Monat: Juni 2011

Döpfners rote Linie

Es ist weniger ein Interview, das die „Süddeutsche Zeitung“ mit Mathias Döpfner geführt hat, als eine Möglichkeit für ihn, ausführlich und ungestört durch kritische Nachfragen die eigene Position darzustellen. Das ist vielleicht kein Zufall, denn die „Süddeutsche Zeitung“ klagt mit der Axel-Springer-AG, deren Vorstandsvorsitzender Döpfner ist, (und anderen Verlagen, darunter auch dem der FAZ, für die ich regelmäßig arbeite) gegen die kostenlose „Tagesschau“-Anwendung für iPhone und iPad.

Döpfner sagt, die ARD habe mit der „Tagesschau“-App (Abb.) eine „rote Linie“ überschritten. Das ist bemerkenswert, denn es gibt andere Stellen, an denen sich eine solche Grenze deutlich klarer ziehen ließe. Man könnte zum Beispiel, wenn man wollte, argumentieren, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Internet gar nichts zu suchen haben. Man könnte auch sagen, dass sie im Internet nur Videos und Audio-Aufnahmen publizieren dürfen, wahlweise mit der Einschränkung, dass die auch im Radio oder Fernsehen gelaufen sein müssen. Für Döpfner sind das aber bestenfalls andersfarbige Linien.

Die Grenze zieht er dort, wo die ARD Inhalte aus ihrem Internetangebot in einer für Tablets und Smart Phones optimierten Version anbietet. Das Kriterium gibt ihm die „SZ“ freundlicherweise in der Frage vor:

Markiert die Selbstverständlichkeit, mit der auf einem Markt überwiegend bezahlter Angebote ein kostenloses Produkt eingebracht wird, für Sie die Grenze der zumutbaren Aktivitäten von ARD und ZDF?

Döpfner bejaht.

Das ist ein erstaunlich komplexes Kriterium für eine „rote Linie“. Die Grenze besteht darin, dass es um einen Markt geht, in dem angeblich die Mehrheit der Anbieter Geld für etwas nimmt, das die „Tagesschau“ aufgrund ihrer Gebührenfinanzierung kostenlos anbieten kann. Natürlich hat das Angebot von tagesschau.de auch dann einen Wettbewerbsvorteil, wenn man es über einen Internet-Browser aufruft, weil es sich nicht durch Werbung finanzieren muss. Aber das Internet scheint Döpfner als Medium, in dem eine „Gratiskultur“ herrsche, ohnehin abgeschrieben zu haben. Auf Smartphones oder Tablets werde dagegen bezahlt, „für jedes Telefonat, jede SMS, MMS, für Apps“. Kostenlose Angebote wie das der „Tagesschau“ bedrohen nach dieser Logik die Bezahlkultur auf iPhone und iPad insgesamt und jedes einzelne kostenpflichtige Nachrichtenangebot.

Die Argumentation würde umgekehrt bedeuten, dass es tagesschau.de als kostenloses Angebot auch im Internet-Browser nicht geben dürfte, wenn es Döpfner und seinen Leuten gelungen wäre oder noch gelänge, eine umfassende Bezahlkultur im Internet zu etablieren, was vielleicht schon eine Ahnung davon vermittelt, wie wenig tragfähig diese Argumentation ist.

Schon eine einzige kostenlose App wie die der „Tagesschau“, suggeriert Döpfner, kann ein ganzes Geschäftsmodell zerstören. Aber wenn sich allein über den Preis solche erstaunlichen Nutzerzahlen erreichen lassen, ist das natürlich eine verführerische Nische auch für einen privaten Wettbewerber. In einer Welt voller kostenpflichtiger Apps kann es sich lohnen, der eine zu sein, der kostenlos ist und sich dank enormer Reichweite mit Werbung refinanzieren kann. Selbst wenn es Döpfner und seinen Mitstreitern gelänge, die „Tagesschau“ aus dem Wettbewerb im App-Store zu verbannen, wäre das ein erhebliches Risiko.

Schon vor eineinhalb Jahren hatte Döpfner die „Tagesschau“-App mit dem Verlust von „Tausenden Arbeitsplätzen in der Verlagsbranche“ in Verbindung gebracht. Er hat seine These seitdem eher noch weiter zugespitzt. Im Grunde scheint das Überleben des gesamten Qualitätsjournalismus jenseits öffentlich-rechtlicher Anstalten von der Finanzierung durch Apps abzuhängen: „Es geht schlicht um die Frage“, sagt er, „ob Qualitätsjournalismus als Geschäftsmodell noch Bestand haben wird.“ Auf Papier allein werde er sich nicht mehr finanzieren lassen, im Internet herrscht die angebliche Kostenloskultur, bleiben nur die Apps.

So wie er es schildert, ist es extrem schwierig, in Zukunft überhaupt noch guten Journalismus unter kommerziellen Bedingungen zu produzieren. Daraus schließt er, dass der Staat alles tun muss, um jedes potentielle Hindernis für die Verlage (die wohl synonym sind mit Produzenten hochwertiger journalistischer Inhalte) auszuräumen. Das hat natürlich eine gewisse Logik. Es hat aber auch einen großen Haken. Niemand, auch nicht Döpfner, kann garantieren, dass das Katastrophenszenario, das er beschreibt, nicht trotzdem eintritt, obwohl die „Tagesschau“ und ähnliche öffentlich-rechtliche Angebote verboten werden.

Es gäbe natürlich eine andere Antwort auf die Herausforderung, die Döpfner beschreibt. Wenn unklar ist, wie sich unter den Bedingungen der digitalen Welt überhaupt hochwertiger Journalismus finanzieren lässt und ob Verlage nicht womöglich massenhaft eingehen, obwohl die kostenlose „Tagesschau“-App verboten wurde, ist es aus gesellschaftlicher Sicht doch begrüßenswert, sich wenigstens darauf verlassen zu können, öffentlich-rechtliche Anbieter die Menschen gut informieren.

Döpfners Katastrophenszenario verschafft ARD und ZDF im Netz eine neue mögliche Legitimation, genau genommen die alte: durch verlässlich und von allen gemeinsam finanzierte Medien eine umfassende Grundversorgung sicherzustellen, selbst wenn die privaten Anbieter in schlechten Zeiten oder aus grundsätzlichen Problemen das nicht in befriedigendem Maße tun können. Aber das habe ich ja alles schon mal geschrieben.

Es ist bemerkenswert, in welchem Maß Döpfner die „rote Linie“, die ARD und ZDF keinesfalls überschreiten dürfen, davon abhängig macht, was private Unternehmen tun. Die Grenze soll davon abhängen, welche Refinanzierungsmodell die Mehrheit der Unternehmen in einem noch extrem jungen und beweglichen Markt wie dem der Nachrichten- und Medien-Apps wählt. Das Bundesverfassungsgericht, das mit seinen Rundfunkurteilen das Duale System in Deutschland maßgeblich gestaltet hat (weil die Politik es noch nie konnte oder wollte), hat die Rechte von ARD und ZDF aber immer aus sich selbst heraus definiert. Was Unternehmen, die sich mit journalistischen Inhalten unter kommerziellen Bedingungen auf einem Markt bewähren müssen, unter bestimmten Umständen zu leisten vermögen, war für das Gericht bislang ausdrücklich nicht entscheidend, weil es keine Gewähr dafür gab. Ich wüsste gerne, woher die Verlage den Optimismus nehmen, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Fall plötzlich anders urteilen sollte.

