Monat: Oktober 2011

Die SPD rettet ARD und ZDF

Es gibt sie noch, die großen politischen Würfe. Zwei SPD-Politiker haben die Lösung gefunden, wie es die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in Deutschland schaffen können, endlich auch jüngere Menschen zu erreichen. In einem Gastbeitrag für die Samstagausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ verraten sie ihre Gewinner-Formel:

Das ZDF könnte (…) mit seinem digitalen Kanal ZDF Neo die Zielgruppe der 30- bis 49-Jährigen konsequenter ansprechen. Konsequenter bedeutet, einen Marktanteil von etwa fünf Prozent anzupeilen.

Warum ist darauf nicht eher jemand gekommen? Wieso gibt sich das ZDF bei ZDFneo mit Marktanteilen im Promillebereich zufrieden, wenn es doch fünf Prozent anpeilen könnte! Auch jüngere Zielgruppen wären plötzlich ganz leicht zu erreichen, wenn man nur Marktanteile anpeilt, die hoch genug sind. Und wundern Sie sich nicht, wenn die SPD in Zukunft bei Wahlen richtig abräumt: Die Partei wird einfach konsequent Ergebnisse von etwa 40 Prozent anpeilen.

Man könnte lachen über diesen Text, man kann ihn leicht vergessen oder ignorieren, aber er lässt sich auch als trauriges Symbol dafür lesen, was in Deutschland als Medienpolitik durchgeht. Die Autoren sind Martin Stadelmaier, der Chef der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei, und Marc Jan Eumann, der Vorsitzende der SPD-Medienkommission. Beide sind Mitglied im ZDF-Fernsehrat.

Die „Süddeutsche“ hat über den Text geschrieben:

Warum weniger manchmal wirklich mehr ist: Wie sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk verändern muss

Kein Wunder, dass es sich um zwei Fragen handelt. Antworten enthält das Stück nicht.

Aber schon die Fragen, die sich Stadelmaier und Eumann stellen, sind toll.

1. Wie kann der öffentlich-rechtliche Auftrag im Netz so ausgestaltet werden, dass er Qualität und Überblick im Meer der Informationen bietet und regen Zuspruch findet?

2. Wie kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der auf der Basis solider Informationen über die wesentlichen Zusammenhänge in unserer Gesellschaft informiert und damit zur Demokratiebildung durch freie Meinungsbildung beiträgt, den Generationenabriss stoppen, der sich vor allem bei jungen Menschen vollzieht, die sich von ARD und ZDF abwenden?

3. Wie kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk zeitgemäße, den inhaltlichen und finanziellen Herausforderungen entsprechende Strukturen legen?

Die diversen Sprachunglücke in diesen Sätzen sind kein Zufall, sondern Ausdruck davon, dass hier jemand nicht klar denken kann oder wenigstens nicht klar reden will. Ein ausgestalteter Auftrag soll regen Zuspruch finden? Ein Rundfunk soll auf der Basis von Informationen informieren? Durch Meinungsbildung zur Demokratiebildung beitragen? Herausforderungen entsprechende Strukturen legen?

Auf keine der tatsächlichen Fragen, die man hinter diesen Worthaufen erahnen kann, findet der Text auch nur die Idee einer Antwort.

Stadelmaier und Eumann erwähnen kurz die Klage der Verleger gegen die „Tagesschau“-App und fügen hinzu:

Ein scheinbar geeintes Verlegerlager will im Netz Bezahlinhalte durchsetzen. Das ist, um nicht missverstanden zu werden, legitim. Das Vorgehen knüpft damit an die europaweite, kontroverse Diskussion um den Schutz der Urheberrechte beziehungsweise Leistungsschutzrechte an und hat sich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Angriffsziel ausgesucht. Es ist aber auch eine gravierende Verkennung der Interessenslage, insbesondere der Tages- und Wochenpresse, die auf ihre Art wie ARD und ZDF zu verlässlichen, orientierenden Informationen für unsere Gesellschaft beiträgt.

Ich weiß nicht, was die Urheber- und Leistungsschutzrechte mit dem Thema zu tun haben, aber was weiß man schon von Vorgehen, die sich Ziele aussuchen.

Irgendwie, sagen die SPD-Medienpolitiker dann, sollten die Verlage und die öffentlich-rechtlichen Anstalten gemeinsam „für attraktive Informationsangebote im Internet sorgen“.

Um gerade bei den unter 20-Jährigen die öffentlich-rechtliche Zugkraft im Netz zu steigern, wird es mehr Geld für Kreativität, neuer Angebote und Geschäftsmodelle bedürfen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es ausgerechnet Geld ist, das ARD und ZDF fehlt, aber vielleicht meinen Stadelmaier und Eumann ja eine Umverteilung der Ressourcen. Man weiß es nicht, denn sie schreiben nichts darüber. Auch nicht, was für „neue Angebote“ denn gebraucht werden und vor allem, wie man mit neuen „Geschäftsmodellen“ Jugendliche erreicht. Bis gerade dachte ich, dass das Geschäftsmodell der Öffentlich-Rechtlichen ist, Gebühren zu bekommen und dafür ein gutes Programm zu machen.

Für ARD und ZDF wird entscheidend sein, dass sie sich neue Prioritäten setzen und zugleich von Liebgewordenem trennen.

Was sehnte man sich nach einem Beispiel – oder besser zweien: eins für die neu zu setzenden Prioritäten und eins für das abzuschaffende Liebgewordene. Aber es kommt keines, und damit ist die Abhandlung der Frage 1 auch schon beendet, in der es eigentlich um den öffentlich-rechtlichen Auftrag im Netz ging.

Als Antwort auf Frage 2 referieren die SPD-Männer, dass Jugendliche und junge Erwachsene kaum Angebote von ARD und ZDF im Internet und im Fernsehen wahrnähmen, insbesondere keine Nachrichten. Sie fügen hinzu:

Der gebührenfinanzierte Rundfunk hat (…) die (…) gesetzliche Aufgabe, alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen anzusprechen, insbesondere mit seinen Hauptprogrammen. Dieses Ziel ist heute nicht mehr allein mit den Vollprogrammen zu erreichen, allerdings mit Spartenprogrammen im Marktanteilsbereich von weniger als einem Prozent auch nicht.

Aha: Das Ziel, Menschen mit dem Hauptprogramm anzusprechen, lässt sich heute nicht mehr allein mit dem Hauptprogramm erreichen.

Und: Das Ziel, alle Menschen anzusprechen, lässt sich nicht mit Programmen erreichen, die nur wenige Menschen gucken.

Nun folgt der eingangs zitierte Gedanke, dass ZDFneo doch einfach mehr jüngere Leute erreichen sollte, als es tut, und erstaunlicherweise sogar ein konkreter Vorschlag:

Die Länder sollten dazu einen Konstruktionsfehler der Beauftragung beseitigen, nämlich das Verbot, in den Spartenkanälen (zielgruppenadäquate) Nachrichten zu bringen.

Spätestens beim Wort „Beauftragung“ war ich mir dann sicher, dass sich der Text nicht an mich, geschweige denn einen interessierten fachfremden Zuschauer richtet.

