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Ralph Siegel

He can’t live without music. Ralph Siegel braucht den Sieg beim Grand Prix d’Eurovision in Tallinn

TALLINN, 24. Mai. Nichts braucht er mehr als diesen Sieg, und niemand braucht diesen Sieg mehr als er. Er muß gewinnen, er glaubt, er kann gewinnen, und beides zusammen macht ihn halb wahnsinnig. Die Mitarbeiter seiner Plattenfirma, die mitgereist sind nach Tallinn, haben es sich in diesen letzten Tagen zur Hauptaufgabe gemacht, Ralph Siegel von Corinna May und ihren fünf Begleiterinnen fernzuhalten. Damit sich sein Wahnsinn nicht auf die Sängerinnen überträgt. Damit der Druck, den er mit seiner Aufregung hervorruft, nicht noch größer wird, als er schon ist. Damit sie eine Chance haben, das hier einigermaßen zu überstehen.

Deshalb lenken sie ihn weg von den sechs Frauen und lassen ihn lieber noch einmal über die Details seines privaten Abendessens gehen, das er am Donnerstag abend für sein Team und einige Journalisten und Ehrengäste gibt, etwa 50 Personen insgesamt. Das Restaurant Gloria ist das Beste der Stadt, der Papst hat hier gegessen, aber Siegel ist unsicher, zweifelt am Menü, sucht akribisch die richtigen Weine aus und grübelt immer wieder über der Tischordnung. Auch das hier muß perfekt sein, wie alles, was mit dem Grand Prix zu tun hat. Zum Glück ist seine Freundin Kriemhild an seiner Seite, die ihn in seiner Manie gelegentlich bremst und beruhigt. Mit seiner außerordentlichen Aufmerksamkeit, die seine Mitarbeiter an ihm rühmen, der positiven Kehrseite des oft schwer erträglichen Perfektionismus, hat er beim Essen noch gesehen, daß einige Kollegen etwas unglücklich fernab saßen, und eigenhändig geholfen, Tische und Stühle herüberzutragen. Dann, nach dem zweiten Gang, steht er auf und hält eine Rede. Und in dieser Rede, in dieser knappen halben Stunde, steckt das ganze Drama um Ralph Siegel und seinen Grand Prix. Sein Pathos erfüllt den Raum schon nach dem ersten Satz, in dem er sich nur bei dem Pianisten des Restaurants bedankt. Er sagt: „Thank you for the music!“

Musik, sagt Ralph Siegel, haben die Menschen schon vor Jahrtausenden gebraucht, nicht nur Essen und Liebe. Was er selbst braucht, ist viel konkreter: „Der Grand Prix“, sagt er, „ist mein Lebenselixier.“ Dann fällt sein Blick auf den Texter Bernd Meinunger, für den der Grand Prix kein Lebenselixier ist, sondern eine Verrücktheit, die er aus Loyalität und Freundschaft zu Siegel mitmacht. Er sagt: „Bernd, wir schaffen’s doch immer wieder“ und erinnert sich an die vielen gemeinsamen Jahre und Abendessen wie diese, und er muß das Mikrofon für ein paar Sekunden zur Seite nehmen, weil Tränen in ihm aufsteigen, seine Kehle zuschnüren und seine Augen füllen. Seine engsten Freunde und Mitarbeiter befinden sich in diesem Raum, aber vermutlich niemand, der wirklich verstehen kann, was ihn immer wieder zu diesem Wettbewerb treibt. „Ralph, nicht noch einmal Grand Prix“, haben sie ihn angefleht. Und er hat gesagt: „Laßt es uns noch einmal probieren, Kinder.“

Für ihn ist der Grand Prix wie die Teilnahme an den Olympischen Spielen, und er meint damit nicht die Floskel, daß dabeisein alles ist. Er meint damit, daß es um nationale Ehre geht, weshalb er auch nicht versteht, wie Journalisten und Komiker so abfällig über ihn oder Corinna May schreiben können, wo beide doch auch für sie kämpften, für die Deutschen, für Deutschland. Und er meint damit, daß dieser Wettbewerb nicht einfach ein Witz ist, wo man mal hinfährt und sieht, wo man landet, sondern wo man alles, alles dafür tut, daß man gewinnt. Den Sängerinnen hat er Mitte der Woche erzählt, sie müßten nicht unbedingt gewinnen, Platz zwei und drei seien auch in Ordnung. Aber erstens glaubt ihm das hier kaum einer. Und zweitens bedeutet das ja auch, daß Platz vier schon nicht mehr in Ordnung ist.

Kein anderes Land setzt sich in diesem Jahr einem solchen Druck aus. Aber niemand anders als Siegel hat auch mit einer solchen Akribie fast ein Jahr lang auf den Sieg hingearbeitet. Im vergangenen Juli schon setzte er sich mit Meinunger zusammen und suchte nach einem passenden Titel zum Thema Musik, bis sie schließlich auf „I can’t live without music“ kamen. Auf den Text komponierte Siegel zehn verschiedene Melodien und überlegte drei Monate, bis er wußte: „Die ist es.“ Doch auch dann hörte er nicht auf zu basteln und zu schrauben. Die komplizierte Struktur des Liedes zeugt davon, daß er letztlich so viele Elemente aus den anderen Fassungen wie möglich in dieses eine Stück retten wollte. „Ich schreibe Titel gerne mal an einem Wochenende, aber hieran habe ich viele Monate gefeilt“, sagt er. Ralph Siegel hat sich nicht hingesetzt, einen Beitrag für die deutsche Vorentscheidung oder für Tallinn zu schreiben. Er hat sich hingesetzt, den Siegertitel des diesjährigen Grand Prix zu schreiben.

Und jetzt, bei diesem halböffentlichen Abendessen, beschwört er alles, was dafür sprechen könnte, daß dieses Projekt den einzigen angemessenen Abschluß findet. Johnny Logan, der zweimalige Grand-Prix-Sieger aus Irland, hat ein handgeschriebenes Fax mit „besten Wünschen“ geschickt: „Wenn das kein gutes Zeichen ist!“ Fast überall in Europa setzen die Buchmacher Deutschland auf Platz eins, was ja bedeute, erklärt Siegel, daß Menschen so sehr an sein Stück glaubten, daß sie sogar Geld dafür ausgäben. „Da habe ich doch das Gefühl, daß wir nicht so falsch liegen.“ In Internetforen findet er Zustimmung, Anrufer wünschen ihm Glück. „Das Feedback ist so schön, daß man’s gar nicht glauben kann“, sagt er. Und: „Ganz Deutschland drückt dir, Corinna, die Daumen aus ganzem Herzen.“

Er sagt, er wolle gewinnen, um die alte Entertainer- und Sportler-Regel „They never come back“ zu widerlegen, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Siegel braucht diesen Sieg, um all die Demütigungen der vergangenen Jahre zu überwinden. Die Niederlagen in den Vorentscheiden, das schlechte Abschneiden vor fünf Jahren im Finale, die traurigen Verkaufszahlen vieler seiner Künstler, die Behauptung, er sei einer von gestern. In dieser Rede in Tallinn tauchen sie alle wieder auf. Er erzählt von der Gruppe Sürpriz, mit der er 1999 den dritten Platz belegte – „aber das hat man in Deutschland nie so richtig bemerkt“. Er erzählt von Stefan Raab, „der mit allen Wassern gewaschene und mit allen Talenten gesegnete Stefan Raab“, der verhindert habe, daß er und Corinna May im Jahr darauf den Vorentscheid gewannen. Er erzählt von den Leuten in den Medien, „die nicht gecheckt haben, was für eine wunderbare Persönlichkeit du bist, Corinna, und was für eine großartige Stimme du hast“.

Dann verliert er noch einmal die Fassung, kämpft wieder gegen die Tränen und läßt sich vom Pathos vollends überwältigen. Dankt den Background-Sängerinnen, die, das sagt er wirklich, „devot und trotzdem sehr engagiert ihre Unterstützung geben“. Dankt dem deutschen Kommentator Peter Urban, der ja das Glück habe, jedes Jahr die Reise zum Song Contest antreten zu dürfen – „ich darf sie ja nur manchmal machen“. Dankt Mark Pittelkau von der „Bild“-Zeitung, daß er täglich Geschichten schreibt, „die wir mal mit Freude, mal mit Verbitterung lesen, aber auch das ist ja eine Leistung“. Und er dankt Corinna May – „so wie du singst, kenne ich selten jemanden, obwohl ich viele Künstler gehört habe“ – und schwärmt von dem Album, das er gerade mit ihr aufgenommen habe, in wochen- und monatelanger harter Arbeit, das so etwas Besonderes sei. Später läuft die Platte im Hintergrund, aber es fällt schwer, mehr darin zu hören als sehr konventionelle Cover-Versionen sehr naheliegender Evergreens wie „Come on baby light my fire“ oder „Blowing in the wind“.

Schließlich greift noch der Präsident des deutschen Grand-Prix-Fanclubs OGAE nach dem Mikrofon und hält eine atemberaubend devote Hymne auf Siegel. Er bedankt sich, daß der Meister nur die Ehrennadel seines Clubs trage (und nicht die des verfeindeten anderen deutschen Fanclubs) und fleht Siegel an, nicht wie – wieder einmal – angekündigt, zum letzten Mal für Deutschland beim Grand-Prix teilgenommen zu haben. Ohne seine Beteiligung seit inzwischen genau 30 Jahren hätte Deutschland all die großen, wunderbaren, zauberhaften Erfolge nicht feiern können, sagt er und setzt den Höhepunkt dieses höchst nationalen und höchst persönlichen Abends mit einer Handbewegung auf die jungen Background-Sängerinnen und dem Satz: „Ihr seid eine Zierde für unser Land.“

Ralph Siegel aber beendet seine Ansprache mit den Worten: „Wenn ich bei all den Anstrengungen der letzten Monate das Lachen manchmal verloren habe – ich hoffe, daß ich es am Samstag wiederfinde.“ Nicht auszudenken, wenn es anders käme.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Bernd Meinunger

Höchstens ein bißchen Frieden. Warum Bernd Meinunger, der Songschreiber von Corinna May, den Grand-Prix pervers findet und eigentlich nicht gewinnen möchte.

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TALLINN, 23. Mai. Es ist nicht so, daß alle hier verrückt wären nach dieser Veranstaltung. Bernd Meinunger hat sich auf die Suche nach einem Golfplatz in der Nähe gemacht und einen gefunden, keine dreißig Kilometer von Tallinn entfernt, den einzigen in Estland. Dort hat er mit seiner Frau Golf gespielt, wie er das jedes Jahr tut, wenn ein Lied seines Freundes und Kollegen Ralph Siegel Deutschland beim Song Contest vertritt und er wieder den Text geschrieben hat. Beim Empfang des Bürgermeisters ist Meinunger schnell verschwunden, da waren ihm zu viele Leute; das Gedränge in der Residenz des deutschen Botschafters am Tag darauf hielt er kaum eine Minute aus. Und während Siegel durch die Hallen tigert, aufgekratzter noch als früher, und in jedes Mikrofon diktiert, mit dem Herzen glaube er zu gewinnen, nur sein Verstand mahne ihn, sich nicht sicher zu sein, ist Meinunger eher genervt, sich überhaupt eine Stunde mit einem Journalisten hinsetzen zu sollen. „Der Grand-Prix ist pervers“, sagt er und krault sich den grauen Bart, „ich verstehe nicht, warum sich der Ralph da so reinsteigert und wo er diesen unglaublichen Enthusiasmus hernimmt. Sicher würde ich mich freuen, wenn wir gewinnen. Aber soviel Energie da reinstecken? Dafür ist mir das nicht wichtig genug.“

Dann sagt er noch, daß es irgendwie auch schade wäre, wenn Deutschland gewänne, schade für Nicole, die dann nicht mehr unsere Einzige wäre, wenn ausgerechnet Siegel zwanzig Jahre später den Erfolg wiederhole. Das ist ein Satz, der an Blasphemie grenzt, aber Meinunger darf so was sagen. Er und Siegel arbeiten seit einem Vierteljahrhundert zusammen, und ihre Beziehung lebt von dem Kontrast zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Siegel, der Getriebene, der die totale Öffentlichkeit genießt und alles zu einem Kampf um Ehre, nationale und persönliche, verklärt. Meinunger, der Abgeklärte, der am liebsten im Hintergrund bleibt und schreibt, was andere bei ihm bestellen.

