Monat: Dezember 2006

Interaktions-Attrappen

Der konkrete Fall ist eine Kleinigkeit, aber ich fürchte, er steht für ein größeres Missverständnis: Klassische Medien glauben, es sei damit getan, den Lesern die Möglichkeit zu geben, unter den Artikeln einen Kommentar zu hinterlassen, und schon sei man in der interaktiven, digitalen, Web2.0-igen Zukunft Gegenwart angekommen.

Nein, liebe „Rheinische Post“, man muss diese Kommentare auch lesen. Und auf sie reagieren. Viel peinlicher als ein blöder Flüchtigkeitsfehler in der Überschrift…

Stefan Raab steigt gegen wieder Regina Halmich in den Ring

…ist es nämlich, wenn unter dem Artikel seit über einer Woche zwei Leserkommentare stehen, die die Redaktion auf ihren blöden Flüchtigkeitsfehler hinweisen. Und einer davon auch auf einen traurigen sachlichen Fehler, den man aus der „Bild“-Zeitung abgeschrieben hat. (Sowohl der Chefredakteur der „Rheinischen Post“ als auch der Chef der Online-Redaktion kommen von „Bild“.)

Es ist ein langer Weg. Irgendwann werden die Medien vielleicht begreifen, dass es nicht darum geht, bestimmte Formalien zu erfüllen („Wir müssen eine Kommentarfunktion haben“), sondern die Leser und ihre Reaktionen ernst zu nehmen. Und dass das nicht nur in deren Interesse ist, sondern vor allem im eigenen.

Olli Dittrich

Die erfolgreichste Kochshow gerade ist eine, in der Menschen für andere kochen, die aus gutem Grund ihren Lebensunterhalt nicht damit verdienen, für andere zu kochen. RTL und ProSieben lassen in Eislaufarenen fachfremde Prominente (an deren eigentliche Talente man sich schon kaum erinnern kann) gegeneinander antreten – um zu zeigen, wie in ein paar Wochen mit viel hartem Training aus Menschen, die kaum gerade auf dem Eis fahren können, Menschen werden, die kaum eine Pirouette auf dem Eis fahren können. Nachmittags spielen Richter, Staatsanwälte und Polizisten Schauspieler, die Richter, Staatsanwälte und Polizisten spielen. Die langlebigsten Serien sind von jungen Leuten bevölkert, die die Darstellerei offenbar als Durchgangsstation zum Job als „Moderator“, „Sänger“ oder „Gast“ verstehen. Selbst die Show „Let’s Dance“ „You Can Dance“, in der Tanztalente gesucht werden, besteht daraus, HipHopper zum Wiener Walzer zu zwingen und Jazztanzer zum Rap.

Man muß sich diesen Kult des Amateurhaften, Halbfertigen, Dilettantischen vergegenwärtigen, um die Leistung von Olli Dittrich wirklich würdigen zu können. Jemand wie er wäre mit seinem fast beunruhigenden Perfektionismus und Ehrgeiz vermutlich in jeder Form von Fernsehkultur eine Ausnahmeerscheinung. Aber in dieser, in unserer ist er ein Wunder.

Am Donnerstag verkörperte er in einem „Harald Schmidt“-Special Franz Beckenbauer, und schon die ersten Sekunden, während Schmidt ihn ankündigte, waren ein erstaunliches Schauspiel. Die Art, wie Dittrich in seinem Stuhl saß und Schmidts Worte wortlos kommentierte, einmal mit einem Wangenzucken, einmal indem er den Daumen leicht bewegte – er war mit jeder Faser Der Kaiser. Jemand, der die Rituale dieses Millionsten Interviews erträgt, mit Würde, Routine und mildem Desinteresse – das Gefühl, daß diese Huldigungen sehr angemessen, aber auch sehr langweilig sind, goß Dittrich in kleinste Regungen. Er schuf ein Beckenbauer-Konzentrat – keine Parodie, eine Imitation, bei der alles noch einen Tick beckenbaueresker war als bei Beckenbauer (was schon als Möglichkeit schwer vorstellbar war, bevor man Dittrich gesehen hatte).

