau“ machen. Zu den Bildern von Becks Rücktritt hören wir die Zeile „I used to rule the world“ von Coldplay. Dann ist er im Studio, und Jauch fragt ihn, was für ihn nach diesem Jahr schwerer wiege – das Scheitern in Berlin oder dass er in Rheinland-Pfalz seine Heimat wiedergefunden habe. (Kurze, verstörende Sehnsucht nach den richtigen Psychofragen von Reinhold Beckmann.) Becks antwortet: „Ich lebe mit beidem.“ Außerdem sagt er: „Ich habe auch gerade ein Paket geschnürt“, für gegen die Finanzkrise, nehme ich an. Aber er mag Katzen und hat ein Katzenbild für einen Kalender gemalt (siehe unten). Jauch bedankt sich zum Schluss bei ihm besonders, weil man so viele Politiker angefragt hätte, aber nur er zugesagt hätte. Kann man auch als Entschuldigung an die Zuschauer verstehen, im Sinne von: Wenn wir jemanden aufregendes bekommen hätten, hätten wir ihn natürlich genommen.

21.42 Uhr, ZDF: Jetzt hat das ZDF bald alle Showklassiker-Elemente durch: Zwei Mädchen kennen alle Cornelia-Funke-Bücher auswendig und wollen die Titel an drei Sätzen erkennen, die ihnen Gottschalk, äh: Kerner vorliest. Das dürfte den in den Medien so beliebten „Wetten dass…?““-Nachfolgespekulationen eine unerwartete Wendung geben. Cornelia Funke ist auch da und sagt: „Fantastisch! Unglaublich!“

21.50 Uhr, RTL. Eine Ehepaar hing dieses Jahr irgendwann irgendwo zweieinhalb Stunden kopfüber mit ihrem Flugzeug in einer Stromleitung. Das war bestimmt total dramatisch. Also, ganz anders als diese Sendung.

21.51 Uhr: Herr Niggemeier, war der Mann schon da, dessen Fallschirm beim Sprung nicht aufgegangen ist und der trotzdem überlebt hat? Ach, halt, das war im letzten Jahr – ich weiß nur nicht mehr, ob bei Kerner oder Jauch.

21.52 Uhr, RTL. Philipp Lahm. RTL übererfüllt die Fußballer-Quote. Anscheinend ist „Das Spiel“ insgesamt offensiver geworden, schneller auch. Aber hinten ist auch wichtig.

21.59 Uhr, ZDF: Gerade erzählt Nujood Ali aus dem Jemen, wie sie dieses Jahr im Alter von zehn Jahren von ihren Eltern an einen 20 Jahre älteren Mann zwangsverheiratet werden sollte, sich dagegen wehrte und vor Gericht die Scheidung durchsetzen konnte. Also: interessanter als Philipp Lahm. Anschließend erzählt Kerner, dass das ZDF dem Mädchen eine Reise ans Meer schenken wolle, weil sie sich das so wünsche und schenkt ihr als Symbol – eine Landschildkröte aus Plüsch.

22.01 Uhr, RTL. Auftritt Paul Potts, der Mann aus der Telekom-Werbung. Gut, das war zweifellos der Werbespot des Jahres und auf ’ne Art das Lied des Jahres. Ich hoffe nur, dass der einfach nur singen darf und nicht auch gleich Jauch noch erklären muss, wie das war, wie er sich gefühlt hat, damals, als er bei „Britain’s Got Talent“ gewonnen hat, und wie das jetzt ist für ihn, wie er sich fühlt, da er in Deutschland ein Star ist etc pp.

22.08 Uhr, RTL. Okay, ich lag daneben. Tatsächlich fragte Jauch: „Was erinnert Sie heute noch an Ihr altes Leben?“ („Ich hab immer noch Kontakt mit den Freunden, mit denen ich früher gearbeitet habe, oder meiner Familie, normalerweise über SMS, aber ich genieße das Jahr jetzt.“) Und: „Warum haben Sie Ihre Zähne richten lassen? („Ich hab mich immer blöd gefühlt, wenn ich gelächelt habe. Selbst auf meinen Hochzeitsbildern habe ich den Mund geschlossen.“) Nachher kommt noch Michael Hirte.

22.13 Uhr, ZDF, RTL: „Was uns dieses Jahr bewegt hat“, zeigt das ZDF im Schnelldurchlauf: Katastrophen, Entführungen, Rettungsversuche. Nachher spricht „Aktenzeichen XY“-Moderator Rudi Cerne über das Holzklotz-Attentat von der Autobahnbrücke. Und der Münchner Rentner, der in der U-Bahn von zwei Jugendlichen brutal angegriffen wurde, muss dem ZDF nochmal erklären, wo genau es passiert ist. Kollege Niggemeier erzählt, bei Jauch werde gerade das Brandunglück von Ludwigshafen diskutiert. Wir sind also auf beiden Sendern in der ernsthaften Phase des Abends angelangt.

