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Ingo Appelt

Abgrundtief. Ingo Appelt muss gehen, aber die Politik schaut zu, wie das Privatfernsehen insgesamt am hellichten Tag Schmutz verbreitet.

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Vielleicht muss man ein bisschen Mitleid haben mit Ingo Appelt, der doch nur ein Komiker ist, wie es sie zu allen Zeiten gegeben hat. Einer, der nicht durch Talent oder Handwerk auffällt, sondern dadurch, dass er auffällt. Einer, der Tabus bricht, den die Kinder lieben, weil die Eltern ihn hassen. Einer, dessen Witze nicht gut sein müssen, weil das Publikum statt „hahaha“ immer noch „hohoho“ lachen und „Was der sich traut!“ denken kann. So einer hat es nicht leicht heute. Wie soll man provozieren, wenn jede besonders krasse Übertreibung täglich im Fernsehen von Jenny und Alex und Ramona und Jürgen getoppt wird?

Das Mitleid mit Appelt hat Grenzen. Aber bedauernswert der Zuschauer, dessen Fernsehprogramm so weit gekommen ist, dass es einer wie Appelt kaum schafft, abgesetzt zu werden. Es ist ja nicht so, dass er sich nicht lange schon bemüht hätte. Hat wieder und wieder „Ficken“ gerufen. Hat dumme Witze über den Bundespräsidenten gemacht, als der sich von einer Operation erholte. Hat ein Kind epileptische Anfälle vortäuschen lassen, um schneller einen Parkplatz zu bekommen. Aber er musste erst so tun, als schieße er Kinder auf eine Torwand, um von Pro Sieben endlich abgesetzt zu werden.

„Wir sind verwundert“, sagt Jörg Grabosch, Geschäftsführer der Firma Brainpool, die die Ingo Appelt Show produzierte. Was habe der Sender denn erwartet, fragt er, als er einen Komiker unter Vertrag nahm, der in seinem Bühnenprogramm einen Graf Dracula spielt, der das Blut nicht aus dem Hals seiner Opfer saugt, sondern aus ihren Tampons. Ja, was wohl? Quote! Die von Appelt war schlecht, aber auch nicht so mies, dass man nicht noch die restlichen Folgen hätte ausstrahlen können. Für die vorzeitige Absetzung spricht nur eins: Dass sich Pro Sieben zum Saubersender stilisieren kann. „Die Ingo Appelt Show genügt dem Qualitätsanspruch der Marke Pro Sieben nicht“, säuselt Programmchef Nicolas Paalzow in einer Pressemitteilung und „bekennt“ sich zu „qualitativen Maßstäben“. Kling, Glöckchen!

„Es gibt Dinge“, sagt Paalzow, „die gehen auf einer Bühne, vor einem geschlossenen Benutzerkreis, aber im Fernsehen kann man sie nicht machen. “ Mit dieser Ansicht steht er offenkundig allein in der Fernsehlandschaft. Und er erklärt nicht, warum dem Sender diese Erkenntnis nicht vorher kam, nach der Aufzeichnung zum Beispiel. Sei’s drum. „Der Zuschauer honoriert Geschmacklosigkeiten nicht“, sagt Paalzow. Ob Appelt weitersenden dürfte, wenn die Zuschauer dessen Geschmacklosigkeiten honoriert hätten, bleibt offen.

Am Nachmittag sitzen in der Talkshow Andreas Türck bei Pro Sieben Menschen, die drastische Ansichten über den Körpergeruch eines Freundes, das Sexualverhalten eines Partners oder die Rolle der Frau an sich haben, aber große Probleme, diese verständlich zu artikulieren, worüber sich der Moderator zur Unterhaltung des Publikums lustig macht. Das ist nicht geschmacklos und lässt sich mit dem Qualitätsanspruch von Pro Sieben vereinbaren. „Türck ist ein Idol für viele Teenager und sehr populär“, sagt Paalzow. Brainpool-Chef Grabosch findet es merkwürdig, was Fragen des Geschmacks mit der Absetzung von Sendungen zu tun haben sollen. Das ist nicht zynisch, sondern realistisch: In der vergangenen Woche holte Ramona Drews vor laufender Kamera eine Brust aus der Bluse und bewies durch gezielte Massage, dass daraus fünf Jahre nach der Geburt ihres Kindes noch Milch spritzt, weil ihr Mann Jürgen sie regelmäßig heraussaugt. RTL zeigt diese Szene ungefähr ein Dutzend Mal, auch mittags in Punkt 12. In Explosiv beglückt der Kölner Sender um 19. 30 Uhr die versammelten Kinder und Erwachsenen mit Großaufnahmen einer anderen Frau, die ihre Muttermilch in einen Behälter melkt, um sie Männern auf der Straße zum Trinken anzubieten. In Exclusiv Weekend fragt der gleiche Sender, zu welchen TV-Exzessen es noch kommen wird, und zeigt bei dieser Gelegenheit außer Frau Drews zwei Komiker, die sich vorn in ihre Hosen Bockwürste gesteckt haben, die sie während der Aufnahmen massieren, sowie den Komiker Niels Ruf, dessen Beitrag zur Diskussion die Andeutung von Analverkehr mit einer Gummipuppe und ein Auftritt mit der Unterwäsche von Anke Engelke sind. Die Berliner Verkehrsbetriebe stoppen am Wochenende die Aufnahmen zu Christoph Schlingensiefs neuer MTV-Show U 3000, weil dabei ein Mann, in dessen Hintern Mohrrüben stecken, auf einem Bahnsteig nackt auf ein Go-Kart gefesselt wird. In einer anderen Folge interviewt Schlingensief Maria und Margot Hellwig mit nacktem Unterkörper und frei schwingendem Glied, Aufnahmen, die andere Privatsender vorher zeigen, am frühen Abend.

In der RTL-Comedy Freitagnacht News wird ein Darsteller von einer Gruppe Skinheads gejagt, bis einer der Angreifer ihm mit einem Baseballschläger den Kopf abschlägt. Explosiv berichtet über eine extrem übergewichtige Frau, die mitsamt ihrem Bett mit einem Kran von der Feuerwehr aus dem Haus gehieft werden muss, und vermutet dabei, dass sie mit der Scham der Zurschaustellung kaum leben kann. Bei Sonja auf Sat 1 drohen sich zur Mittagszeit Gäste gegenseitig Gewalt an, während ihnen Zuschauer unter dem Beifall des Publikums vorwerfen, auszusehen „wie ein schwules Stück Kacke“. Explosiv lässt ein nacktes Paar so bemalen, dass ihre Brüste zwei Möpse darstellen und sein Glied den Rüssel eines Elefanten, filmt sie beim Bummel durch Wien und zeigt das um 19 Uhr. Alles wird überall wiederholt, spätestens in der Endlosschleife des Dauerlächlers Stefan Raab, der auch ein in einer Talkshow weinendes Mädchen zigmal vorführt, weil ja nicht er darunter leidet, sondern das Mädchen, das dann auch noch in Raabs Sendung eingeladen wird und vor Angst kaum einen geraden Satz herausbringt. Was bleibt ihr übrig?

