Monat: Juni 2011

Chronisch krank (2)

Ungezählte Medien berichten in diesen Tagen, dass die Deutschen im vergangenen Jahr häufiger krank gefeiert hätten als die Jahre zuvor. Die traurige Geschichte, warum das überhaupt aktuell eine Nachricht ist, obwohl die entsprechenden Zahlen bereits vor fast einem halben Jahr veröffentlicht wurden und seitdem mehrmals die Runde durch die Medien gedreht haben, habe ich im BILDblog aufgeschrieben.

Aber die Sache ist, wieder einmal, noch schlimmer.

Ich glaube nicht, dass sich die Arbeitnehmer in Deutschland im vergangenen Jahr signifikant häufiger haben krank schreiben lassen. Und ich halte die reflexartige Erklärung, das liege daran, dass die Menschen aktuell weniger Angst um ihren Arbeitsplatz hätten (die beim „Handelsblatt“ sogar in der Überschrift gipfelt: „Aufschwung macht deutsche Beschäftigte krank“), für ein Gerücht.

Quelle für die Meldungen ist — neben der „Bild“-Zeitung — das Forschungsinstitut der Bundesarbeitsagentur IAB. Die Grundlage für deren Berechnungen ist eine Statistik des Bundesgesundheitsministeriums. Das fragt regelmäßig bei den Krankenkassen nach, wie hoch der Anteil der Pflichtversicherten war, die jeweils am 1. eines Monats krankgeschrieben waren.

Es handelt sich also um eine Stichprobe, und die Methode hat einen gravierenden Haken: Das Ergebnis wird erheblich dadurch beeinflusst, auf welchen Wochentag der erste Tag eines Monats fällt. Am Wochenende lassen sich weniger Leute neu krankschreiben, die ohnehin nicht arbeiten müssen und, wenn überhaupt, dann erst am folgenden Montag zum Arzt gehen.

Wie stark dieser Effekt ist, zeigt die monatliche Übersicht, wenn man Werktage bzw. Wochenenden und andere freie Tage markiert:


(Allerheiligen ist nicht in allen Bundesländern ein Feiertag.)

Will man den Krankenstand verschiedener Jahre miteinander vergleichen, ergibt sich das Problem, dass die Zahl der Monatsersten, die auf ein Wochenende oder einen Feiertag fallen, stark schwankt. Dies ist dieselbe Grafik für 2009:


(Allerheiligen fiel auf einen Sonntag.)

Statt achteinhalb Werktage 2010 gehen 2009 nur fünf Werktage in die Rechnung ein. Die Stichprobe enthält deutlich mehr Sams-, Sonn- und Feiertage, die die Zahl der Krankschreibungen senken. Dass die Zahl der Krankschreibungen 2010 gegenüber dem Vorjahr zunehmen würde, war also ganz unabhängig vom tatsächlichen Verhalten der Menschen schon aus statistischen Gründen zu erwarten.

Die Stichproben-Methode ist aufgrund der Verzerrungen untauglich, Aussagen darüber zu treffen, ob sich in einem Jahr tatsächlich mehr Leute haben krankschreiben lassen als in einem anderen. Das Bundesgesundheitsministerium selbst warnt vor der Fehlinterpretation seiner merkwürdigen Erhebung: „(…) die Vergleichbarkeit über die Jahre ist eingeschränkt, da die Zahl der Sonn- und Feiertage, die auf den ersten Tag eines Monats fallen, variieren.“ Offenbar beeindruckt diese Warnung niemanden.

Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse DAK hat für ihren „Gesundheitsreport“ übrigens die Krankmeldungen ihrer Mitglieder komplett ausgewertet. Danach blieb der Krankenstand 2010 gegenüber dem Vorjahr konstant bei 3,4 Prozent.

Nachtrag, 21:10 Uhr. Die Techniker Krankenkasse behandelt in ihrem Gesundheitsreport das Problem mit der Statistik des Gesundheitsministeriums ausführlich und pointiert (PDF, ab Seite 18). Wie sehr die Stichtags-Werte in die Irre führen können, zeigt anhand eines Vergleiches des ersten Halbjahres 2010 mit dem Vorjahreszeitraum. Statt eines tatsächlichen Anstieges der Krankenstände um 0,9 Prozent ergab sich eine scheinbare Zunahme um 14,2 Prozent.

Aufgrund der Verteilung der Monatsersten auf die verschiedenen Wochentage lässt sich übrigens heute schon vorhersagen, dass die Medien 2012 über einen drastischen Rückgang der Krankenstände berichten können. Sie werden das aber bestimmt irgendwie anders erklären, womöglich mit einer schlechteren Konjunktur.