22.17 Uhr, RTL: Zu Gast sind Kamil Kaplan, der in Ludwigshafen ein Baby aus dem brennenden Haus geworfen hat, und der Polizist Uwe Reubner, der es auffing. Hinterher bekommt die Tochter von Kaplan, die im Publikum sitzt, von Jauch als Weihnachtsgeschenk eine Digitalkamera, die sie sich wohl gewünscht hat. Kurze Schrecksekunde bei mir. Ist aber keine „Bild“-Leser-Reporter-Kamera.

22.23 Uhr, ZDF: Weil es im Sommer beim EM-Spiel der Nationalmannschaft während der Live-Übertragung Bildausfall gab, hat „der findige ZDF-Mann“ Thorsten Schmidt, der als Bildingenieur in der Zentrale in Mainz Dienst hatte, die Idee gehabt, das Signal des Schweizer Fernsehens aufzuschalten. Und ist vom Sender nachher als Dank nicht nur zum Endspiel eingeladen worden, sondern jetzt auch zu Kerner. Was man nicht alles für seinen Arbeitgeber zu ertragen bereit ist.

Anschließend geht’s weiter mit Bastian Schweinsteiger, Jens Lehmann und dem Fußball-Rückblick.

22.34 Uhr, RTL. Zum ersten Mal wirkt Jauch spontan und locker – als er Angst hat, sich auf den Formel-1-Wagen von Sebastian Vettel zu setzen und nicht weiß, ob er etwas kaputtmachen kann oder sich den Hintern verbrennt. Vettel ist ein Gast, um den sich die Jahresrückblickseinlade-Experten in den nächsten Jahren streiten sollten. Er erzählt, wie das war, beim Reinfahren ins Studio, ganz knapp an den Zuschauern in der ersten Reihe vorbei: „Die Leute haben wie beim Staubsaugen zuhause die Füße hochgenommen.“ Und auf die Frage, warum seine Freundin nicht mit zu den Rennen kommt, ob sie das nicht will oder er nicht, sagt er: „Das ist ja mein Büro, und wer nimmt schon seine Freundin mit ins Büro?“

22.37 Uhr, ZDF: Ok, das war natürlich unvermeidlich: Oliver Kahn, der dieses Jahr seine Torwartkarriere beendete, beglückt seinen neuen Co-Kommentator Kerner mit einem Besuch – und der bedankt sich mit einer derart überschwänglichen Ankündigung, dass man glauben könnte, Kahn müsse demnächst Bundeskanzler werden. Mindestens.

22.44 Uhr, RTL. Leona Leewis singt „Bleeding Love“. Kollege Schader stöhnt. Ich hatte schon drei Show-Blöcke zur Erholung, er nur einen.

Werbepause.

22.48 Uhr, ZDF: „Menschen des Jahres“ sind beim ZDF übrigens auch die Fußballer vom 1. FC Germania 08 Forchheim, die Kerner jetzt als Gag auf der Couch sitzen hat, weil sie in der Kreisklasse 216 Tore kassiert haben, bevor sie selber mal den Ball reingekriegt haben und sich jetzt als „schlechtester deutscher Fußballverein“ verspotten lassen müssen. Die schlimmere Fehlleistung ist aber wohl, die Einladung des ZDF angenommen zu haben.

22.53 Uhr, ZDF: Die schönsten fünf Minuten kamen gerade von den „Frontal 21“-Kollegen Doyé und Wiemers, die sonst die Politsatire „Toll!“ machen und schon mal die lustigsten Höhepunkte aus diesem Jahr zusammenschneiden durften. Mehr gibt’s im „Satirischen Jahresrückblick“ am 16. Dezember im ZDF – und den kann ich schon mal vorab empfehlen.

23.00 Uhr, ZDF: Kerner erklärt eine Lokalpolitik-Posse aus dem bayerischen Bergtheim. Es wird gerade etwas beliebig hier. Und gleich Udo Lindenberg. Da kann ich ja kurz ein Nickerchen machen.