Seit 1978 sind die Texte des gelernten Agrarwissenschaftlers die Alltagslyrik und das Grundrauschen der Deutschen. Als er das letzte Mal nachzählte in seinem Computer, kam er auf 3800 Titel, die Platten hat er archiviert, „aber ich höre sie mir eigentlich nie an“. Die großen Siegelschen Grand-Prix-Nummern wie „Ein bißchen Frieden“, „Dschingis Khan“, „Theater“ stammen von ihm, die späten Platten von Rex Gildo und die frühen von Peter Maffay, er textet heute für Nicole und für Gaby Altenburg, leistet sich begeistert Ausflüge in deutschen Rap und erfüllt pflichtgemäß Anfragen aus der volkstümlichen Musik. Er sagt, daß er kaum einen seiner Texte auswendig könne und viele nicht einmal wiedererkennen würde.

Meinungers Texte sind schlicht und handeln von der Liebe. Und wenn man ihn fragt, ob das nicht ein bißchen wenig ist, schaut er treuherzig und fragt, ob es überhaupt ein anderes wichtiges Thema gebe, aber er sieht dabei aus, als wüßte er, daß das weder die Frage noch die Antwort ist. Morgens um neun setzt er sich in seinem Büro in München an den Computer, meistens bekommt er per E-Mail die Melodie, einen halben Tag später ist die neue Herzschmerz-Kombination fertig. Er sieht sich als Handwerker und lehnt auch den Ausdruck „Fließband-Arbeit“ nicht ab, aber er legt Wert darauf, das Optimale für den Zweck abzuliefern, nicht diesen „peinlichen Schrott“, der seit zehn Jahren die deutsche Schlagerlandschaft verhunze. Es sind Auftragsproduktionen, bei denen sich Meinunger selber ausdenken muß, worüber der Sänger wohl gerne singen würde, weil der oft nicht einmal das selbst formulieren kann. „Ich arbeite extrem künstlerorientiert; ich schreibe nicht, was ich denke und fühle“, beteuert er. Und er fragt sich, warum nicht viel mehr Menschen den Beruf ausüben, gerade 300 sind es in Deutschland bei fünfmal so vielen Komponisten, wo er doch der einfachste der Welt sei.

„Schlager haben nur eine Botschaft: Fühlt euch wohl!“, sagt er. Allergisch sei er gegen den Wunsch, daß Lieder „Themen anpacken“ sollen. Doch zu seinem Leidwesen sehnen sich offenbar auch die Künstler nach Bedeutungsschwere. „Nach Jahren, in denen sie erfolgreich über Liebe und sonst nichts gesungen haben, kommen sie plötzlich an und wollen was über Seehunde. Aber da sage ich: Nicht mit mir!“ Ein Umwelt-Lied namens „Verlorenes Paradies“, das er für Vicky Leandros geschrieben hat, hört er heute nur noch „mit Schaudern“. Aber beim Grand gelten ja eben andere Regeln. „Ein Grand-Prix-Lied braucht natürlich eine Botschaft“, sagt Meinunger, weil Siegel das sage. „Da bin ich von Ralph inzwischen gedrillt, da muß alles kalkuliert sein: Das Stück muß in Deutschland ankommen, um die Vorentscheidung zu überstehen, es muß überall in Europa gefallen, sogar in Österreich, es muß perfekt zum Künstler passen, und früher, als es noch Jurys gab, mußte immer noch ein bißchen Kunst drin sein. Absurd, oder?“ Der Siegertitel 1982 entstand, weil Siegel in dem Jahr unbedingt ein Friedenslied machen wollte, Meinunger aber auf gar keinen Fall ein Friedenslied schreiben wollte, und er irgendwann sagte: „Höchstens ein bißchen Frieden“. Damit war der Titel, die sogenannte „Zeile“, gefunden. Und Meinunger schwört, daß die Geschichte nicht nur schön, sondern auch wahr sei.

Die „Zeile“ sei das allerwichtigste, wichtiger oft noch als die Musik. Zu Meinungers unangenehmsten Aufgaben gehört, wenn Siegel anruft und sagt, er brauche jetzt schnell eine Handvoll Zeilen für Nicole, oder, schlimmer, ein Produzent mal eben fünfzig Zeilen für die Kastelruther Spatzen bestellt. Die meisten davon landen im Papierkorb, zu den wenigen anderen darf Meinunger später den restlichen Text dazuerfinden. Dessen Stellenwert sei aber nicht mehr hoch. Bei „I can’t live without music“ für Corinna May komme es eigentlich nur auf die Person der Sängerin, die Musik und die Titelzeile an. Der Rest ist kaum mehr als Füllmaterial.

„Zudringliche Weltbeschwörungsphantasien“ findet der Grand-Prix-Experte Jan Feddersen Jahr für Jahr in Meinungers Texten. Dahinter steckt ein Handwerk, das aus wenig mehr zu bestehen scheint, als die Begriffe „Traum“ und „Freiheit“ immer neu zu kombinieren. 1987: „Gib dem Traum ein bißchen Freiheit“. 1999: „Wir haben einen Traum, der nie die Kraft verliert. Leben ist eine Reise, die nach morgen führt“ (wohin sonst?). 1992, ungewöhnlich konkret und dadurch besonders perfide: „Siehst du dort das junge Mädchen, auf dem Bahnsteig stehn/Sie glaubt einer von den Zügen/wird in die Freiheit gehn/Und der Mann, der seinen Job verlor/träumt, daß er’s allen zeigt/Wie Phönix aus der Asche steigt.“ Das Werk trug den Titel „Träume sind für alle da“, der Meinungers ganzes Ruhigstellungs-Pathos und leeres Glücksversprechen wie kein anderer auf den Punkt bringt.

Nicht, daß er ein Reaktionärer wäre. Er engagierte sich politisch auf der Uni, war im linken SDS, fand nichts entsetzlicher als Chris-Roberts-Schlager. Siegel lernte er kennen, weil er ein Stück für sich selbst geschrieben hatte: „Song of emancipation“. Am Ende sangen ihn andere und brachten ihm 25 Pfennig Tantiemen ein, und Meinunger verabschiedete sich von den Idealen und begann mit dem Geldverdienen. „Was für Ideale soll man beim Schlagertexten haben? Das interessiert kein Schwein.“ Und Michael Kunze, auch ein erfolgreicher Texter, der Schlager wie das „Ehrenwerte Haus“ für Udo Jürgens und „Aufrecht gehn“ für Mary Roos geschrieben hat, die genau das Maß an Sozialkritik und Lebenswahrheit enthalten, die so ein kleines Lied enthalten kann – hat der es nicht geschafft, sich ein paar Ideale zu bewahren? Das sei die Ausnahme, sagt Meinunger. „Neunzig Prozent von dem, was Kunze schreibt, ist auch ganz braver Schlager.“

„Braver Schlager“ ist einer der freundlicheren Ausdrücke für die Musik, die er hauptsächlich produzieren hilft. Das Adjektiv „beschissen“ benutzt er für einen Achtundfünfzigjährigen mit der Ausstrahlung eines ruhigen bayerischen Brummbärens erstaunlich oft, auch für den Disco-Trash der Gruppe „E-Rotic“, der er mit viel Spaß Texte wie „Max don’t have sex with your ex“ bescherte. Peter Maffay warf ihm einmal vor, daß er neben seiner Arbeit für ihn für so viele andere entsetzliche Leute arbeite. Meinunger erwiderte, er sei Architekt: „Ich kann nicht jeden Tag Villen zaubern, ich muß auch viele Garagen bauen.“ Vielleicht fünf Prozent dessen, was er so getextet habe, sei „ganz schön“, zu dem Rest sagt er: „Es wäre genauso gut gewesen, wenn ich es nicht gemacht hätte“ — auch in finanzieller Hinsicht, weil sich das meiste dann doch nicht verkauft. Andererseits kann er sich nicht vorstellen, daß ihm je die Lust vergeht, auch noch den fünftausendsten Schlager-Text aufzuschreiben.

Er hat Chris Roberts dann irgendwann kennengelernt und gemerkt, daß das ein ganz belesener, kluger Mann ist. Und er hat sich in einem ähnlichen Maß von der Branche korrumpieren lassen, wie er es bei ihm und anderen feststellte. Nur die Leidenschaft, die läßt er sich nicht absprechen. „Ich habe nicht weniger Leidenschaft als Ralph Siegel, aber ich bin realistischer. Ich lebe nicht mehr in der Zeit vor zwanzig Jahren, als der Grand Prix wichtig war und Platten verkaufte und Karrieren begann.“ Aber ins Schwärmen kommt er nur bei den alten Geschichten, wenn er über die anstrengende Zusammenarbeit mit Maffay redet und darüber, wieviel Spaß es machte, für Dschingis Khan zu schreiben, die nie eine Botschaft hatten. Und dann schwärmt er noch für Reinhard May, der Alltagsgeschichten so grandios erzähle, wie er es nicht könne. Und wie er schon in dessen allererste Platte „reingekrochen“ ist.

In welches Lied von Bernd Meinunger möchte man reinkriechen?

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wie „Bild“ Corinna May vor Männern schützt

Sex, Macht, Politik – und Estland als Testland: Was uns der Grand Prix in der kommenden Woche bescheren wird.

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Sie hätte es längst getan haben können, zum ersten Mal seit drei Jahren. Sie hätte längst einen gefunden haben können, vielleicht einen estnischen Recken, wie ihre Sängerinnen sich wünschen, vielleicht einen sechzigjährigen türkischen Tänzer, wie ihn die „Bild“-Zeitung gefunden hat, jedenfalls jemanden, der sich „gut anfühlt“, wie sie selber sagt.

Und wir könnten längst weiter sein in dem Liebesdrama um Corinna May, vielleicht schon in der Phase, wo sie erzählt, wie zärtlich er im Bett war, oder in der, wo er erzählt, wie sie beim Sex leise singt, oder auch nur in der, wo „Bild“ beschreibt, wie liebevoll er ihr über die vielen Klippen hilft, die in dem wunderschönen alten, aber hoffnungslos verwinkelten Hotel Schlößle in Tallinn zwischen dem Eingang und ihrem Zimmer im Erdgeschoß liegen. Denn eigentlich wollte die „Bild“-Zeitung die große Corinna-May-sucht-einen-Mann-Serie schon im März bringen, aber dann kam Uschi Glas dazwischen.

Seit die schönsten Geschichten nicht mehr das Leben, sondern Mark Pittelkau in der „Bild“-Zeitung schreibt, muß man mit solchen Unbillen rechnen. Wenigstens besteht bei Corinna May nicht die Gefahr, daß sie, wie Michelle im vergangenen Jahr, im Beisein von Journalisten „ihr“ Grand-Prix-Tagebuch in „Bild“ liest und erschrickt und widerspricht.