„Mit Blau kann man nichts falsch machen“

Der Presserat ist ein komischer Verein.

Vor ein paar Tagen gab er bekannt, die „Rheinische Post“ wegen Schleichwerbung gerügt zu haben. Es geht um einen Artikel, der am 9. April 2011 unter der Überschrift „Urlaub im Luxusbus“ erschienen ist:

Reisen mit komfortablen Bussen boomen. Die Touristen schätzen die Rundum-Betreuung und die vielfältige Auswahl. Meinhold Hafermann berichtet aus Erfahrung.

Er gehört zu den zehn größten Unternehmen dieser Branche in Deutschland, befördert jährlich rund 50 000 Urlauber, die an in ganz Nordrhein-Westfalen verteilten Haltestationen zu- und aussteigen, und machte 2010 satte 19 Millionen Euro Umsatz. Die Rede ist vom renommierten Busreiseveranstalter „Hafermann Reisen“. Von der Zentrale in Witten aus steuern Meinhold Hafermann (59) und seine Schwestern Christel und Monika den Familienbetrieb, der als Transportunternehmen mit einer Pferdedroschke Fahrt aufnahm und jüngst 100-jähriges Bestehen feierte.

Über zehn eigene Reisebusse, sechs davon gleichsam nagelneu, unterhält Hafermann, rund 1000 Busse chartert er jährlich hinzu. Jede Woche sind 50 bis 80 Busse im Auftrag des Witteners unterwegs zu touristischen Zielen.

Es folgen einige Informationen, die das Reisen mit modernen Bussen allgemein als angesagte und angenehme Urlaubsform darstellen, und der Hinweis auf die Telefonnummer und Internetadresse des Busunternehmens.

In derselben Ausgabe der „Rheinischen Post“ habe das Busunternehmen eine Werbeanzeige geschaltet, auf die sich zudem ein Verlags-Gewinnspiel bezog, notiert der Presserat. Er beklagt „Schleichwerbung“ und greift zum schärfsten aller stumpfen Schwerter, die ihm zur Verfügung stehen: die öffentliche Rüge.

Nicht nur das Wittener Busunternehmen Hafermann feiert in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag. Auch „Nivea“ wird 100.

Im April 2011 erscheint in der Zeitschrift „Brigitte Woman“ unter der Überschrift „Ein Blau geht um die Welt“ eine achtseitige Fotostrecke, die wie folgt anmoderiert wird:

Die Welt ist bunt. Aber es gibt da ein blaues Kosmetikprodukt, das findet man in nahezu jedem Land der Erde — und an den merkwürdigsten Plätzen. Eine Geschichte in Bildern.

Die Fotos, die teilweise direkt vom Hersteller der Creme stammen, zeigen „Nivea“-Werbung an verschiedenen Orten, zum Beispiel:

USA

Silvester 2010. In wenigen Stunden werden sich tausende von Menschen am New Yorker Times Square küssen — das Billboard empfiehlt dazu eine blaue Lippenpflege [von „Nivea“]

ÄTHIOPIEN

Fußball ist eine der populärsten Sportarten, Kopfschutz für die Zuschauer wichtig. Ein schwarzer Regenschirm? Nicht praktikabel. Besser: ein weißes Tuch Aber der Renner scheinen blaue Schirmmützen [von „Nivea“] zu sein

KENIA

Ein gutes Gefühl, wenn die Haut nicht mehr so trocken ist, weiß diese Reklameschönheit: eine Werbetafel [für „Nivea“] in Nairobi

Passend zu den plump-verdrucksten Bildtexten formuliert die Autorin im Text eine Ode scheinbar nicht auf die Creme, sondern auf die Farbe Blau:

Man muss sich mal vorstellen, die Welt wäre irgendwann einmal ausschließlich schwarz und weiß gewesen, vielleicht auch noch rot, gelb und braun. Und in diese Welt wäre dann einfach das Blau spaziert. Einfach, weil es Lust dazu hatte. Mensch, wäre das Blau erfolgreich mit seiner Welteroberung gewesen! (…)

In jeder Umfrage wird es von den meisten Menschen als Lieblingsfarbe genannt: Denn Blau steht für Freiheit, Ferne, Klarheit, Harmonie, aber auch bittersüße Sehnsucht. Mit Blau kann man nichts falsch machen (…).