23:01 Uhr, RTL: Thomas Beatie, der Mann, der eine Frau war, aber nach seiner Geschlechtsumwandlung ein Kind bekam (und gerade wieder schwanger ist), ist mit Frau und Kind zu Gast. Jauch fragt, ob die beiden ihrer Tochter früh erzählen wollen, dass ihr Vater sie ausgetragen hat. Er antwortet, dass sie es ihr die ganze Zeit schon erzählen… „Es ist einfach so, dass ihre Mutter sie nicht austragen konnte, ihr Vater konnte es aber.“ So einfach ist das. „Durch Ihren Auftritt hier haben Sie, glaube ich, ein paar Millionen Menschen, die Ihnen Ihr Glück wünschen“, sagt Jauch. Und als Geschenk für das Baby und ihr zukünftige Schwester gibt es zwei Plüsch-Seepferdchen, „die einzigen Tiere, bei denen auch die Männer die Jungen austragen“. Awwwwww.

23.08 Uhr, RTL: Gold-Schwimmerin Britta Steffen. Mittendrin im Gespräch zeigt Jauch den auch beim x-ten Ansehen noch grandiosen, lustigen und bewegenden Fernsehausschnitt, wo sie unmittelbar nach dem Sieg in der ARD hemmungslos heulend ihre Familie grüßt. Und mir wird plötzlich klar, was ich lieber sehen würde als diese ganzen Gespräche: einen Jahresrückblick.

23.08 Uhr: Herr Niggemeier, ist Frau van Almsick irgendwo in der Nähe und weint vor Freude?

23.10 Uhr, ZDF: Lindenberg schmiert ein Selbstporträt auf ein Flipchart. Wetten, dass das gleich versteige… – oh, ist schon soweit.

23.14 Uhr, RTL und ZDF: Das Timing ist perfekt. Exakt gleichzeitig in beiden Programmen Oliver-Kahn-Parodien. Das ZDF hat die gute mit Max Giermann („Switch Reloaded“), RTL die andere mit Oliver Pocher.

23.16 Uhr, ZDF: „Switch Reloaded“ darf fürs ZDF sogar einen kompletten „heute journal“-Jahresrückblick nachstellen. „Hier geht es jetzt weiter mit Johannes B. Kerner – naja, immer noch besser als Bauer sucht Frau im Unterschichtenfernsehen“, moderiert der falsche Claus Kleber ab. Dann ist ein Viertel des „Switch Reloaded“-Teams zu Gast und Kerner stell Kerner-Fragen: „Wie schafft man sich so ’ne Figur drauf?“ Aber: gute Idee, die einzuladen.

23:18 Uhr, RTL: In einem Schnelldurchlauf als Musikvideo zappt RTL sekundenweise durch: Obama, Ypsilanti, Reich-Ranicki, Merkel, Zumwinkel, Kaukasus-Krieg, Karadczic, Anstetten, ICE, Klimawandel, Erdbeben in China, Fackellauf… All das, was in einem Jahresrückblick vorgekommen wäre.

23:35 Uhr, RTL: Zum Finale: der deutsche Paul Potts, Michael Hirte. RTL ist sich selbst genug.

23.37 Uhr, ZDF: Während Herr Niggemeier weiter darauf wartet, einen Jahresrückblick zu sehen und keine beliebige Kuriositätensammlung, zeigt das ZDF, welche Stars und Prominente dieses Jahr gestorben sind – das gehört nun mal dazu. Kerner hat schon zwanzig Minuten überzogen und kündigt den letzten „Mensch des Jahres“ an: „Feuchtgebiete“-Autorin Charlotte Roche. Ups, da hat Andrea Ypsilanti, die auch mal angekündigt war, wohl abgesagt.

23:40 Uhr, RTL: ERSTER! Ich bin durch. Und Michael Hirte, der in seiner spröden Art eine Belebung für jede dieser glatten Sendungen ist, sagte am Ende in die Verabschiedung noch mit großer Selbstverständlichkeit: „Ich wünsche allen ein großes Fest.“

23.41 Uhr, ZDF: Roche sagt: „Ich will nicht das ganze Jahr über Analverkehr reden.“ Und: „Meine Eltern war früher stolz auf mich, als ich Fernsehen gemacht habe. Seit dem Buch nicht mehr.“ Und Marcel Reich-Ranicki darf es noch „rezensieren“ (innerhalb von 20 Sekunden): „völlig literarisch wertlos“. Und jetzt bitte AUFHÖREN! Nach dreieinhalb Stunden.

23.44 Uhr, RTL: Vielleicht könnte RTL im nächsten Jahr einen richtigen RTL-Jahresrückblick zeigen. Also einen, der konsequent auf das RTL-Jahr zurückblickt, mit den Gewinnern in den von RTL übertragenen Sportarten plus „Domino Day“, den Helden der RTL-Castingshows, den Tops und Flops von „RTL-exclusiv“, den schönsten Spots im RTL-Programm. Sie sind schon nah dran. Man müsste nur ein paar Alibi-Geschichten weglassen. Aber es wäre so viel konsequenter. Und noch müheloser. Vermutlich könnte man es auch komplett aus den „Stern TV“- Sendungen des Jahres zusammenschneiden. (Ist jetzt nicht das bestgelaunte Fazit des Abends, aber das fällt mir nach dreieinhalb Stunden auch schwer.)