Döpfner und seine Mitstreiter sind nicht zu beneiden. Sie müssen argumentieren, dass es erst die App der „Tagesschau“ war, durch die die ARD eine endgültige Grenze überschritten hat, weil sie es versäumt haben, schon gegen das Internet-Angebot tagesschau.de vorzugehen. Dabei verstößt auch das ihrer Meinung nach gegen den Rundfunkstaatsvertrag, weil es nicht nur Videos, sondern auch Artikel enthält. (Nach Ansicht des FDP-Medienpolitikerclowns Burkhardt Müller-Sönksen handelt es sich deshalb um eine „Printausgabe“ der „Tagesschau“.)

Die Konzentration auf die Kostenlosigkeit der „Tagesschau“-App führt zu schmerzhaften Verrenkungen der Verleger. Springers Außenminister Christoph Keese sagt: „Im Supermarkt kann man für den Joghurt auch keinen Euro nehmen, wenn daneben kostenlose Ware steht.“ Dem ist gleich zweierlei zu erwidern: Erstens, natürlich kann man. Wenn der eigene Joghurt besser ist als das Gratis-Angebot oder auch nur einzigartig. Menschen bezahlen für Zeitungen, obwohl es vielfältige Möglichkeiten gibt, sich kostenlos zu informieren — weil sie die besondere Qualität von Zeitungen insgesamt oder ihrer Stammzeitung zu schätzen wissen. Und zweitens: Wenn Keese Recht hätte, könnte er seine Joghurtproduktion gleich dichtmachen. Es wird immer jemanden geben, der Nachrichten kostenlos im Netz oder auf Smartphones anbietet. Ich fürchte, ein Geschäftsmodell, das nur funktioniert, wenn alle Konkurrenten mitmachen und niemand andere Wege nutzt, den Joghurt zu finanzieren, ist kein Geschäftsmodell.

Die „Tagesschau“ ist nicht die einzige kostenlose Anwendung, die den kostenpflichtigen Verlagsangeboten im App-Store Konkurrenz macht. Auch der Fernsehsender n-tv bietet gratis eine, Müller-Sönksen würde sagen: dicke Printausgabe an. Nun ist es natürlich in vielerlei Hinsicht ein Unterschied, ob ein privatwirtschaftliches Unternehmen einen solchen Schritt geht oder eine durch „Zwangsgebühren“ finanzierte Anstalt. Aber wenn Döpfner und Keese mit ihrer Alles-oder-nichts-Argumentation Recht hätten, wäre das Ergebnis dasselbe: der Tod des Qualitätsjournalismus.

Ich weiß nicht, wie die Gerichte entscheiden werden. Aber ich bin mir sicher, die rote Linie, die Döpfner da auf den Boden gemalt hat, ist keine.

PS: Auf meinem iPad ist die angeblich kostenpflichtige „Welt HD“-App aus dem Hause Springer installiert. Das Abo ist angeblich „seit 28. Oktober 2010“ abgelaufen. Aber die App funktioniert. Ist das auch eine Form von Gratiskultur? Und versündige ich mich am Qualitätsjournalismus, wenn ich die App trotzdem benutze? (Zahlen würde ich dafür allerdings nicht.)

Fahndungsaufruf: Gesucht wird… die Logik im „Polizeiruf 110“

Kann mir bitte jemand erklären, was da heute im „Polizeiruf“ passiert ist?

Entweder liegt es an mir – ich bin durchaus häufiger in irgendwelchen privaten oder semiberuflichen Runden derjenige, der als einziger die entscheidende Verbindung zwischen Mörder und Opfer nicht verstanden hat. Oder die Geschichte, die dieser „Polizeiruf“ aus Brandenburg erzählt hat (der erste mit Maria Simon als Hauptkommissarin Olga Lenski), war totaler Unsinn.

Fangen wir mit einem Detail an. Folgende Situation. Ein Häftling ist aus dem Freigang nicht zurückgekehrt. Werner Linsing, ein früherer Arbeitskollege von ihm, hat die Polizei alarmiert, dass er bei ihm sei. Die neue Kommissarin und der alte Krause fahren zu ihm und klingeln. Linsing macht die Tür auf, aber nur einen kleinen Spalt, so dass man nicht in die Wohnung gucken kann. Neinneinnein, sagt er, ach was, der sei schon wieder weg, der Typ, der sei auch gar nicht hochgekommen, neinnein, hat sich erledigt, undtschüß.


Jeder Zuschauer, der schon mehr als null Krimis in seinem Leben gesehen hat, weiß: Der Häftling steht neben ihm hinter der Tür und bedroht ihn. Tatsache:

Frau Lenski und Herr Krause aber sind anscheinend keine Krimigucker, merken nichts und gehen.

Nun ist es nicht so, dass Frau Lenski blind, blöd oder unaufmerksam wäre. Noch im Fahrstuhl fällt ihr ein, dass es in der Wohnung gerade nach Zigarettenqualm roch und Stunden vorher jemand in einem ganz anderen Zusammenhang nebenbei erwähnt hatte, dass Linsing gar nicht raucht. Daraus, nicht aus der eindeutigen Reaktion des Mannes in der Tür, schließt sie, dass da was nicht stimmt. Sie rennt die Treppen wieder rauf, bricht in die Wohnung ein und findet Lensing tot an seinem Schreibtisch.

So. Testfrage. Was machen Hauptkommissarin Olga Lenski und Hauptmeister Horst Krause als nächstes? Sie rennen wieder ins Treppenhaus, denn weit kann der Mörder ja nicht sein? Sie holen Verstärkung, um gemeinsam das Haus zu durchkämmen? Sie schauen aus dem Fenster, ob sie unten jemanden weglaufen sehen?

Aber nein. Sie stellen fast, dass der Mann auch wirklich tot ist und rufen entspannt die Spurensicherung.

Hallo?

Nun ist das für den Plot dieses „Polizeirufs“ eine, zugegeben, eher kleine, nicht entscheidende Delle im Ablauf. Es ist nicht die einzige. Vor allem aber ergibt sich bei der Auflösung des Falles ein Logikloch von der Größe Celles.

Ich versuche das Geschehen mal chronologisch zusammenzufassen, wie ich es verstanden habe. (Spoiler-Warnung für alle, die die Sendung nicht gesehen haben und trotz dieses Eintrags noch ansehen wollen, zum Beispiel hier in der Mediathek.) Also.