In der Werbung steht ein dunkles Blau übrigens für Seriosität und für Vertrauen. Das sind überall geschätzte Werte — und vielleicht mit ein Grund, weswegen das sehr charakteristische Blau einer bekannten Kosmetikmarke in vielen Ländern der Erde so präsent ist, dass es ständig unvermutet auf irgendwelchen Reiseschnappschüssen auftaucht (…). Die Marke feiert übrigens in diesem Jahr 100-jähriges Jubiläum. Blau steht ja auch für Treue.

Am Ende der Fotostrecke steht ein Hinweis:

Noch mehr blaue Infos …
und viele Tipps zur Hautpflege gibt es unter
www.brigitte.de/pflegecoach

Die Seite, auf die der Link führt, ist „powered by NIVEA“.

In derselben Ausgabe von „Brigitte Woman“ hat „Nivea“ fast dreieinhalb Seiten Werbeanzeigen geschaltet.

Brigitte.de hat außerdem ein Gewinnspiel mit „Nivea“ veranstaltet und „die schönsten NIVEA-Geschichten gesucht“. Die drei Gewinnerinnen durften auf einem Schiff die „NIVEA Skin Journey“ mitmachen und bei der Gelegenheit der Kosmetik-Chefin von „Brigitte“ und dem Leiter der Forschungsabteilung bei Beiersdorf, dem Konzern hinter „Nivea“, Fragen stellen, die wiederum im vermeintlich redaktionellen Teil auf brigitte.de veröffentlicht wurden.

Der Presserat sieht in der „Nivea“-Geschichte in „Brigitte Woman“ keine Schleichwerbung; Redaktion und Werbung seien klar getrennt:

Wir sind der Meinung, dass es sich bei der Veröffentlichung um eine zulässige Markenstory handelt. Im Zuge des 100-jährigen Jubiläums von Nivea stellt die Redaktion dar, wie weit die Marke verbreitet ist. Dadurch wird die Internationalität der Marke dokumentiert. Unter diesem Gesichtspunkt konnten auch Bilder des Herstellers verwendet werden. (…) Gerade bei einer Marke wie Nivea ist es durchaus publizistisch zu begründen, wenn in einem redaktionellen Beitrag die weltweite Verbreitung aufgezeigt und dokumentiert wird.

Der Presserat hat nicht nur keine Rüge gegen „Brigitte Woman“ ausgesprochen. Er befand die Beschwerde als so „offensichtlich unbegründet“, dass er sie schon bei der Vorprüfung aussortierte.

Die Bemühtlaunigkeit von „NDR-aktuell“: Nachrichten, so lustig wie Thomas Kausch

Es wäre irreführend, die neue Nachrichtensendung im NDR-Fernsehen „lustig“ zu nennen. Es scheint nur so, als hätte jemand den Autoren ein Merkblatt geben, auf dem das Wort „locker“ nicht nur groß und fett stand, sondern sicherheitshalber auch noch gelb markiert, rot eingekringelt und mit drei Ausrufezeichen versehen war. Entsprechend angestrengt wirkt das jetzt.

Vergangene Woche war der tschechische Präsident Václav Klaus zu Besuch in Hamburg. In „NDR-aktuell“ klang das so:

„Im Grunde war das heute in Hamburg ein Staatsbesuch ohne den eigentlichen Gastgeber. Tschechiens Präsident Klaus war da, aber eben der erste Bürgermeister nicht. Wo Olaf Scholz war, kann später erwähnt werden. Erstmal schrieb sich Vaclaw Klaus ins Goldene Buch der Stadt ein und zeigte diesmal kein übersteigertes Interesse am Füller. Bei einem Staatsbesuch in Chile hatte Klaus kürzlich während einer Pressekonferenz einen Kugelschreiber mitgehen lassen. Von Hamburgs zweiter Bürgermeisterin bekam er zumindest so etwas wie das passende Etui dazu. Zu beantworten ist dann noch die Frage, wo denn eigentlich Olaf Scholz, der ursprünglich eingeplante Gastgeber, so herumlief. In Washington. Im Schlepptau der Bundeskanzlerin auf Staatsbesuch in den USA, hier in der zweiten Reihe. Für so einen Termin versetzt man dann doch mal tschechische Präsidenten.“

Soviel Bemühtlaunigkeit ist natürlich immer noch besser als die schablonenhaft staatstragend-lokalpatriotische Fassung, mit der das „Hamburg Journal“ wenige Stunden zuvor dasselbe Ereignis aufbereitet hatte und in der der tschechische Präsident in Hamburg von den glänzenden Beziehungen seines Landes zur Hansestadt schwärmt und der Erste Bürgermeister in Washington von den glänzenden Beziehungen seiner Stadt zu Amerika.