Die anfänglichen Sorgen des NDR-Unterhaltungschefs und deutschen Grand-Prix-Beauftragten Jürgen Meier-Beer sind also verflogen, daß er nach den Jahren mit Stefan Raab und seiner eigenen PR-Maschine und Michelle und ihrem Riesenpack Kindheits- und Trennungsdramen sich diesmal gewaltig anstrengen müßte, um aus einer steifen, sperrigen, blinden Sängerin genug Medienstoff für eine Woche zu generieren. Und wenn Corinna May wieder solo bleiben sollte, kann sich die Rekordzahl von rund 120 anreisenden deutschen Journalisten (mehr als bei Raab!) immer noch auf schmutzige Details aus der Suite von Ralph Siegel verlassen.

Der Song-Contest ist nicht nur nicht totzukriegen, er lebt mehr denn je. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wird sich in der kommenden Woche sogar das amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ mit ihm beschäftigen. Das freut vor allem das Gastgeberland, das sich so viel verspricht von diesem Ereignis.

„Eine Milliarden-Dollar-Chance für Estland“ hat der Generaldi-rektor des estnischen Fernsehens die Ausrichtung des Grand Prix genannt. Über die Zahl kann man streiten, über den Kern der Aussage nicht. „Jetzt sind wir auf der Landkarte präsent“, beschreibt Jörg-Dietrich Nackmayr, Direktor der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tallinn die Stimmung im Land, „jetzt sehen die anderen Länder, wie toll wir sind.“ Zunächst einmal lernen sie: „Estland liegt nicht in der Tundra“, nennt der deutsche Botschafter in Tallinn, Gerhard Enver Schrömbgens, das Minimalziel. Er lädt am Dienstag zu einem Empfang in seine Residenz auf dem Domhügel in Tallinn. Dort wird Ralph Siegel sich an den Flügel setzen und mit Corinna May und estnischen Kindern singen und möglicherweise, so Schrömbgens‘ Hoffnung, einen kleinen Beitrag dazu leisten, daß die Deutschen sich an ein Land erinnern, das ihnen eigentlich nahe sein müßte. Im Grunde teilt er die Meinung der stolzen Esten, daß sich ihr Land sehen lassen kann: „Estland nutzt seine Kleinheit für Flexibilität und Agilität“, sagt er, und daß es in den üblichen Nationenvergleichen nicht ganz vorne auftauche, liege nur daran, daß es zu klein sei, um überhaupt aufzutauchen. Beispiel Olympia: Würden die Medaillenspiegel pro Kopf der Bevölkerung erstellt, läge Estland mit seinen drei Medaillen der letzten Winterspiele bei seinen 1,4 Millionen Einwohnern ganz vorne.

Auch nach innen ist die Bedeutung des Grand Prix erstaunlich – zumindest die Erwartungen, die an ihn geknüpft werden, sind es. Viel publiziert ist, daß die Zustimmung zu einem EU-Beitritt unter den Esten, die nach ihrer gerade erst erlangten Unabhängigkeit zögern, sich nun schon wieder einem Bündnis eingliedern zu sollen, nach dem Grand-Prix-Sieg im vergangenen Jahr um zehn Prozent anstieg. „Through EBU into EU“ soll die Regierung als Slogan ausgegeben haben – EBU ist die Eurovision, der Veranstalter des Wettbewerbs. Seitdem sind die Umfragewerte zwar wieder zurückgegangen, aber allgemein wird erwartet, daß sie in diesen Wochen, rund um die Veranstaltung, wieder ansteigen werden. „Die Esten freuen sich, daß Europa sie zur Kenntnis nimmt, sich um sie kümmert“, sagt Nackmayr. Er glaubt, daß der Grand Prix ein wichtiger emotionaler Bestandteil auf dem Weg nach Europa ist: „Dadurch werden auch Teile der Bevölkerung nach Europa mitgezogen, denen der schnelle Wandel eher angst macht und die vom Wirtschaftswunder nicht profitiert haben.“

Kein Wunder, daß sich die Regierung überreden ließ, die Ausrichtung zu finanzieren – jedenfalls, nachdem das kleine öffentlich-rechtliche ETV mit der Einstellung seines Sendebetriebes gedroht hatte. Alles, was nicht durch Sponsoren oder den Verkauf von Eintrittskarten hereinkommt, zahlt der Staat. Obwohl die Karten regulär 300 bis 450 Euro kosten (mehr als das durchschnittliche Monatseinkommen eines Esten), bleibt wohl ein Loch von mehreren Millionen Euro. Das weckt Begehrlichkeiten: So wollte die Regierung eine eigene Agentur beauftragen, die kleinen Filme zu drehen, die vor den einzelnen Beiträgen laufen, um Estland im richtigen PR-Licht zu präsentieren. Zum Glück war der estnische Grand-Prix-Chef Juhan Paadam vorher jahrelang so etwas wie der Außenminister seines Senders und entsprechend erfahren in Diplomatie. Mit sanftem Druck überzeugte er die Regierung, daß die beste Werbung für Estland nicht durch Agit-Prop erreicht werde, sondern durch eine gelungene Show ohne politische Einflußnahme.

Wer den Grand Prix nicht als Musik-, sondern als Fernsehereignis versteht, sah schon in den vergangenen beiden Jahren TV-Shows, die zweifelsohne state of the art waren. Nachdem die Schweden sich 2000 das Ziel setzten, eine moderne Show zu veranstalten und die Dänen im vergangenen Jahr aus dem Grand Prix ein Massenereignis im Fußballstadion machten, stellen die Esten den Grand Prix erstmals unter ein Motto: „Ein modernes Märchen“ wollen sie inszenieren und sich, ihre Unabhängigkeit und all die Kontraste aus Mittelalter und 21. Jahrhundert feiern, die das Land ausmachen. Es wird, nach allem was man hört, ein außergewöhnlicher Grand Prix, mit innovativem Bühnenkonzept, schrägem Design, modernster Umsetzung. Staunen soll die Welt, und zwar nicht zu knapp, über die Kreativität eines Landes, dem viele die erfolgreiche Ausrichtung eines solchen Großereignisses gar nicht zugetraut hätten.

Ach ja, bleibt noch die Musik. In diesem Jahr liegen die Griechen beim paneuropäischen Wettbewerb um den absurdesten Beitrag weit vorn. Sie schicken fünf Männer in Leder, die ein elektronisches Lied über Cyber-Sex singen: „Every time you need my love / Before you enter in my world / Give the password.“ Gleich eine Handvoll Länder hat sich entschieden, mit mehr oder (meistens) weniger gelungenen Revivals des Disco-Sounds der siebziger und achtziger Jahre ins Rennen zu gehen, es gibt langweilige Balladen, kalkulierten Pop, mißglückte Anleihen bei modernen Musikeinflüssen und viele Exoten, die sich alle Mühe geben, daß der Trash-Faktor des Ereignisses erhalten bleibt oder, positiv formuliert, die einen beruhigt staunen lassen über die Vielfalt Europas trotz Globalisierung und MTV und allem.

Zum Glück geht es ja nicht um Musik. Der Gewinnertitel des vergangenen Jahres, das Funk-Stück „Everybody“ von Tanel Padar und Dave Benton, war vermutlich der am wenigsten gehörte, gekaufte und gespielte Siegertitel in der Geschichte des Grand Prix, das Duo hat sich längst im Streit getrennt, einer startete seine Solo-Karriere mit einem Live-Konzert vor 41 Zuschauern, beide werden das Stück wohl nie wieder gemeinsam aufführen. Doch das Lied war so erfolglos wie folgenreich und beschert Estland nun die größte Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit seit dem Mittelalter.

Was für Estland gilt, gilt auch für Corinna May. Natürlich würde ein Sieg ihres „I can’t live without music“ den Grand Prix auf seinem zögernden Kurs zu Modernität und musikalischer Relevanz um Jahre zurückwerfen. Aber was kümmert sie das, was kümmern sie die kaum nennenswerten Plattenverkäufe, wenn sie es dank des Grand Prix schafft, nach drei Jahren endlich wieder Sex zu haben?

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Bist du elf

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Skandal am Rande: Was hatte Kerner in Erfurt zu suchen?

Den 26. April 2002 wird der elfjährige Mike sein Leben lang nicht vergessen. Es war der Tag, an dem er morgens sah, wie ein Amokläufer durch seine Schule lief und Menschen erschoß. Und es war der Tag, an dem er abends eine Stunde lang frierend unter einem Zeltdach in der Nähe stand, um sich von Johannes B. Kerner fragen zu lassen: „Nun bist du elf Jahre alt, und wir wollen von einem Elfjährigen nicht verlangen, daß man sich sozusagen große Gedanken in einem großen Zusammenhang macht, aber wenn du sagst, du hast dir Gedanken gemacht, welche waren das?“

Das ZDF hatte seine Berichterstattung am späten Freitagabend in die Hände von Kerner gegeben, der angereist war und von dort live, „in Sichtweise des Gutenberg-Gymnasiums“, ein „JBK Spezial“ veranstaltete. Die ganze Sendung lang standen die Gesprächspartner unter einem Zeltdach, traten von einem Bein aufs andere, warteten, daß Kerner sie fragte: Ministerpräsident Vogel, ein Psychologe, ein Seelsorger, ein Beamter aus dem Innenministerium und eben Mike, den Kerner vorstellte als „ein Schüler, der heute dramatische Bilder hat sehen müssen und lange daran arbeiten muß, etwas zu verarbeiten – Mike, wir werden mit aller Vorsicht mit dir sprechen.“ Mit aller Vorsicht fragte Kerner den Jungen dann, wann Schulanfang war, was auf dem Stundenplan stand, in welchem Gebäudeteil er war, als die Schüsse fielen, welche Erinnerungen er an den Moment habe, da sie alle merkten, daß etwas passiert sei, ob er den Täter habe anschauen können, wie der ausgesehen und ob er eine tote Lehrerin gesehen habe. Dann sagte Kerner: „Mike, ich danke dir erstmal ganz herzlich für die Berichterstattung“, und fügte hinzu: „Ich habe nachher noch zwei, drei Fragen an dich. Danke, daß du bei uns bist.“

Selten hat man Johannes B. Kerner so angespannt gesehen. Er starrte, mechanisch nickend, seine Gesprächspartner an, die Konzentration war ihm an den Wangenknochen abzulesen. Es war eine Sendung wie aus der Steinzeit des Privatfernsehens. Tonprobleme machten Passagen des Gesprächs unverständlich, was möglicherweise ein Segen war. Nachdem Bernhard Vogel flehte, die Diskussion über Ursachen nicht gleich heute zu beginnen, erwiderte Kerner: „Es wird viel gesprochen über Gewalt an Schulen, auch über die andere Seite, von möglicherweise zu großem Druck. Offensichtlich sind die Hintergründe der Tat ja die, daß der Attentäter zweimal nicht zum Abitur zugelassen war, den Leistungsanforderungen nicht entsprechen konnte und für sich keine Zukunft sah.“

Den Psychologen fragte er: „Können Sie ohne persönliche Kenntnis eine Art Profil dieses Täters, dieses jungen Mannes abgeben, warum er eine solche Tat beging?“ Und als der, sehr spekulativ, wie er betonte, eine Reihe möglicher Auslöser aufgezählt hatte, beharrte Kerner: „Also Rache als Beweggrund für die Tat.“ Sichtlich erschöpft verneinte der Psychologe, doch Kerner war schon das Sprachrohr für eine Gesellschaft geworden, die, acht Stunden nach Bekanntwerden des Massakers, endlich, endlich abschließende Antworten wollte.