So simpel ist Privatfernsehen: sind Tränen oder Titten zu sehen, steigt die Quote. Deshalb gibt es im deutschen Privatfernsehen keine Zeit mehr, zu der nicht Riesenbrüste, operierte Brüste, bemalte Brüste, Schwabbelbrüste oder (bei RTL) die Frau mit den vier Brustwarzen zu sehen sind. Was, wenn Eltern ihre fernsehenden Kinder nicht rund um die Uhr bewachen können?

Man läuft Gefahr, sich anzuhören wie ein Wanderprediger, aber die Degeneration des Fernsehens hat zweifellos neue Ausmaße erreicht, und das, nachdem Politiker die Talkshow- und Real-Life-Show-Sau je einmal durchs Dorf getrieben haben, fast ohne öffentliche Diskussion. Was in der Zeitschriften-Landschaft mit Coupé oder dem National Enquirer Randerscheinungen sind, ist im Privatfernsehen Alltag.

Pro-Sieben-Programmchef Paalzow sagt, dass er in letzter Zeit massenhaft Formate angeboten bekomme, die schärfer sind als Appelt war. Kein Wunder, dass der zum Äußersten gehen musste, um überhaupt bemerkt zu werden. Das Aus für seine Show ist kein Beleg dafür, dass es Selbstreinigungseffekte im Privatfernsehen gibt. Es ist ein Beleg dafür, wie verkommen das Privatfernsehen ist.

Es ist auch Beleg dafür, dass Politik und Fernsehwächter der Entwicklung tatenlos zusehen. Ihnen bringt eine zünftige Einmal-Erregung über Big Brother mehr Beifall als die Beschäftigung mit dem inzwischen normalen Schmutz, der aus den Kanälen, die diese Politiker fördern, zur besten Sendezeit vor Menschen ausgeschüttet wird. Vor Menschen, die sich dagegen nicht immer wehren können. Vor Kindern zum Beispiel. Frohes Fest.

(c) Süddeutsche Zeitung

Die rohe Botschaft

Viva – Gorny geht in die Breite und Ruf bleibt (ein Witzbold).

Das Blöde an einem Börsengang ist, dass man vor lauter An-die-Börse-gehen manchmal kaum dazu kommt, sich ums eigentliche Geschäft zu kümmern. Während Dieter Gorny damit beschäftigt war, Viva an den Neuen Markt zu bringen, landete MTV im Dauerclinch der Musiksender Punkte: Geschäfsführerin Christiane zu Salm verkündete nicht nur, ihren Sender endlich wieder zum Marktführer gemacht zu haben, sondern auch einen prominenten Überläufer wie Niels Ruf, auf Viva Kamikaze-Moderator und Moderator von Kamikaze.

Doch in Sachen PR lässt sich Dieter Gorny von niemandem die Butter vom Brot nehmen: Bei der Popkomm in Köln rief er dem Publikum zu: „Wir sind aus dem Urlaub zurück!“ Er verkündete, dass Viva von Oktober an und Viva 2 von Februar an über den Astra-Satelliten zu empfangen sind und, ökonomisch ungleich unbedeutender, aber als PR-Bonbon zuckersüß: dass Niels Ruf doch nicht geht.

Er moderiert von Oktober an nicht nur auf Viva 2, sondern auch auf Viva – ob als Wiederholung, gleichzeitig oder mit einer Zwei-Stunden-Show, die nach einer Stunde den Kanal wechselt, steht noch nicht fest. Ruf darf seine Show (und sich) selbst produzieren. „Als Mann muss man sich fragen, ob man wirklich eine Frau als Chef haben will“, sagte er – der mit Freundin Anke Engelke mutmaßlich schon eine Chefin daheim hat – zeigte auf den bärigen Viva-Chef und fuhr fort: „Außerdem hat Gorny die größeren Brüste. “

Mit MTV, dessen Programmchef Elmar Giglinger von Viva 2 kommt, habe es zwar Gespräche gegeben: „Aber bei MTV ist der Mut zur Innovation nur ein stetes Versprechen auf die Zukunft. “ Gorny räumte ein, Programmfragen in letzter Zeit vernachlässigt zu haben. PR kann Viva 2 gebrauchen. Dessen Verdienste als Nische für ambitionierte Musik und schräges Fernsehen sehen viele von den ökonomischen Zwängen einer AG bedroht. Die Verluste von Viva 2 ließen sich in den vergangenen Jahren nur durch stetig sinkende Programmausgaben reduzieren. Jetzt kündigte Programmchef Stefan Kauertz neue Sendungen an, darunter das Börsenmagazin Crash.

Öffentlichkeitswirksam auf der Bühne unterzeichnete Gorny mit Astra-Vertreter Yves Elsen den Vertrag, der die technische Reichweite um über ein Drittel steigert. Damit soll es gelingen, die Marktführerschaft von MTV zurückzuerobern: Obwohl zur Zeit viel mehr Zuschauer MTV als Viva empfangen können, tun dies nur knapp mehr. Bei gleichen technischen Voraussetzungen verliere MTV dagegen Zuschauer. Vom 6. September an wird in der Schweiz das deutsche Viva-Programm durch Viva Swiss ersetzt, ein eigenes, auf schweizerdeutsch moderiertes Programm, an dem sich die Viva-AG beteiligt hat. Am 1. Januar 2001 soll in Wien das Werbefenster Viva Austria folgen.

Und wenn Viva dann endlich einen ordentlichen Internet-Auftritt hat, der in der kommenden Woche der Öffentlichkeit vorgestellt werden wird, dann hat Viva nicht einfach nur einen ordentlichen Internet-Auftritt, sondern wird im Gorny-PR-Sprech gleich „der erste deutsche vollkonvergente digital-analoge Sender“. Frau Salm, übernehmen Sie!

Fort Boyard

Der Star ist die Festung. Ab Sonntag läuft FORT BOYARD — eine Abenteuershow, die vom Atlantik aus fü die ganze Welt produziert wird.