Ulrich Oppmann, der ehrgeizige Leiter eines astrophysikalischen Instituts, will ein Superfernrohr bauen, kommt aber an entscheidender Stelle nicht weiter. Den Durchbruch verdankt er einer genialen Idee seines Feinmechanikers Felix Diest. Er will aber dessen Leistung nicht anerkennen und kündigt ihm. Diest rächt sich, indem er Oppmanns kleine Tochter entführt. Er kommt dabei in eine Polizeikontrolle, gerät in Panik und überfährt einen Beamten. Bevor er dafür ins Gefängnis geht, überlässt er das entführte Kind seiner Schwester, gibt es als seines aus und sie dann als ihres.

Fünf Jahre später. Frau Oppmann macht sich immer noch täglich verrückt wegen ihrer verschwundenen Tochter, was die Ehe belastet, aber auch verhindert, dass Herr Oppmann sie für seine Sekretärin verlässt. Oppmann bekommt den Nobelpreis für die Erfindung, die er als seine ausgegeben hat. Diest nutzt einen Freigang für einen Versuch, Oppmann dazu zu bringen, ihm die Hälfte des Preisgeldes zu geben und die Wahrheit zu sagen. Er entführt das Mädchen, das immer noch bei seiner Schwester lebt, aus dem Kindergarten und zwingt seinen ehemaligen Arbeitskollegin Linsing (siehe oben), ihm Papiere zu geben, die womöglich seine Urheberschaft beweisen. Linsing stirbt an einem Herzinfarkt. Oppmanns guckt in der Mitarbeiterakte die Adresse von Diests Schwester nach und fährt hin, weil er dort sein Kind vermutet. Es kommt zu einem Showdown mit sämtlichen Beteiligten in Oppmanns Villa, wo Diest nun auch noch Oppmanns Frau als Geisel genommen hat, um Oppmann zu zwingen zuzugeben, dass die Erfindung nicht seine Idee war. Das Kind wird gefunden, Diest kommt wieder in Haft und nimmt sich dort das Leben.

Mh?

Ich kann nicht garantieren, dass diese Zusammenfassung stimmt, womöglich habe ich da Dinge durcheinandergebracht. Diverse Kollegen haben sehr anerkennend über diesen „Polizeiruf 110“ geschrieben, anscheinend ohne solche Plausibilitätsprobleme gehabt zu haben oder in ein Logikloch gestolpert zu sein. Vielleicht kann mir also jemand folgende Fragen beantworten:

— Wenn Professor Oppmann ahnte, dass es Diest war, der seine Tochter entführt hat, warum hat er das nicht der Polizei gesagt? Oder hat früher schon einmal bei Diests Schwester (deren Adresse ja in Diests Personalakte stand) nachgesehen? Etwa aus Angst, dass Diest dann verrät, dass das Superfernrohr gar nicht Oppmanns Erfindung war? Wirklich?

— Und Diests Schwester hat es einfach so hingenommen, dass Diest plötzlich ein kleines Kind hatte? Und hat das Mädchen dann einfach fünf Jahre umsorgt? Und es wollte nie irgendein Amt oder der Kindergarten irgendein Dokument sehen, dass das Mädchen identifiziert?

— Warum hat Diest das Mädchen bei seinem Freigang noch einmal entführt? Es war doch ohnehin schon bei seiner Schwester. Der musste er es doch nicht wegnehmen, um Oppmann erpressen zu können.

— Und wenn er schon das Mädchen hatte, warum brauchte er dann auch noch die Dokumente aus der Firma, um Oppmann unter Druck zu setzen? Oder hatte er gemerkt, dass Oppmann das Mädchen egal war? Aber warum hätte er es dann noch einmal entführen müssen?

— Oder ist das Mädchen gar nicht noch einmal entführt worden, sondern nur dem Igel hinterhergelaufen, der zufällig auf Diests Boot tappste, wo dann versehentlich die Tür hinter dem Kind zu und ins Schloss fiel?

Okay, die letzte Variante ist noch unwahrscheinlicher als die anderen. Aber ich kapier’s wirklich nicht.

Sachdienliche Hinweise bitte an eines unserer Aufnahmestudios oder unten in die Kommentare.

Zwischen Wallenhorst und Winsen an der Luhe

Ich weiß, wie Josef Joffe sich fühlt. Als Kind hatte ich immer das Bedürfnis, den internationalen Gästen, die bei „Wetten, dass“ auf dem Sofa gesessen hatten, hinterher zu erkären, was da gerade passiert ist und warum man uns Deutsche trotzdem nicht alle für verrückt erklären sollte.

Joffe macht sowas beruflich.

Vor zwei Wochen erklärte er den Lesern der „Zeit“, wie schwer es sei, unseren Freunden zwischen Washington und Warschau zu erklären, dass die Deutschen mit großer Mehrheit für einen Ausstieg aus der Atomenergie sind. „Sie wundern sich, unsere Freunde zwischen Washington und Warschau“, weiß Josef Joffe, der sicher viele Freunde zwischen Washington und Warschau persönlich kennt und vermutlich regelmäßig über Artikel in Publikationen zwischen Washington und Warschau mit ihnen kommuniziert.

Jedenfalls wundern sich also unsere Freunde zwischen Washington und Warschau laut Joffe, dass wir Deutschen gegen Atomkraft sind, obwohl es bei uns im Land doch bislang keine Kernschmelze und noch nicht einmal einen Atombombenabwurf gab. Zwei Erklärungen fallen ihm ein: Entweder ist Atomangst eine Art Religion (warum ausgerechnet wir Deutschen ihre Anhänger sein sollen, lässt er offen). Oder uns Deutschen geht’s einfach zu gut. Weil bei uns nichts ernsthaft Schlimmes passiert und wir sonst keine Sorgen haben, flüchten wir uns ersatzweise in Atompanik.

Nun finde ich, anders als Joffe, dass es sehr viele rationale Gründe gibt, die dagegen sprechen, Atomenergie einzusetzen, und dafür, auch aus Dingen, die am anderen Ende der Welt passieren, eigene Schlüsse zu ziehen. Aber Joffe war nicht der einzige Journalist, der mir als Leser in den vergangenen Wochen das Gefühl gegeben hatte, dass die Reaktion auf die Katastrophe in Fukushima und die breite Ablehnung von Atomenergie überhaupt ein weltweit einzigartiger deutscher Sonderweg sei.

Entsprechend überrascht war ich, als in Italien eine Mehrheit der Wähler und der Wahlberechtigten in Italien gegen die Einführung der Atomkraft in ihrem Land stimmte.

Es kann natürlich sein, dass die Italiener in Wahrheit gar nicht so viel gegen Atomkraftwerke haben wie gegen ihren Premierminister und das die eigentliche Erklärung für den Ausgang des Referendums ist. (Eine alternative Erklärung wäre, dass Josef Joffe einfach keine Freunde zwischen Werona und Wenedig hat.)