Ich bin durchaus dafür, dass das ZDF auf ZDFneo Nachrichten für junge Leute senden darf — es wäre ein interessanter Versuch, einen öffentlich-rechtlichen Gegenentwurf zu den „RTL 2 News“ zu entwickeln. Aber dass das die Quoten des Senders in die Höhe katapultieren würde, halte ich selbst im besten Fall für unwahrscheinlich.

Zunächst sollten ARD und ZDF ihre Infokanäle aufgeben und Phoenix stärken, indem sie diesen Gemeinschaftskanal in seinen Aufgaben als Ereignis- und Informationskanal stärken.

Eine konkrete Idee, und keine schlechte! Leider lautet der nächste Satz:

Es bliebe dann auch mehr Raum für die beiden privaten Spartenangebote n-tv und N 24.

Die Mini-Kanäle ARD extra und ZDF info sind schuld am Rumpel- und Resteprogramm von n-tv und N24? Das ist schwer zu glauben. Vor allem aber könnte Phoenix genau dadurch, dass es vom Ereignis- zum umfassenden Informationskanal aufgewertet würde, erst recht eine relevante Größe erreichen.

Dann gibt es keinen vernünftigen Grund, sich neben den herausragenden Kultursendern Arte und 3sat kannibalisierende öffentlich-rechtliche Kulturkanäle zu leisten.

Das ist nicht ganz falsch und trifft den Kern überhaupt nicht. Auch arte und 3sat sind längst in einem Maße auf relative Massentauglichkeit optimiert, dass sie für die Experimente, die sich ZDF.kultur leistet, gar keinen Raum hätten. Anders gesagt: Das Problem ist nicht ZDF.kultur. Das Problem sind 3sat und arte.

Aber was red ich, Stadelmaier und Eumann sind im nächsten Satz längst ganz woanders:

Sehr wohl sollten ARD und ZDF allerdings an Silvester je ein Konzert von Mozart und Beethoven übertragen können, ohne dass ihnen daraus ein Nachteil entstünde.

Ich weiß nicht, ob das wegen des „je“ auf zwei oder auf vier Konzerte hinausläuft, aber vor allem: Hä?

Im vergangenen Jahr übertrug die ARD live das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker, das ZDF ebenso live aus der Dresdner Staatsoper ein Konzert der Staatskapelle Dresden. Ihnen wurde daraufhin Gebührenverschwendung vorgeworfen — allerdings, weil beide Sendungen zeitgleich liefern. Wenn den Öffentlich-Rechtlichen daraus „ein Nachteil“ entstand, dann wegen ihrer eigenen Beklopptheit bei der Programmierung (vgl. Parallel-Übertragung der englischen Prinzenhochzeit).

Der Bewusstseinsstrom von Stadlmaier und Eumann endet:

Ein so restrukturierter öffentlich-rechtlicher Rundfunk kann sich mit den Interessen der Tages- und Wochenpresse idealerweise treffen. Beide Seiten könnten sich in der Frage eines anspruchsvollen Journalismus und eines insgesamt anspruchsvollen Medienangebots ergänzen und stärken.

Das „so“ im ersten Satz ist wirklich niedlich. Der Text hat exakt keine Ahnung davon, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk umstrukturiert werden müsste. ARD und ZDF sollen ihre Info- und Kultur-Kanäle schließen und stattdessen junge und noch jüngere Zuschauer erreichen; sie sollen Verwaltungskosten abbauen und vielleicht noch ein paar Orchester schließen. Plattitüden, Phrasen, Lächerlichkeiten.

Die Autoren sind, um es noch einmal zu sagen, die führenden Medienpolitiker der SPD. Martin Stadelmaier ist der vielleicht einflussreichste Strippenzieher auf diesem Gebiet. Und so ein Artikel kommt dabei heraus, wenn er sich mit seinem Kollegen Eumann sagt: Hey, lass uns mal in die „Süddeutsche“ schreiben, wie wir uns die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorstellen?

Man hat danach keine Fragen mehr.

Michael Jürgs‘ Rotz

Wäre dies ein Text von Michael Jürgs, hätte er nicht so angefangen. Es wäre die Beinlänge von Lügen vorgekommen oder die Brechzeit von Krügen — oder irgendeine andere Redensart, die man heute sonst nicht mehr hört, weil man sie schon so oft gehört hat.

Artikel von Michael Jürgs fangen so an:

Es gibt, wie gebildete Leser wissen, mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Schulweisheit sich träumen lässt.

Oder so:

In vordemokratischen Jahrhunderten galt den Gebildeten die aus dem Lateinischen entliehene Lebensformel Quod licet lovi, non licet bovi.

Sicher, es gibt auch Jürgs-Artikel, die anders anfangen, aber die wirken wie Ausnahmen, und Ausnahmen … — aber das wäre schon wieder ein Jürgs-Einstieg.

Michael Jürgs war Chefredakteur des „Stern“, hat mehrere Biographien geschrieben und gilt aus mir nicht bekannten Gründen als geistreicher und witziger Autor, der jedes Blatt schmückt. Außer Redensarten liebt er Metaphern und Wortspiele.

Als er vor zwei Wochen im „Spiegel“ den „Verfall der Sitten“ beklagt, tut er das unter der Überschrift „Kante statt Kant“. Er schimpft über „Handy-Terroristen“, die in Restaurants und Zügen nerven, über Frauen, die ihre Kinder mit Off-Roadern zum Kindergarten fahren und dort in der zweiten Reite parken, über Erste-Klasse-Fahrer, die sich über Obdachlosenzeitungsverkäufer beschweren, über feine Damen, die sich am Taxistand vordrängeln, und generell über Leute ohne Anstand und Sitten wie:

Das fettarschige Leggingsmädchen, geschätzte 16 Jahre alt, das zunächst die Fahrgäste in der U-Bahn herausfordernd mustert, dann den Kaugummi aus dem Mund nimmt, an eine Haltestange klebt, noch mal kräftig Rotz hochzieht und sich dann zungenküssend seinem ebenfalls gepiercten Freund widmet.

Ach, hätten die Gören doch ansehnliche Hintern oder wären wenigstens ungepierct!

Es ist die ewige Klage über das Verkommen der Welt. Sie begleitet den Lauf der Zeit mit ihrem Gegrummel, seit es alte Männer gibt. Jürgs aber sagt, selbst das Schlechterwerden der Welt sei schlechter geworden, denn früher hätten sich nur junge Leute daneben benommen und die Oberschicht und das gemeine Volk, heute aber alle:

(…) sowohl die Prolos wie die Protzler, Pöbler wie Populisten, gehören zum selben Verein.

(Hätte ich erwähnen müssen, dass Jürgs Stabreime mag?)