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Das Ding ist wirklich eine Attraktion. Kein Andenkenladen an der französischen Atlantikküste rund um La Rochelle, der nicht Postkarten, Wanduhren und Aschenbecher vom Fort Boyard hat. Künstler verkaufen Miniaturen; Boote nehmen Kurs auf die 150 Jahre alte Festung — doch rein kommt man nicht als Tourist, rein kommt man nur als Kandidat. Vor elf Jahren hat der Staat das Fort, dessen Bau Napoleon begann, an den heute 76-jährigen Jacques Antoine verpachtet, einen Verrückten, der sich für alles begeistert, was mit Abenteuer zu tun hat: Seine Firma Expand benutzt die Feste als Spielfeld für Fernsehshows, die sie in alle Welt verkauft. Zuvor wurden für sieben Millionen Dollar bröckelnde Mauern repariert, die Fassaden poliert und Kabel verlegt, Verließe in Spielkammern, Regieräume und Garderoben verwandelt. Selbst eine Kantine für die 100 Mitarbeiter gibt es. Jetzt ist Fort Boyard den ganzen Sommer ausgebucht. Bis September kommen Teams aus zehn Ländern und nehmen insgesamt 150 Shows auf. Mitbringen müssen sie nur ihre Kandidaten und Moderatoren — alles andere macht Expand. Für Länder wie Ungarn, Polen oder Argentinien die einzige Möglichkeit, sich eine aufwendige Abenteuershow leisten zu können.

Auch Deutschland ist dieses Jahr wieder da. Vor zehn Jahren lief „Fort Boyard“ schon einmal auf Sat 1, doch damals wollte es kaum einer sehen. Nun versucht es Pro Sieben vom kommenden Sonntag an mit sechs neuen Folgen, immer um 18 Uhr. Und mit Prominenten wie Suzanne von Borsody und Ingo Appelt, die durch Spinnen krabbeln oder Bungee springen müssen, nur um ihr Preisgeld am Ende für einen guten Zweck ihrer Wahl zu spenden. Alles läuft am Fließband: Bei der letzten deutschen Aufzeichnung sind schon die Argentinier da, um am nächsten Tag anzufangen, ihre Folgen aufzunehmen.

Die Produzenten aus dem Ausland können aus einem Expand-Katalog von 55 unterschiedlich schweren Aufgaben diejenigen auswählen, die sie ihren Kandidaten zumuten wollen. „Psychologie und Emotionen funktionieren überall auf der Welt gleich“, sagt Patrice Laurent, der Abenteuerchef bei Expand, die Details lassen sich anpassen: „Ein Produktionspartner aus dem Zielland ist immer dabei und weiß, was dort ankommt.“ Die Skandinavier etwa sehen ihre Stars gern in Extremsituationen, die Franzosen selbst mögen Mystery in ihren Shows; Pro Sieben hat sich für Harmloseres entschieden. Sie ersetzten etwa einen greisen Turmwächter mit Zaubererbart durch die „Glücksrad“-Buchstabenfee Sonya Kraus.

Wenn im Herbst die See um das Fort zu rau wird, zieht ein Teil des Expand-Teams in die jordanische Wüste, vor die Dominikanische Republik oder nach Mexiko, um dort ähnliche Abenteuerspiele im Sand, unter Wasser und auf Eisenbahnschienen aufzunehmen. Für die Zug-Show hat Expand acht Kilometer Gleise verlegt — mit Parallelstrecke für die Kameras. Der Aufwand ist nötig, behauptet Laurent: Gameshows im Studio hätten nie den gleichen Reiz. Jahrhundertealte Steine, echte Tiger oder die Brandung des Meeres wie rund ums Fort Boyard lassen sich nicht nachbilden. Dass die Fluten der Atlantik sind oder der Sand in Jordanien liegt, ist dem internationalen Publikum egal. Burg, Meer, Wüste — so etwas funktioniert immer und überall.

Deshalb könnten Abenteuershows nicht nur Ländergrenzen überschreiten, sondern auch Trends wie den Reality-Boom überdauern. Von Experimenten wie dem „Inselduell“ hält Laurent wenig: „Die Angst auf den Gesichtern der Kandidaten kriegen wir auch hin, ohne sie echter Gefahr aussetzen zu müssen.“

Pro Sieben hat sich eine Option auf alle Expand-Shows gesichert; Tresor-TV, der deutsche Produktionspartner, will zum Experten für das Genre werden. Und in ein paar Jahren wird vielleicht eine Sehenswürdigkeit in Deutschland zum Spielfeld, auf dem Kandidaten aus aller Welt herumturnen. Muss ja nicht gleich Neuschwanstein sein.

(c) Stern

Aufstand alter Männer

Der Eurovisions-Song-Contest in Stockholm: Schlichtheit siegt, und Stefan Raab muss die Schlagerwelt auch nicht retten.

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Sie kommen aus einer anderen Galaxie. Tauchen aus einem gleißenden Lichtrechteck auf. Schreiten gemessen durch ein Spalier aus Bildern des Blauen Planeten. Treten an die Bühne. Rücken Gitarren und Mikrofone zurecht. Singen. Und 13 000 ergeben sich ihrer Macht.

Gut, aus einer anderen Galaxie kommen sie vielleicht nicht, die Olsen Brüder, die am Samstag den Eurovisions-Song-Contest gewonnen haben, eher schon aus einer früheren Zeit dieser Welt. Sie sehen aus wie Kenny Rogers und Unscheinbarer-Mann-neben-Kenny-Rogers. Sie sind Ende 40 und haben vor 22 Jahren zum ersten Mal versucht, zum Grand Prix zu kommen. Ihr Fly on the wings of love beruht auf genau der Folge von vier Harmonien, die schätzungsweise der Hälfte aller konventionellen Popsongs ihr Gerüst gibt. Das Lied rettet sich über die drei Minuten – wie Millionen Schlager vor ihm -, indem es kurz vor Schluss die Tonart wechselt. Halbwegs aus heutiger Zeit ist nur der Effekt, Jorgen Olsens Stimme einmal durch einen Vocoder verzerren zu lassen, wie bei Cher – aber den Effekt hat inzwischen selbst Mary Roos entdeckt. Nein, als irgendwie innovative Veranstaltung geht der Grand Prix nach dem Sieg der Dänen nicht durch.

Muss er auch nicht. Das furchtbare Erfolgsgeheimnis des Schlagerwettbewerbes ist seine Schlichtheit. Schon bei der Wiederholung des Siegertitels zum Finale konnte fast jeder in der Stockholmer Globen-Arena mitsingen. Am Tag zuvor wurden die Dänen plötzlich Favoriten, als das harmlose Lied bei der ersten öffentlichen Probe das überwiegend schwedische Publikum zur Raserei trieb. So gesehen geht der Sieg völlig in Ordnung. Auch in ein paar Jahren noch werden es die merkwürdigen Grüppchen von Grand-Prix-Fans rauf und runter spielen. Und wenn einer dazukommt, wird er sich erinnern und mitsingen. Und wenn er sich nicht erinnert, kann er es trotzdem nach zwei Strophen.

Auf den Straßen und in den Bars Stockholms liefen in der vergangenen Woche die Grand-Prix-Hits aus 45 Jahren in der Endlosschleife, aber auch beim zweiunddreißigsten Mal Waterloo und A-ba-ni-bi und Ring-A-Dong gerieten die Menschen aus ganz Europa, jung und alt, noch in Extase.