23.46 Uhr, ZDF: Schluss in München, „Ich & Ich“ singen: „So soll es bleiben“. Das gilt aber hoffentlich nicht für den Jahresrückblick-Marathon von ZDF und RTL – auch wenn das Zweite eindeutig den besseren Rück-Blick hinbekommen hat.

Gute Nacht aus Berlin. Und vielen Dank fürs Mitlesen und Kommentieren.

Rückrufaktion für Journalismus

Mitte der neunziger Jahre habe ich als Medienredakteur bei der Zeitschrift „Werben & Verkaufen“ gearbeitet. Es waren knapp eineinhalb Jahre, in denen ich viel gelernt habe, darunter auch, dass ich dort nicht mehr arbeiten möchte.

Die Bedingungen für kritischen Journalismus bei solchen Fachtiteln sind schlecht. Das liegt schon daran, dass die Leute, für die man schreibt, dieselben sind wie die Leute, über die man schreibt, und dieselben wie die Leute, deren Anzeigen die Haupteinnahmequelle darstellen. Um Druck auf Journalisten auszuüben und ungewünschte Berichterstattung zu verhindern, haben die Unternehmen gleich drei Möglichkeiten: Sie drohen damit, einen nicht mehr zu informieren. Sie drohen damit, die Abos zu kündigen. Und sie drohen damit, ihre Anzeigen zu stornieren. Die letzte Variante ist die wirkungsvollste, aber alle drei kommen vor. Und die Mimosenhaftigkeit von Verlagsvertretern und ihre Unwilligkeit, so etwas abwegiges wie kritischen Journalismus zu akzeptieren, muss man erlebt haben, um sie zu glauben.

Man braucht, um in dieser Konstellation mehr zu sein als ein Kuschel- und Verlautbarungsorgan für die Verlage, Sender und Agenturen, einen Chefredakteur mit Rückgrat, der die vielfältigen und bedrohlichen Einschüchterungsversuche abwehrt. Der weiß, dass es zwar kurzfristig existenzbedrohend scheinen mag, sich mit den Verlagen anzulegen, es aber langfristig viel existenzbedrohender ist, nicht das aufzuschreiben, was ist, sondern das, was die Verlage gerne läsen. Solche Chefredakteure sind rar.

Die Fachzeitschrift „Horizont“ hat in dieser Woche eindrucksvoll ihre Rückgratlosigkeit demonstriert. Die Hamburger Korrespondentin Elke Jacob, eine Fachfrau für Mediaplanung (mit der ich mir vor Jahren ein Büro in Hamburg teilte), hatte eine gute Idee für einen Artikel über das bevorstehende Zeitschriftensterben. Bei den mächtigen Mediaplanern, die im Auftrag der Werbekunden entscheiden, wann und wo die Werbung gebucht wird, fragte sie nach, welche Titel ihrer Meinung nach das kommende Jahr nicht überleben werden.

Der Rücklauf war laut „Horizont“ sehr anständig: 14 Mediaplaner nannten die Titel, die sie in der Werbekrise am gefährdetsten halten und begründeten ihre Wahl; drei weitere gaben immerhin besonders bedrohte Zeitschriftensegmente an. Jürgen Blomenkamp, Chef der Düsseldorfer Mediaagentur Group M, erklärte sich sogar bereit, in einem Interview Klartext zu reden. „Das Marktpotenzial könnte in den kommenden fünf Jahren um bis zu 50 Prozent schrumpfen“, sagte er, „mit den entsprechenden Konsequenzen für viele Einzeltitel.“

Der Artikel und die Liste waren fertig. „Horizont“ gab, wie üblich bei mehr oder weniger exklusiven Geschichten, einen Tag vor Erscheinen der Zeitung eine kurze Vorabmeldung heraus. In der wurden auch die drei Titel genannt, die nach Ansicht der Mediaplaner die Schwarze Liste der vom Aussterben bedrohten Titel anführten: „Tomorrow“ (Burda-Verlag), „Bravo Screenfun“ (Heinrich Bauer Verlag) und „Emotion“ (Gruner + Jahr). Eine entsprechende Meldung veröffentlichte die Zeitung auch in ihrem Online-Auftritt:

Die betroffenen Verlage und der Verband der Zeitschriftenverleger (VDZ), der mit „Horizont“ gerade noch eine redaktionelle Sonderbeilage produziert hatte, müssen schockiert und empört auf soviel unabhängigen Journalismus reagiert haben, den sie sonst von der Fachpresse nicht kennen. Offenbar übten sie Druck auf „Horizont“ aus, und „Horizont“ gab dem Druck nach. Die Pressemitteilung wurde zurückgezogen, der Online-Artikel kommentarlos gelöscht, die Produktion gestoppt, der Artikel ausgetauscht. Die aktuelle Ausgabe „Horizont“ erschien deshalb erst heute, einen Tag verspätet.