Er zeigte die ganze Vielfalt beckenbauerschen Lachens: das zeitgewinnende Öhöhö, das routiniert-amüsierte in Worten wie „FC Ba-ha-hayern“, das eine eigene Pointe ankündigende Hähä, das irritierte Ä-ä-ä-ä, wenn eine Frage ihn tatsächlich amüsierte. Auf die Eingangsfrage, ob in Kitzbühl Schnee liegt, antwortete er: „Der Willi Bogner, es ist ein Freund von mir, hat jetzt ein, zwei Schneekanonen in Position gebracht, die große Freude in diesem Jahr, es wird auch unter dem Weihnachtsbaum immer eine Rolle spielen, die Weltmeisterschaft, die wir gehabt haben, die uns einfach in den nächsten hundert, achtzig, fuchzig, zwanzig, dreißig, ja: drei, bis vier Jahren wahrscheinlich nicht mehr ins Haus schneien wird.“ Von seiner Audienz beim Papst berichtete er mit den Worten: „Er hat gesagt, Sie sind eine Lichtgestalt, ich hab gesagt: Sie aber auch. Da ham wir beide gelacht.“ Und als Schmidt ihn auf Rudolf Nurejew ansprach, hatte Dittrich-Beckenbauer noch vor dem Ende des Nachnamens „der Rudi!“ eingeworfen (und dann vom Ein-Zimmer-Appartment erzählt, das sie sich in New York teilten: „im Big Apple, wie man heutzutage sagt“).

Anstatt nach Sollbruchstellen zu suchen, an denen die Imitation vom Original abweicht, ließ Dittrich einen viele Abgründe des Beckenbauerschen Mediendaseins überhaupt erst bewußt werden. Und daß die Gedankengänge und Formulierungen des Franz an manchen Stellen ein bißchen so klangen wie die eines gewissen Dittsche, kann nur damit zu tun haben, daß es da bisher unerforschte Parallelen gibt. An Dittrich lag es nicht.

Beckenbauer hätte noch am Donnerstagabend zurücktreten müssen. So gut wie Olli Dittrich ist er als Beckenbauer einfach nicht.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Eine Gedenkminute für Sat.1

Aber wir sollten in diesen Tagen des Kaufens, Schenkens und Fressens die Menschen nicht vergessen, denen es nicht so gut geht. Menschen, die sich höchstens mal an einer Pressemitteilung wärmen können, aber deren Alltag ein trübes Grau ist, ohne Anspruch, ohne Ehrgeiz, ohne Etat, ohne Hoffnung.

Menschen, die in der Redaktion „Aktuelle Magazine“ von Sat.1 arbeiten.

Bei „Blitz“, dem Magazin, das laut Eigen-PR „für topaktuelle Informationen und Reportagen aus der Welt der Schönen und Reichen“ steht, haben sie heute einen schönen Bericht über ein Konzert von Marc Terenzi gezeigt, das Ende August stattgefunden haben muss.

Bei „Sat.1 am Mittag“, dem Magazin, das laut Eigen-PR „alles bietet, was Fernsehen spannend macht: live, tagesaktuell“, haben sie am Dienstag einen schönen Beitrag über Weihnachtseinkäufe mit Kindern gezeigt, der aus dem Jahr 2002 stammen muss und wegen einem heulenden Kind („weil der Weihnachtsmann immer denkt, eine große Sache reicht“), damals schon ausgiebig bei „TV Total“ recycelt wurde [zip].

Gut gefallen hatte mir auch, wie „Sat.1 am Mittag“ im März 2006 einen Beitrag zeigte, in dem Stromkontrolleure bei der Arbeit begleitet wurden. Und wenn sich das Alter dieses „tagesaktuellen“ Berichts nicht schon an der hochsommerlichen Vegetation im Hintergrund hätte erahnen lassen, dann wäre die Tatsache, dass die Kontrolleure von der „Bewag“ waren, die zu diesem Zeitpunkt längt „Vattenfall“ hieß, ein guter Hinweis gewesen.