Es hätte alles viel schlimmer kommen können. Mit Irland als Sieger zum Beispiel. Die Iren schickten einen freundlichen, aber viel zu schönen Mann mit Vokuhila-Frisur, der vor dem Hintergrund brennender Kerzen derart kalkuliert vom Jahrtausend der Liebe schmachtete, dass es selbst den Schlagerfans zu viel war. Hohe Punkte für ihn wurden vom Publikum gar mit Buhrufen kommentiert.

Vor Irland aber lag am Ende ein ganzer Ostblock: Russland, Lettland, Estland. Dass die 16-jährige Russin Alsou mit ihrem modernen, aber belanglosen Stück auf Platz zwei kam, nahmen Song-Contest-Verantwortlichen aus aller Welt mit Erleichterung auf: Vielleicht gibt sich ihr Vater damit zufrieden. Der Herr ist Multimillionär, ließ ausrichten, dass auch Herr Präsident Putin für das Lied sei und drohte ernsthaft, das Schwedische Fernsehen zu kaufen, wenn deren Regisseure nicht tun, was er will.

Der Erfolg von Estland und Lettland, die mit MTV-kompatiblen jungen Nummern angetreten waren, gab denen Hoffnung, dass der Schlagerwettbewerb nicht nur ein skurriles Ritual sein muss, bei dem am Ende die simpelste Hymne gewinnt. Dahinter Stefan Raab auf Platz fünf: „Das ist das perfekte Ergebnis für mich“, sagte der deutsche Delegationsleiter Jürgen Meier-Beer vom NDR. Was schließt man daraus? Ist der Grand-Prix 2000 nun ein Zeichen für die Allmacht des zeitlosen Kitsch (wegen Platz 1) oder für das Aufholen des zeitgemäßen Pop (wegen Platz 2 bis 4)? „Ist mir egal“, sagt Meier-Beer, „solange die Leute nur ausgiebig darüber diskutieren.“ Über zehn Millionen sahen bei der ARD am Samstag im Schnitt zu.

Ein bitterer Abend war es für Österreich und die Schweiz. Beide dürfen im kommenden Jahr wohl nicht zum Finale nach Dänemark reisen – ihr Punkteschnitt der letzten Jahre ist zu schlecht. ORF-Leute glauben, dass ihnen das Anti-Österreich-Klima in Europa geschadet habe – obwohl sich der Auftritt der Rounder Girls, drei schwere Damen verschiedener Hautfarbe mit einem Motown-Stück, gerade als Anti-Haider-Demonstration werten ließ. Der Schweiz will Deutschland 2001 anbieten, wie bereits 1999 wenigstens mit einem Beitrag an der deutschen Vorausscheidung teilzunehmen.

Stefan Raab lag mit seinem fünften Platz deutlich über den Prognosen der Wettbüros. Dabei war sein Auftritt eigentlich ein Missverständnis. „Ich habe gehört, Sie wollen den Song Contest retten“, sagte die schwedische Moderatorin mit dem Charme eines Gefrierbeutels bei seiner Pressekonferenz. „Das ist ja nett.“ Die Veranstaltung braucht – anders als vielleicht die deutsche Vorentscheidung – keinen Retter-Raab. Sie ist trotz ihrer ganzen Rituale und Albernheiten ziemlich lebendig und vielfältig. Schon deshalb fiel Raab in Stockholm nicht so sehr auf. Außerdem kommentierten viele seinen Auftritt nicht mehr mit: „Hey – die Deutschen haben ja Humor!“, sondern mit: „Hatten wir den gleichen Witz nicht schon vor zwei Jahren?“

Eine Schlager-EM hat die gleiche Bedeutung wie eine Fußball-EM: Sie ist exakt so wichtig, wie man sie nimmt. Da schneidet der Grand Prix im Vergleich nicht mal schlecht ab: Einige Länder baten die Sänger in Stockholm zu offiziellen Empfängen in ihre Botschaften. Den Dänen ist es traditionell eine Party mit Freibier wert. Und die Engländer, die ihre Zielgruppe kennen, luden in eine Schwulenbar.

Dafür braucht die Welt den Grand Prix: Damit Leute wie die Olsen-Brüder Hoffnung auf eine neue Karriere haben und Leute wie Stefan Raab Material für ihre Comedy. Damit ein Fernsehzwerg wie Schweden der Welt zeigen kann, wie man die alte Veranstaltung als modernes Spektakel inszeniert. Damit wir feststellen, dass auch in Mazedonien (I love you 100 percent, yes I do) Mädchen nicht singen können müssen, um erfolgreich zu sein, wenn sie nur sehr jung sind und entsprechend wenig anhaben.

Und natürlich, damit einmal im Jahr Millionen Fernsehzuschauer eine knappe Stunde lang zusehen, wie nacheinander 240 Punktewertungen je drei Mal vorgelesen werden. Zwölf Punkte von Mazedonien an Rumänien – hurra! „Ist doch toll“, sagte eine norwegische Journalistin, „das hier ist die größte unwichtige Veranstaltung des Jahres.“

(c) Süddeutsche Zeitung

Der Mann, der nur Spaß versteht

Süddeutsche Zeitung

Der deutsche Grand-Prix-Vertreter Stefan Raab feiert vielleicht deshalb Erfolge, weil ihn an der Welt nur eines interessiert: Ob sie für einen Witz taugt.

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Stockholm, 10. Mai — Einer hat die Quelle entdeckt. Ein einziger, das genügt. Seine Kamera verrät ihn, er bleibt nicht lang allein. In Sekunden sind nach gutem Stoff hungernde Fernsehteams aus allen Ecken des Stockholmer Stadthauses zusammen geströmt und haben eine Oase gebildet. Der Mann in ihrer Mitte trägt, wie seine Freunde, eine wattierte penatenblaue Polyester-Jacke, die an die Ausgeh-Uniformen von Fußballern bei einer WM erinnern soll. Trotzdem wäre er unscheinbar, unrasiert wie er ist, mit Baseballkappe, Cargo-Hose und Turnschuhen, würden nicht sieben, acht Fernsehjournalisten, ihre Kameramänner und Mikrofonträger erwartungsvoll ihre Blicke auf den Mann richten, von dem sie wissen, dass er sie alle satt machen wird: Stefan Raab.