Dass die Verlage unglücklich sind, wenn einer ihrer Titel auf einer solchen schwarzen Liste steht, kann man verstehen: Schließlich lässt es ein für die Werbewirtschaft ohnehin schon unattraktives Heft noch unattraktiver erscheinen. Aber das müssen sie aushalten. Das nennt man Journalismus.

Die Verlage aber glauben, dass das schlimmste, was man mit Problemen tun kann, ist, sie zur Kenntnis zu nehmen. Wenn man auf einen Abgrund zurast, muss man sich vor allem die Augen zuhalten (und, wenn möglich, noch den mahnenden Rufer am Wegesrand überfahren).

Und „Horizont“? Chefredakteur Volker Schütz hat gegenüber Peter Turi die Rückrufaktion für den Artikel damit erklärt, der Artikel sei „nicht durch die Qualikontrolle“ gegangen und deshalb wieder rausgeflogen — das sei „der normale Redaktionsalltag“. Das ist natürlich nicht die Wahrheit. Nebenbei betreibt Schütz damit auch Rufschädigung, indem er impliziert, die langjährige Autorin Elke Jacob habe einen nicht druckbaren Text abgeliefert. Er beschädigt fahrlässig eine Journalistin, die den Fehler gemacht hat, eine journalistische Geschichte zu schreiben. Soviel zum Thema Rückgrat.

Volker Schütz bemüht sich inzwischen auch an dieser Front um Schadensbegrenzung und erklärt mir gegenüber auf Anfrage: „Elke ist eine unserer erfahrensten, mir persönlich liebsten und besten Mitarbeiter.“ Er bestreitet auch, dass „Horizont“ die Tabelle „erst auf Druck des VDZ, der Verlage oder der ‚Horizont‘-Verlagsleitung gestoppt“ habe: Das sei „wirklich vollkommener Käse“. Die verspätete Rückrufaktion sei die Entscheidung der Chefredaktion gewesen — „sicherlich nach Rücksprache mit Verlagsleitung Markus Gotta“. Schütz‘ Fazit:

„Das Ganze ist bitter, mehr als ärgerlich und hat [Co-Chefredakteur] Herrn Scharrer und mir zwei schlaflose Nächte und ein wahrscheinlich auch eher unentspanntes Wochenende beschert. Punkt. Aber: ‚Horizont‘ wird, auch wenn die Zeiten härter und rauher werden, nicht in Ranküne, Häme oder Print-ist-tot-Kolportage abgleiten, wie es andere machen.“

Das ist, gelinde gesagt, niedlich formuliert angesichts der Art, wie „Horizont“ nun die schmerzhaften Aussagen auf homöopathische Dosis reduziert und in dicke Watteschichten verpackt. Die Zeitung macht nun mit der unendlich nichtssagenden Schlagzeile auf:

Top-Mediaplaner sieht Verlage unter Zugzwang.

Und der Artikel selbst schafft es sogar, die äußerst negative Prognose des Mediaplaners Blomenkamp zunächst ins Positive zu drehen:

Mit einer schonungslosen Analyse des deutschen Printmarkts macht Jürgen Blomenkamp den Verlagen zumindest in einem Punkt Mut. „In der fragmentierten Medienwelt gewinnt die Reichweite wieder an Wert, deshalb haben wir ein großes Interesse daran, dass starke Printtitel bestehen bleiben.“

Der Text ist dann frei von jeder konkreten negativen Titelnennung — allein drei als positive Ausnahmen erwähnte Zeitschriften dürfen namentlich genannt werden.

Nicht, dass das zum Beispiel eine Zeitschrift wie „Bravo Screenfun“ retten wird, deren Anzeigenumfang in den letzten sieben Jahren um 70 Prozent zurückgegangen ist. Die Zahl der verkauften Exemplare ist in den vergangenen drei Jahren um 91 Prozent geschrumpft. Im Schnitt betrug die Auflage im vergangenen Quartal noch 14.602 Exemplare. Es spricht nichts dafür, dass „Horizont“ versucht hätte, gesunde Zeitschriften kaputtzuschreiben.