Jedenfalls hat das dritte Programm des Norddeutschen Rundfunks seit einer Woche fast eine richtige Nachrichtensendung, was man prinzipiell begrüßen müsste, wäre es nicht so peinlich, dass es das all die Jahre nicht gab: regelmäßige tagesaktuelle Informationen im Hauptabendprogramm. Unter dem früheren Chef Volker Herres, dem heutigen Programmdirektor des Ersten, war zwischen all den „Tatort“-Wiederholungen und siebzigtausend Quiz-Shows aber auch einfach kein Platz für sowas.

„NDR-aktuell“ ist zehn bis fünfzehn Minuten lang, läuft werktags um 21.45 Uhr, wird im wöchentlichen Wechsel von Ellen Frauenknecht und Thomas Kausch moderiert und kommt aus Hannover. Das ist wohl ein Zugständnis der Vier-Länder-Anstalt an die niedersächsische Landesregieunrg und einigermaßen absurd, weil die Infrastruktur für die aktuelle Berichterstattung (auch des NDR-Fernsehens) sonst in Hamburg ist. Andererseits ist „NDR-aktuell“, wie es im Abspann heißt, ohnehin eine Sendung der vier Landesfunkhäuser. Die bestücken „NDR-aktuell“ mit umgestrickten und auf locker getrimmten Versionen von Beiträgen ihrer Regionalmagazine.

In der ersten Woche ging es, natürlich, immer wieder um EHEC, wobei sich die „NDR-aktuell“-Version eines Filmberichtes über Bauern, die ihr Gemüse am Freitag in der Hamburger Fußgängerzone an Pasasnten verschenkten, kaum wieder einkriegen konnte, wie ironisch das war, dass dann die Entwarnung für Gurken, Tomaten und Salat kam und die Landwirte ihr Zeugs plötzlich doch loswurden, aber wiederum nichts verdienten. Ein Bericht über die Überschwemmungen fragte am Anfang, ob die Menschen denn alle nicht am Tag vorher die Warnungen vor den Unwettern gehört hatten, um am Ende zu merken, dass man auch nicht wüsste, wie man darauf reagieren könnte. Der Sprecher formulierte gespreizt: „Bleibt die berechtigte Frage – und sie bleibt ohne Antwort: Was tun gegen Land unter?“

Weil auch ein Fitness-Studio überschwemmt wurde, hieß es aus dem Off: „Es wird eine ordentliche Kraftanstrengung werden, hier wieder alles fit zu machen.“ Als am Mittwoch starke Sonnenstürme entdeckt wurden, begann Moderator Kausch die Sendung mit dem Satz: „Heute morgen hatten wir schon Sorge, dass Sie uns heute abend nicht sehen können.“ Und zu den Standard-Aufnahmen von einer Experten- und Politikerrunde zum Thema EHEC hieß es mit erstaunlichem Zynismus: „Alle haben ein Wasser getrunken und einen Keks gegessen und sich dann selbst bescheinigt, so schlecht ist unser Krisenmanagement nicht. Sicher, es kann etwas verbessert werden, aber das klären wir nach der Krise.“

Fast alles ist auf eine thomaskauschhafte Art halb schnoddrig, halb wichtigtuerisch formuliert (er verabschiedet sich statt mit „Ciao“ wie früher in „heute nacht“ jetzt mit dem Satz: „Danke für Ihr Vertrauen“). Dieser Tonfall müsste nicht das Schlechteste sein, wenn in der hübschen Verpackung nicht regelmäßig der Sinn verloren ginge. So schön es ist, dass die Sendung Ambitionen hat und sich die Verantwortlichen offenbar bemühen, Inhalte in einer attraktiven und leicht zugänglichen Form zu präsentieren – warum, zum Beispiel, eine Hauptschule in Niedersachsen vor den Problemen mit ihren Schülern kapituliert und eine Gesamtschule am anderen Tag als Vorbild ausgezeichnet wird, vermag „NDR-aktuell“ nicht einmal im Ansatz zu erklären.