Kerner war überfordert, die Szenerie absurd, die Pannen nervig, und das ZDF hat sich durch seine Entscheidung, das Thema live um 23 Uhr mit einem elfjährigen Augenzeugen zu diskutieren, auf Jahre hinaus für jede Diskussion über journalistische Standards disqualifiziert. Darum war auch die Entscheidung des Senders, sich viermal die Woche mit „JBK“ zu profilieren, so verheerend: Nicht weil dadurch die Verona Feldbuschs dieser Welt mit ihren Boulevardthemen Einzug ins Programm halten. Sondern weil dadurch alle Themen systematisch boulevardisiert werden. Das Problem ist nicht Kerner und seine Unfähigkeit, Gespräche zu führen. Das Problem ist, daß das ZDF Teile seines Informationsauftrages aus der Hand gegeben hat, an die „Spiegel“-Tochter a + i, an eine Redaktion mit Boulevard-Ethik, an einen gelernten Betriebswirt und Daily-Talker. Das ist das Problem. Und ein Skandal.

Die Esten werden die Ersten sein

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Vor dem Grand Prix: Besuch bei einem ehrgeizigen Volk.

Es ist, selbst wenn die örtliche Jugend gerade auf Knien und Skateboards die Rampen herunterrast, ein magischer Ort. Die Sonne taucht ihn in ihr besonderes, klares Licht, mit dem sie den Norden Europas dafür entschädigt, daß sie sich hier so selten blicken läßt. Ein steinernes Auge ragt vor der Küste aus dem Boden, starrt einen Rasenhang an, und die Dimensionen sind so gewaltig, daß man ins Grübeln kommen kann, auf welche Seite die Zuschauer gehören und auf welche die Akteure. Im Zweifelsfall läßt sich das eh nicht trennen. Ende der achtziger Jahre versammelte sich die halbe estnische Bevölkerung und lauschte nicht nur, wie es Tradition war, einem Wettstreit ihrer Chöre, sondern sang gemeinsam die verbotene Nationalhymne, um gegen die sowjetische Besatzung zu protestieren. Die „singende Revolution“.

Wer in der Hauptstadt Tallinn auf dem Sängerfeld steht, das englisch „Song Contest Grounds“ heißt, der ahnt, was es gerade für die Esten bedeutet haben muß, den „Song Contest“ der Eurovision gewonnen zu haben.

Schöne Idee, so aus der Ferne. Leider nur haben für die Esten der Schlager-Grand-Prix und die baltische Chorwettstreit-Tradition so viel gemein wie Ralph Siegel mit moderner Popmusik: nichts. Trotzdem hatte das Fernsehereignis selten für ein Land eine solche Bedeutung wie in diesem Jahr für Estland. Heute läßt sich kaum noch unterscheiden, was wirklich geschah, nach jenem Überraschungssieg im vergangenen Jahr, und was sich durch aufgeregtes Weitererzählen auf der Straße und in den Medien schon zum Mythos verklärt hat: Ist die Zustimmung der Esten zum Beitritt in die EU in der Woche nach dem Erfolg tatsächlich um zehn Prozent gestiegen? Hat ein Politiker den jubelnden Massen zugerufen: „Endlich haben wir Rußland besiegt?“ Glauben die Esten wirklich, daß sie drei schicksalhafte Aufgaben vor sich haben: den Beitritt in die EU und Nato und die Ausrichtung des Grand Prix?

Womöglich stimmt es sogar, daß der frühere Ministerpräsident Mart Laar in den Siebzigern die Show in Grand-Prix-Clubs im finnischen Fernsehen sah, als Fenster zur Welt und revolutionären Akt, weil das natürlich verboten war. Aber für die Masse der Menschen in Estland hatte der Song-Contest auch keine größere Bedeutung als bei uns. Die bekommt er erst jetzt. Die Regierung beteiligt sich mit mehreren Millionen Euro an den Kosten, weil sie weiß, daß so viel Aufmerksamkeit für ein kleines Land unbezahlbar ist, insbesondere für eines, das davon überzeugt ist, daß es ihm im Kern nur daran fehlt – an Aufmerksamkeit. Der Plan: Am 25. Mai werden mehr Menschen denn je auf Estland sehen, und sie werden sehen, daß es gut ist.

Man macht sich ja kein Bild. Hat allenfalls einen vagen Begriff von den „baltischen Staaten“, bei denen man weder die Reihenfolge kennt noch die Hauptstädte zuordnen kann. Das ist für die stolzen Esten besonders bitter, weil sie einerseits ein wenig gekränkt sind, daß die Eurovision Zweifel hatte, ob sie das Großereignis Grand Prix überhaupt ausrichten könnten, sich andererseits aber schütteln bei der Vorstellung, ein Land wie Litauen könnte einmal gewinnen, nicht auszudenken, das Chaos, man werde schon sehen. „Die Balten“ gibt es nicht, Esten sind introvertiert, diszipliniert, evangelisch, Litauer extrovertiert, chaotisch, katholisch, und wer das nicht schnell lernt, macht sich keine Freunde in Tallinn.

Es scheint, als hätte sich in den Jahren der russischen Unterdrückung ein riesiger Druck gebildet, der sich nach der Unabhängigkeit 1991 in Energie verwandelte. Als wollten sich die Esten mit Disziplin und Ehrgeiz in zehn Jahren nicht nur aus der Steinzeit in die Neuzeit katapultieren, sondern möglichst gleich in die erste Reihe der modernen Staaten. Sie haben eine Art papierlose Bürokratie entwickelt, bei der die Minister bei Kabinettssitzungen vor Laptops hocken und die Bevölkerung via Internet Zugang hat und sich freut, daß sich ihr Land auch „e-stonia“ schreiben läßt. Sie schicken sich an, Finnland den Ruf als Handy-besessenstes Land streitig zu machen, und bieten Autofahrern die Möglichkeit, Parktickets per Mobiltelefon zu bezahlen. Und sie haben überall blaue Schilder mit @-Zeichen aufgestellt, die den Weg zum nächsten Internet-Anschluß weisen – Verkehrszeichen, keine Reklameschilder. Sie stehen vor Cybercafés und Buchhandlungen. Auf dem Land warten sie am Straßenrand und weisen den Weg zu einem einsamen Haus, und wenn man klingelt, öffnet eine ältere Frau, führt einen in ein kleines Zimmer, schaltet den Computer ein, zeigt auf die Preisliste, die daneben liegt, und läßt einen surfen.

Das ist nicht ganz das, was man sich vorgestellt hatte. Wer nie dort war, schwankt auf der weiten Reise nach Norden und Osten, ob er sich Estland nun als einen Ableger des ultra-zivilisierten Skandinaviens vorstellen muß oder ein heruntergekommenes Stück Sowjetunion. Das Erstaunliche an Tallinn ist, daß es in mehreren Schichten all das verbirgt, was man sich vorstellt, und noch ein bißchen mehr. So kann man an einem kalten Winterabend (Frühling und Herbst fehlen zugunsten einer neunmonatigen Extended-Winter-Version) in Tallinn in wenigen Minuten eine Reise durch mindestens drei Welten antreten. Zwischen Flughafen und Innenstadt liegt gleich der Ostblock, beigegraue Häuser, breite Straßen in schlechtem Zustand, die von antik aussehenden Straßenbahnen gekreuzt werden. An den Haltestellen sitzen alte Mütterchen, Rußland ist nur ein paar Zugstunden entfernt.

Ein paar Schritte weiter rückt Rußland plötzlich ans andere Ende der Welt, dafür ist Lübeck ganz nah: Jenseits der Stadtmauer, von der heute noch mehr Wachtürme stehen, als man überhaupt je für nötig gehalten hätte, blättert sich die Altstadt als großes, pastellfarbenes Bilderbuch auf und erinnert an die Hansestadt Reval, die Tallinn einmal war: die meisten Häuser frisch herausgeputzt nach Jahren des Verfalls, Kopfsteinpflaster-Gassen und steile Stiegen, zum Glück in einem wilden Architektur-Mix aus den Jahrhunderten, was die Altstadt urig macht statt zuckersüß. Abends sind die Straßen bevölkert von finnischen Jugendlichen, die dem neuen Nachbarstaat ganz neue Freiheiten und preiswertes Bier verdanken, aber schon um zehn kaum noch stehen können.

Bis zum 1. Mai, der den Auftakt zum Sommer mit seinen „Weißen Nächten“ bildet, in denen die Sonne kaum untergeht und die Plätze voll sind mit Tischen und Bänken, sind die Straßen wenig später menschenleer. Gelbe Laternen tauchen die kalte Luft in ein unwirkliches Märchenlicht, das den Besucher völlig unvorbereitet läßt für die nächste Welt, nur eine Haustür entfernt: Im „Havanna Club“ tanzen sie Salsa, junge Paare drängen sich schwitzend auf einer Tanzfläche, ignorieren ausgelassen alle Klischees vom kühlen, verschlossenen Esten, und die gefrorene Märchenwelt für Touristen vor der Tür ist genauso unvorstellbar wie die Plattenbauten für die Russen ein paar Kilometer weiter.

In der „Nimega Bar“ erklärt einem der örtliche Vertreter der Adenauer-Stiftung, daß das Nachtleben sagenhaft wild sei, weil das Weggehen für die Esten, die ein paar Hundert Dollar im Monat verdienen, so teuer sei, daß es sich dann auch richtig lohnen müsse. Wie zum Beweis kommt gerade eine Bedienung vorbei, die nicht nur wie ihre Kolleginnen eine um beachtliche Mengen Stoff reduzierte braune Uniform trägt, sondern sich dazu klein „SS“ auf den nackten Rücken gemalt hat, was als Filzstiftzeichnung eher naiv denn politisch bedenklich wirkt und eine Menge aussagt über die merkwürdig ungespaltene Haltung der Esten gegenüber deutscher Geschichte. Selbst die SS ist hier, kurz gesagt, eher als Befreier von den Russen denn als Besatzer wahrgenommen worden.

Im halbprivaten Künstlerclub „Noku“ sitzen neben den Schauspielern junge Internet-Designer und Werbeleute, und wer Wert auf Geld und Stil legt, geht ins „Pegasus“, ein Restaurant in minimalistischem grauen Granit mit Philippe-Starck-Toilette, das genauso in Berlin-Mitte oder New York stehen könnte – und dort genauso cool wäre. Nur die Reiseführer haben dieses moderne Tallinn noch nicht entdeckt und staunen über den „Mut“, hier einen schwulen Club zu eröffnen, den „Nightman“, dabei empfiehlt den jeder aufgeklärte Hetero hier als angesagtesten Ort für den späteren Abend.

Anders gesagt: Tallinn ist bereit für den Grand Prix.

Ein bißchen Soufflé

Viel heiße Luft beim deutschen Grand-Prix-Vorentscheid.

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Der Grand Prix ist wie ein überfahrenes Tier auf der Landstraße. Man mag es nicht sehen und kann doch nicht aufhören hinzugucken. Und so sehen wir eine junge, blinde Frau, die es im dritten Versuch endlich geschafft hat, für Deutschland beim Song Contest singen zu dürfen, weshalb sie für die dreißig, vierzig Fotografen und Kameramänner, die sich vor ihr aufgebaut haben, immer und immer wieder die Arme zu einer Siegerpose hochreißen muß. Auf Zuruf der Fotografen reißt sie die Fäuste mit abgewinkeltem Ellenbogen hoch, und alle knipsen, und niemand sagt ihr, wie traurig das aussieht.