Es gibt eine schöne, traurige Ironie an der Sache. Man kann die Zitate von Jürgen Blomenkamp auch so lesen, dass Zeitschriften vor allem Relevanz bräuchten, um zu überleben. Die Rückrufaktion von „Horizont“ in dieser Woche war auch ein klares Bekenntnis gegen eigene Relevanz.

[via Turi2]

Verkonkt (1)

Michael Konken ist der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalistenverbandes (DJV). Ich bin ihm hier schon einmal begegnet. Vergangene Nacht äußerte er sich im ARD-„Nachtmagazin“ zum Thema der neuen Leserreporter-Kamera, die „Bild“ mit Lidl anbietet:

Fast überall wird der Bürger inzwischen in die Medien eingebunden. Vor allem in der Internet-Welt. Bringt das die Berichterstattung nicht nach vorne?

Konken: Nein, denn das ist die Aufforderung, wirklich hier die Privatsphäre zu missbrauchen. Denn diejenigen, die dann die Berichte liefern, die die Videoaufnahmen machen, die wissen nicht, wo die Privatsphäre anfängt. Sie werden zur Hetzjagd gezwungen auf Prominente, die nicht mehr sicher sein können. Sie werden Katastrophen filmen wollen. Sie werden damit Hilfskräfte dann auch in ihrer Arbeit behindern. Sie werden Polizeikräfte auf der Autobahn behindern. Das sind Auswüchse, glaube ich, die wir nicht gutheißen können, und die auf jeden Fall den Journalismus gefährden. Denn diejenigen, die ihn hauptberuflich ausüben, die werden Nachteile dadurch haben.

Der letzte Satz ist wichtig: Konken kämpft nicht für den Journalismus. Er kämpft für Journalisten. Es gibt schließlich Menschen, die davon leben, dass sie zu Unfällen fahren, die Rettungskräfte, Wracks, Verletzten und die zugedeckten Leichen filmen und die Aufnahmen an Privatsender und „Hallo Deutschland“ im ZDF schicken. Was soll aus denen werden, wenn plötzlich nicht mehr Profis, sondern Amateure unseren Voyeurismus bedienen? Wer gerade mit dem Rücken auf dem Asphalt einer deutschen Autobahn eine Herz-Lungen-Massage bekommt, soll wenigstens die Gewissheit haben, dass der Kameramann, der ihn dabei filmt, das hauptberuflich macht und weiß, wo seine Privatsphäre angefangen hätte.

Aber der andere Satz, den Konken über potentielle Leserreporter sagt, ist natürlich noch viel besser: Sie werden zur Hetzjagd auf Prominente gezwungen?

Ich habe eine Weile überlegt. Mir ist dazu nichts mehr eingefallen.

Thomas Knüwers Ende der Debatte

Vielleicht hat Sönke Iwersen einfach den Fehler gemacht, den Eintrag seines „Handelsblatt“-Kollegen Thomas Knüwer beim Wort zu nehmen. Unter der Überschrift „Weil der Journalist sich ändern muss“ wiederholte Knüwer in seinem „Handelsblatt“-Blog „Indiskretion Ehrensache“: Dass für Journalisten nichts mehr so zu sein scheint, wie es war. Dass Journalisten mit der bisherigen Arbeitsweise nicht weiter kommen. Dass Journalisten sich den neuen Kommunikationsformen nicht mehr verweigern dürfen. Dass Journalisten sich nicht mal ansatzweise ausreichend an die neue Zeit angepasst haben. Dass „viele, viele Kollegen eine geistige 180-Grad-Wende“ vollführen müssen.

Knüwer hat das schon oft gesagt, geschrieben und gebloggt. Und vielleicht war es für Iwersen das eine Mal zuviel. Jedenfalls dachte er wohl: Mache ich einfach mal etwas Anderes, etwas Unerhörtes, und benutze die neuen Kommunikatonsformen dafür, meinem Redaktionskollegen Knüwer öffentlich zu widersprechen.

Es war ein Widerspruch, der weniger mit diesem einen Eintrag zu tun hatte und mehr mit Knüwers ganzer Selbstinszenierung und seinen ewig glänzenden Augen für jeden Gimmick des Web 2.0. Offenbar hatte sich da schon länger etwas aufgestaut. Der Kommentar lautete:

Lieber Thomas,

Bei aller kollegialer Zurückhaltung: mir ist kein Journalist bekannt, bei dem Selbstdarstellung und Realität derart auseinanderklaffen wie bei Dir. Vielleicht könntest Du die permanente Selbstbeweihräucherung mal kurz unterbrechen und erklären, warum Deine fantastische Verdrahtung über Xing, Facebook, Twitter und Co. so wenig journalistischen Mehrwert bringt. Wenn es tatsächlich so wäre, dass diese Kommunikationswege neue Infos erschließen – warum kommen die Scoops im Handelsblatt dann nicht von Dir, sondern immer von anderen Kollegen?