Aber dann veröffentlichte Ipsos MORI in der vergangenen Woche eine Meinungsumfrage, die das Institut in 24 Ländern auf der ganzen Welt durchgeführt hat. Danach sind 62 Prozent der Menschen gegen Atomkraft; ein Viertel davon sagt, sie hätten ihre Meinung nach dem Unglück von Fukushima geändert.

In 21 der 24 Länder sind die meisten Menschen gegen Atomenergie; am stärksten ist die Ablehnung in Mexiko, Italien, Deutschland, Argentinien und der Türkei. Nur in drei der 24 Länder gibt es eine Mehrheit für Atomenergie: in Indien (61 Prozent), Polen (57 Prozent) und den Vereinigten Staaten (52 Prozent).

Falls sich unsere oder Josef Joffes Freunde zwischen in Washington und Warschau also tatsächlich über uns Deutsche wundern, dann womöglich also auch über ungefähr den ganzen Rest der Welt. Vielleicht haben die Polen und Amerikaner einfach so viele andere Sorgen, dass sie gar keine Zeit haben, sich noch berechtigte Gedanken über die Gefahren einer Technologie wie der Atomkraft zu machen. Andererseits frage ich mich, ob sie dann realistischerweise ihre knappen Sorgenrestkapazitäten ausgerechnet darauf verwenden, sich über uns Deutsche zu wundern.

Nachruf auf Peter Falk

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wir werden nie erfahren, ob der Knautschpolizist Columbo auch eine solche Fernsehlegende geworden wäre, wenn Bing Crosby oder Lee J. Cobb die Rolle gespielt hätten, die angeblich zuerst gefragt wurden. Sicher ist, dass es ein sehr anderer Columbo gewesen wäre und womöglich nicht einmal ein Knautschpolizist. Peter Falk hat diese Rolle nicht nur durch sein Schauspiel geprägt. Er selbst hat das heruntergekommene Äußere des Lieutenant bestimmt, den alten Peugeot ausgesucht. Der schäbige Mantel, den Columbo trug, war sein eigener. Über zwanzig Jahre war es tatsächlich dasselbe Stück, bis es fast auseinanderfiel. Den Ersatzmantel mochte er nicht. Und über die Jahre wirkte Columbo selbst immer mehr wie diese alten, heruntergekommenen, abgeliebten Gegenstände und Accessoires, die ihn umgaben. „In mir stecken schon Unmengen von Patina“, sagte Falk einmal in einem Interview.

Auch die Idee, dass Columbo als ein Mann, der mit so wichtigen Dingen wie der Überführung von Mördern anhand kleinster Details beschäftigt ist, wirklich nicht auch noch den Überblick über so banale Dinge wie den Inhalt seiner Taschen behalten kann, stammt angeblich von Falk selbst. Ungeprobt habe er in einer Szene zum ersten Mal dem Täter statt des vernichtenden Beweises einen Einkaufszettel vorgelesen, den Columbo an seiner Stelle in seinem Regenmantel fand: „… Ein Brot und ein Karton Rosinen…“. Der Blick des Schauspielers, ähnlich überrascht wie es der Mörder gewesen wäre, sei unbezahlbar gewesen, sagt Falk.

Er hat andere Rollen gespielt, im Kino und im Theater, auch mit Erfolg, aber Peter Falk, der am Donnerstag im Alter von 83 Jahren gestorben ist, wird den Menschen auf der Welt als Columbo in Erinnerung bleiben. „Ich könnte in einer Eiswüste sein, pfeifender Wind, und wenn irgendwo hundert Meter entfernt vier Eskimos um die Ecke kämen, würden ihnen die Augen tränen vor Glück, mich zu sehen (nicht mich, Columbo)“, schreibt er in seiner Autobiographie. Das Kapitel trägt die Überschrift: „Gott hat niemals ein Menschen dafür gemacht, von zwei Milliarden anderen Menschen erkannt zu werden.“

In Wim Wenders‘ „Der Himmel über Berlin“ spielt er einen ehemaligen Engel, oder vielleicht spielt er auch Columbo als ehemaligen Engel. Jedenfalls steht er an einer Imbissbude in Berlin und sagt zum Engel Damiel: „I can’t see you, but I know you’re there.“ Das wirkt heute merkwürdig passend.

Und die Eulen wollen wir auch zurück!

Immerhin scheint die Begeisterung in der Jury nicht ungeteilt gewesen zu sein für die fünfteilige „Bild“-Serie, die mit dem oben gezeigten Aufmacher begann und die heute Abend mit dem Herbert-Quandt-Medienpreis ausgezeichnet wird. Jedenfalls gibt sich Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur des Berliner „Tagesspiegel“, auf meine Bitte, diese Entscheidung zu erklären, betont wortkarg. Und fügt etwas kryptisch hinzu: Das, was sonst ausgezeichnet werde, sei doch hohe Qualität.

Der Quandt-Medienpreis will angeblich Beiträge auszeichnen, die „auf anspruchsvolle, lebendige und allgemeinverständliche Weise das öffentliche Verständnis für die Bedeutung des privaten Unternehmertums und die marktwirtschaftliche Ordnung fördern“. Er legt angeblich Wert auf „sorgfältige Auswahl und Deutung von Fakten“ sowie „Qualität in Sprache, Stil und Allgemeinverständlichkeit“.

Die Artikelserie, für die die „Bild“-Redakteure Nikolaus Blome und Paul Ronzheimer gewürdigt werden, ist nicht so furchtbar, wie die Schlagzeile befürchten lässt. Genau genommen enthält sie auch ganz etwas anders, als die Schlagzeile suggeriert. Sie beschreibt, wie sich die verantwortlichen Politiker in Europa einig waren, dass Griechenland den Euro bekommen sollte, und es deshalb akzeptierten, dass Griechenland seine Zahlen zurechtbog, bis sie passten. Es ist, wenn man so will, die Geschichte eines gemeinsamen Projektes von Betrügern und Leuten, die sich betrügen lassen wollten.

Bei „Bild“ arbeiten durchaus Leute, die in der Lage gewesen wären, auch einen solchen Sachverhalt in eine knackige Schlagzeile gerinnen zu lassen. Das war nicht gewollt. Das hätte nicht in den Erzählstrang gepasst, in den die „Bild“-Zeitung seit über einem Jahr die Schuldenkrise in Griechenland presst. Der reduziert die komplexen Vorgänge auf die einfache Formel eines durch und durch verkommenen südeuropäischen Volkes, das uns korrekte, hart arbeitende Deutsche um die Früchte unserer Arbeit bringt.

Es ist sicher kein Zufall oder gar Versehen, dass „Bild“ auch an dieser Stelle in der Schlagzeile nicht „Griechenland“, „Athen“ oder gar „griechische Politiker“ schreibt — als wäre es die Masse des griechischen Volkes gewesen, die jetzt unter den Sparmaßnahmen leidet, die „uns (!) reingelegt“ hat.