Und wir sehen neben ihr auf dem Podium Ralph Siegel, den sie „Mister Grand Prix“ nennen, weil bei ihm Lebenswerk und Schlagerwettstreit eine fast tragische Verbindung eingegangen sind. Und neben ihm Bernd Meinunger, über den man ähnliches nur deshalb nicht sagt, weil der Texter meist im Hintergrund steht, der aber Siegel fast immer die Texte zu seinen Melodien schreibt. Meinunger sagt, die Inspiration zu den Zeilen, die er für Corinna May geschrieben habe – „Ich kann nicht ohne Musik leben, nur du läßt mich weitermachen“ -, die Inspiration dazu stamme von der Künstlerin, für die Musik wirklich alles sei, einfach alles, und er sagt es, als habe er die Musikwelt damit revolutioniert, als hätten nicht Tausende Künstler die gleichen Zeilen, die gleiche Wahrheit millionenfach formuliert. Und Siegel sagt, seine Komposition sei „einfach ein so gelungenes Lied, auch von der Musik her“ und fügt tatsächlich hinzu, daß diese Musik, eine Mischung aus Boney M. und den immer gleichen Siegel’schen Versatzstücken, höchst modern sei, ja, Musik, wie Kylie Minogue sie gerade mache. So sitzen die beiden da und loben die „Super-Konkurrenz“ und erzählen, in wieviele Sprachen das Lied übersetzt werde, falls man im Mai in Estland gewinne, und plötzlich ist es 1982 und man wird den Gedanken nicht mehr los, wie Siegel jetzt nach Hause fährt, eine Gitarre weiß lackieren läßt und ein schwarzes Glitzerkleid kauft, denn Corinna May wird in Estland mit der Startnummer 18 auftreten, genau wie Nicole damals in Harrogate, wo sie gewann: „ein gutes Omen“.

Es ist diese Mischung aus unendlicher Banalität und unendlicher Wichtigkeit, die dazu führt, daß man den Grand Prix nicht ansehen kann und es trotzdem immer wieder tut. Dabei ist der Grand Prix auch eine Veranstaltung, in der Spaß und Geschäft und, ja, so etwas wie Talentförderung sich wunderbar verbinden. Um das zu erleben, hilft es hinzufahren, in diesem Jahr also in die Ostseehalle nach Kiel.

Ausverkauft ist sie nicht, kein Wunder – bis zu 50 Euro pro Karte, aber knapp 6000 Zuschauer sollen gekommen sein. Anders als in den Jahren, als Guildo Horn antrat oder Stefan Raab, ist es schwer, die Besucher nach Klischees zu sortieren und den Teilnehmern zuzuordnen. Erstaunlich viele Frauen mittleren Alters sind gekommen, unauffällig, ein bißchen herausgeputzt. Es ist nicht das Musikantenstadl-Publikum, auch kein reiner Tuntentreff, es sind viele junge Leute darunter, die nicht weiter auffallen. Man fragt sich, ob viele davon vielleicht nur wegen der Abwechslung hier sind, weil das Fernsehen eher selten nach Kiel kommt, doch dann treten, nachdem eine Aufwärmerin des Schlagerradios „NDR Welle Nord“ alles versucht hat, das Publikum einzuschläfern, die Weather Girls auf die Bühne, und der Laden explodiert. Innerhalb einer Sekunde ist das Publikum mitgerissen, applaudiert, trampelt, schwenkt Fähnchen und freut sich, dabeisein zu dürfen. Sie scheinen wirklich Spaß zu haben, nicht in seiner ironischen Brechung als „Kult“, einfach: Spaß. Wie die Weather Girls, die offensichtlich glücklich sind, den Laden (und mutmaßlich Millionen zu Hause) in Schwung zu bringen; wie vier Punks aus Cottbus namens SPN-X, die eine halbe Stunde vor der Sendung noch an der Bar im Pressezelt lehnen und Bier trinken, und dann auf die Bühne gehen, ihre Show machen, sich freuen, daß sie damit nicht nur ihren kleinen angereisten Fantrupp, sondern die halbe Halle mitreißen, und hinterher finden, daß die ganze Veranstaltung zwar „irgendwie peinlich“ gewesen sei, aber auch gut, weil die Kollegen nett waren und sie gar nicht so als Exoten behandelt haben. Diese Jungs sind beim Grand Prix, weil sie für ihre Musik leben und nicht für den Grand Prix.

Es geht trotzdem um viel. Nach Jahren völliger Belanglosigkeit ist die Veranstaltung zumindest für die Plattenindustrie höchst relevant. Außer bei „Wetten, daß. . .“ gibt es keine Möglichkeit, einen Künstler mit einem Schlag so vielen Millionen Menschen zu präsentieren, und bei „Wetten, daß. . .“ hat Nachwuchs eher keine Chance. Die Professionalisierung der Sendung und Titelauswahl führt leider auch dazu, daß sich spätestens nach der dritten wohlgeplanten Mainstream-Ballade Langeweile im Saal breit macht. Aber zum ersten Mal seit Jahren ist mehr als die Hälfte der Vorentscheidungsteilnehmer tatsächlich einigermaßen talentiert, stimmgewaltig und sogar in der Lage, live zu singen. Das ist doch was.

Bei solcher Bedeutung überläßt man lieber wenig dem Zufall, und so bestehen die Fanclubs, die man im Fernsehen jubeln sieht, überwiegend aus Mitarbeitern der Plattenfirma oder Freunden und Verwandten der Künstler. Der wahre Fan gibt sich mit so etwas nicht ab, und so sitzt auf der Tribüne eine sehr blonde junge Frau, die sich alle Mühe gibt, trotz kurzer Arme ihr selbstgestaltetes großes Plakat ins Bild zu bringen, dessen Text sie eher als Amateur im Plakatgestalten ausweist: „Go Linda Go“ hat sie darauf geschrieben, und darunter: „3 P steht für Musik mit Qualität, darum sind wir für die neue Soul-Königin“. Zwischen ein paar fröhlich pöbelnden Hools, die ein Ordner mit großer, aber letztlich nicht ausreichender Ausdauer immer wieder ermahnt, nicht auf die Stühle zu steigen, sitzt eine Rothaarige, um deren Oberkörper nur eine Art goldfarbene Serviette schlabbert, die gelegentlich ihren handgemalten Satz „SPN-X ich will ein Kindl von Euch“ hochhält, ein Kumpel in der Reihe vor ihr hat sich für die schlichte Aussage entschieden: „Bernhard Brinkts nicht“. (Dabei werden die Jungs von der Band später sagen, daß Bernhard Brink, der in der Halle gnadenlos ausgebuht wurde, ein dufter Typ sei und sie die einzigen waren, die morgens beim Frühstückstisch über seine Witze lachen konnten.) Außer bei der Kelly Family und der von „Bild“ und Dieter Bohlen ins Rennen geschickten jungen Isabel schien sich das Publikum mit allem anfreunden zu können, was ihnen geboten wurde: Die Anhänger des Mädchenduos Unity 2 zogen sich, nachdem ihre Favoritinnen fertig waren, die Einheits-Fan-T-Shirts aus, hielten sie an den Ärmeln hoch und schwenkten sie im Takt. Und ein einsames Mädchen im Parkett fand, daß es völlig reichte, ihre Werbe-Baseballkappe mit „Quam“-Aufdruck ein paar Zentimeter über dem Kopf zu schwenken. Und zu Hause saßen – trotz Olympia und Günther Jauch – nicht weniger als achteinhalb Millionen Zuschauer vor ihren Fernsehern und sahen sich an, wie Corinna May vor Joy Fleming, der Christen-Boygroup Normal Generation und den Kellys gewann.

Es war ein merkwürdiger Kontrast zwischen der genügsamen Menge im Publikum und dem unglaublichen Aufwand dieser Live-Sendung. Zwischen den unauffälligen Plätscherstücken und den Skandal-Geschichten, die die „Bild“-Zeitung täglich erfand. Noch nie, auch nicht zu Guildo-Horn-Zeiten, war das Medieninteresse an einem Grand-Prix-Vorentscheid so groß wie dieses Mal, 550 Journalisten waren akkreditiert. Und noch nie war die Diskrepanz so groß zwischen diesem offensichtlichen Interesse und dem, was sie an Substanz vorfanden, wobei Grand-Prix-Organisator Jürgen Meier-Beer gerne darauf hinweist, daß auch das beste Soufflé zur Hälfte aus Luft besteht. Aber vielleicht spiegelt sich in diesem scheinbaren Widerspruch ja nur eine Grand-Prix-Normalität, die in den Jahren der Verwahrlosung, aber auch den folgenden Jahren des Irrwitzes abhanden gekommen war: eine Mischung aus höchster Aufregung um eine schlichte Veranstaltung, die inzwischen höchst professionell auf musikalisch nicht ganz so hohem Niveau organisiert wird. So gesehen scheint der Grand Prix endlich zu Hause angekommen: in den frühen achtziger Jahren, bei Nicoles bißchen Frieden und mit Corinna Mays bißchen Musik.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Nacktwanderers Nachmittagsgebet

Sexbesessene, Nekrophile und andere Schauspieler steigern die Quote — mit echten Perversen ist kaum ein Talk mehr zu machen.

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Die besten Geschichten schreibt nicht mehr das Leben. Die besten Geschichten schreibt die Redaktion von Richter Alexander Hold. Nächste Woche treffen sich vor seinem Gericht: ein arbeitsloser Schreiner, der seine minderjährige Freundin zum Sex mit seinem Vermieter zwang, eine Hausfrau, die das Glied ihres Ehemannes im Beisein ihrer Schwiegermutter nachhaltig mit einem Teppichmesser attackierte, ein Schüler, der während einer Theateraufführung einer Mitschülerin statt mit einer Attrappe mit einem echten Messer in den Unterleib stieß, ein Ehemann, der den Liebhaber seiner Frau im eigenen Ehebett mit einem Tennisschläger krankenhausreif schlug, sowie ein Bestattungshelfer, der den Kopf einer Leiche mit einem Schlachtermesser abtrennte.

Das Leben ist einfach zu beschäftigt, Geschichten über verlegte Schlüsselbunde oder verfärbte Oberhemden zu schreiben, um genügend Geschichten über Mütter zu produzieren, die ihre Kinder in Bahnhofsschließfächer einsperren, bevor sie auf den Strich gehen, wie sie Richter Hold für seine Sendung auf Sat.1 benötigt. Und wenn das Leben dann doch einmal dazu kommt, lassen oft Dramaturgie oder Inszenierung zu wünschen übrig — oder die Besetzung, und dann sitzt zwar die halbe Familie bei „Vera am Mittag“, aber keiner schafft es, die aufregenden Geschehnisse einigermaßen fesselnd und stringend nachzuerzählen.

Seit dem Start von „Hans Meiser“ im September 1992 haben uns die Fernsehmacher erzählt, daß die Menschen nichts lieber sehen wollen als einfache Leute, real people, „authentische“ Geschichten. Die Demokratisierung des Mediums wurde gefeiert, Menschen, die man vorher nie im Fernsehen gesehen hatte, füllten tagsüber die Bildschirme: Menschen, deren Armut man an den fehlenden Zähnen sehen und deren Sprachlosigkeit man hören konnte, bevor sie einen Ton gesagt hatten. Teile der deutschen Unterschicht schienen dank der täglichen Talks über Jahre von der Straße gekommen zu sein und ein Studiodach über den Kopf bekommen zu haben.