Die Sendung lässt es lieber menscheln und begleitet am Tag des Atomausstiegs eine Selbsthilfegruppe krebskranker Frauen in Krümmel. “ Nicht nur Überblick, sondern Durchblick, das wollen wir Ihnen bieten“, hatte Thomas Kausch am Beginn der Premierenausgabe gesagt, realitätsnäher war seine Überleitung wenige Minuten später: „Soweit die Fakten. Aber es ist auch ein Tag der Emotionen, heute, nirgendwo gibt es wohl so viel Erleichterung und zugleich auch Verbitterung wie in Krümmel. Nirgendwo sind nach ihren Beobachtungen so geballt Leukämiefälle aufgetreten, Krankheit und Tod.“ Fakten liefert der folgende Beitrag tatsächlich keine, nur ebenso verständliche wie blinde Wut der Betroffenen, die mit dem Ausstiegsbeschluss fast nichts zu tun hat. Immerhin hat „NDR-aktuell“ aus der „Hallo Niedersachsen“-Version des Berichtes den unerträglich kitschig-propagandistischen Teil herausgeschnitten, in dem ein kleiner Junge ein Gedicht vorliest, das er seinem vor einigen Jahren an Leukämie verstorbenen Freund geschrieben hat.

„NDR-aktuell“ informiert seine Zuschauer nicht so sehr mit Berichten, sondern erzählt ihnen vor allem Geschichten. Die Quote ist gut: Die Premierensendung hatte sogar deutlich mehr Zuschauer als der unmittelbar davor laufende Leipziger Zoo-Serienkitsch „Tierärztin Dr. Mertens“, für dessen Wiederholung im NDR-Fernsehen es sicher auch einen Grund gibt, wenn auch keinen guten.

Sonnengrüße von der Tanja May

Jörg Kachelmann hat heute Mittag über Twitter ein Dokument veröffentlicht, das einen interessanten Einblick in die journalistischen Methoden des Burda-Verlages bietet. Es ist nach seinen Angaben eine Nachricht, die die „Bunte“-Chefreporterin Tanja May zusammen mit einem großen Blumenstrauß an eine Zeugin verschickt hat. Darin bat sie die Zeugin darum, sie doch noch vor ihrer Aussage vor Gericht zu treffen.

Leider ist das Foto auf Twitpic jetzt gelöscht worden. Von wem oder warum, weiß ich nicht, jedenfalls nach Kachelmanns Angaben nicht von ihm selbst.

So sah das aus:


(Verpixelung von Handynummer und E-Mail-Adresse von mir.)

Kachelmann twittert dazu:

Wann wird man durch Hubert Burda befördert?

Wenn man solche Telegramme mit gaaaanz viel Blumen an Zeuginnen schickt. Man beachte: Erst zu BUNTE, dann Gericht. http://twitpic.com/586fia

Huberts bunte Blumen wurden gegen Ende August verschickt. Woher kannte Burdabunte die Ladungsliste des Gerichts?Woher die Zeuginnenadressen

Zur Vorgeschichte: Die „Bunte“ hatte drei Zeuginnen bis zu 50.000 Euro dafür bezahlt, noch vor der Hauptverhandlung in der Illustrierten ausführlich gegen Kachelmann auszusagen, und war vom Gericht dafür gerügt worden. „Bunte“-Chefredakteurin Patricia Riekel, die die einseitige Berichterstattung ihres Blattes „ausgewogen und neutral“ nannte, hatte gegenüber der FAZ erklärt, es habe sich um Standardverträge gehandelt, wie sie „in allen Redaktionen üblich“ seien. Der Verdacht, Zeuginnen zu manipulieren, sei „ehrverletzend und diskriminierend“.

Kachelmann hat bereits mehrmals auf Twitter auch Paparazzi gezeigt, die er fotografierte, während sie ihm auflauerten. Da er inzwischen weder auf einen Ruf als Sympathieträger noch auf das Wohlwollen der Medien Rücksicht nehmen muss, kann er fast ungehemmt die Auswüchse des Spektakels um ihn herum dokumentieren. Das können bemerkenswerte Einblicke in den journalistischen Alltag in Blättern wie der „Bunten“ werden — wie die Fleurop-Recherche von Tanja May.

Nachtrag, 21:15 Uhr. Die Tanja May schrieb laut NDR-Medienmagazin „Zapp“ übrigens bereits im März 2010 auch an das angebliche Opfer:

Wie ich Ihnen schon mehrfach geschrieben habe, habe ich Ihnen von Anfang an geglaubt, was Herr Kachelmann Ihnen angetan hat. [...] Sonnengrüße schickt Ihnen die Tanja May.

[via Theo in den Kommentaren]

Frau Riekel verrechnet sich

Es heißt ja, am Ende des Prozesses gegen Jörg Kachelmann seien wir so schlau wie zuvor, und auf „Bunte“-Chefredakteurin Patricia Riekel trifft das sicher zu.

