Ungezählte Medien berichten in diesen Tagen, dass die Deutschen im vergangenen Jahr häufiger krank gefeiert hätten als die Jahre zuvor. Die traurige Geschichte, warum das überhaupt aktuell eine Nachricht ist, obwohl die entsprechenden Zahlen bereits vor fast einem halben Jahr veröffentlicht wurden und seitdem mehrmals die Runde durch die Medien gedreht haben, habe ich im BILDblog aufgeschrieben.
Aber die Sache ist, wieder einmal, noch schlimmer.
Ich glaube nicht, dass sich die Arbeitnehmer in Deutschland im vergangenen Jahr signifikant häufiger haben krank schreiben lassen. Und ich halte die reflexartige Erklärung, das liege daran, dass die Menschen aktuell weniger Angst um ihren Arbeitsplatz hätten (die beim „Handelsblatt“ sogar in der Überschrift gipfelt: „Aufschwung macht deutsche Beschäftigte krank“), für ein Gerücht.
Quelle für die Meldungen ist — neben der „Bild“-Zeitung — das Forschungsinstitut der Bundesarbeitsagentur IAB. Die Grundlage für deren Berechnungen ist eine Statistik des Bundesgesundheitsministeriums. Das fragt regelmäßig bei den Krankenkassen nach, wie hoch der Anteil der Pflichtversicherten war, die jeweils am 1. eines Monats krankgeschrieben waren.
Es handelt sich also um eine Stichprobe, und die Methode hat einen gravierenden Haken: Das Ergebnis wird erheblich dadurch beeinflusst, auf welchen Wochentag der erste Tag eines Monats fällt. Am Wochenende lassen sich weniger Leute neu krankschreiben, die ohnehin nicht arbeiten müssen und, wenn überhaupt, dann erst am folgenden Montag zum Arzt gehen.
Wie stark dieser Effekt ist, zeigt die monatliche Übersicht, wenn man Werktage bzw. Wochenenden und andere freie Tage markiert:
(Allerheiligen ist nicht in allen Bundesländern ein Feiertag.)
Will man den Krankenstand verschiedener Jahre miteinander vergleichen, ergibt sich das Problem, dass die Zahl der Monatsersten, die auf ein Wochenende oder einen Feiertag fallen, stark schwankt. Dies ist dieselbe Grafik für 2009:
(Allerheiligen fiel auf einen Sonntag.)
Statt achteinhalb Werktage 2010 gehen 2009 nur fünf Werktage in die Rechnung ein. Die Stichprobe enthält deutlich mehr Sams-, Sonn- und Feiertage, die die Zahl der Krankschreibungen senken. Dass die Zahl der Krankschreibungen 2010 gegenüber dem Vorjahr zunehmen würde, war also ganz unabhängig vom tatsächlichen Verhalten der Menschen schon aus statistischen Gründen zu erwarten.
Die Stichproben-Methode ist aufgrund der Verzerrungen untauglich, Aussagen darüber zu treffen, ob sich in einem Jahr tatsächlich mehr Leute haben krankschreiben lassen als in einem anderen. Das Bundesgesundheitsministerium selbst warnt vor der Fehlinterpretation seiner merkwürdigen Erhebung: „(…) die Vergleichbarkeit über die Jahre ist eingeschränkt, da die Zahl der Sonn- und Feiertage, die auf den ersten Tag eines Monats fallen, variieren.“ Offenbar beeindruckt diese Warnung niemanden.
Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse DAK hat für ihren „Gesundheitsreport“ übrigens die Krankmeldungen ihrer Mitglieder komplett ausgewertet. Danach blieb der Krankenstand 2010 gegenüber dem Vorjahr konstant bei 3,4 Prozent.
Nachtrag, 21:10 Uhr. Die Techniker Krankenkasse behandelt in ihrem Gesundheitsreport das Problem mit der Statistik des Gesundheitsministeriums ausführlich und pointiert (PDF, ab Seite 18). Wie sehr die Stichtags-Werte in die Irre führen können, zeigt anhand eines Vergleiches des ersten Halbjahres 2010 mit dem Vorjahreszeitraum. Statt eines tatsächlichen Anstieges der Krankenstände um 0,9 Prozent ergab sich eine scheinbare Zunahme um 14,2 Prozent.
Aufgrund der Verteilung der Monatsersten auf die verschiedenen Wochentage lässt sich übrigens heute schon vorhersagen, dass die Medien 2012 über einen drastischen Rückgang der Krankenstände berichten können. Sie werden das aber bestimmt irgendwie anders erklären, womöglich mit einer schlechteren Konjunktur.