Er hat keinen Beleg für seinen „Trend weg von Kant, wonach das eigene Handeln stets anderen als Vorbild dienen solte, hin zur Kante, wonach man rücksichtslos gegen andere handeln darf“, aber er sagt, er braucht auch keinen, denn andere haben ja auch keinen. Und dann schreibt er einen sehr jürgs’schen Satz über Trendforscher, in dem er stolz vorführt, wie sehr man sich, mit ein bisschen Mühe, in eitlen Witzen verheddern kann:

Jene Propheten des Unbelegbaren, die auf ihre Art viele Jahre lang bei Gläubigen mit ihren in des Kaisers neuen Kleidern gehüllten Zukunftsprognosen — Horx, was kommt von draußen rein? — erfolgreich waren, haben auch ihre Zukunft hinter sich, seit Krisen in schnellerem Rhythmus passieren, als ihre Prognosen Makulatur sind.

Am vergangenen Sonntag hat Michael Jürgs nun in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ einen Artikel geschrieben, in dem er für den Einsatz sogenannter „Trojaner“ im Kampf gegen Verbrechen plädiert. Er greift dabei zurück auf einen Besuch beim Referat SO 43 des Bundeskriminalamtes, das für Internetkriminalität zuständig ist. Und natürlich erzählt er nicht das, was er dort erlebt hat, ohne vorher zu schreiben:

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen:

Und so erzählt Jürgs in der „FAS“ über das Referat SO 43:

Dessen Büros, in welchen die Uniformierten Dienst schoben im Kalten Krieg, immer einsatzbereit, falls der Russe überraschend sonntags angreifen sollte — diese Büros sind bevölkert von zivil gekleideten jungen Menschen. Sie sitzen vor Computern und surfen. Ihre Arbeit hat zwar, genau wie die ihrer amerikanischen Vorgänger, zu tun mit Überwachung; doch sie nennen es Monitoring und behalten dabei nicht nur den europäischen Luftraum, sondern die ganze Welt im Auge. Was aussieht wie spielerisches Surfen in einer Start-up-Firma, ist hochprofessionelle kriminalistische Arbeit.

Es ist übrigens, auch wenn mir dazu spontan keine Redensart einfällt, so, dass man nur einmal eine Reise machen muss, um viele Male etwas erzählen zu können. Am 26. Juni 2011 hatte Jürgs in der Samstags-Schwester der FAS über das Referat SO 43 geschrieben:

Die Büros, in denen im Kalten Krieg Uniformierte Dienst schoben, einsatzbereit und allzeit wachsam, falls der Russe überraschend sonntags angreifen sollte, sind heute bevölkert von zivil gekleideten jungen Menschen. Sie sitzen vor Computern und surfen. Ihre Arbeit hat zwar wie die ihrer amerikanischen Vorgänger auch zu tun mit Überwachung — bei denen war es der Luftraum über dem Nato-geeinten Europa –, doch sie nennen ihre Kontrollen Monitoring, und sie behalten dabei die ganze Welt im Auge. Was oberflächlich betrachtet aussieht wie spielerisches Surfen in irgendeiner coolen Startup-Firma, ist in Wirklichkeit kriminalistische Arbeit.

Und auch das war nur ein leicht redigierter Vor Nachabdruck aus Jürgs‘ Buch „Die Jäger des Bösen“ über das BKA, das bereits im März erschienen war.

Nun könnte man wohlwollend annehmen, dass jemand, der eine Reise gemacht hat und seitdem immer wieder davon erzählt, sich mit dem Thema wenigstens auskennt. Es spricht im Falle Jürgs aber nichts dafür.

Er schreibt etwa:

Netztrojaner sind nicht wie die Bewohner Trojas Angegriffene, sondern Angreifer. Sie werden im Kern, dem Quellcode, gezielt zur Eroberung fremder Computerprogramme eingesetzt.

Was mag er mit „im Kern, dem Quellcode“ meinen? Der Quellcode ist das Programm, genauer gesagt seine menschenlesbare Form.

Er nennt die Telekommunikationsüberwachung „TÜK“ statt „TKÜ“. Er schreibt, dass der Paragraph 100 a der Strafprozessordnung „Lauschangriffe unter Strafe stellt“, dabei erlaubt dieser Paragraph gerade Lauschangriffe in bestimmten Fällen; es ist das Grundgesetz, das sie eigentlich verbietet. Er staunt: „Im Internet werden jährlich zweistellige Renditen erwirtschaftet, Tendenz steigend“, was nicht nur in dieser Unbestimmtheit von außerordentlicher Sinnlosigkeit ist, sondern auch das Internet bloß auf eine Profitabilität von, sagen wir, der Axel Springer AG bringt.

Jürgs‘ Argumentation ist filigran wie ein Betonklotz:

Dass BKA-Beamte eigene Meinungen haben über das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom März 2010, wonach die bis dahin gebräuchliche Vorratsdatenspeicherung verfassungswidrig ist, überrascht nicht wirklich. Die Statistik aber ist neutral. Seit die Vorratsdatenspeicherung in der bisherigen Form ausgesetzt worden ist, können nur noch in vierzig Prozent aller Fälle die Provider der anfragenden Polizei Auskünfte über IP-Adressen geben, die zu möglichen Tätern führen. Davor waren es über neunzig Prozent.

Die Statistik ist „neutral“? Jedem Journalistenschüler und Volontär würde ein solcher Satz — hoffentlich — schon prinzipiell um die Ohren gehauen.

Jürgs nennt keine Quelle für seine neutrale Statistik. Das BKA spricht davon, dass es zwischen März 2010 und Ende April 2011 sogar in 84 Prozent keine Auskunft von den Providern bekam. Das kann Jürgs aber in seinem Artikel vom 23. Oktober 2011 nicht wissen, weil er den Absatz auch bloß wieder aus seinem bereits im März 2011 erschienenen Buch übernommen hat, wo sich allerdings auch keine Quelle findet.

Aber was bedeutet die BKA-Zahl oder zur Not die von Jürgs? Anders als Jürgs suggeriert, sagt sie nichts darüber aus, wie viele Fälle wegen fehlender Vorratsdatenspeicherung nicht aufgeklärt werden konnten.

In seinem Buch nennt Jürgs die Zahl in einem Absatz, der so beginnt:

Doch wer einmal Fotos von sexuell misshandelten Kindern — oder schlimmer noch: misshandelten Babys — auf den Bildschirmen der Ermittler gesehen hat, wer, was noch unerträglicher ist, ihre hilflos um Gnade bettelnden Stimmen gehört hat und weiß, dass dies die Pädosexuellen und Pädophilen angebotene Realität, dass dies echter Horror ist und kein inszenierter, ist bereit, jedes Gesetz zu brechen, um die Kinder zu befreien.

Das ist der Kern von Jürgs‘ Argumentation in all seiner intellektuellen Schlichtheit: Der Zweck heiligt die Mittel.

Er variiert das in seinem FAS-Artikel in verschiedenen Graden von Perfidie und Naivität. Er beklagt sich allen Ernstes darüber, dass die Internet-Ermittler der Polizei sich an Gesetze und Bestimmungen halten müssen, die Leute, die sie jagen, aber nicht — als sei dieses Ungleichgewicht nicht das Wesen jeder polizeilichen Ermittlung.

Er beschreibt, wie Tausende von Menschen starben, weil sie aufgrund von Fälschern unwirksame oder vergiftete Medikamente bekamen, und fragt:

Falls man durch nicht gar so legal eingesetzte Trojaner solche Kriminellen dingfest machen kann oder Verbrechen verhindert: Wer würde sich darüber beklagen?