Im März 2010, nur Tage nach der Verhaftung Kachelmanns, schrieb sie in ihrer wöchentlichen Fotobetrachtung:

Seit zehn Tagen kann man in Deutschland erleben, warum Frauen, denen Gewalt angetan wurde, oft lieber schweigen, als zur Polizei zu gehen.

In dieser Woche, nach dem Freispruch, schrieb sie an gleicher Stelle:

Der Kachelmann-Prozess wird viele Frauen abschrecken, erzwungene Sexualität in einer Beziehung, wie immer sie geartet ist, anzuzeigen.

Ich halte das für schlicht dahinbehauptet. Am Fall Kachelmann ist ungefähr alles besonders: seine Prominenz, die Vielzahl der mehr oder weniger gleichzeitigen Beziehungen, die sexuellen Spielarten, die Lügen der Frau, die ihn anzeigte, die groteske Aufmerksamkeit der Medien.

Warum sollte dieser Prozess mehr Vergewaltigungsopfer davor abschrecken, zur Polizei zu gehen, als, sagen wir, all die Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, die behaupten, dieser Prozess würde Vergewaltigungsopfer davor abschrecken, zur Polizei zu gehen?

Im Grunde gibt es Frau Riekel mit ihrer doppelten Diagnose vor und nach dem Prozess ja auch zu: dass die Hemmschwelle für Opfer hoch, zu hoch ist, ganz unabhängig von dem Kachelmann-Prozess. Dass sie und ihre Zeitschrift unermüdlich behauptet, der Prozess habe solche Auswirkungen, ist bloß der Versuch, der eigenen Berichterstattung, dem unstillbaren Interesse an allen Details des Privatlebens des Beschuldigten, eine gesellschaftliche Relevanz und Legitimation zu geben.

Es gelingt ihr nicht gut. Riekel schreibt:

Denn in diesem Prozess ging es um den intimsten Bereich zwischen Mann und Frau, um Sexualität und die schwierige Frage, wann sie noch erwünscht und wann schon erzwungen ist.

Nein. Es ging in diesem Prozess nicht um unterschiedliche Interpretationen desselben Geschehens. Es ging um zwei grundsätzlich unterschiedlich behauptete Abläufe.

Riekel weiter:

2010 wurden 7724 Fälle von sexuellen Übergriffen angezeigt. Nach einer Studie hat jede vierte Frau mindestens einmal in einer Partnerschaft Sex gegen ihren Willen erlebt. Offizielle Stellen gehen übrigens von einer Dunkelziffer aus, die 100-mal höher liegen soll.

Offenbar werden Frau Riekels Texte von niemandem gegengelesen, sonst hätte vielleicht jemand gemerkt, dass sie mit dieser Satzfolge behauptet, 2500 Prozent aller Frauen (100 mal 25 Prozent) hätten in einer Partnerschaft Sex gegen ihren Willen erlebt. Das kann selbst Frau Riekel nicht meinen.

Aber der Satz mit der Studie ist ohnehin falsch. Riekel meint sicher die „Repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland“, die das Bundesfrauenministerium 2004 vorgelegt hat. Sie kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass:

mindestens jede vierte Frau (25%) im Alter von 16 bis 85 Jahren, die in einer Partnerschaft gelebt hat, körperliche (23%) oder — zum Teil zusätzlich — sexuelle (7%) Übergriffe durch einen Beziehungspartner ein- oder mehrmals erlebt hat.

Riekels Satz müsste also richtig lauten: „Nach einer Studie hat jede vierzehnte Frau mindestens einmal in einer Partnerschaft Sex gegen ihren Willen erlebt.“

Der Schluss von Riekels Kolumne ist erstaunlich:

Der Kachelmann-Prozess wird viele Frauen abschrecken, erzwungene Sexualität in einer Beziehung, wie immer sie geartet ist, anzuzeigen. Denn in einem Prozess wird ihr vielleicht nicht nur nicht geglaubt, sondern sie wird zur rachsüchtigen Täterin stigmatisiert. Man fragt sich nach diesem Prozess: Was mag für eine Frau schlimmer sein — eine Vergewaltigung oder der Spießrutenlauf danach?

Mal abgesehen davon, dass sie verschweigt, dass die Frau, die Kachelmann beschuldigt hat, durch ihr Verhalten erheblichen Anlass dazu gegeben hat, sie (zu Recht oder zu Unrecht) für eine rachsüchtige Täterin zu halten. Und mal abgesehen davon, dass in diesem Fall eben nicht klar ist, ob es überhaupt eine Vergewaltigung oder „erzwungenen Sex in einer Beziehung“ gegeben hat. Ein Spießrutenlauf soll schlimmer sein als eine Vergewaltigung?