Es ist der Empfang des Bürgermeisters für die Teilnehmer des Europäischen Schlagerwettbewerbs, der an diesem Wochenende in Stockholm stattfindet. Wenige Zentimeter vor Raab, bedrängt von den Massen hinter ihm, steht ein junger schwedischer Reporter. Raab läuft jetzt wie aufgezogen. Nach jedem Satz zeigt er sein Nussknackergrinsen — ein breites, hölzernes Lächeln. „Na, bin ich lustig“, fragt dieses Grinsen, wenn er in die Runde schaut. Gerade erzählt er dem jungen Mann, der ihn anstrahlt, dass Wadde, Hadde und Dudde die drei meistverkauften Regale bei Ikea seien. „Das ist doch der ganze Witz bei meinem Lied Wadde hadde dudde da“, sagt Raab, legt den Kopf schief und schaut dem Reporter herausfordernd ins Gesicht, „wussten Sie das nicht?“ Kein Wort davon stimmt. Aber Raab hat großen Spaß, die Geschichte zu erzählen. Er hätte auch erzählen können, dass ihm der Text eingefallen ist, als er im Park sah, wie eine Frau mit ihrem Hund sprach. Aber das hat er schon zu oft erzählt. Und in Schweden jedenfalls passt die Ikea-Geschichte besser. „Die Hälfte von dem, was ich erzähle, von allem, was ich die ganzen letzten Jahre erzählt habe, ist erlogen“, sagt Raab. Er kann das ruhig sagen. Es wird keiner ankommen und sich beschweren. Aber wenn er die Wahrheit erzählte, und die Wahrheit langweilig wäre: dann würden sie sich beschweren.

Denn Raab ist Entertainer. Der erfolgreichste im Fernsehen heute. Seine wöchentliche Show TV Total hat erst Ostern wieder ihre eigenen Rekorde gebrochen und soll im nächsten Jahr gar täglich kommen. Seine Single Maschendrahtzaun wurde über eine Million mal verkauft und versorgte die Boulevardindustrie mit Stoff für Wochen. Raabs Musikfirma ist erfolgreicher als Große wie EMI und Ariola. Jetzt sorgt er dafür, dass sich junge Menschen massenhaft für eine alte, merkwürdige Erfindung interessieren: den Schlager-Grand-Prix.

Raab ist 33 Jahre alt und seit sieben Jahren im TV-Geschäft — die meiste Zeit auf dem Musiksender Viva, der ihn alles machen ließ. Er kann nicht nur moderieren und Faxen machen. Er kann singen. Spielt Gitarre, Schlagzeug, Klavier. Komponiert und produziert. Er braucht, wenn nicht mehr Zeit ist, nur zehn Minuten, um mit einem Musiker, den er noch nie getroffen hat, live so zu spielen, dass das Publikum tobt. Ein Grand-Prix-Journalist bittet ihn, ein finnisches Lied anzuspielen, Raab denkt zwei Sekunden nach, greift zur Ukulele, spielt einen Schlussakkord und sagt: „Finished!“ Das ist Handwerk, das beherrscht er. Warum heute aus jedem kleinen Stein, den er ins Wasser wirft, eine riesige Welle wird, erklärt es noch nicht.

Raab nimmt das Wort Entertainment wörtlich. Alles, was er macht, muss unterhalten. Zuerst ihn. Dann die Fans. Die Medien sowieso. Zu seinen Pressekonferenzen, die er nach jeder Probe in Stockholm abhalten muss, können die Programme blind Sendezeit buchen. Selbst wenn alle anderen nur erzählen, ob sie nervös waren, was sie mit ihrem Lied ausdrücken möchten und was sie vom Grand Prix erhoffen. Für die geht es ja um was: um ihre Karriere, um Auftritte in Europa, um Patriotismus gar. Für Raab geht es nur um eins: Spaß. Gewinnen macht Spaß.

Die alten Grand-Prix-Fans murren, weil sie ihre Institution nicht ernst genommen fühlen. Jens Bujar, Chefautor und Raabs wichtigster Mann, zuckt mitleidslos die Achseln: „Das ist Demokratie.“ Raab sagt: „Ich habe einen guten Geschmack“, dann korrigiert er sich: „einen breiten Geschmack.“

Raab hat nichts gegen den Grand Prix, genauso wenig wie gegen die Frau vom Maschendrahtzaun, Karl Moik vom Musikantenstadl oder Zlatko aus dem Big-Brother-Haus. Sie sind ihm egal. Sie sind Material für seine Witze. Mehr als jeder andere befreit Raab die Realität und die Fernsehrituale von allem Inhalt, bis nur noch Spaß übrig bleibt. Er kann eine halbe Stunde lang witzig mit einem schwedischen Model plaudern, ohne je zu fragen, für wen sie Modell steht und was der Beruf ihr bedeutet.

Wenn Raab eine Frau in schwedischer Tracht sieht, zeigt er auf sie, lacht und ruft: „Guck mal, was hat die denn auf dem Kopf!“ Vor sechs Wochen hat er sich ein Kickboard gekauft, eine Art moderner Tretroller. Sein Lieblingsspielzeug heute. Keiner kommt in den Backstage-Bereich, ohne es bewundert zu haben. Nach der Aufzeichnung seiner Show kann er es kaum erwarten, damit zum Hotel zurück zu fahren. Auf halber Treppe dreht er sich noch einmal um und lacht: „Das ist geil, beim Rückweg geht’s fast nur bergab.“

Raab ist ein Kind, privat und auf der Bühne. Auf der Bühne nimmt er den Spaß ernst. Die Mitarbeiter, die mit ihm die Filmbeiträge schneiden, müssen eine große Leidensfähigkeit haben: Er gibt die Beiträge nicht eher frei, bis alles perfekt ist. Wenn es nicht perfekt wird, schmeißt er es weg. Als er einmal Will Smith traf und versuchte, ihn nachzumachen, schaute ihn der Amerikaner mitleidig an und sagte: „You’re trying too hard.“ Das hat Raab zum Kern seiner Philosophie gemacht: Wenn etwas nicht leicht ist oder nach harter Arbeit leicht wirkt, lass es ganz.

Die Menschen haben auf einen wie ihn gewartet. Wenn er in der Sendung einen neuen Running Gag einführt, ein Kelle zum Beispiel, auf der das Wort „Respekt“ steht, dann sitzen schon in der nächsten Woche Leute im Publikum, die sich selber „Respekt“-Kellen gebastelt haben, andere halten „Respekt“-Fahnen hoch. „Die Leute sind aufmerksam und wollen was zum Mitmachen“, sagt Raab. In der Südkurve beim 1. FC Köln tragen die Fans alle tiefblaue Hemden mit dunkelblauen Krawatten, seit Ewald Lienen Trainer ist, der sich so anzieht und den Verein nach vorne brachte. Das gefällt Raab. Er steht nicht in der Südkurve. Nicht am Big-Brother-Haus, um „Manu raus“ zu brüllen. Und nicht am Maschendrahtzaun. Aber wie den Leuten, die dort stehen und feiern, ist ihm völlig egal, wie Manu wirklich ist und was die Frau vom Maschendrahtzaun tatsächlich umtrieb. Wie sie hängt er im privaten Gespräch „weisse?“ ans Ende seiner Sätze.