Es ist dasselbe Argument, mit dem Folter legitimiert wird. Oder Lynchjustiz. Es bedeutet das Ende des Rechtsstaates.

Man würde das natürlich nicht ahnen, wenn man Jürgs liest, der sein Plädoyer für den Abschied vom Rechtsstaat mit lustigen Wortspielen und abgegriffenen Metaphern mischt.

Der Anfang seines Textes geht übrigens vollständig so:

Es gibt, wie gebildete Leser wissen, mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Schulweisheit sich träumen lässt. Die Vorstellung, man könnte mit Trojanern auf den Schreibautomaten von Charlotte Roche, Walter Moers oder Daniela Katzenberger deren Texte löschen und die Drucklegung der Werke verhindern, ist beispielsweise so ein schöner Traum.

Der zweite Satz hat keinerlei logische Verbindung zum ersten. Aber warum soll man einem Jürgs, wenn man ihm schon die sachlichen Fehler nicht rausredigiert, das Textrecycling nicht übel nimmt und die Angriffe auf die Fundamente unserer Demokratie durchgehen lässt, ausgerechnet den sprachlichen Unsinn aus seinen Texten streichen?

Super-Symbolfoto (90)

Der olle iPod im Bild wäre ein Hinweis gewesen. Oder natürlich „Von hier an blind“ von Wir sind Helden im Neuerscheinungsregal.

Das Foto muss ziemlich genau sechs Jahre alt sein. Das gezeigte iTunes wäre dann nicht die soeben veröffentlichte Version 10.5, sondern Version 5.0, erschienen am 7. September 2005.

Es ist also nur relativ knapp kein Foto von einem Walkman vor der Kassettenwand im örtlichen Musikfachhandelsgeschäft geworden.

[eingesandt von Marcel R.]

Totgesungen

Alles, was man über die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises 2011 wissen muss, steht im ersten Absatz von Hans Hoffs Kritik in der „Süddeutschen“: Das ambitionierte ARD-Fernsehfilmprojekt „Dreileben“ wurde von der RTL-Regenbogentante Frauke Ludowig gewürdigt. Sie sagte: „Das ist schon sehr durchdacht und sehr künstlerisch gemacht.“

Zum Glück ist anzunehmen, dass das meiste, was an diesem Abend passierte, schon im Moment der Ausstrahlung in Vergessenheit geraten ist. Als Mahnmal für die Zukunft würde ich nur gerne dokumentieren, wie die Produzenten die Erinnerung an die Verstorbenen des Jahres in Szene gesetzt haben. Sie wählten den erstschlechtesten musikalischen Einfall, den Aufsteigersong des Jahres bei Beerdigungen: „Unheilig“ mit „Geboren um zu leben“. Und dann setzten sie konsequenterweise den Sänger in Szene statt die Toten (Video).

Hier wird gerade Witta Pohl gewürdigt:

Hier sieht man rechts und links auf den Monitoren noch ein paar Zehntelsekunden lang Pixelhaufen, die Ausschnitte aus Leslie-Nielsen-Filmen darstellen:

Das ist der beste Abschiedsblick auf Amy Winehouse:

Und wer hier gestorben ist, konnte ich bis heute nicht entziffern:

Von wie vielen Fernsehgrößen sich zumindest das Saalpublikum kurz noch einmal verabschieden konnte, während die Zuschauer zuhause den ollen „Grafen“ in der Großaufnahme sahen, kann ich nicht sagen.

Aber schon sehr künstlerisch gemacht.

Zehn Jahre FAS

Am 11. September 2001 saß ich im fünften Stock des vierstöckigen FAZ-Gebäudes in Berlin-Mitte. Unsere Redaktionsräume waren in Wahrheit in einem Haus nebenan, man erreichte sie über einen absurd verwinkelten Weg, der durch zwei verschiedene Treppenhäuser führte und einem jede Lust nahm, die Mittagspause außer Haus zu verbringen.

Ich war als einer der letzten zum Team dazugekommen, das die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ neu erfinden sollte. Eigentlich hätte Alexander Gorkow die Medienseite machen sollen, der hatte dann aber zum Glück keine Lust mehr.

Es war die Idee von Nils Minkmar, stattdessen mich zu fragen. Ich habe erst gezögert, denn die ganze FAZ-Welt war mir unbekannt und fremd, politisch, aber auch stilistisch. Andererseits sollte die „Sonntagszeitung“ ja gerade anders sein, jünger, zugänglicher, unterhaltsamer — dafür standen auch die Namen vieler Journalisten, die dafür von anderen Zeitungen eingekauft worden waren.

Und so saß ich mit den anderen Feuilletonisten am 11. September 2001 im fünften Stock des vierstöckigen FAZ-Gebäudes in Berlin-Mitte, um die Nullnummer der neuen Zeitung fertigzustellen. Redaktionsschluss dieser Ausgabe war zum Glück um 13 Uhr; ab dem Nachmittag wäre an Arbeiten nicht zu denken gewesen, jedenfalls kaum für eine Übung, die nicht zur Publikation bestimmt war.

Die Nacht verbrachte ich dann schlaflos vor CNN in einer Dienstwohnung, die die FAZ damals noch in Ku’damm-Nähe hatte (eine Wohnung hatte ich auf die Schnelle noch nicht gefunden in Berlin), ein gesichtsloses Apartment im Achtziger-Jahre-Design, das die Irrealität der ganzen Situation noch verstärkte.

Die große Medienkrise hatte noch nicht richtig begonnen. Im Nachhinein schätze ich, dass es der allerletzte Moment war, in dem sich die FAZ ein solches Wagnis wie die Sonntagszeitung noch getraut hätte. Es hat sich als großer Glücksfall herausgestellt, für die FAZ, der durch die FAS eine fruchtbare innere Konkurrenz erwuchs, die sie lebendiger machte und die ihr ganz neue Leserschichten eroberte. Und für mich.

Das fühlte sich, zugegeben, nicht an jedem Tag so an. Wir haben als Ganzes eine Zeit gebraucht, unsere eigene Form und Rolle zu finden. Und ich in der Redaktion auch.

Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ hat es geschafft, die große Freiheit, die die FAZ auszeichnet, die Lizenz, anders zu sein, speziell, verschroben und sehr klug, mit einem entschiedenen Willen zu verbinden, sich dem Leser zuzuwenden, ihn Woche für Woche einzufangen, zu überraschen und intelligent zu unterhalten. Jedes Ressort hat FAZ-typisch seine eigene Kultur entwickelt, aber der Widerspruch, der daraus oft entsteht, kommt dem Leser zugute in Form von Vielfalt und Reibung.

Das Wunderbare an einer Sonntagszeitung ist, dass es sehr wenig Pflicht gibt und ganz viel Kür. Das bedeutet andererseits auch: Es gibt eine Pflicht zur Kür. Ich konnte mir für die Medienseite etwas einfallen lassen. Ich musste mir für die Medienseite etwas einfallen lassen. Ich habe diesen Luxus manche Woche verflucht.