Vorbei. Die Inflation von Gerichtsshows am Nachmittag ist vor allem ein Sieg der freien Fiktion über die inszenierte Realität im Fernsehen. Zuletzt waren „Reality“ und „Authentizität“ die Standardrezepte der Fernsehleute gegen rückläufige Quoten – heute ist es das Gegenteil. Die Zuschauerzahlen der traditionellen Nachmittagstalkerin Nicole Noevers auf Pro Sieben stürzten ab, als RTL gegen sie die erfundenen Geschichten von Richterin Ruth Herz im „Jugendgericht“ in Stellung brachte, vor dem etwa Oscar (17) gegen Frederik klagt, weil der seinen Vollrausch zum Sex nutzte, obwohl er gar nicht schwul sei. Nicoles Redaktion lud daraufhin die echten Problemfälle aus und katapultierte sich mit Laiendarstellern weit zurück in die Steinzeit, die bei Talkshows „Karalus“, „Schmuddel“ und „Krawall“ heißt: Da diskutiert die Familie, wie der Vater die minderjährige Freundin seiner Tochter sexuell belästigte, was ihm Nicole per DNA-Test in der Sendung nachweist, und einmal schaltet sie „live“ vor den Kreißsaal, wo die Ankunft eines neues Kindes irgendein Familiendrama gerade dramatisch verschärft. Dies tat Nicoles Quoten gut – bis Richter Alexander Hold kam und den Perversen, Spinnern, Durchgeknallten und Mördern in seiner Sendung nicht mit dem Rat einer Psychologin kam, sondern sie gleich verknackte. Pro Sieben erlöst die nun der Quoten und Glaubwürdigkeit gleichermaßen beraubte Moderatorin durch Einstellung der Sendung.

Sat.1-Psychologin Angelika Kallwass, die mit der Richter-Schwemme auf den Bildschirm gespült wurde, setzte als einzige der Neuen auf „echte Menschen“ als Sendematerial — und wird dafür vom Publikum gnadenlos ignoriert. Von der übernächsten Woche an nehmen Autoren auch bei „Kallwass“ dem Leben das Schreiben der Geschichten aus der Hand. Mit Schauspielern lasse sich das Tempo der Sendung steigern, sagt Sat.1-Sprecherin Kristina Faßler — im echten Mutter-Sohn-Konflikt lassen die Tränen in der Show oft eine Viertelstunde auf sich warten!

Es ist ein erster und letzter verzweifelter Rettungsversuch, der der Sendung Action injiziert — und den Sinn nimmt. Warum sollte man Schauspielern zusehen, wie sie so tun, als würden die Vermittlungsversuche einer echten Psychologin funktionieren?

Andererseits: Warum sollte man echten Richtern zusehen, wie sie schlechte Schauspieler zu fiktiven Gefängnisstrafen verurteilen? Trotzdem tun es die Menschen in Scharen. So entstehen die traurigsten Karrieren der Welt, wie die von Hold, 39, der sechs Jahre Rechtswissenschaften, Politikwissenschaft und Philosophie studierte, ein dreijähriges Rechtsreferendariat machte, fünf Jahre als Staatsanwalt und drei als Richter arbeitete, um sich heute im Privatfernsehen vor als Sexmonstern verkleideten Laiendarstellern aufzuplustern, Autorität zu heucheln und ihnen streng ins Gewissen zu reden.

Ganz ohne Podium sind „echte Leute“, die im Fernsehen über ihre Potenzprobleme reden wollen, noch nicht. Im Moment sieht es so aus, als würden von den dreizehn klassischen Talks sieben übrigbleiben, und deren Moderatoren beteuern, daß sie niemals wie Nicole zur Fiktion greifen würden: „Warum soll man sich eine solche Show ansehen, wenn da nur Darsteller Emotionen spielen“, fragt Bärbel Schäfer. Sie glaubt, daß Authentizität nach wie vor der Hauptgrund ist, aus dem die Zuschauer ihre Sendung einschalten, und das tun sie im Moment ganz eifrig. Die Flucht der Kollegen in die Fiktion sei auch die Möglichkeit, „noch einmal Themen aufzugreifen, die wir mit echten Gästen aufgrund des freiwilligen Verhaltenskodex der Talkshows gar nicht machen dürften“.

Mit dem Abschied von der Authentizität sind die Fälle nicht nur skurriler geworden (nächste Woche bei Richterin Barbara Salesch: der Nacktwanderer, der von einem prüden Ehepaar über einem Ameisenhaufen gefesselt wird), sondern Themen und Tonfall dramatisch schärfer. „Ein großer Reiz in den erfundenen Geschichten liegt für die Sender darin, daß sie exakt das Niveau bestimmen können, auf dem ihre Shows spielen sollen“, sagt Joachim von Gottberg, Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen. Mit Schauspielern könnten die Macher bis hart an die Grenze des Erlaubten gehen – ohne die Gefahr, daß ein unkontrollierter Gast sie überschreitet. Und wenn ein Richter oder eine Psychologin am Ende der Sendung ein Urteil fällen, können auch die gefährlichsten Praktiken ausführlich diskutiert werden – mit dem dramaturgisch zwingenden Schluß wird in jedem Fall die elementare Forderung der Jugendschützer nach einer „Einordnung“ problematischer Verhaltensweisen „in der gebotenen Schärfe in den normativen Kontext“ erfüllt.

Fiktionale Talk- und Justiz-Shows haben, wenn der Zuschauer sie grundsätzlich akzeptiert, nur Vorteile für die Sender: Alles läßt sich steuern, von Varianten des „Maschendrahtzaun“-Wahns bedrohte Laienopfer stehen nicht mehr zu befürchten, die teure Gästesuche entfällt, ein Großteil der Auseinandersetzung mit Landesmedienanstalten ebenso und die lästige Frage, ob nicht die „echten Leute“ ohnehin vielleicht Hochstapler oder Schauspieler waren, sowieso. Daß zu den ab Dezember vier Fiktion-Talkshows weitere hinzukommen werden, gilt als sicher.

Und die echten Leute? Dürfen bei Günther Jauch auf dem unbequemen Hocker kauern oder sich die Füße wundtanzen, um ganz vielleicht Popstars zu werden. Aber ohne dramaturgischen Rahmen auf eine Talkbühne oder in einen Container kommen sie nicht mehr in neue Shows auf den Bildschirm. Bei der Nachfolgesendung für Pro-Sieben-Talker Andreas Türck mit Tobias Schlegl ist Gespräch nur noch ein Element, „auf das wir nicht verzichten wollen“, wie Produzentin Bärbel Schäfer sagt, aber drum herum wird es Musik, Außendrehs, Show geben.

Und von „Versuchung im Paradies“, der letzten „Big Brother“-Variante, die auf RTL am späten Samstagabend läuft, wird es wohl keine Fortsetzung geben: Weit weniger Zuschauer, als RTL erwartet, wollten zusehen, ob „echte“ Paare auf einer einsamen Insel bei entsprechendem Angebot fremdgehen. Bei der Firma Endemol, die ein ähnliches Format im Angebot hat, sagt man, der mangelnde Erfolg sei kein Wunder. Wenn man die Situation der Paare nicht mit ein paar erfundenen Geschichten über das, was der Partner angeblich gerade getrieben hat, anheizt, sei der Zuschauer für die Sendung nicht zu gewinnen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Moderator schweigt, Quote steigt.

Das ZDF hat seinen Boulevard der Tränen gefunden, und so darf Johannes B. Kerner ab 2002 viermal pro Woche ins Leere schauen.

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Public Relations sind eine feine Sache, machen aber viel Arbeit. Gut, daß man sie sich jetzt sparen kann. Wenn ein Fernsehsternchen mit Massenanziehungskraft noch ein bißchen Werbung braucht für seine Show, räumt das ZDF gerne eine Stunde Sendezeit frei, läßt es plaudern, erfüllt redaktionelle Wünsche und verbreitet die Folgen seines Auftritts in Shows und Magazinen quer durchs Programm. Diese Möglichkeit gibt es ab nächstem Jahr täglich! Rufen Sie heute schon an, um einen Termin zu vereinbaren: Die freundlichen Menschen bei der „Johannes B. Kerner Show“ haben ein offenes Ohr für Sie.

Es war nämlich so, daß Frau Feldbusch der „JBK“-Redaktion am Freitag vergangener Woche sagte, sie wolle beim verabredeten Auftritt anläßlich ihrer neuen Show gerne „mehr erzählen“. Die Redaktion war dafür empfänglich, aber nicht so empfänglich, daß sie die anderen Gäste kurzerhand ausgeladen hätte. Man fühlte beim ZDF vor, ob man eine Sondersendung machen könnte, und das ZDF sagte: „Machen wir gerne.“

Der Rest ist Geschichte. Unbekümmert veranstaltete das ZDF eine Sendung mit einer Verona Feldbusch, die redete, als wäre sie auf Speed: schnell, sprunghaft, nicht zu bremsen, und dann, von einer Sekunde auf die nächste, im Tal der Tränen. Jede Redaktion, der es um Anstand oder Abstand gegangen wäre, hätte Feldbuschs Zusammenbruch aus der aufgezeichneten Sendung herausgeschnitten. Doch Feldbusch wollte, daß er gezeigt wird, und weil es der Redaktion und dem Sender mit dieser Show allein um die Quote geht, ließ man alles drin und informierte die „Bild“-Zeitung.

Das ist kein langer Weg. Markus Heidemanns, Redaktionsleiter bei „JBK“, arbeitete bis 1995 bei „Bild am Sonntag“; sein Bruder Martin ist heute bei „Bild“ zuständig für Fernsehen und Show. In der Öffentlichkeit hat man manchmal noch Skrupel, das Offensichtliche zuzugeben, und so dementierte das ZDF, daß die Fotos aus der Sendung, die die „Bild“-Zeitung vorab veröffentlichte, vom Sender stammten. Es ist also nur ein Zufall, daß die ZDF-Fotogalerie im Internet Aufnahmen enthält, die auch „Bild“ druckte.

Es spricht in der Regel nicht für die Qualität einer Sendung, wenn ihre intelligentesten Beiträge von Dieter Bohlen stammen. Am Donnerstag abend war es so. Als Bohlen am Ende eines viertelstündigen Verhörs, bei dem der ermittelnde Beamte Kerner nicht merkte, daß der Beschuldigte bereits längst und mehrmals ein Geständnis abgelegt hatte, entnervt rief: „Das klingt jetzt pathetisch, aber wir haben Krieg in Afghanistan, Milzbrand und wer weiß was, und auf der ,Bild‘-Zeitung les‘ ich jeden Tag einen Scheißdreck, der vor fünf Jahren war. Gibt es wirklich nichts Wichtigeres? Ist das wirklich wichtig, ob zum Beispiel irgendein Pipi-Mädchen über mich erzählt, daß ich sie angegraben hätte?“

Interessanterweise hat jemand anderes vor einem halben Jahr ähnliche Fragen gestellt: Dieter Stolte, Intendant des ZDF, bei den Mainzer Tagen der Fernsehkritik, ein bißchen professoraler formuliert natürlich.

Er kritisierte die „Verdrängung der Weltgeschehnisse mit Hilfe von Real-Life-Soaps und Fun-TV“, rief ins Publikum „Wo bleibt die Realität?“ und fragte: „Wie gewinnt man in einem öffentlichen Medium Aufmerksamkeit für die Politik, wenn die vergleichsweise privaten Nebensächlichkeiten des sogenannten ,Kleinen Mannes‘ im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit stehen? Die sich selbst inszenierende Spaßgesellschaft ist im Begriff, ihren Realitätskern zu verspielen, wenn wir uns nicht ernsthaft bemühen, jene Dinge in den Mittelpunkt unseres Mediums zu rücken, die auch im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen. Wo die Mittel und Wege egal sind, um als Ziel und Zweck lediglich Spaß zu erreichen, verlieren Fernsehprogramme Inhalt, Gehalt und Gestalt, aber auch Stil, Niveau und Würde.“

Fragt man den ZDF-Unterhaltungschef Manfred Teubner, wie ihm die Sendung mit Verona gefallen habe, antwortet er: „Ich habe mich dabei amüsiert. Das ist irgendwo auch ein Spaß.“

Teubner kann weiterlachen, denn anders, als nach Stoltes Sonntagsrede zu vermuten wäre, spricht vieles dafür, daß Kerner exakt die Art Unterhaltung macht, die Stolte schätzt. Andere Moderatoren berichten, daß Stolte sich früher gerne darüber beschwerte, wenn sie politisch geworden seien, und den dringenden Wunsch äußerte, keine Politiker mehr in Unterhaltungssendungen einzuladen. Politikergattinnen, soll Stolte vorgeschlagen haben, die wären doch mal schöne Gäste.