Seine Moderationen liest er nicht ab. Sie sind spontan, wirken oft entsprechend unpoliert. Das ist typisch für Raab: Er macht das einfach, weil er so ist, und es ist geschickt, als wäre es kalkuliert. „Die Leute schätzen es viel mehr, wenn du etwas spontan machst“, sagt er. „Wenn einer einen Witz erzählt und die Pointe mittelmäßig ist, finden Leute den Witz schlecht. Wenn da aber einer sitzt, der spontan seinen Kommentar abgibt, wirkt das viel witziger, selbst wenn der Spruch nur mittelmäßig war.“

Raab hat für die Journalisten in Stockholm eine Fahrt auf einem Wikingerschiff organisiert. Gegen Ende trifft er einen, für den der Grand Prix das wichtigste Ereignis des Jahres ist. Voll Stolz will der ihm eine kleine Zeitschrift in die Hand drücken, die Euro Song News des Grand-Prix-Fanclubs, deren Chefredakteur er ist. Aus dem Heft könnte Raab viel erfahren, was der Wettbewerb, an dem er teilnimmt, anderen bedeutet. Leider ist es nicht witzig. „Ich geb’s ihm später“, sagt Raabs Managerin entschuldigend dem schreibenden Fan. Raab ist längst gegangen. Er hat nicht mal gewartet, bis sie die Artikel über ihn gefunden hat.

Hadder da Gummibärchen?

Süddeutsche Zeitung

Stefan Raab und die „Bild“ streiten sich ein wenig.

So viel steht fest: Stefan Raab war in Stockholm. Mark Pittelkau, Klatsch-Nachwuchshoffnung der Bild-Zeitung, auch. Sie haben sich getroffen, um ein Foto zu machen. Doch schon über die Frage, wo genau, gehen die Aussagen auseinander. Und darüber, ob Raab dabei vor dem Schloss mit Waffengewalt abgeführt wurde, ob ihm zwei 16-Jährige mit den Worten „Hadder denn da wat, un wenn ja, was hadder da“ in den Schritt griffen und ob er zum Frühstück Gummibärchen isst – wegen der Potenz. Es ist ein absurder Streit entstanden.

Raab sagt, der Bild-Artikel, der am Tag vor dem Grand Prix erschien, sei frei erfunden. Sein Management hat protestiert, Gegendarstellung und Widerruf gefordert; die Bild bleibt bei ihrer Darstellung, ist aber intern etwas desorientiert. Unterhaltungschef Manfred Meier sagt, man habe eine Unterlassungserklärung abgegeben, das sei Routine: dass man die Fakten nicht wiederhole, heiße nicht, dass sie nicht stimmten. Chefredakteur Udo Röbel widerspricht: Es gebe keine Erklärung; die Rechtsabteilung prüfe. Die Sache ist für beide Seiten keine Petitesse, Röbel hat sich Pittelkaus Darstellung als eidesstattliche Erklärung geben lassen. Dass Details nicht stimmen, muss nichts bedeuten: „Nicht alles, was wir schreiben, ist wahr, aber wir versuchen, wie alle seriösen Zeitungen, der Wahrheit möglichst nah zu kommen“ , sagt Meier. Ach ja.

Pittelkau ist für die Bild ein wichtiger Mann. Er kennt die Schlagerszene — und es gibt nicht viele Journalisten, die bereit sind, Nächte mit Jürgen Drews zu verbringen. Am Samstag bekommt er von der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schlager einen Preis dafür, dass er versuche, „immer das Positive am deutschen Schlager herauszustellen“ . Manche sagen ihm Allmachtsphantasien nach. Nach einem geplatzten Termin bei Raab in Stockholm soll er gesagt haben: „Die Jagd auf Raab ist eröffnet; ich werde ihn in Grund und Boden schreiben.“ Pittelkau, sagt das Raab-Lager, leide darunter, dass nicht Corinna May zum Grand Prix durfte. Raab, sagt das Bild-Lager, leide darunter, dass er nicht so groß ins Blatt kam wie Guildo Horn. Und er gehöre offenbar zu einer neuen Generation von Stars, die selbst bestimmen wollen, wer wie über sie berichte. Jedenfalls sei er nicht halb so gut im Einstecken wie im Austeilen.

„Raab macht sich gegenüber Journalisten oft rar. Wir wollen nicht zulassen, dass die dann einfach Sachen erfinden“, sagt seine Managerin Gaby Allendorf. „Auf der Höhe, auf der sich Stefan jetzt befindet, müssen wir aufpassen, dass Leute ihn nicht für ihre Zwecke einspannen.“ Auf die Spitze treiben will sie den Streit nicht: Wenn Bild nicht nachlege, werde man die Sache auf sich beruhen lassen. Raab besteht nicht einmal mehr auf der Gegendarstellung. Im Herbst will er eine eigene Programmzeitschrift TV Total herausbringen — im Springer-Verlag. Und das ist halt der, in dem Bild erscheint.

Vergesst Harald Schmidt!

Süddeutsche Zeitung

MTV-Ulmen und Viva-Schlegl scheitern an neuen Sendungen.

Jean Pütz behandelte in 25 Jahren Hobbythek nicht nur das Thema „Darm & Po – gesunde Pflege von innen und außen“, sondern auch: „Schabernack – selbst gemacht“, denn Lachen schützt vor Kreislaufstörungen. Eines seiner Rezepte lautete: Man nimmt Schokopudding, wickelt ihn in Papier, zündet das Papier an, legt es nebenan vor die Tür, klingelt und versteckt sich. Wenn der Nachbar das Feuer austritt, hat er die Schuhe voll braunem Glibber. Buhahaha!

Knapp 15 Jahre später besucht MTV-Rückkehrer Christian Ulmen den Pittiplatschweg in einer Berliner Siedlung. Er leiht sich von Herrn Kirsten ein Feuerzeug, lässt sich von der kleinen Jessica Altpapier bringen, sammelt frischen Kot von Hund Tobby auf, rollt ihn in die Zeitung, zündet sie an, legt sie vor eine Haustür, klingelt, rennt ins Auto, wartet, der Mann kommt raus, schimpft, tritt aber nicht aufs Papier. Ulmens Fahrer gibt Gas. „Experiment missglückt“, sagt Ulmen.

Sendung auch. Viele neue schräge Ideen hat er sich für die neue Show MTV unter Ulmen einfallen lassen: Drei Zuschauer als Randgruppe im Studio. Eine lebensgroße Puppe als Assistentin, der Kopf ein Monitor, auf dem der echte Kopf zu sehen ist. Ein prominenter und ein nicht-prominenter Gast und Ulmen, der tut, als unterhalte er sich mit ihnen. Wer den deutschen Fernsehnachwuchs fördern will, müsste als erstes den Jungmoderatoren verbieten, Harald Schmidt zu sehen. Alles an Ulmen und seinem Viva-Gegenüber Tobi Schlegl, dessen neue Vorabendshow Schlegl, übernehmen Sie! ebenfalls seit dieser Woche läuft, ist Schmidt – nur längst nicht so gut: Wie sie mit der flachen Hand auf den Tisch hauen. Mahnend den Zeigefinger heben. Wie sie die großen Fernseh-Gesten parodieren und gleichzeitig sich selbst. Die Möchtegerne-Schmidts sind weder radikal noch originell. Wenn sie mit „Hallo Publikum, ich liebe Euch alle“ auf die Bühne kommen, ist das keine Parodie mehr auf Gottschalk, sondern nur noch Masche. Sie tun, als würden sie die Gesetze des Fernsehens brechen, dabei sind sie damit längst zum vorhersehbaren, langweiligen Mainstream geworden.