Claudius Seidl, einer der beiden Feuilleton-Chefs, ist jemand, der nicht aufhört zu zweifeln, und wenn man eine Woche Zeit hat, eine Zeitung zu gestalten, gibt es viel Gelegenheit dafür: Ist das wirklich der richtige Aufmacher? Wäre der Rhythmus nicht besser, wenn die Texte der Seiten 4 und 8 die Plätze tauschen? Kann die Fotoredaktion, die schon zwanzig Mal geguckt hat, bitte noch ein einundzwanzigstes Mal gucken, ob sie nicht ein besseres Bild findet? Nein, das ist noch die Überschrift, wirklich nicht, nein, doch, da fällt Ihnen noch was ein, ganz sicher.

Es ist gar nicht so sehr Perfektionismus als einfach der Wille, eine Zeitung zu gestalten — mit all den Elementen, die dazu gehören. Da ist kaum Routine. Das ist oft anstrengend, gerade wenn das Ziel ist, nicht anstrengend zu sein.

Ich könnte jetzt sagen, das Wunderbare an meiner Zeit bei der FAS war, dass man mich Sachen machen ließ.

Ich durfte zum Beispiel einen Artikel über den Deutschen Presserat, der sich seit Jahrzehnten als „zahnloser Tiger“ bezeichnen lassen muss, so illustrieren:

Ich durfte Haim Saban, der kurzzeitig das deutsche Fernsehen zu kaufen schien, einen Reiseführer schenken:

Ich durfte den viel zu früh verstorbenen Axel Zerdick interviewen, der den Zeitungen schon 2003 prognostizierte, sie sollten sich von dem Gedanken verabschieden, die Stellenanzeigen kämen je zurück — die FAZ lebte zu einem großen Teil von diesen Stellenanzeigen.

Ich durfte mich an 9live abarbeiten, an Johannes B. Kerner und — fast immer — an der „Bild“-Zeitung und ein größeres Stück schreiben über die Vorworte von Jörg Walberer in der „Hörzu“.

Das Wunderbare an meiner Zeit bei der FAS war, dass die Kollegen mich machen ließen, aber das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Vor allem brachten sie mich dazu, zu machen. Sie schubsten und inspirierten mich. Ich habe länger gebraucht, um zu merken, dass es kein Fluch war, sondern eine Chance, dass ich von Feuilleton-Leuten umgeben war, die ganz anders tickten als ich Medienheini. Dass sie anders auf das Fernsehen blickten, ratlos meine Aufregung über irgendwelche Brancheninterna wahrnahmen und mich stattdessen nachdrücklich ermunterten, Artikel über Dinge zu schreiben, die mir selbstverständlich erschienen.

Ich habe viel gelernt in den vergangenen zehn Jahren bei der FAS, und nicht nur die Kunst des gepflegten Kalauers in der Überschrift. Ich hatte das Glück, mit Kollegen zu arbeiten, die gut sind und gut zu mir waren und deren Kreativität mich inspiriert und angespornt hat.

Am vergangenen Wochenende habe ich meine vorerst letzten Artikel für die FAS geschrieben, fast auf den Tag genau zehn Jahre, nachdem sie zum ersten Mal erschienen ist. Ich freue mich sehr darauf, demnächst für den „Spiegel“ zu schreiben, aber ich verlasse die FAS mit etwas Wehmut. Ich möchte mich bedanken bei all meinen Kollegen, vor allem bei Johanna Adorján, Michael Hanfeld, Peter Körte, Christiane Kroth, Nils Minkmar, Tobias Rüther, Claudius Seidl, Harald Staun, Volker Weidermann.

Und bei Frank Schirrmacher — und natürlich Alexander Gorkow, ohne den das alles nicht möglich gewesen wäre.

Jörg Thadeusz

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Er freut sich so darüber, dass zum Jubiläum seiner 250. Sendung Iris Berben noch einmal gekommen ist, dass er auf dem Weg zu ihr an den Tisch vor Glück die Hände erst zu Fäusten ballt und dann zusammenschlägt wie ein Kind, sich vor ihr verbeugt und gleichzeitig für das Fernsehpublikum noch eine große Hier-ist-sie-Präsentationsgeste versucht, was nur halb gelingt. Frau Berben lächelt diesen ungelenken, charmanten Mann amüsiert und natürlich formvollendet an, und weil sie bezaubert ist, ist sie bezaubernd.

Vielleicht ist es das, was Jörg Thadeusz unwiderstehlich macht: Diese Mischung aus Unbeholfenheit und großem Geschick, das auch nur wie ein Versehen wirkt. Claus Peymann sagte zu ihm: „Sowas Rundes und Naives, wie Sie es sind — oder scheinen –, gibt es wenig.“ (Thadeusz erwiderte grinsend: „Kann ich mir das merken, als Qualität?“)

Wenn er ein bisschen Zeit zum Denken gewinnen muss, wiederholt er stotternd die Silbe, an der er gerade hängt. Und wenn er aufgeregt ist, unsicher oder vielleicht ein bisschen verliebt, stapelt er Wörter aufeinander: „Schön, eigentlich, hatten wir es zusammen, hier, immer“, sagt er zu Iris Berben, nachdem er ihr einige alte Ausschnitte gezeigt hat. Häufiger folgt er Gesprächsabzweigen und merkt zu spät, dass sie in Sackgassen in unwirtlichen Gegenden führen, aber es ist immer eine freundliche Neugier, die ihn dort hinführt, oder ein kindlicher Übermut.

Dass die Gesprächssendung, die er seit fünf Jahren im RBB hat (dienstags, 22.15 Uhr), viel weniger Aufmerksamkeit bekommt, als sie verdient hätte, liegt gewissermaßen in der Natur der Sache, denn sie versucht — genau wie ihr Moderator — nicht mehr zu sein, als sie ist. „Fernsehen bedeutet, anderen Leuten zugucken zu dürfen“, hat er kürzlich in einem Aufsatz für die „Welt“ über den Sinn des Mediums geschrieben. „Wenn sie sich sportlich verausgaben, einen schönen Mund küssen, oder einfach nur miteinander reden.“ Bei Thadusz reden sie einfach nur miteinander.

Es ist erstaunlich, wie selten sowas überhaupt versucht wird im deutschen Fernsehen. Es ist so sehenswert, wenn es gelingt. Iris Berben hatte Thadeusz schließlich in einer Stimmung, in der sie gleichzeitig sehr wach und sehr entspannt war. Auf seine Frage: „Stimmt es, dass Sex unter Kokaineinfluss mehr Spaß macht?“ sagte sie, ohne zu zögern: „Dacht‘ ich mal.“

Der „Tagesspiegel“ im Kampf gegen Factual Correctness

Was bisher geschah: Am Mittwoch behauptet der „Tagesspiegel“ in einem Artikel, die BBC habe die Bezeichnungen „vor / nach Christus“ in Zeitangaben aus übertriebener Political Correctness abgeschafft. Richtig ist, dass die Religionsseiten des Online-Angebotes der BBC auf diese Begriffe verzichten. Eine allgemeine Vorgabe gibt es laut BBC aber nicht. Nachdem ich im BILDblog den „Tagesspiegel“-Artikel als „Urbane Legende von der Political Correctness“ kritisiert habe, antwortet nun der „Tagesspiegel“-Autor auf tagesspiegel.de.