Bei Kerner wäre eine solche Ermahnung überflüssig. Der redet mit den Politikern so, als wären sie ihre eigenen Gattinnen. Einmal, im Wahlkampf 1998, hat er sich gewünscht, Kohl und Schröder in die Sendung zu bekommen – aber sie dürften nicht über Politik reden. Nur über Skat.

Das ist Unterhaltung nach dem Geschmack des ZDF, entsprechend dem System Stolte: Niemandem wehtun. Kerner ist perfekt dafür. Der Mann, der vom Januar an viermal pro Woche auf Sendung gehen und das öffentliche Profil des ZDF prägen wird wie Günter Jauch und Harald Schmidt das von RTL und Sat.1, würde nie mit einer eigenen Position, einer kontroversen gar, in Erscheinung zu treten wagen. Nur als Bohlen ihm unterstellte, er drohe bestimmt auch mal seiner Frau, sie umzubringen, da widersprach er, ohne abzuwiegeln. Es war das einzige Mal.

Kerner signalisiert in jeder Sendung, daß er am liebsten unsichtbar wäre, um bloß niemandem zu nahe zu kommen. Schon wenn er aus der Kulisse vors Publikum tritt, ist er merkwürdig verkrampft, demonstrativ locker, mit der Andeutung einer ironischen Distanz, als wollte er sagen: „Ich trete jetzt mal so auf. Aber falls es Ihnen nicht gefällt, dann meine ich’s gar nicht so.“ Diese Haltung, diese Unsicherheit, diesen Krampf behält er bei: Wenn ihm eine Frageformulierung doch nicht glatt genug gelungen ist und beim Gesprächspartner eine Gegenreaktion hervorruft, zieht er sich auf ein defensiv-naives „Ich frag ja nur“ zurück, gegenüber Bohlen auch in der Variante: „Ich halt mich da völlig raus.“ Er lehnt sich zurück, weit weg von seinen Gästen, liest seine gelben Fragekarten, und wenn er sich vorbeugt, ist er geschützt durch eine feste Schreibtischburg. Die Leere, die von ihm ausgeht, versucht er dadurch zu konterkarieren, daß er eine Hand im Gesicht hat, am Kinn, an der Schläfe, in Posen, die Nachdenklichkeit simulieren.

Ein Kollege erzählt, Kerner habe ihm anvertraut, er sei überrascht, wie leicht es sei, die „JBK“- Show zu machen: „Je weniger ich mache, desto besser sind die Quoten.“ Das ist treffend erkannt. Es erklärt die Form, zu der Kerner über die Jahre gefunden hat. Inzwischen wirft er seinen Gästen oft nur Stichworte hin und läßt sie einfach plaudern. Bei Verona kam er minutenlang nicht zu Wort.

Es ist aufschlußreich, welche Mißverständnisse sich ergeben, wenn man mit ZDF-Verantwortlichen über die Sendung redet. Fragt man Manfred Teubner, ob er nicht ein Problem damit habe, daß sein Sender Frau Feldbusch eine knappe Viertelstunde Zeit gab für nichts als Werbung für ihre neue Sat.1-Show, dann sieht er das Problem nicht im allgemeinen, sondern im konkreten: „Wir werden unterm Strich bestimmt ein ganz deutliches Übergewicht haben für eigene Protagonisten, die für ZDF-Sendungen Cross-Promotion machen.“

Der Fall Feldbusch zeigt, daß das ZDF inzwischen das Instrumentarium beherrscht, talentierten Protagonisten entsprechenden Raum zu geben, so daß sie nicht mehr zur privaten Konkurrenz von Explosivexklusivextrablitz wechseln müssen. In „Hallo Deutschland“ und „Leute heute“ werden die Themen professionell durchgenudelt, mit Cliffhanger, „Auch morgen wieder“-Versprechen und „exklusivem“ „JBK“-Interview.

Die Boulevardmagazine von RTL und Sat.1 könnte das neugefundene Profil des ZDF mit dem täglichen Kerner das Fürchten lehren – vor allem, da der bestens vernetzt ist. Bohlen, der ihn duzte, aber von Kerner trotzig zurückgesiezt wurde, schrieb für „JBK“ die Titelmusik; der „Spiegel“ liefert als Co-Produzent der Sendung zur Not mal ein freundliches Stück.

Teubner sagt zwar, eine Medienpräsenz wie bei Feldbusch werde man wohl nur in den seltensten Fällen erreichen. Und es werde Gäste geben, die „eine größere Relevanz haben“. Aber er sagt über die Heul-Show auch dies: „Das ist eine Lautstärke, die man beim ZDF so nicht kannte. Aber es ist eine, die man vielleicht auch mal anschlagen sollte. Das ist doch das, was die Leute sehen wollen.“

Man kann Teubner kaum einen Vorwurf machen, auch Kerner nicht. Der eine ist nun mal für Unterhaltung zuständig, der andere tut, was er kann, und beide machen das, was die Leute sehen wollen: im Schnitt gut zwanzig Prozent Marktanteil. Wem man einen Vorwurf machen kann, das sind die Leute, die es zulassen, daß diese Programmfarbe, der „boulevardeske Talk, in dem es ganz bestimmt nicht um die nächste Rentenreform geht“ (Teubner), im kommenden Jahr eine tragende Programmfläche im ZDF wird. Programmdirektor Markus Schächter sagte vor kurzem in einem Interview, er sei sicher, mit dem täglichen „JBK“ „mehr Lebendigkeit, Heutigkeit und Interessantheit ins Programm“ zu bringen.

Das stimmt in einer Hinsicht zweifellos: Der alte Kritikervorwurf, für Unterhaltung müßten anspruchsvolle Sendungen weichen, greift hier nicht. Nur dienstags laufen auf dem künftigen „JBK“-Platz Dokumentationen; sie wechseln auf den Sonntag. An drei von vier Werktagen aber wiederholt das ZDF nur alte Krimis. Mangels Geld gab es in der Zeit, die der Sender jetzt hochtrabend „zweite Prime Time“ nennt, ohnehin schon nichts Gehaltvolles mehr, das Kerner verdrängen könnte.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

„Es gibt nichts anderes als Scheitern, für niemanden“

Warum Roger Willemsen mit dem Fernsehen aufhört.

Was ist passiert, Herr Willemsen?

Eigentlich nichts. Ich habe schon seit zwei Jahren gesagt, daß ich langsam meiner Selbstauflösung entgegensende. Es gibt keine Notwendigkeit, nichts Zwingendes mehr in meiner Fernseharbeit. Fernsehen ist ja außerdem ein so kindliches Medium, daß man das erwachsene Arbeiten eher außerhalb von ihm versuchen muß.

Was ist aus Ihrem Versuch geworden, ein paar Punkte gegen den Trend zu setzen; Sendungen zu machen, die Sie selbst gerne sehen würden?

Ich habe zuletzt eine Sendung namens „Gipfeltreffen“ gemacht, in der immer zwei Personen zusammengeführt werden. Da ist schon die Frage, ob die vom damaligen ZDF-Unterhaltungschef Viktor Worms vorgeschlagene Kombination „Hansi Hinterseer trifft Eva Herman“ eine ist, die notwendigerweise durch mich vermittelt werden muß. So richtig lassen sich meine Vorstellungen von dem, was man da sinnvollerweise machen könnte, nicht vereinbaren mit dem, was ein sehr quotenorientiertes Fernsehen will.

Die böse Quote.

Nicht nur. Ich habe seit über zwei Jahren ein Musikmagazin im ZDF, das, wie ich mit einem gewissen Stolz sage, große Namen versammelt hat: Pierre Boulez, Herbie Hancock, Woody Allen, eines der letzten TV-Interviews von Isaac Stern… Ich glaube, es ist noch nie ein einziger Artikel über dieses Magazin erschienen.

…die Sendung steht auch nicht einmal auf der ZDF-Homepage.

Es gibt Leute, die mich in der Bahn ansprechen: Wann machen Sie mal wieder eine Fernsehsendung? Selbst Journalisten fragen: Wann kommen Sie mal wieder? Dann antwortet man: Na ja, ich mach‘ ja zwei Sendungen seit einiger Zeit…

Ihnen fehlt der Zuspruch.

Wirklich nicht. Aber die Lektüre eines Quotenprotokolls macht einem klar, daß das Publikum das, was man selber am beliebigsten, am notwendigsten fand. Dann erkennt man, daß man nicht mal ein Promille der deutschen Öffentlichkeit vertritt. Und zu versuchen, Minderheiteninteressen auf ein Massenpublikum zu übertragen, ist eine Anstrengung, bei der man sich irgendwann aufreibt.

Klingt ganz schön verbittert.

Ach was. Es ist überhaupt nichts Dramatisches daran, wenn man selbst entscheidet, daß das Fernsehen einfach nicht das richtige Medium ist für das, was man machen will. Oder haben Sie mich je dabei erwischt, Karl Moik sein zu wollen? Wenn sich das resignativ anhört, dann deshalb, weil ich dieses Ideal des gesellschaftlichen Wirkens nicht mehr habe. Man glaubt immer, man könnte die Einsamkeit dadurch reduzieren, daß man Komplizen findet. Das hört irgendwann auf, weil die Gesellschaft resistent ist gegen jede Wirkung, die aus dem Geistigen kommen könnte, so daß man sich daran nicht mehr abarbeiten muß.

Haben nur Sie sich verändert oder das Fernsehen auch?

Als ich vor elf Jahren anfing, habe ich — wie wir wohl alle — gehofft, daß das Fernsehen eine Entwicklung zum Besseren macht. Ich kannte ja kein Fernsehen, weil ich keins hatte. Die erste Hoffnung war, daß im Pay-TV vielleicht ein kompaktes, Minderheiteninteressen berücksichtigendes Programm entstehen würde. Es dauerte nicht lange, da war das Premiere-Programm schlechter als Kabel 1. Die nächste Hoffnung war, daß die Werbekunden die Zuschauer nicht nur quantifizieren, sondern auch qualifizieren würden: Eine Million in einer bestimmten Sendung verkauft mehr Carling Black Label als Hans Meiser, also würde die Reform des Fernsehens von den Werbekunden ausgehen. Das geschah auch nicht. Inzwischen lohnt es sich nicht, mit Fernsehleuten irgendeine Diskussion jenseits der Quote zu führen. Ich bin noch bei Mitternachtssendungen, die zur Hälfte Musik waren, mit Quotenerwägungen konfrontiert worden. Einmal bin ich für das Musikmagazin im Kriegsgebiet im Kongo gewesen, habe Papa Wemba auf seinem Rückweg aus dem Pariser Exil nach Kinshasa beobachtet; drei Mitarbeiter hatten einen schweren Autounfall. Als wir zurückkamen, haben wir als erstes gerümpfte Nasen gesehen: „Was ist das denn für Musik? Da ist ja wieder nichts zum Mitklatschen dabei.“

Aber ist Ihr Abschied nicht auch ein persönliches Scheitern?

Es gibt nichts anderes als Scheitern, für niemanden.

Wird Ihnen nicht fehlen, erkannt zu werden, auf der Bühne zu stehen?

Das ist mir wirklich fremd.