Da fällt mir ein: Ich hab dieses Jahr gar keine Weihnachtskarte von Sat.1 bekommen. Ob ich mir Sorgen machen sollte?

Fernsehaufsicht in Deutschland

Am 1. Dezember 2004 schickt „Big Brother“ die Container-Bewohnerin Franziska für zehn Stunden in ein „Bestrafungszimmer“ und spielt ihr immer wieder dasselbe Lied vor.

Am 20. Dezember 2006 entscheidet der Vorstand der Hamburgischen Anstalt für Neue Medien, die Übertragung dieser Aktion im Tagesprogramm des (seit über einem Jahr nicht mehr existierenden) Senders MTV2Pop förmlich zu beantstanden.

Und diesen Witzfiguren ist es nicht einmal zu peinlich, dazu noch eine Pressemitteilung herauszugeben.

Wie gesagt.

(via Popkulturjunkie)

Nachtrag. Gerade erst gesehen: Die arbeiten sich ja in einen richtigen Rausch, bei der Hamburgischen Landesmedienanstalt. Vor gut zwei Wochen erst, am 5. Dezember 2006, rügten sie eine MTV2Pop-Sendung vom September 2004.

„Spiegel Online“ in die Psycho-Klinik

„Spiegel Online“-Chef Mathias Müller von Blumencron hat gegenüber der „taz“ die Entscheidung verteidigt, die „Bild“-Unterhaltungschefin Patricia Dreyer im nächsten April zur neuen Leiterin des „Panorama“-Ressorts zu machen — obwohl deren Name u.a. über dem Artikel stand, mit dem die „Bild“-Zeitung 2004 ihre Schmutzkampagne gegen Sibel Kekilli begann:

Dreyer sei für diese Geschichte und ihre Aufmachung nicht zuständig gewesen. „Man kann sich auch fragen: Muss man jemanden sein Leben lang für eine solche Geschichte verantwortlich machen?“

Ja, das kann man sich auch fragen. Man müsste es vielleicht nicht so formulieren, dass es klingt, als hätte Dreyer den Artikel in den frühen 60er Jahren geschrieben oder in der Pubertät und nicht im Februar 2004. Aber natürlich sollte man niemanden auf einen einzigen Artikel reduzieren, den er geschrieben hat.

Patricia Dreyer hat ja auch andere Sachen geschrieben.

Im März 2005 eine „Bild“-Serie über Sarah Connor, über der grotesk irreführende Überschriften standen wie: „Ich sollte mein Baby abtreiben … nur für die Karriere“ oder: „Mit meiner Freundin übte ich Zungenküsse“ — aber vermutlich war sie auch da für die Geschichte und ihre Aufmachung nicht „zuständig“ gewesen.

Und im Oktober 2003 einen „Bild“-Artikel, der mit den Worten begann:

Jetzt ist die zweite, zensierte Fassung von Dieter Bohlens Enthüllungsbuch im Handel. Viele pikante Stellen mussten geschwärzt oder gestrichen werden. Lesen Sie exklusiv in BILD die Enthüllungen, die Prominente verbieten ließen.

Und natürlich war sie für die Beleidigungen und Unterstellungen, die dann folgten, nicht „zuständig“, die waren ja von Bohlen.

Patricia Dreyer schrieb Artikel wie..