Eine „Enthüllung“ ist die „Bild“-Serie natürlich trotz des Einsatzes einer vermutlich beeindruckend gemeinten Vielzahl von Autoren über weite Strecken nicht. Dass Griechenland nur durch falsche Zahlen die Bedingungen für den Euro-Beitritt erfüllten, ist seit langem bekannt. 2004 gab es die griechische Regierung öffentlich zu. Viele Details, die „Bild“ zu enthüllen vorgibt, erzählte bereits Monate zuvor ein Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Nun könnte man die Serie dafür loben, dass sie auch Facetten erzählt, die „Bild“ sonst verschweigt. Aber sie wird, schon mit der ersten Schlagzeile am ersten Tag, vollständig in den Dienst der Kampagne gestellt. Es ist eine Kampagne, die der frühere „Bild am Sonntag“-Chefredakteur Michael Spreng als beispiellos seit dem Kampf Springers gegen die Ostverträge bezeichnet. „Bild“ versuchte, „die Leser gegen die Griechen in einer Form aufzuwiegeln, die an Volksverhetzung grenzte“.

Diese Kampagne wurde maßgeblich von den beiden „Bild“-Leuten betrieben, die heute ausgezeichnet werden sollen. Zu dieser Kampagne gehörte es, dass Paul Ronzheimer, ein 25-jähriger Journalist, der sein Handwerk auf der Axel-Springer-Akademie gelernt hat, nach Griechenland reiste und — in den Worten meines Kollegen Michalis Pantelouris:

sich auf dem Athener Syntagma-Platz fotografieren ließ, wie er vor demonstrierenden Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen, mit Drachmen-Scheinen wedelte wie mit Bananen vor Affen im Zoo.

Eine Ahnung von dem Ausmaß und der Niederträchtigkeit der Hetze vermitteln vielleicht diese beiden BILDblog-Einträge.

Nun sagt die Johanna-Quandt-Stiftung, sie habe gar nicht diese „Bild“-Berichterstattung „zu den sogenannten ‚Pleite-Griechen‘ ausgezeichnet“, sondern nur diese fünf Artikel von denselben Autoren, die „sehr faktenstark und an wirtschaftspolitischen Hintergrundinformationen reich“ sei. So einfach kann man es sich natürlich machen.

Roland Tichy, Chefredakteur der „Wirtschaftswoche“, der zweite Journalist in der Jury (der dritte ist HR-Intendant Helmut Reitze), muss da für sich immerhin keine so klare Brandschutzmauer ziehen. Er macht keinen Hehl daraus, dass er kein Problem mit der „Pleite Griechen“-Berichterstattung von „Bild“ insgesamt hat. Er sagt: „Boulevardblätter müssen halt härter hinfassen.“ Und: „Die haben hart zugelangt.“ Und: „Journalismus muss auch mal wehtun.“

„Es gibt“, meint Tichy, „eine Tendenz zu sagen: Man darf die Griechen nicht so hart anfassen. Das sehe ich überhaupt nicht so. Dies ist einer der schlimmsten Fälle von Regierungskriminalität der neueren Zeit. Die Folgen badet Europa in einer Größenordnung von 200 Milliarden Euro aus.“

Tichy scheint die Aufregung zu genießen, die es um die erstaunliche Wahl der Jury gibt. Jede Menge Beschimpfungen habe er bekommen, seit sie bekannt wurde. Er meint, die würden Ursache und Wirkung verwechseln. „Und der Kern der Sache ist in der ‚Bild‘-Zeitung richtig dargestellt.“ Tichy meint auch, dass das „Verhetzungspotential“ der „Bild“-Zeitung geringer sei, als ihr zugetraut werde — weil die „Bild“-Zeitung eher als Unterhaltungsmedium wahrgenommen werde. Und von deren Politikberichterstattung fühlt er sich in der Regel korrekt informiert.

Vielleicht wird es ihn deshalb wundern, dass Yannis Stournaras, der Chefunterhändler Griechenlands bei der Einführung des Euro, dem die „Bild“-Serie eine zentrale Rolle beim Manipulieren der Zahlen zuschreibt, den Autoren diverse Fehler vorwirft. So kenne er etwa Yves Franchet, den französischen Chef des europäischen Statistikamtes, dem er angeblich persönlich die Zahlen lieferte, gar nicht. Auch persönliche Details über ihn seien falsch. Die ganze Untersuchung nennt er „Fiktion“. Es sei ein trauriges Niveau von Journalismus.

Aber gut, der Mann ist Grieche. Und die Faktenliebe von „Bild“ ist legendär.

Aber im Gespräch mit Tichy klingt es, als sei der Preis ohnehin weniger als Auszeichnung für eine journalistische Arbeit gemeint, sondern als politisches Statement. Tichy beklagt, dass die Regierung gravierende Entscheidungen wie über die Rettung Griechenlands am Parlament vorbei entscheide. Es müsse über solche Themen aber eine breite öffentliche Diskussion geben.

Es sei ein Problem, dass es keine „europäische Öffentlichkeit“ gibt, stellt Tichy fest, die grenzüberschreitend solche Debatten führt. Die öffentliche Meinung sei aber entscheidend, um demokratische Machtausübung zu legitimieren, und unentbehrlich in der politischen Willensbildung. Er wird sich in seiner Laudatio heute Abend auf Niklas Luhmann berufen und Jürgen Habermas und Hans-Magnus Enzensberger zitieren, aber inwieweit gerade die „Bild“-Zeitungs-Autoren, die er auszeichnet, mit ihrer Hetze, mit dem unermüdlichen Schüren und Verstärken von Vorurteilen gegen ein ganzes Volk zu einer solchen gemeinsamen Öffentlichkeit beitragen sollen, das sagt er nicht.

„Mittlerweile steht Europa zur Debatte“, sagt Tichy, „das ganze Projekt könnte scheitern.“ Die „Bild“-Zeitungs-Serie sieht er paradoxerweise als einen Beitrag zur Rettung des Projektes, nämlich dadurch, dass sie Transparenz herstelle. Es sei das Verhalten der Regierenden und ihre Verantwortung für das griechische Debakel, das das Vertrauen in die EU und ihre Institutionen erschüttere — die „BIld“-Zeitung sei bloß Überbringer der schlechten Nachricht.

Tichy sagt, die Wirklichkeit habe längst die schlimmsten Schlagzeilen; das rechtfertige im Nachhinein auch die schlimmsten Schlagzeilen. Wie die, dass Griechenland doch seine Akropolis verkaufen sollte — genau darauf laufe es im Moment hinaus. (Nun ja, tut es nicht.)

Die „Bild“-Schlagzeile lautete damals übrigens wörtlich:

DIE REGIERUNG IN ATHEN WILL JETZT KRÄFTIG SPAREN – ABER WAS, WENN DAS NICHT REICHT?

Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen

… UND DIE AKROPOLIS GLEICH MIT!

Wer darin nur die Beschreibung eines angeblich drohenden Szenarios sieht und nicht Verachtung, Häme und die mutwillige Zerstörung jedes Gedankens an ein gemeinsames Europa, ist allerdings eine erstaunliche Besetzung für die Jury eines Journalistenpreises.