Bei Ulmen entstehen dank seiner Schlagfertigkeit und seines Humors wenigstens noch einzelne große Momente des Schwachsinns. Etwa wenn er seinen Gast aufzählen lässt, aus welchen Filmen er sich seinen persönlichen Best-of-Porno zusammengeschnitten hat, die Redaktion das mit einem Piepston überdeckt und dazu einblendet: „Bitte Ruhe bewahren!“

Schlegl hat zwar die größere Bühne, Live-Musiker und einen so hohen Etat, dass er nicht – wie anscheinend Ulmen – die ausgemusterten Kameras vom Offenen Kanal auftragen muss. Das ist aber auch alles, was man zu Gunsten Schlegls sagen kann.

Das Thema Kiffen war übrigens ein roter Faden in beiden Sendungen. Ist das eine Erklärung?

Big Brother

Süddeutsche Zeitung

Wie es Euch gefällt. „Big Brother“ oder die Frage: Experiment außer Kontrolle?

Früher galten die Deutschen als Talkshow-untaugliches Volk. Anders als die Amerikaner wollten sie nur im Publikum sitzen. Mühsam mussten ihnen Anheizer vor der Sendung einschärfen, dass sie doch bitte ihren Teil sagen sollten. Aufstehen, urteilen. Gern auch unfundiert.

Die Deutschen haben gelernt. Heute reichen ihnen drei widersprüchliche Sätze über eine dubiose Familienfehde, um öffentlich zu urteilen. Bei Birte, Bärbel, Vera sagen täglich Zuschauer anderen Menschen, die sie nie gesehen haben, ins Gesicht, was sie von ihnen halten. Dass sie ihre Männer verlassen sollen. Dass sie zu ihren Männern zurückkehren sollen. Dass sie schlechte Mütter sind. Huren. Dumm.

Als Stefan Raab sich über Regine Zindler und ihren Maschendrahtzaun lustig machte, war sie genau so zum Abschuss frei. Jeder durfte urteilen, vor allem über den Geisteszustand der Frau. Man durfte sie vor ihrem Haus anpöbeln und Stücke aus ihrem Zaun schneiden. Das Fernsehen bescherte uns etwas Neues: Menschen, die es wirklich gibt und die wir scheinbar besser kennen als Frau Meier nebenan. Sie sind real, aber auch Kunstfiguren, weshalb wir auf sie nicht so viel Rücksicht nehmen müssen wie auf Frau Meier, sondern nur so wenig wie zum Beispiel auf Donald Duck. Es gibt keine Distanz mehr, keinen Ab- und keinen Anstand.

Und jetzt Big Brother: Noch mehr Nähe, Urteil, Anmaßung. Vor dem Container standen am Sonntag 5000 Fans, um ihren Stars zuzujubeln. Fans? Stars? Es sind ihre Stars, in jeder Hinsicht. Ohne sie, die Fans, wären sie nichts. Daraus folgt: Sie können mit ihnen machen, was sie wollen. „Manuela, du Schlampe“, stand auf einem Banner. Was für ein Spaß. 4,7 Millionen junge Leute haben Zlatkos Ausscheiden am Bildschirm verfolgt. Bei den 14- bis 29-Jährigen sah nur jeder zweite etwas anderes.

Gefährlich ist nicht, einigen Leuten beim Duschen und Pickelausdrücken zuzuschauen. Gefährlich ist, dass diese Leute zu Spielfiguren werden. Sie haben keine Kontrolle über das, was die Öffentlichkeit aus ihnen macht. Das ist gefährlich für die Kandidaten: Zlatko war vor sechs Wochen ein unbekannter arbeitsloser Schwabe. Als er am Sonntag den Container verließ, war er ein Popstar wie Frau Zindler: Bekannt bei Millionen, gleichzeitig Held und Witzfigur. Vielleicht kann er mit diesem plötzlichen Ruhm umgehen, vielleicht nicht. Es ist auch gefährlich für die Zuschauer, die anhand der Shows lernen können, dass es nur auf eins ankommt: Spaß haben. Nicht auf die, nun ja, Menschenwürde der Betroffenen. „Leb, so wie du dich fühlst“, fordert eine Zeile der Big-Brother-Titelmusik. Das ist nicht der Untergang des Abendlandes. Aber doch gespenstisch, die enthemmten Massen draußen zu sehen und die Kandidaten drinnen, die vergeblich versuchen, sich einen Reim auf das zu machen, was sie da hören. Und zu ahnen, dass die TV-Macher sich im Zweifel für Quote und gegen Deeskalation entscheiden würden. Ein Reiz von Big Brother ist es, dass das Experiment jederzeit außer Kontrolle geraten kann.

Reporterin Sophie Rosentreter war die Erste, die Zlatko mit seinem ironischen Spitznamen The Brain anredete. Moderator Percy Hoven interviewte ihn mit unglaublicher Überheblichkeit. Vielleicht erklärt das, warum sich Menschen mit solcher Begeisterung auf diese neuen Anti-Helden stürzen: Weil man sich über sie unabhängig von eigenen Schwächen lustig machen darf – wenn selbst das dümmste Moderatorenpaar im deutschen Fernsehen sich traut, so auf sie herabzuschauen.

Ernsthaft schräg

Süddeutsche Zeitung

Mit Christian Ulmen kehrt die Satire zu MTV zurück.

Christian Ulmen kehrt zu MTV zurück. Er produziert für den Musiksender in Berlin die Sendung MTV unter Ulmen, die voraussichtlich von Mai an montags und mittwochs um 19 Uhr ausgestrahlt wird. Über den Moderator wollen sich weder Ulmen noch der Sender äußern – seine Identität soll im Rahmen eines Gewinnspiels nach und nach gelüftet werden. Nach SZ-Informationen handelt es sich um einen jungen, schlagfertigen Mann mit Moderationserfahrung und schrägem Humor.