  • Ingrid Steeger in der Psycho-Klinik
  • „Sie muss weg von der Familie! Weg von den Freunden! Rettet meine Frau!“ — TV-Star Bernd Herzsprung (61) will, dass seine kranke Frau Barbara (50) wieder in die Psycho-Klinik geht.
  • Jetzt gehe ich erst mal in die Nerven-Klinik. Jimmy Hartwig – Abschied vom Dschungel-Camp
  • Yvonne Wussow Brustkrebs-Drama
  • Arme Jutta Speidel! / Warum fällt sie immer auf die falschen Männer rein?
  • Jetzt redet Michelle Hunziker über ihren Ehekrieg: Eros lügt und will mich fertigmachen!
  • Nackt-Eva triumphiert in der Lippenschlacht
  • Michael Jackson: Was trieb er mit diesem Hamburger Jungen
  • Macht Dschungel-TV dumm?
  • Fleißig büffelt Naddel für den Idioten-Test
  • Rod Stewart größter Pop(p)-Star aller Zeiten.

Und womöglich sind all diese Artikel sogar journalistisch unangreifbar. Aber man kann sich auch fragen, was es bedeutet, wenn der „Spiegel Online“-Chef sagt: „Wir wollen die Berichterstattung im Panorama-Ressort verstärken und originärer machen“, und dafür die Autorin dieser Texte einstellt.

Cross-Promotion III

Herrjeh. In vier Tagen ist Heiligabend. Heute oder morgen wird Millionen Menschen einfallen, dass sie noch ein Weihnachtsgeschenk brauchen. Und dann werden sie sich erinnern, dass es da ja ein gutes, ein wirklich gutes Buch gibt, das auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen teuer erscheint, aber dessen Preis-Leistungs-Verhältnis sich auf den zweiten Blick doch als sensationell günstig herausstellt. Ein über 1500-seitiges Werk über 7000 Sendungen, ein Lexikon über das Fernsehen, ein Fernsehlexikon, „Das Fernsehlexikon“. Ein Buch, das selbst in seinen Bildtexten mehr Witz enthält als eine RTL-Sitcom in 13 Teilen (siehe Ausriss links).

Und wenn all diese Menschen heute (oder morgen) zu unseren Freunden von amazon.de gehen, um schnell noch dieses wunderbare Buch für ihre Liebsten zu bestellen, könnten sie eine bittere Enttäuschung erleben: Aktuell ist dort nur noch 1 Buch auf Lager. Was, wenn das plötzlich verkauft ist?

Zum Glück gibt es das Buch auch noch bei bol.de und buch.de, die für Bestellungen bis Freitagmittag sogar noch rechtzeige Lieferung versprechen. Und damit sind die jetzt auch unsere Freunde.

Übrigens gibt es drüben beim Blog zum Buch aktuell auch ein Video aus dem bizarren ARD-Jahresrückblick 2006. Und eine Übersicht über alle 2006 eingestellten Fernsehsendungen. Dafür muss man nicht mal ein Buch kaufen.

Fotostrecke ohne Sehenswürdigkeiten

Persönlich würde ich die Qualität eines Online-Mediums auch daran messen, ob es mir zu einem Artikel ein, zwei ausgewählte Fotos präsentiert. Oder eine uferlose Bildergalerie mit allen Agenturfotos, die die Datenbank automatisch zum Thema auswirft.

Bei „Spiegel Online“ zum Beispiel erscheint mit großer Berechenbarkeit seit einigen Wochen bei jedem Artikel, der mit dem Streit um den Berliner Hauptbahnhof zu tun hat, um die nicht gebaute Gewölbedecke im Untergeschoss oder das verkürzten Glasdach oben, exakt dieselbe siebenteilige Bildergalerie:

Hier und hier und hier und hier.

Und als sei das an sich nicht schon albern genug, zeigt leider keines der sieben Fotos das, worum gestritten wird: die ursprünglich geplante Decke, die nun doch gebaut werden soll, oder das Glasdach, weder in der geplanten Länge noch in der real exisiterenden Stummelversion. Der Bildtext „Ursprüngliche Planung des Architekten ‚erheblich entstellt'“ steht neben einem Foto vom nicht entstellten Teil des Bahnhofs. Und neben der vielversprechenden Zeile „Im Prozess ging es um die Decke im Untergeschoss“ sieht man das Foto eines einfahrenden Zuges im Obergeschoss.