Der Quandt-Medienpreis zeichnet heute Abend zwei unermüdliche Hetzer dafür aus, dass sie eine Woche lang geschickt die Methoden wechselten und mit einer ausführlichen, für „Bild“-Verhältnisse fast gründlichen und sachlichen Recherchearbeit ihre Pleite-Griechen-Kampagne zu legitimieren versuchten. Es mag gratulieren, wer will.

Das griechische Wort Tychi bedeutet übrigens „Glück“.

Super-Symbolfoto (86)

Ich schreib der Einfachheit halber einfach nochmal das, was ich vor einem knappen halben Jahr schon einmal geschrieben habe. Manche Einsichten dauern vielleicht einfach länger. Also:

Dieser Fehler hat tatsächlich Symbolwert. Das, was da auf dem iPhone zu sehen ist, ist nämlich nicht die Verlagsseiten-mordende „Tagesschau“-App, sondern die aus irgendwelchen Gründen ungleich ungefährlichere Internetseite tagesschau.de.

Vielleicht ist es aber natürlich auch nur ein interner Running Gag, dass „Spiegel Online“ und „Spiegel“ ausgerechnet bei diesem Thema, in dem es um die Qualität von Journalismus geht, sich dauerhaft einer korrekten Darstellung verweigern.

[via Netzprotokolle]

Nachtrag, 9.50 Uhr. Komisch, diesmal ging’s: „Spiegel Online“ hat das Foto ausgetauscht.

Absurde medienpolitische Argumente

„Spiegel Online“, 21. Juni 2011:

Im Streit um die iPhone-App der „Tagesschau“ fallen Argumente, die so absurd sind, dass man schnell vergisst, wie merkwürdig das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland eigentlich ist. Da werfen zum Beispiel Vertreter von Verlagen der „Tagesschau“ vor, sie würde ihre iPhone-App verschenken. Es gehe doch nicht an, dass man mit sicheren Gebührengeldern den Online-Angeboten der Verlage Konkurrenz macht und dann für die öffentlich-rechtlichen Apps noch nicht mal Geld verlangt.

Als ob es besser wäre, wenn Menschen in Zukunft zweimal für die „Tagesschau“ zahlen – einmal über die GEZ, einmal über Apple!

„Spiegel Online“, 5. Mai 2003:

Die Expansion [von ARD und ZDF im Internet] bedroht nahezu alle Modelle der Privaten, ihre Verluste im Netz zu reduzieren und ist damit eine scharfe Attacke auf Angebots- und Meinungsvielfalt im digitalen Bereich. Während allerorten Premiuminhalte oder Archiv-Recherchen kostenpflichtig werden, gibt es bei den öffentlich-rechtlichen Adressen weiterhin alles umsonst. Und während die Dienste der Privaten auf Mobil-Plattformen von I-Mode oder Vodafone nur gegen Zahlung zu nutzen sind, drängt die Tagesschau plötzlich munter mit kostenlosen Nachrichten in die neuen Informationsangebote, etwa bei Vodafone.

Spiel, Spaß, Spannung, „Spiegel Online“

Sie sind Aufregungs-Junkies bei „Spiegel Online“, süchtig nach Spannung. Sie sind inzwischen sehr gut darin geworden, sich den Stoff zu besorgen, und können ihn notfalls auch selbst erzeugen. Wenn sich zwei Streithähne versöhnt haben, beginnt für „Spiegel Online“ schon die Frage, wie lange das Bündnis wohl halten wird; im Moment des höchsten Triumphes schreibt „Spiegel Online“ immer schon den bevorstehenden Abstieg herbei, um neue Spannung zu produzieren.

Sie haben dadurch regelmäßig das Problem, dass sie feststellen müssen, dass ein mit Spannung erwartetes Ereignis, wenn es endlich eintritt, gar keine Überraschung mehr ist, was in der „Spiegel Online“-Welt automatisch gegen das Ereignis spricht. Und noch schlimmer: Es gibt Gelegenheiten und Vorkommnisse, aus denen sich beim besten Willen keine Spannung generieren lässt.

Am vergangenen Freitag hat der Fernsehrat des ZDF einen neuen Intendanten gewählt. Es gab nur einen Kandidaten, Thomas Bellut, ein Mann, dessen Karriere rückblickend so aussieht, als steuerte sie seit 200 Jahren auf diesen Punkt hin. Er wurde, wie erwartet, mit großer Mehrheit gewählt.

Nun kann man an dieser Wahl und ihren Umständen einiges kritisieren: fehlende Alternativen, Debatten, Transparenz. Ich glaube allerdings nicht, dass das ZDF es den Gebührenzahlern / den Journalisten / mir schuldet, dass die Wahl seines Intendanten „spannend“ ist.

„Spiegel Online“ schon. Dort nimmt man die bösartige Spannungslosigkeit persönlich.

„Zäh, zäher, ZDF“, überschreibt „Spiegel Online“ den Artikel, was insofern ein bisschen irreführend ist, als die ganze Sache relativ schnell über die Bühne ging. Aber worum es dem Autor geht, steht dann gleich in den ersten Worten des Vorspanns:

Spannung geht anders: Mit einem geradezu sowjetischen Ergebnis von 96 Prozent wurde Noch-Programmdirektor Thomas Bellut zum neuen ZDF-Intendanten gewählt.

Das Thema dieses Artikels ist nur scheinbar die Wahl des Intendanten. In Wahrheit ist es die fehlende Spannung.

Gelegentlich hat es den Anschein, das ZDF sei angetreten, in eine neue Sphäre der Langeweile vorzustoßen. „Volle Kanne – Service täglich“ mit Renovierungstipps und Biowetter, gefolgt von der 178. Folge der Telenovela „Lena – Liebe meines Lebens“, in der die Titelheldin und ihr Lover David ihre Hochzeit „in den buntesten Farben“ planen, wie es in der Ankündigung heißt. Das waren so die Sendungen, die liefen, als der für dieses Programm Verantwortliche, Programmdirektor Thomas Bellut, zum künftigen Intendanten gewählt wurde.

Ich weiß nicht, was da am Freitagvormittag im ZDF hätte laufen können, was den strengen Spannungs-Anforderungen eines „Spiegel Online“-Redakteurs hätte genügen können, aber es ist ja eh nur ein rhetorischer Kniff. Selbst wenn bei „Volle Kanne“ an diesem Tag der Handwerker beim Renovierungstippsgeben von der Leiter gefallen oder diese Lena sich ein sensationelles Dialog-Duell mit ihrem David geliefert hätte — der Autor wüsste es eh nicht.

Selbst dem Konferenzraum, in dem die Pressekonferenz stattfand, wirft er vor, nicht aufregend gewesen zu sein:

Das Spannendste an dem Ort ist, dass hier vor etwas über einem Jahr eine Räuberbande ein Pokerturnier überfiel.