Schon der Vorspann ist falsch. Da steht:

Der Journalist Stefan Niggemeier wirft in seinem „Bildblog“ dem Tagesspiegel vor, falsch über den Verzicht der BBC auf die zeitliche Einordnung „vor Christus“/“nach Christus“ berichtet zu haben. Unser Korrespondent Matthias Thibaut nimmt Stellung.

Es gibt aber gar keinen Verzicht der BBC auf die zeitliche Einordnung „vor Christus“ / „nach Christus“.

Danach wird es nicht besser. Matthias Thibaut nimmt in seiner Erwiderung nichts zurück. Er korrigiert keinen seiner Fehler. Er „erinnert“ stattdessen daran, dass er in seinem „Tagesspiegel“-Bericht über die angeblich zum Orwellschen Ministerium der Wahrheit verkommende BBC ausdrücklich die „Daily Mail“ als Quelle der Berichte genannt habe.

Immerhin, soll das wohl heißen, hat er sich die Fehler nicht selbst ausgedacht. Er hat sie sich aber zu eigen gemacht.

Aber, schreibt Thibaut, er habe doch den von ihm zitierten Behauptungen der „Daily Mail“ folgende Sätze hinzugefügt:

Die BBC selbst betont, es gebe keinen Erlass von oben — jede Redaktion könne selbst entscheiden.

Aber Mitarbeiter wurden nachdrücklich daran erinnert, was für ein multiethnisches Publikum angemessener sei.

Er meint wohl, mit dem Alibisatz mit der BBC-Stellungnahme seiner journalistischen Sorgfaltspflicht genüge getan zu haben. Für die unmittelbar folgende Behauptung, die sie entwertet, nennt er keine Quelle.

Mit keinem Wort geht Thibaut darauf ein, dass auch die Geschichte falsch ist, die er ebenfalls aus dem Lügenblatt „Daily Mail“ abgeschrieben hat, „dass in einigen Gemeinden Weihnachten bereits durch das Kunstwort ‚winterval‘ (Winterfestival) ersetzt wurde, um Nichtchristen nicht zu verletzen“. Und er nimmt auch nicht seine falsche Behauptung zurück, dass „die BBC eine Nachrichtensprecherin abmahnte, die an einer Halskette ein Kreuz trug“. Stattdessen schreibt er: „Ich habe die schöne Fiona Bruce, die ich sehr bewundere, schon lange nicht mehr mit Kreuz gesehen“, als beweise das irgendetwas, außer dass Thibaut den Grundkurs „Weniger offensichtlich erbärmlich argumentieren“ geschwänzt hat.

In einem Punkt hat Thibaut Recht: Selbstverständlich ist mein BILDblog-Eintrag kein „Ausbund an objektiver Berichterstattung“. Er ist polemisch, was daran liegt, dass ich wütend bin. Weil sich seit Jahren immer dasselbe Muster wiederholt: Winzigkeiten, Halbwahrheiten und Komplettlügen werden zu Scheinbelegen dafür gemacht, dass Verfechter der Political Correctness dabei seien, das Abendland zu vernichten, indem sie im angeblichen Kulturkampf gegen den Islam Selbstmord aus Angst vor dem Tode begingen.

Kein Anlass ist dafür zu klein (und zu falsch), keine Überinterpretation zu groß. Die „Daily Mail“, die der Londoner Korrespondent des „Tagesspiegel“ offenbar mit Billigung seiner Redaktion als eine seriöse Quelle behandelt, hat aufgrund der BBC-Zeitenwendenbenamsungs-Sache einen Artikel veröffentlicht, der die vermeintliche Umbenennung in einen Kontext von Herbert Marcuse bis zur RAF stellt und in ihr Teil eines „marxistischen Plans“ sieht, „die Zivilisation von innen zu zerstören“.

Ich bin wütend, weil es mich fassungslos macht, wie die Lügen der „Daily Mail“ und ähnlicher Hassprediger immer wieder um die Welt gehen und unausrottbar werden, wie die Mär vom angeblich christliche Traditionen verdrängenden „Winterval“. Man sollte denken, dass Journalismus eine Barriere bei der Verbreitung dieser Urban Legends darstellt; stattdessen werden sie von Journalisten wie Thibaut begeistert weitergetragen.

Thibaut spricht von den „Diktaten der politischen Korrektheit“ und merkt nicht die Ironie. Tatsächlich verzichtet die BBC ja gerade auf das Diktat einer Formulierung. Sie stellt, im Gegenteil, ihren Redaktionen frei, welche Begriffe sie verwenden wollen — diejenigen, die sich explizit auf Christi Geburt beziehen, oder neutralere. Was die BBC hier predigt, ist die Freiheit der Wahl. Ist es nicht erstaunlich, dass ausgerechnet die Kämpfer gegen die „Diktate der politischen Korrektheit“ diese Freiheit nicht aushalten? Diejenigen, die gegen die BBC wettern und fordern, sie müsse immer und jedesmal Christus‘ Namen gebrauchen, sind es, die einen bestimmten Sprachgebrauch diktieren wollen.

Thibaut schreibt:

(…) ich halte es wirklich nur für eine Frage der Zeit, bis als Beispiel erfolgreicher Integration eine muslimische Nachrichtensprecherin im britischen TV mit Kopftuch auftreten wird — so wie seinerzeit der erste schwarze Nachrichtensprecher Trevor McDonald in England eine Barriere durchbrach.

Ich weiß nicht, ob er bedauert, dass Schwarze in Großbritannien Nachrichten lesen dürfen. Die Aussicht auf eine Nachrichtensprecherin mit Kopftuch jedenfalls hatte er in seinem ursprünglichen Artikel noch als düstere Vision „zynischer Kritiker“ dargestellt.

Nun sagt Thibaut, er würde muslimischen Frauen das Moderieren mit dem Kopftuch gerne erlauben, wenn sie eine Gegenbedingung erfüllen:

Wenn wir, als Gegenleistung für diesen Integrationsakt, in der BBC und anderswo, dann wieder, so wie die längst selbstverständlichen Witze und Lästerungen über Jesus und die Bibel, in der BBC auch wieder Späße oder gar Kritik über Mohammed und den Koran hören dürften, hätte ich persönlich nicht einmal etwas dagegen.

Immerhin kann man dem „Tagesspiegel“ also keine fehlende Toleranz vorwerfen: Er beschäftigt sogar Korrespondenten, die keine freundschaftlichen Beziehungen zur deutschen Sprache unterhalten — Verzeihung, ich bin immer noch und schon wieder wütend.

Für Thibaut hat Freiheit offenbar nichts mit unveräußerlichen Menschenrechten zu tun. Sie werden nur gegen Pfand ausgeliehen.

Wir können uns gern darauf einigen, dass meine Kritik an Thibaut und seinem „Tagesspiegel“-Bericht polemisch, unsachlich und nicht objektiv ist. Auf der anderen Seite: Seine Behauptungen sind falsch. Er weigert sich, sie zu korrigieren.