Dass es für Opfer einer Vergewaltigung furchtbar ist, wenn ihnen nicht geglaubt wird oder sie noch diffamiert werden, steht außer Frage. Aber ist es nicht eine gefährliche Verharmlosung von Vergewaltigungen, sie für möglicherweise nicht so schlimm zu halten wie einen Spießrutenlauf?

PS: Fast elf Seiten widmet die „Bunte“ in ihrer am Freitag erschienenen „aktualisierten Ausgabe“ in gewohnter Einseitigkeit dem Prozess und zitiert dabei ausführlich aus der Urteilsverkündung. Dass das Gericht der „Bunten“ in eben dieser Urteilsverkündung vorwirft, „ohne Zweifel dem Ablauf der Hauptverhandlung geschadet“ zu haben ((Für alle, die die vergangenen Monate im Ausland verbracht haben: Die „Bunte“ hatte drei Zeuginnen bis zu 50.000 Euro dafür gezahlt, dass sie — noch vor ihren Aussagen vor Gericht — intime Details aus ihren Beziehungen zu Kachelmann verraten.)), dieses kleine Detail fand sie nicht erwähnenswert.

Das Lügen-Drama-Drama der „Aktuellen“

Das Landgericht München hat laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ eine einstweilige Verfügung gegen die Zeitschrift „Die Aktuelle“ bestätigt. Das Lügenblatt aus dem Haus der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) muss eine Gegendarstellung von Karl-Theodor zu Guttenberg abdrucken.

Es geht um die Titelseite hier rechts vom 22. April. Jörg Thomann hatte damals in seiner wunderbaren FAS-Kolumne „Herzblattgeschichten“ die Genesis der Schlagzeile entschlüsselt:

Frau zu Guttenberg hat ihre öffentlichen Auftritte zuletzt, weil ihr Gatte ja durch die Korrespondenz mit Universitäten und Anwälten ausgelastet ist, allein absolviert; man „könnte sagen“, findet daher Die Aktuelle, „glücklich getrennt von Karl-Theodor“. Nach wie vor nur rätseln wir, auch nach Lektüre des Artikels, was hier „keiner wissen sollte“. Dass Die Aktuelle mit Leidenschaft ihre Leser veräppelt? Aber das weiß doch jeder.

Kurz zuvor hatten es die Experten der „Aktuellen“ bereits geschafft, aus einer dahingesagten kritischen Äußerung einer beliebigen Sängerin über Guttenberg ein Cover zu basteln, das es aussehen lässt, als habe er ein Verhältnis mit ihr.

So geht das Woche für Woche. Ich habe darüber vor einem Jahr schon einmal geschrieben, als Günther Jauch einen Widerruf auf dem Titel erzwang und „Aktuelle“-Chefredakteurin Anne Hoffmann in einer Weise Zerknirschheit heuchelte, für die mir beim besten Willen kein treffender Vergleich einfällt.

Natürlich hielt sie das nicht ab, sich neue irreführende Schlagzeilen auch über Jauch auszudenken. Hinter dem „Kinder-Drama“ und der „bitteren Wahrheit über die Herkunft seiner Töchter“ steckt die bekannte Tatsache, dass seine Adoptivtöchter in Russland geboren wurden.

Das „Drama“, das sie sich im Januar ausdachte und sie „Tu’s nicht!“ ausrufen und „Trennung vom Glück?“ fragen ließ, besteht darin, dass es Stimmen gibt, die Jauchs Vertrag mit der ARD kritisieren. Wie Jörg Thomann halbbedauernd schrieb: „Debil, keine Frage, aber wohl nicht gegendarstellungsfähig.“

Ich habe leider kein Archiv mit Inhalten der „Aktuellen“, deshalb kann ich nur raten, was hinter dieser Schlagzeile hier links steckt. Möglich ist alles: Dass Nachbarn von Frau Lierhaus geheiratet haben, dass sie jemanden kennt, der mal geheiratet hat, oder dass jemand geheiratet hat, der sie schon mal im Fernsehen gesehen hat. Nur dass es um die Hochzeit von Monika Lierhaus geht, das kann man so gut wie ausschließen.

In diesem Fall gibt immerhin das Inhaltsverzeichnis einen Hinweis, welche harmlosen Tatsachen die „Aktuelle“ zu dieser Schlagzeile verdreht hat. „Glücklicher Baby-Jubel: Beim Deutschlandbesuch drehte sich alles um Kinder“, steht da. Der Eindruck, dass die schwedische Kronprinzessin Victoria und ihr Gatte jubeln, weil sie („endlich“, wie die einschlägigen Blätter seit Monaten stöhnen) ein Baby erwarten, ist ebenso gewollt wie falsch.