Er hat sich dann offenbar entschlossen, seinen Frust über das Fehlen von Spannung an uns, den Lesern, auszulassen, und mit langweiligen Details der Langeweile zu langweilen:

Schächter, 61, ist seit neun Jahren als Intendant so etwas wie der oberste Langweiler des ZDF. Vor ihm liegt jetzt sein iPad in einer schwarzen Lederhülle auf der grauen Tischdecke. (…) Sein iPad bleibt ausgeschaltet.

Vor Bellut, 56, randlose Brille, liegt nur ein silberner Plastikkugelschreiber vom ZDF, mit dem er herumhantiert, und eine Plastikmappe mit ein paar Zetteln.

Vielleicht hätten sie beim ZDF, sobald sie ahnten, dass die Intendanten-Wahl so glatt über die Bühne gehen würde, wenigstens das Fernsehballett einladen können oder gefährliche Tiere oder Lady Gaga, und zwar am besten ohne Anlass, damit „Spiegel Online“ aufgeregt „Überraschung bei der Intendantenwahl“ titeln könnte.

Am Ende schafft es der Autor dann aber doch noch, sich ein kleines Stückchen Spannung zu schnitzen:

Ob es wirklich klappt mit dem harmonischen Führungswechsel? Zwar arbeiten Noch-Intendant Schächter und Bald-Intendant Bellut schon lange zusammen. Doch dass Schächter nicht mehr der allerinteressanteste Gesprächspartner ist, zeigt sich beim Ende der Verkündungspressekonferenz. Während Bellut Interviews geben, in Mikrofone und Kameras sprechen muss, kann der Kollege in Ruhe telefonieren.

Dass die Journalisten sich nach der Wahl mehr für den neuen Intendanten interessieren als für den, der seit neun Jahren amtiert, soll ein Indiz dafür sein, dass sich Schächter und Bellut in den nächsten Monaten nach Jahren harmonischer Zusammenarbeit noch in die Haare kriegen? Das kann selbst „Spiegel Online“ nicht ernst meinen. Das ist nur die Sucht, die da spricht.

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Die Ansprüche, die „Spiegel Online“ an die Welt hat, sind dramaturgischer, nicht inhaltlicher Natur. Es ist aber für die Berichterstattung keineswegs zwingend gut, wenn sie erfüllt werden.

Beispielhaft ist ein Artikel über das Fernsehduell vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg im Frühling. Die Wahl erfüllte, anders als die beim ZDF am Freitag, das wichtigste Kriterium „Spannung“ und die Berichterstatterin fasste schon im Vorspann das Wichtigste über die Diskussion zusammen:

Sieger? Keiner von beiden — die Wahl bleibt spannend bis zum letzten Moment.

Was ist die wichtigste Frage, auf die sich die Menschen nach einem solchen Fernsehduell eine Antwort von „Spiegel Online“ erwarten? Richtig: „Bleibt es spannend?“ Die Autorin holte dann aber — vermutlich aus Spannungsgründen — erst einmal aus, um noch einmal gründlich den Stand der Spannung zu definieren:

Wenn im baden-württembergischen Wahlkampf derzeit an einer Sache kein Mangel herrscht, dann ist es Spannung. Seit Wochen liegen die Lager der schwarz-gelben Regierungskoalition und der rot-grünen Opposition nahezu gleich auf. Seit Wochen liefern sie sich in Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Wird Stefan Mappus als der CDU-Ministerpräsident mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichte des Landes eingehen? Können die einst so blasse Südwest-SPD und die erstarkten Grünen erstmals nach 58 Jahren im Ländle das politische Ruder übernehmen? Schafft es die Linke in den Landtag?

Die Spitzenkandidaten von CDU und SPD könnten gegensätzlicher kaum sein. Stefan Mappus gegen Nils Schmid: Bauch- gegen Kopf-Mensch. Der eine hat mit dem Image des Polterers zu kämpfen, der andere mit dem des netten Schwiegersohns. Der eine kommt mit seiner Partei von ganz oben, der andere von ganz unten.

Ja, nein, um Inhalte scheint es nicht zu gehen, bei so einer Wahl. Aber ist es nicht toll, wie viele spannende Äußerlichkeiten und oberflächliche Gegensätze es gibt?

Falls sich Wähler von dem Duell am Mittwochabend im SWR-Fernsehen erhofft hatten, dass es einen klaren Favoriten hervorbringen könnte, wurden sie enttäuscht.

Sekunde. Die Autorin glaubt ernsthaft, Wähler würden sich eine solche Sendung ansehen, um sich hinterher darauf einigen zu können, wer die Wahl vermutlich gewinnen wird? Ein klarer Fall von Projektion. Jedenfalls:

(…) Denn Mappus und Schmid lieferten sich einen Schlagabtausch auf Augenhöhe, der vor allem eines deutlich machte: Es bleibt spannend.

Das ist tatsächlich das ernsthafte Ergebnis, das „Spiegel Online“ aus dem Streitgespräch mitgenommen hat. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie sich in der Redaktion aufgeregt die Nachricht zugerufen haben: „Hast du das Wahlduell gestern gesehen?“ — „Klar!“ — „Und? Bleibt es spannend?“ — „Ja, bleibt spannend.“ — „Geil.“

Aber kommen wir zu den politischen Inhalten:

Dabei ging der erste Punkt des Abends, bevor überhaupt die roten Lampen der Kameras aufblinkten, klar an den jungen Herausforderer — und seine attraktive Frau Tülay. Denn während Nils Schmid mit seiner Gattin in staatsmännischer Manier für die Fotografen posierte und alle dargebotenen Hände schüttelte, traf Stefan Mappus, unbeachtet von den meisten Journalisten, allein, angespannt und leise, im Studio ein.

Gut, okay. Aber kommen wir nun zu den politischen Inhalten:

Vor den Kameras begann dann ein Diskurs wie aus dem Lehrbuch der Fernsehduelle: In weiten Teilen fachlich, selbst bei emotionalen Themen sachlich. Hart aber fair, und das ganze auf Schwäbisch. Sogar der ein oder andere kleine Patzer — etwa als Mappus seinen Kontrahenten Schmid im Eifer des Gefechts mit „Schmiedel“ ansprach, so heißt der SPD-Fraktionschef im Stuttgarter Landtag — taugte da nicht zum Lacher.

Haha, „Schmiedel“. Die Autorin lässt sich dann aber doch noch dazu hinreißen, knapp zu referieren, worüber so gesprochen wurde. Höhepunkt der Analyse:

Während Mappus Boden gut machen konnte, in dem er auf die gute Bildungsbilanz des Landes verwies, bei den Stichworten „Leistung muss sich lohnen“ und Länderfinanzausgleich klare Kante zeigte, verstand Schmid es, mit seinen Konzepten in Sachen Ganztagsbetreuung und herkunftsunabhängiger Schulpolitik Migranten ebenso anzusprechen wie die „am besten qualifizierte Frauengeneration unserer Geschichte“.

Halten wir das kurz fest: Mappus zeigte beim Stichwort Länderfinanzausgleich klare Kante. Damit ist vermutlich alles gesagt.

Fazit?