Übrigens: Die Erklärung im Religions-Ressort der BBC-Webseite, es verzichte auf die Verwendung der Begriffe „vor / nach Christus“, steht da seit mindestens vier Jahren.

Das wahre Leben im Netz

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wie gut kennen wir eigentlich unsere besten Freunde aus dem Netz? Und ist eine online geschlossene Beziehung automatisch weniger wert, als eine echte zum Anfassen?

Am Dienstag vergangener Woche tauchte auf Facebook eine Suchmeldung auf. Wer den Publizisten und Internet-Unternehmer Robin Meyer-Lucht gesehen hatte, sollte sich dringend unter einer angegebenen Telefonnummer melden.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Zyniker den Eintrag kommentierten: Da wolle sich wohl jemand mit einem geschmacklosen Marketinggag ins Gespräch bringen, man weiß doch, wie das geht, im Netz.

Es war kein Marketinggag, und wenig später wurde Meyer-Lucht tot aufgefunden. Nach der öffentlichen Suche im Internet begann die öffentliche Trauer im Internet. Menschen würdigten Robin Meyer-Lucht in ihren Blogs, in Kommentaren, auf ihren Profilseiten. Das Netz zeigte sich von seiner sozialen Seite und wahrhaftig als Netz: eine Verbindung von Menschen, die die Trauer um einen Verstorbenen eint.

Beim Lesen dieser Texte konnte man aber auch die Ahnung einer Leerstelle bekommen; das Gefühl, dass viele dem Menschen, dessen Verlust sie beklagten, nicht nahe waren. Dass sie einige Artikel kannten und vielleicht Teile seiner Biographie, aber nicht den Menschen. Noch deutlicher war das vor einigen Monaten, als plötzlich Jörg-Olaf Schäfers starb, Kolumnist dieser Zeitung und auch ein Netzaktivist, ebenfalls nicht einmal 40 Jahre alt. Viele Einträge lasen sich wie Nachrufe auf einen unbekannten Freund.

Wer wollte, konnte im Umgang mit diesen Todesfällen einen Beleg nicht für das Soziale im Netz sehen, sondern für seine Oberflächlichkeit; dafür, dass die Nähe, die von den ganzen „Freundschafts“-Anfragen, dem Aufleuchten von Namen im Chatfenster, dem Folgen auf Twitter suggeriert wird, nur eine Illusion ist.

Was sind sie wert, die Freundschaften, die wir im Internet pflegen? Und ist „pflegen“ – damit fängt es schon an – überhaupt das richtige Wort für etwas, das sich mit so wenig persönlichem Einsatz bewerkstelligen lässt: ein „Gefällt mir“-Klick hier, ein lustiger Kommentar dort; ohne das peinliche Schweigen in einem direkten Gespräch aushalten zu müssen, das Ungemütliche bei einem persönlichen Treffen; ohne die Notwendigkeit räumlicher oder auch nur zeitlicher Nähe (die E-Mail lässt sich später beantworten, wenn es gerade passt).

Unser Diskurs über das Internet wird von einer fundamentalen Prämisse geprägt: Online-Beziehungen sind richtigen Beziehungen; Online-Gespräche sind keine richtigen Gespräche. Es ist, als würden im Internet tatsächlich Computer miteinander kommunizieren, und nicht Menschen, die sie bedienen. Es sind nicht nur minderwertige Kontakte, es sind gar keine echten Kontakte.

Als die Drogenbeauftragte der Bundesregierung in dieser Woche eine Studie über „Internetsucht“ vorstellte, beschrieb der Direktor des Hamburger Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung, Jens Reimer, die gefährliche Anziehungskraft des Internets so: Die einzigartige Möglichkeit, online „soziale Kontakte zu pflegen“, steigere bei bestimmten Personen die Bereitschaft, ihr „Sozialleben“ in größerem Maß aufzugeben.

Ein Sinn ergibt dieser Befund nur, wenn man Online-Freundschaften nicht als reale Freundschaften wertet und den Austausch mit Freunden im Internet nicht als „Sozialleben“ akzeptiert – wie es implizit auch die Drogenbeauftragte implizit tut. Die vermeintlich internetsüchtigen, angeblich vereinsamenden Jugendlichen sind in Sozialen Netzwerken ganz besonders aktiv. Dass dieser Widerspruch in der öffentlichen Debatte nicht einmal auffällt und nach Erklärungen verlangt, zeigt, wie vollständig die Wahrnehmung des Internet von der Prämisse bestimmt ist, dass das, was online passiert, nicht echt ist.

Der Hamburger Medienforscher Jan Schmidt vermutet, es könnte am ursprünglichen Begriff „Cyberspace“ liegen, der als Metapher so überzeugend war, dass wir nun mit dem Bild eines vom wahren Lebens abgetrennten Raum auf das Internet schauen. Es könnte auch Ausdruck davon sein, dass das Internet als Aufenthaltsraum noch so neu und unfertig ist und wir im Umgang mit ihm so ungeübt. Vielleicht ist es schnöder Kulturpessimismus. Ganz sicher bündelt sich in der Abtrennung und Verteufelung des Internet aber auch die teils vage, teils sehr konkrete Angst vieler etablierter Institutionen vor dem Verlust an Macht und Kontrolle.

Dass wir dem, was im Internet passiert, die Echtheit absprechen,ist umso bemerkenswerter, als wir Kindern und Jugendlichen doch sonst im Gegenteil vermitteln wollen, dass das Internet kein von der Welt abgekoppelter Raum ist; dass Dinge, die sie online tun, offline Konsequenzen haben. Dass sie sich überlegen müssen, welche Fotos sie hochladen, und dass ein verbaler Angriff in einem virtuellen Forum jemanden tatsächlich verletzt.

Die amerikanische Wissenschaftlerin Danah Boyd, die die Nutzung sozialer Netzwerke durch Jugendliche untersucht hat, beschreibt in ihrer Promotion „Taken Out of Context“ anschaulich, wie sie lernen, dass virtuelle Erfindungen wie etwa ein Freundesranking auf MySpace sehr handfeste Auswirkungen auf die tatsächlichen Beziehungen unter den Betroffenen hat.

Die meisten Jugendlichen vernetzen sich online vor allem mit ihrem erweiterten Freundes- und Bekanntenkreis aus der Schule. Sie haben realistische Vorstellungen darüber, dass nur ein kleiner Teil derjenigen, mit denen sie dort als „Freunde“ verbunden sind, tatsächlich eine enge Beziehung zu ihnen haben, und wissen die anderen dennoch zu schätzen. Und obwohl vieles an der Art, wie digital kommuniziert wird, fundamental anders ist, erfüllt sie dieselben Bedürfnisse: Junge Leute suchen und finden ihre eigene Rolle, vergewissern sich ihrer Identität, entwickeln Beziehungen.

Das findet an Orten statt, die sich der Kontrolle durch Erwachsene entziehen – aber Boyd erinnert daran, dass das immer schon so war. Früher verschwendeten die Jugendlichen ihre Zeit nicht in Chatrooms, sondern lungerten in Einkaufspassagen oder auf Parkplätzen herum. Aber analog zur Stigmatisierung all dessen, was im Internet stattfindet, wird die vermeintlich reale Welt verklärt. Jeder Kinobesuch ist demnach dem Ansehen von Online-Videos unterlegen – das erste gilt als soziale Aktivität, das zweite beinhaltet, egal wie intensiv der Austausch darüber in Foren oder Chats ist, die Gefahr der Vereinsamung.