Sagen Sie jetzt nicht, daß Sie uneitel sind.

Von den 4000 Formen der Eitelkeit, die es gibt, besitze ich einige, aber die gehören nicht dazu: weder die physische noch die, erkannt werden zu wollen. Wenn man das elf Jahre macht und glaubt immer noch, es sei schön, erkannt zu werden, ist man im infantilen Stadium steckengeblieben. Spätestens im dritten Jahr muß man aufhören, aufs Cover der „Fernsehwoche“ zu wollen. Ich hab‘ das bei alten Männern immer pikant gefunden, wenn Erich Böhme Pixie-Malbücher in Wohnwagen ausfüllt, weil es das Frühstücksfernsehen möchte.

Es bleibt keine Enttäuschung?

Warum denn — es ist meine Entscheidung. Schwer ist es nur, mich von den Freunden zu trennen, mit denen ich gearbeitet habe. Die Firma wird in sehr kleinem Maßstab weiter produzieren, gelegentliche Dokumentationen. Wenn ich auf irgendwas stolz bin, dann darauf, einen Film gemacht zu haben, der in 13 Länder verkauft worden ist: der Film über Michel Petrucciani. Das ist eine der wenigen Sachen, wo ich denke: Darin steckt eine Spur von Eigenleistung.

Was machen Sie in Zukunft? Wer Ihre Bibliographie ausdruckt, verstopft minutenlang den Drucker. Sie wollen doch nicht etwa noch mehr schreiben?

Na ja: Das nächste ist ein Buch über eine „Deutschlandreise“, die ich für das „SZ-Magazin“ gemacht habe. Dann habe ich den Auftrag, ein Theaterstück zu schreiben. Ich habe einfach das Gefühl, daß ich nicht mehr als Hebamme auf jedem dritten Podium sitzen soll, um die Meinungen anderer Leute ins Licht zu bringen.

Verschwindet das Fernsehen auch aus ihrem Fokus als Beobachter?

Ich halte bestimmte Sendungen nicht mehr aus, die ich früher mit so Konträrfaszination angesehen habe, die mich gegruselt haben. Wenn es mich heute gruselt, schalte ich doch um. Ich kann nur ein paar Minuten Raab sehen — es langweilt mich zu Tode, ich kann dieses ganze Zähnefletschen und Sichbreitmachen und Dickhodigdaherkommen nicht mehr sehen. Dafür kann ich lange an Phoenix hängen und sehe mir jede Afghanistan-Reportage an, weil das meinem Wirklichkeitshunger dann doch entgegenkommt.

Eigentlich ist es doch ein furchtbarer Gedanke, daß das Fensehen seine Möglichkeiten nicht nutzt.

Die ersten Funktionsbestimmungen des Fernsehens waren: ein Medium, in dem sich Gesellschaft reflektiert, in dem Minderheiten miteinander in Kommunikation treten, in dem Entfremdungsschranken überwunden werden. Gegenüber dieser Matrize verhält sich unser Fernsehen wie eine Satire. Man wundert sich, daß noch kein Musterprozeß darüber geführt wurde, daß der Aufklärungsanspruch des Rundfunkstaatsvertrages jeden Tag falsifiziert wird. Der Kulturpessimismus hat aber für mich kein Pathos mehr. Ich bin einfach ein Material, das verschlissen wird, ein Markenartikel, der irgendwann sein Verfallsdatum überschritten hat. Eigentlich wie Anke Huber.

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Mittendrin – und nur dabei

Einsatz für einen Satz: Wofür die Fernsehsender im Krieg Reporter brauchen.

Es ist immer gut, in unübersichtlichen Situationen jemanden vor Ort zu haben, den man persönlich kennt und im Zweifel noch mal fragen kann. Astrid Frohloff, Nachrichtenmoderatorin bei Sat.1, hat Tatjana Ohm vor Ort in Islamabad: „Die Informationen über Opfer und Zerstörungen direkt aus Afghanistan fließen ja nur spärlich, Tatjana, und sie sind zensiert von den Taliban. Was erfahren Sie im Nachbarland Pakistan über die Folgen der Angriffe?“ Tatjana antwortet: „Nun, wir werden hier in der Regel täglich um Punkt vierzehn Uhr vom Botschafter Afghanistans darüber informiert, was ihrer Meinung nach in Afghanistan passiert und geschehen ist. Es gibt für uns keine Möglichkeit, diese Angaben zu überprüfen. Jedes Bild, jede Wortmeldung, die aus dem von den Taliban beherrschten Afghanistan herauskommen, müssen wir einfach so hinnehmen. Und wir haben keine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt zu verifizieren.“ Astrid Frohloff sagt: „Vielen Dank, Tatjana Ohm, nach Pakistan“.

Gut, daß wir nachgefragt haben.

Zwischen 1500 und 2000 Mark kostet, je nach Standort in der Region, allein die Leitung für diese Durchsage, hinzu kommen Reisekosten, Schmiergeld, Technik, Versicherung. Und all das gibt Sat.1 aus, uns darüber zu informieren, daß man auch nicht mehr weiß als CNN und die Agenturen, nicht mehr, als die Kriegsparteien verlautbaren? Natürlich nicht. All das gibt Sat.1 aus, uns zu zeigen, daß man nicht irgendein kleiner deutscher Privatsender ist, sondern ein Global Player, bei dem man sich darauf verlassen kann, daß, wo immer einer eine Pressekonferenz gibt, auch das Senderlogo aus dem Strauß bunter Mikrofonhüllen ragt.

Man muß, um das grundsätzliche Mißverständnis aufzulösen, einen alten Reporter wie Dagobert Lindlau fragen, ob es nicht bessere Möglichkeiten für die Sender gäbe, als Reporter an die pakistanisch-afghanische Grenze zu schicken, um Informationen zu bekommen. „Was bringt Sie zu der Annahme“, fragt er dann, „daß die Sender daran interessiert sind, mehr Informationen zu wollen, und nicht mehr Quote?“

Das ist natürlich nicht das, was einem die Verantwortlichen der Fernsehsender in diesen Tagen sagen. Sie alle geben ein Vermögen aus für die Berichterstattung über den Krieg, wo ihnen schon die Einnahmen in nie dagewesener Weise wegbrechen. Und alle sagen, das müsse man jetzt tun, weil man es tun müsse. Informationspflicht verpflichtet. Das klingt gut.

Auf jeweils einen einstelligen Millionenbetrag schätzen RTL, ARD aktuell und Pro Sieben/Sat.1 die Mehrkosten, die ihnen seit dem 11. September entstanden sind: Die halbe Medienwelt bezieht heute Honorare für Bereitschaftsdienste. Die Mitarbeiter der Morgenmagazine von ARD und ZDF arbeiten am Wochenende, für alle Fälle. Das ZDF hat rund um die Uhr eine Standleitung nach Washington. Bei RTL sitzen die ganze Nacht ein Redakteur und ein Moderator im Studio.

Ein Glück nur, daß die hohen Kosten für die Extraprogramme immer noch unter denen für die meisten Unterhaltungsprogramme liegen, die sie verdrängen. So sparen die Sender letztlich doch ein wenig – was dem allgemeinen atemlosen „Wir müssen uns das jetzt leisten“ ein wenig die Brisanz nimmt und die Bedeutung von Information im Fernsehen zurechtrückt.

Aber alle schicken sie ihre Reporter in die Region: Pro Sieben/Sat.1 und RTL je einen nach Nordafghanistan und Pakistan; der MDR für die ARD drei; das ZDF gleich sechs — nach Nordafghanistan, Usbekistan, Islamabad, Peshawar und einen nach Amman, weil er kein Visum für den Iran bekam. Im Übereifer geht schon mal was schief: Eine Kollegin auf dem Land in Pakistan traute sich wegen der Unruhen gar nicht erst aus dem Hotel.

Die Mutigen stehen dann vor karger Bergkulisse, nur ein paar hundert Kilometer entfernt vom Krieg, und haben vieles, nur keinen „Überblick“, den die Kollegen im Studio in Deutschland so gern von ihnen bekämen. RTL-Korrespondentin Antonia Rados antwortet live aus einer Steinwüste bei Peshawar auf die Frage, ob sie wisse, ob US-Bodentruppen unterwegs seien: Ja — jedenfalls stünde das so in den pakistanischen Medien. In „Tagesthemen“ und „Heute Journal“ bitten die Moderatoren um eine Einschätzung der Lage, und wenn die Reporter gut sind, wie Dirk Sager, antworten sie, daß sie sie nicht geben können: „Wir sind gar nicht in der Lage, mehr zu übersehen als den kleinen Frontabschnitt, an dem wir uns befinden.“ Was die Moderatorin nicht davon abhält nachzufragen: „Die Nord-Allianz soll strategisch wichtige Gebiete erobert haben. Können Sie dazu irgend etwas sagen?“ Sager geduldig: „Aus eben genannten Gründen kann ich leider nichts dazu sagen.“

Die Minischaltung zu „unserem Mann vor Ort“, schon in Friedenszeiten eine Last, wird im Krieg zur Pest. Der Mangel an unabhängigen Informationen wird dadurch noch unerträglicher, daß die Fernsehsender mit diesem Ritual den Eindruck erwecken, es gäbe sie. Nach Angaben von Informationsdirektor Hans Mahr schaltet RTL täglich zehn- bis zwölfmal nach Nordafghanistan, zwanzigmal nach Washington, zwanzigmal nach Peshawar. „Das macht die hohen Kosten aus“, sagt er. „Die Personalkosten fallen dagegen nicht so sehr ins Gewicht.“

Natürlich würde Mahr nie sagen, daß sie es wegen der Quote tun, im Gegenteil: „Bei uns, anders als bei den Öffentlich-Rechtlichen, sind Schaltungen kein Selbstzweck.“ Seine Reporterin sei ein halbes dutzendmal in Afghanistan gewesen. Und sie habe die Redaktion bereits am Samstag informiert, daß der Krieg in der Nacht von Sonntag auf Montag beginne. „Deshalb hatten wir am Sonntag das volle Team im Studio.“ Im übrigen: „Wenn die Invasion beginnt, muß man jemanden dort haben, der mitgeht. Wir müssen mit vorne dabeisein, wenn es losgeht – man kann nicht dann erst jemanden einfliegen lassen.“

Dabeisein? Ist alles.

Wenn die bekannte Reporterin nach einem aus vielen unbekannten Quellen gebastelten Beitrag auftaucht, verleiht sie ihm als Kronzeugin eine Glaubwürdigkeit, die er oft nicht verdient hat. Würden die Sender ihre Reporter ernst nehmen, sie würden sie nicht als stündliche Anwesenheitsbelege einsetzen. Nach Filmbeiträgen aus oft unzähligen unbekannten Quellen können sie bestenfalls noch als Korrektiv zu den mächtigen Bildern wirken. Uwe Kröger, bis zum 13. September für das ZDF in Afghanistan und seitdem in Islamabad, sieht seine Aufgabe auch darin: etwa gebetsmühlenartig zu wiederholen, daß Pakistans Präsident nicht in akuter Gefahr ist, trotz der flammenden Proteste, die der Zuschauer gerade gesehen hat.

Zum guten Reporter vor Ort gibt es keine Alternative. „Je näher, desto besser — kein Zweifel“, sagt Kröger. „Nichts ersetzt den Korrespondenten so nahe wie möglich am Geschehen, gerade im Fernsehen. Der Reporter an der pakistanisch-afghanischen Grenze hat den unschätzbaren Vorteil, dicht an den Menschen zu sein, Bilder, Gerüche, Stimmungen, Emotionen aufzunehmen: im besten Falle ein Mikrokosmos, in dem sich der größere Zusammenhang spiegelt.“

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