Man kann Dir oft dabei zusehen, wie Du selbst in Konferenzen ständig mit Deinem Telefon herumdaddelst. Vielleicht twitterst Du nur grad, dass Du grad gern einen Keks essen würdest – wer weiß das schon. Jedenfalls führt das Ganze nicht dazu, dass Du das Blatt laufend mit Krachergeschichten füllst. Bieterkampf bei Yahoo? Neues vom Telekomskandal? Untergang von Lycos? Das alles wären doch Themen, zu denen Dir, dem hyper-vernetzten Journalisten, die Insidernachrichten zufliegen könnten. Tun sie aber nicht. Stattdessen stellst Du gern mal eine Nachricht als exklusiv vor, die morgens schon über Agentur lief oder in der New York Times stand.

Ich verstehe einfach nicht, warum Du ständig diejenigen Kollegen runtermachst, von deren Geschichten Du selbst lebst. Eine große Zahl Deiner Blogeinträge basiert doch auf Artikeln Deiner Print-Kollegen, zu denen Du dann einfach Deinen Senf dazugibst. Ohne die von anderen recherchierten Grundlagen hättest Du da nichts zu schreiben.

Du behauptest, die Journalisten müssten sich ändern und meinst damit wohl, sie müssten so werden wie Du. Es ist aber so, dass die meisten Kollegen gar kein Interesse daran haben, Nachrichten einfach nur wiederzukäuen, so wie Du.

Es ist Dir ja unbenommen, in Deinem Blog eine Art Resteverwertung zu betreiben. Aber bitte verkauf das nicht als Zukunft des Journalismus.

Bei aller Begeisterung, die ich selbst für viele neue Formen der Kommunikation und des Journalismus aufbringen kann, und bei aller Verzweiflung, mit der ich beobachte, wie viele Kollegen glauben, dass die beste Antwort auf Probleme und beunruhigende Veränderungen ist, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen — ich finde, dass in dieser wütenden Erwiderung genug Wahrheit steckt, über die es sich zu diskutieren lohnt.

Und wer, wenn nicht Thomas Knüwer, plädiert immer wieder für schonungslose Offenheit und Kritik und Selbstkritik? Wer ist so schnell im Austeilen, dass er das auch einfach einstecken könnte?

(Knüwer ist einer von denen, die oft schneller bloggen als denken ((ich leider manchmal auch)), was er in dem Beitrag wieder zeigte, als er der FAZ vorwarf, sie hätte ihre mangelnde Internet-Kompetenz erneut bewiesen, indem sie einen Artikel zum Thema von Harald Staun aus der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ nicht online freischaltete. Dabei war er schon am Samstagabend online, woraus man wiederum Schlüsse über Knüwers eigene Internet-Kompetenz ziehen könnte.)

Jedenfalls: Eine Diskussion über den Kommentar von Iwersen fand nicht statt. Knüwer löschte ihn.

Er erklärte mir das auf Anfrage damit, dass Iwersen mit seinem Kommentar „eindeutig gegen interne Regeln im Umgang mit Blogs und Kommentaren“ verstoßen hätte. Es sei zwar erlaubt und sogar erwünscht, dass „Handelsblatt“-Redakteure die Blog-Einträge ihrer Kollegen kommentieren. Auch Widerspruch sei erlaubt — aber nur fachlicher Art. In Iwersens Kommentar sieht Knüwer aber keine solche Kritik, sondern eine „unglaubliche Diffamierung“. Er sei „zutiefst enttäuscht“, dass der Kollege ihn in dieser Form angegriffen habe.

Nachdem sich mehrere andere Blogger der Sache angenommen hatten, begründete Knüwer die Löschung schließlich in seinem Blog damit, dass Iwersen sich mit dem Kommentar möglicherweise „in arbeitsrechtliche Probleme gebracht hätte“ — keine überzeugende Argumentation, denn wenn es solche Probleme gibt, hat Iwersen sie nun auch so.

Knüwer weiter:

Warum Herr Iwersen Animositäten gegen mich hegt, die er in der Redaktion bisher nicht zum Ausdruck brachte, ist mir nicht klar. Dies auszudiskutieren ist aber kein Thema für ein Blog.

Nicht?