Wenn etwas inhaltlich gefehlt hat, bei diesem Duell in Stuttgart, dann war es höchstens der Auftritt von Winfried Kretschmann, der Spitzenkandidat der baden-württembergischen Grünen.

„Inhaltlich“? Das meint sie nicht so. Nächster Satz:

Denn es ist auch in erster Linie seine Partei, die diesen Wahlkampf derzeit so spannend macht.

Eben.

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Als in der vergangenen Woche bekannt wurde, dass Aiman al-Sawahiri Nachfolger von Osama bin Laden ist, fand „Spiegel Online“ eine Eigenschaft des neuen al-Qaida-Führers herausragend: Er sei „dröge“, hieß es schon im Vorspann. Es las sich fast, als schwinge da auch Empörung darüber mit, dass man sich heutzutage nicht einmal mehr auf Terrororganisationen verlassen kann, Entscheidungen zu treffen, die spannend genug sind für „Spiegel Online“.

Jaaa! Kein Kein-Trennungs-Schock!

Sie haben diesmal keine verlogene Wie-konnte-uns-das-nur-passieren-Geschichte gemacht, wie damals bei Günther Jauch. Sie haben diesmal ihre falsche Titelschlagzeile einfach richtiggestellt, ohne sich anmerken zu lassen, dass es sich um eine Richtigstellung handelt:

„Die Aktuelle“, eine Zeitschrift aus dem Haus der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“, die sich über Lügen auf der Titelseite verkauft, hatte im April getitelt: „Stephanie zu Guttenberg — Glücklich getrennt!“ Im Inneren stellte sich heraus, dass damit bloß gemeint war, dass die RTL-2-Gastmoderatorin öffentliche Auftritte ohne ihren Ehemann, den ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, absolviert hat.

Guttenberg zog vor Gericht und bekam Recht.

„Wir stellen klar!“ steht deshalb auf dem aktuellen Cover, wobei es die Profis der „Aktuellen“ hinbekommen haben, dass nicht klar ist, ob mit „Wir“ die Zeitschriftenmacher oder die Guttenbergs gemeint ist. Auf zwei Seiten im Inneren heißt es dann mit vielen schönen Fotos und schmeichelhaften Bildtexten:

Sie sind lange nicht mehr gemeinsam aufgetreten. Doch das heißt nicht, dass sie getrennt wären. Im Gegenteil…

Ihre Liebe ist noch gewachsen…

Woran sieht man, wie groß eine Liebe ist? Woran kann man ablesen, ob ein Paar wirklich glücklich ist? Fest steht: Es hängt nicht davon ab, wie oft man gemeinsam auftritt. (…) Bestes Beispiel: Die zu Guttenbergs. Sie sind lange nicht mehr gemeinsam aufgetreten. Doch jetzt kam heraus, dass sie ganz im verborgenen wunderbare Pläne geschrieben haben. Für ihre Zukunft. Ihre gemeinsame Zukunft. (…)

Der Plan der letzten Monate ist aufgegangen: Getrennte Auftritte? Ja. Getrennte Leben? Nein, natürlich nicht. Im Gegenteil: Er unterstützt sie, wo er kann. Und sie hat dieses innere Strahlen, das nur ein Mensch hat, der von ganzem Herzen geliebt wird. (…)

Ach so, falls Sie sich angesichts der Titelseite oben fragen, ob die schwedische Kronprinzessin Victoria nun „endlich“ schwanger ist und einen Sohn bekommt: Keine Ahnung. Das „Baby-Interview zum ersten Hochzeits-Tag!“ hat die „Aktuelle“ bloß mit Victorias Tante Birgitta geführt. Kostprobe:

Ist es nicht langsam an der Zeit, dass [Victoria und Daniel] ein Baby bekommen?

Ja, das stimmt. Das ist alles ziemlich spannend.

Phänomenologie: Die Hundepension

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Beim ersten Mal haben sie ihm das Halsband angeknabbert. Beim zweiten Mal komplett durchgebissen. Nach dem dritten Mal fehlte ihm ein Stück Fell am rechten Ohr. Mein Hund muss, mit anderen Worten, eine fantastische Zeit gehabt haben.

Wenn man als Hundebesitzer im Urlaub oder auf Dienstreise ist, wird man besorgt gefragt, wohin man das arme Tier verbracht habe. Das Wort „Hundepension“ als Antwort scheint, den halb vorwurfsvollen, halb mitleidigen Blicken nach zu urteilen, nicht ganz die Assoziationen von aufgeschüttelten Kissen und selbstgebackenen Hundekuchen zu verströmen, die die Betreiber solcher Etablissements sich sicher versprechen.

Dabei ist meine Sorge nicht, dass es meinem Hund da nicht gefällt. Meine Sorge ist, dass es meinem Hund da zu gut gefällt. Er hat dort den ganzen Tag eine Meute von Artgenossen um sich, die er jagen, knuffen oder anbellen kann und die ihm, aus Dank oder als Revanche, ein Ohr abkauen. Zum Vergleich: Sein regulärer Hundealltag besteht darin, mir zuzugucken, wie ich abwechselnd vor einem Computermonitor und einem Fernsehschirm sitze.

Man weiß es natürlich nicht. Man weiß nicht, ob die freundlichen Hundepensionseltern, sobald man vom Hof gefahren ist, nicht den großen Außenbereich ab- und die Tiere in den Keller sperren und nur alle paar Tage mal neues Futter die Treppe herunterwerfen. Vor allem aber weiß man nicht, wie ein Hund auf das Konzept der Hundelandverschickung reagiert. Hunde haben, soweit man weiß, keinen guten inneren Kalender, und selbst wenn sie ein klares Konzept von „Zukunft“ hätten, das über die Erwartung, am Abend wieder gefüttert zu werden, hinausgeht, würde es uns schwer fallen, ihnen die Details zu vermitteln: Herrchen ist jetzt mal für zwei Wochen weg. Entsprechend schlecht sind Hunde im Abschiednehmen, weshalb man sich immer heimlich hinter ihrem Rücken vom Hof der Hundepension schleicht, was das eigentliche Gefühl, dass sie es hier gut haben, durch den Gedanken verdirbt, sie betrogen zu haben.

Beim Abholen dann das umgekehrte Dilemma: Je mehr er sich über das Wiedersehen freut, was ja eigentlich eine schöne Sache ist, desto größer die Sorge, dass er einen vorher schrecklich vermisst hat (oder, wie gesagt, wie im Knast bei Wasser und trocken Futter gehalten wurde). Ungefähr zwei Minuten lang ist mein Hund außer sich vor Freude, mich wieder zu sehen. Schon im Auto auf dem Rückweg, bilde ich mir ein, setzt die Enttäuschung darüber ein, dass das Vierundzwanzig-Stunden-Toben im Rudel nun auch vorbei ist. Wenn er es sich aussuchen könnte, würde ich einfach mit ihm zu den anderen Kläffern ziehen. Aber wir wissen ja: Das Leben ist keine Hundepension.