Auch die Studie, wonach eine halbe Million Deutsche „internetsüchtig“ sind, beruht auf solchen Unterstellungen und befördert sie. Anstatt zu differenzieren, worin genau die Abhängigkeit besteht, ob es etwa konkret um Online-Spiele geht oder virtuellen Sex, wird der Ort an sich zur Gefahr erklärt. Eine der Schlüsselfragen, die zur Diagnose gestellt werden, lautet: „Wie häufig bevorzugen Sie das Internet statt Zeit mit anderen zu verbringen, z.B. mit Ihrem Partner, Kindern, Eltern, Freunden.“ Die Möglichkeit, im Internet „Zeit mit anderen zu verbringen“, ist nicht vorgesehen. Nähe und Gemeinsamkeit zählen nur in analoger, körperlicher Form. Das Internet wird konsequent als wirklichkeitsferner, einsamer Fluchtort definiert. Fragen wie: „Wie häufig setzen Sie Ihren Internetgebrauch fort, obwohl Sie eigentlich aufhören wollten?“ tun ihr übriges. (Man ersetze Internetgebrauch testweise durch Bücherlesen, Schlafen oder Essen.)

Natürlich gibt es im Internet Formen der Kommunikation, die in jeder Hinsicht virtuell sind. Menschen nehmen in Fantasiewelten Fantasierollen ein – und verlieren sich vielleicht darin. Das ist aber etwas grundsätzlich anderes als die alltäglichen sozialen Aktivitäten von Menschen im Netz. Die pauschale Entwertung von Internet-Kontakten verhindert eine Auseinandersetzung damit, welche Art von Kommunikation tatsächlich in eine soziale Isolation führen kann.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel behauptete im vergangenen Jahr im „Tagesspiegel“ in einem Essay über „virtuelle Nähe“: „Die wahren Freundschaften bei Facebook entstehen nicht dort, sondern sie entstehen im wirklichen Leben und werden ins Digitale übertragen.“ Das ist nicht nur anmaßend. Es ist auch bezeichnend in der behaupteten Dichotomie zwischen dem „wirklichen Leben“ und dem unwirklichen Internet – und den Werten, die ihnen jeweils zugeschrieben werden.

Die „wirkliche Welt“, um das mal auszusprechen, ist die, in der ein Personalchef bestimmt hat, mit wem man den Abend nach der Arbeit in der Kneipe verbringt. Im Gegensatz zum unwirklichen Internet, wo man sich über so abwegige Dinge wie gemeinsame Interessen kennenlernt und von so oberflächlichen Dingen wie der Art, Texte zu formulieren, beeinflussen lässt. Nein, wie sollen dort, über den regelmäßigen Austausch von Briefen und Kurznachrichten, über das Teilen eigener Erlebnisse, interessanter Artikel oder unterhaltsamer Links, „wahre Freundschaften“ entstehen?

Ich habe schon an so unwirtlichen Orten wie der Kommentarspalte meines Blogs nette und interessante Menschen kennengelernt, und aus einigen sind meine engsten Freunde geworden. Es sind Online-Kontakte von großer Intensität, voller Leben, Kommunikation und Austausch über alles, was man im Internet findet, also: alles.
Wir haben uns später auch in der „wirklichen Welt“ getroffen, wie Frau Meckel sagen würde, und aus den Kontakten echte Kontakte gemacht, wie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung finden würde, aber ich könnte jetzt nicht sagen, ob die wichtigsten, intensivsten Momente in der analogen oder der digitalen Welt stattfanden. Die Unterscheidung ist sinnlos.

Richtig ist, dass es Facebook und ähnliche Online-Angebote erleichtern, Kontakte auf einem nicht-intensiven Niveau aufrecht zu erhalten; lose in Verbindung zu bleiben mit alten Schulfreunden oder Kollegen oder vage Beziehungen zu haben mit Menschen, mit denen uns nur ein spezielles Interesse verbindet.

Muss man sich sorgen, wenn jemand Kontakte in seinem räumlichen Umfeld zugunsten von Kontakten in einem Online-Netzwerk aufgibt? Oder nur, wenn jemand tiefgründige Beziehungen zugunsten oberflächlicher Kontakte kappt?

Angeblich ist unser Gehirn schon rein physikalisch nicht in der Lage, mit mehr als 150 anderen Menschen irgendeine Art von bedeutungsvoller Beziehung zu haben – das ist die sogenannte Dunbar-Zahl, benannt nach dem Anthropologen Robin Dunbar. Er hat sie durch einen Vergleich der Gehirngröße verschiedener Primatenarten mit der Größe ihrer sozialen Bezugsgruppen entwickelt. Sie wird trotzdem regelmäßig ernst genommen und als Beleg dafür genutzt, dass Menschen keine Hunderte oder Tausende Facebook-„Freunde“ haben können.

„Ja, ich kann mithilfe deines Tweets herausfinden, was du zum Frühstück hatte, aber kann ich dich wirklich besser kennen lernen?“, fragte Dunbar in einem Interview mit dem „Observer“. Zweifellos schaffen Facebook-Funktionen, bei denen Nutzer ihr Leben vom Babyfoto an dokumentieren, die Illusion einer Nähe, die ein gemeinsames Erleben nicht ersetzen kann. Aber es gibt keinen Grund, dieses gemeinsame Erleben auf Offline-Erfahrungen zu beschränken.

Wie bizarr ist es, dass im öffentlichen Diskurs ausgerechnet das Medium geringgeschätzt wird, das Kommunikation möglich macht, die nicht flüchtig ist? In der man teilweise auch eine Rennaissance der Kultur des Briefeschreibens sehen kann? Stattdessen gilt die Sichtbarkeit und Permanenz profaner Sekundenaufnahmen aus dem Alltag, die nur Offline-Alltag online sichtbar macht, als Beleg für die Lächerlichkeit digitaler Kommunikation.

„Wörter entgleiten uns“, behauptet Dunbar. „Jede Berührung ist tausend Wörter wert.“ Der Satz formuliert exemplarisch den Dünkel gegenüber allem, was nicht handfest begreifbar ist.

Für die Menschen, die Robin Meyer-Lucht und Jörg-Olaf Schäfers im Netz betrauert haben, waren die vielen Online-Kommentare sicher eine Form der tröstenden Umarmung. Das ersetzt keine tatsächliche Berühung, aber es ist eine Bereicherung, und sie ist echt und nicht virtuell. Und dass man oft erahnen konnte, dass sie die Verstorbenen nicht wirklich kannten, ist kein Zeichen für die Oberflächlichkeit der Online-Welt, sondern spiegelt nur wieder, dass wir von vielen Menschen, die in unserem Leben eine Rolle spielen, nur einen winzigen Ausschnitt kennen. Neu ist nicht diese Form der Beziehung. Neu ist nur die öffentliche Form privater Trauer.