Warum Herr Iwersen Animositäten gegen Thomas Knüwer hegt, wird aus seinem Kommentar jedenfalls sehr deutlich. Im Zweifelsfall wird auch er sich diffamiert gefühlt haben — nicht persönlich, aber wieder und wieder getroffen von Knüwers Angriffen auf Journalisten, die nicht so sind wie Knüwer.

Ich finde es eine berechtigte Frage, der sich Leute wie Knüwer (und ich) ernsthaft stellen müssen: Wer denn die Artikel recherchiert, während wir Kommentare moderieren und Twitter-Beiträge lesen und lustige Experimente mit Kamera-Übertragungen machen. Das ist keine Entweder-Oder-Debatte, denn natürlich wird der Journalismus der Zukunft beides brauchen: traditionelle und neue Formen der Recherche und des Publizierens.

Der unwichtigste, aber vielleicht erstaunlichste Aspekt der kleinen Kollegen-Konfrontation 2.0 beim „Handelsblatt“ ist allerdings, dass Thomas Knüwer offenbar unterschätzt hat, wie viel Aufmerksamkeit er der Sache gibt, wenn er einen solchen Kommentar löscht. Dass er keinen Weg fand, ihn einfach stehen zu lassen und darauf zu antworten (oder auch nicht). Dass er da ungefähr soviel Internet-Kompetenz bewies wie Theo Zwanziger.

Nachtrag, 23.10 Uhr. Nach einigem Hin und Her und Hin hat Thomas Knüwer den Kommentar jetzt wieder freigeschaltet. Der Konflikt ist damit aber nicht aus der Welt — der grundsätzliche um das Thema nicht und der konkrete um den Kommentar auch nicht.

Die Adventsklickmaschine von jetzt.de

Sie scheint täglich größer zu werden, die Panik der Medien, aus ihren Internetangeboten womöglich nicht auch den allerletzten Klick herausgepresst zu haben. Bei jetzt.de, dem Online-Jugendableger der „Süddeutschen Zeitung“, treibt die Verzweiflung gerade besondere Blüten. Gestern fand jedes Mitglied auf seiner persönlichen „jetzt-Page“, die ein Gästebuch enthält und verschiedene Möglichkeiten, sich anderen vorzustellen, plötzlich ein großes Bild wieder:

Es handelt sich, wie die Redaktion mitteilte, um einen „besonderen Adventskalender“: Um die Türen zu öffnen und zum Beispiel einen Fisch durch die Winterlandschaft springen zu lassen, muss man jetzt.de viele Klicks schenken. Das passiert mithilfe des „jetzt.de-Weihnachtsspiels“, das Besucher von sueddeutsche.de (und dieses Blogs) schon unter den Namen „Klick it like Beckham“ kennen.

Zur Lösung sind mehrere Dutzend Klicks nötig, die von sueddeutsche.de sämtlich als „PageImpressions“ an die zentrale Zählstelle der IVW geschickt und dann von Medienjournalisten und anderen Ahnungslosen gerne mit Ausweisen redaktionellen Erfolgs verwechselt werden.

Die Begeisterung bei der sogenannten „Community“ über das Geschenk hält sich bislang in Grenzen: Viele Kommentatoren bitten um die Möglichkeit, die vorweihnachtliche Klickmaschine wenigstens auf ihrer jetzt.de-Page ausblenden zu können. Ihre Beschwerden verhallen bislang ohne Reaktion.

[mit Dank an Christoph Lauer!]

Nachtrag, 17:45 Uhr. Um 15:55 Uhr reagierte jetzt.de-Mitarbeiter Nico Wilfer in den Kommentaren:

Wir bringen sehr bald für Nichtsammler die Möglichkeit, den Adventskalender aus der jetztpage zu entfernen. Bitte entschuldigt, dass wir das nicht schon zum Start angeboten haben.

Hauptsache, es ist auf Papier

In einem Beitrag des NDR-Medienmagazinis „Zapp“ über das verlogene Geschäft der Boulevardzeitungen mit Sex-Anzeigen hat sich der deutsche Oberwerber Volker Nickel eindrucksvoll um das Ehrenabzeichen der Nationalen Initiative Printmedien beworben:

Zapp: Wie sehen Sie das denn in Punkto Jugendschutz. Ist der nicht betroffen, wenn Kinder so Formulierungen lesen wie „Dreilochbegehbar“?

Volker Nickel, Deutscher Werberat: Naja, es wäre schon schön, wenn mehr Kinder Zeitung läsen. Und auch die Anzeigen läsen. Aber Kinder haben für solche Anzeigenteile kaum Interesse.

(Der ganze Beitrag in der ARD-Mediathek.)