Weiß jemand, was ein paar Ausgaben zuvor mit „Unser Baby“ gemeint gewesen sein könnte? Haben die beiden ein Haustier, einen Garten, irgendein Hobby, das sie (oder auch nur die „Aktuelle“) ihr „Baby“ nennen?

Man könnte das alles natürlich amüsant finden, wenn man nicht zufällig in derselben Branche arbeiten muss wie diese Leute oder persönlich betroffen ist. Die WAZ-Leute schrecken auch nicht davor zurück, mit dem Schicksal von Gabi Köster Auflage zu machen:

Im Jahr zuvor hatte die „Aktuelle“ erst eine falsche Krankheits-Geschichte gebracht und dann eine falsche Genesungs-Geschichte daraufgesetzt. Dafür kassierte das Blatt eine Rüge vom Presserat:

Für den fälligen Abdruck dieser Rüge fand die „Aktuelle“ dann ein Plätzchen unter dem Impressum:

Das sind die Methoden des Blattes, gegen das Guttenberg jetzt juristisch vorgegangen ist. Man ahnt das nicht, wenn man die Meldungen über den Fall liest. Oder die Münchner „Abendzeitung“, die schreibt:

Bei seiner Doktorarbeit hat er großzügig über diverse Regeln hinweg gesehen. (…) Bei anderen Publikationen nimmt es der adelige CSU-Politiker allerdings offenbar sehr genau.

„Aktuelle“-Chefredakteurin Anne Hoffmann aber bastelt sicher schon an einer neuen Titelgeschichte zur Gegendarstellung: „Stephanie zu Guttenberg allein — Was ist da passiert?“

Herdentriebtäter

Die elementarste Aufgabe [der Medien], das Doppelleben des netten Herrn Kachelmann zu enthüllen, war lange vor Prozessbeginn erledigt.

Schreibt Georg Altrogge, Chefredakteur des Braanchendienstes „Meedia“.

Auf mehrmalige Nachfrage von Kommentatoren, ob er (sinngemäß) noch alle Vokale im Alphabet hat, begründet Altrogge diese Definition der „elementarsten Aufgabe“ mit der „Medienrealität“:

Nennen Sie mir ein Leitmedium, das nicht detailreich über eben dieses Thema berichtet hätte. Und natürlich gehört es zu den Aufgaben der Medien, bei prominenten Personen im Zusammenhang mit einem öffentlich geführten Gerichtsverfahren auch über diese Dinge zu berichten. Das war nie anders und wird nie anders sein. Niemand, der in der Branche operativ Verantwortung trägt, würde diesen Grundsatz ernsthaft in Zweifel ziehen.

Bereits vor einem Jahr hatte Altrogge in ähnlichem Zusammenhang erklärt, dass es „rufschädigend für den Journalismus“ sei, auch nur öffentlich darüber nachzudenken, ob es nötig ist, sich an der rufschädigenden Berichterstattung über einen möglicherweise Unschuldigen zu beteiligen. Er kommentierte damals im Blog von Michalis Pantelouris:

Ich kapiere das nicht: Ganz Deutschland diskutiert über den Fall Kachelmann, und Herr Pantelouris würde all das gern wegzensieren. Damit steht er außerhalb der Leitmedien wie Spiegel & Co. Wer so denkt, sollte sich vielleicht einen anderen Job suchen, denn mit Journalismus hat eine solche Einstellung m.E. nichts zu tun.

Ich glaube ihm inzwischen, dass er das wirklich nicht verstehen kann. Vielleicht ist es ein genetischer Defekt. Er kann sich nicht vorstellen, dass das, was alle tun, falsch sein kann. Leitmedien, glaubt Altrogge, heißen Leitmedien, weil man sich danach richten kann, soll und muss, was sie tun.

Er ist nicht nur ein überzeugter Mitläufer. Er verklärt das Mitlaufen zur höchsten Pflicht und Tugend.

Und wenn alle Medien, wie unter Zwang, im Privatleben eines Prominenten wühlen, dann muss das wohl, ja: ihre „elementarste Aufgabe“ sein.

(Ich versuche wirklich, „Meedia“ nicht mehr zu lesen. Ich habe alle Feeds aus meinem Feedreader gelöscht. Aber dann schicken mir Leute sowas per Mail und ich kann mir nicht helfen.)