Ulmen, 24 Jahre jung, hat bereits mit 12 Jahren zum ersten Mal im Offenen Kanal Hamburg moderiert; mit seiner Schlagfertigkeit und seinem schrägem Humor gilt er als eines der deutschen Moderationstalente. Bis er vor einem Jahr kündigte, war Ulmen der heimliche Star von MTV und ein Symbol für den Anarchismus, für den der Sender einmal stand. Von April 1998 an moderierte er Alarm, eine Sendung, in der er so intelligent wie sinnfrei mit Prominenten vor einer Schrankwand plauderte. Sie war ein Geheimtipp in der Medienbranche, brachte MTV viel Aufmerksamkeit und Lob ein – aber wenig Zuschauer. MTV-Chefin Christiane zu Salm sagte, Alarm habe praktisch „unter Ausschluss der Öffentlichkeit” stattgefunden; sie warf die Sendung aus dem Programm. In der kreuzbraven Nachmittags-Teenie-Show Live aus Berlin, in der Ulmen dann auftauchte, war er unglücklich. Er verließ den offensichtlich auf Mainstream getrimmten Sender mit einer ironietriefenden Pressemitteilung.

Jetzt, sagt er, habe sich der Kurs geändert. Der neue Programmchef Elmar Giglinger „personifiziert für mich, dass es wieder aufwärts geht und MTV es wirklich ernst meint, wieder schräger zu werden”. Giglinger war vorher Programmchef des kleinen Konkurrenten Viva 2 und hatte mit Ulmen schon damals über eine Sendung verhandelt. In MTV unter Ulmen wird der – noch anonyme – Moderator in einer Art Schaltzentrale sitzen und mit Kameras bekannten und unbekannten Menschen in ihren Wohnungen zusehen. „Voyeurismus halt”, sagt Ulmen.

Satirisch und ironisch sollen das Leben von Stars beleuchtet und das Pop-Geschehen der Woche auf- und abgearbeitet werden. Dafür wird Ulmen die Moderation der Nachmittagssendung Fritzbee des Jugendradios Fritz! aufgeben; stattdessen soll er eine Abendsendung oder die Morningshow moderieren. Weitere Fernsehprojekte auf anderen Sendern sind in Planung – im vergangenen Jahr hat Ulmen mit der Produktionsfirma von Harald Schmidt, Bonito, eine Pilotsendung für eine halbstündige Comedyserie gedreht.

Die Welt versteht uns

Süddeutsche Zeitung

Der Grand Prix – eine kleine, kollektive Wochenendpsychose.

Und so wird also im Mai ein finnischer Fernsehkommentator vor der Herausforderung stehen, seinen Zuschauern erklären zu müssen, was Wadde hadde dudde da heißt, wo da Sinn und Witz drin liegen, und was die Deutschen der Welt damit sagen wollen. Das ist nicht das Schlechteste. Hätte der Schlagersänger Marcel gewonnen, hätten die ausländischen Fernsehkommentatoren ihren Zuschauern übersetzen dürfen, was der nette junge Mann, der in drei Minuten nur zufällig mal den richtigen Ton traf, in Adios mit der Zeile meinte: „Nie war so tief jemand bei mir.“

Stefan Raab also fährt nach Stockholm: der Mann, der das Nicht-Ernstnehmen des Grand Prix ernst nimmt wie kein anderer. Mit einem albernen Lied, einer albernen Riesenbrille, albernen Riesenplateausohlen und einer albernen goldenen Uniform. Von über 1,5 Millionen Anrufern stimmten am Freitag bei der deutschen Vorausscheidung 57 Prozent für ihn. Das ist ein so riesiger Vorsprung, dass gleich die Diskussion wieder begonnen hat, ob man mit Handy, dessen Besitz besonders Raab-Fans zugesprochen wird, leichter durchkam als übers Festnetz. Aber er ist so riesig, dass solche Diskussionen unsinnig sind. Interessanter ist da schon die Frage, ob Wadde hadde dudde da nicht nach Say You’ll Be There von den Spice Girls klingt. Natürlich klingt es frappierend nach den Spice Girls. Man würde sich nicht wundern, wenn Raab eine Plagiatsaufregung einfach mal mit eingeplant hat.

Freitag abend also. Natürlich war es schrecklich. Da stehen diese traurigen hoffnungsvollen Figuren, üben sich in großen Posen und versuchen mit dünnen Stofffetzen von noch dünneren Stimmen abzulenken, vom grausamen Reglement zum Live-Gesang gezwungen. In einem Heim-Video treffen wir Marcel in seinem Wohnzimmer, wo er mit Vater und Mutter Reise nach Jerusalem um ein braunes Ledersofa spielt, (das wir bestimmt bald in TV total bei Raab wiedersehen). Die Lieder decken zwar mehr Musikstile ab als je zuvor, aber in jedem ihrer Heimatsegmente sind sie, wenn es sehr hoch kommt, Mittelmaß. Das meiste ist musikalisch so originell wie eine deutsche Version eines Cher-Hits von Mary Roos. Und am Ende stehen alle zusammen auf der Bühne, singen Thank you for the music von Abba und bei soviel Wir-sind-Konkurrenten-aber-haben-uns-trotzdem-lieb möchte man die Titelzeile schon aus Trotz für Ironie halten. Furchtbar.

Einerseits. Andererseits, mal angenommen, es müsse so etwas geben wie einen europäischen Schlagerwettbewerb. Wie sollte eine Vorentscheidung dann aussehen? Doch so: Mit einem Star, der die Menschen polarisiert und vor den Bildschirm treibt. Mit Verrückten, die ihr Plüsch-Keyboard zertrümmern und sich auf der Bühne wälzen, von einer durch genmanipuliertes Fleisch hervorgerufenen Verwandlung in ein Schwein singend (Knorkator, Platz vier!). Mit anderen Verrückten, die glauben, dieser Wettbewerb sei nachgerade dazu verpflichtet, junge Frauen gewinnen zu lassen, die in schwülstigen Arrangements von etwas Frieden oder ganz viel Gott singen (Corinna May, traf den Ton leider auch nur selten, aber das bombastisch, Platz zwei).

Mit vielen Interpreten, von denen man weiß, dass man nie mehr von ihnen hören wird, und wenn doch, dann nur, bis man den Knopf zum Umschalten gefunden hat (ein Gruseleffekt, der traditionell einer der Hauptgründe war, sich diese Vorentscheidung überhaupt anzusehen). Mit ein, zwei Newcomerbands von den Tausenden, die über die Dörfer ziehen und sehr ordentliche Musik machen, für die der Grand Prix die Chance ist, groß rauszukommen – wie in diesem Jahr für die Hamburger Band Kind of Blue, die den dritten Platz für ihr wirklich sehr schönes Lied Bitter Blue feierte, als wäre es ein erster. Mit einer perfekten Inszenierung. Und mit einem Medienhype, für den der ganze Zirkus überhaupt da ist. So gesehen: eine tolle Veranstaltung.

Das mit dem Keyboard-Zertrümmern fand die Bild am Sonntag in offenbar sehr verzweifelter Suche nach einem Aufmacher an einem stinklangweiligen Wochenende ganz, ganz schlimm. Und auch, dass da einer auf der Bühne geraucht hat. Grand-Prix-Senior Ralph Siegel hat – schon wieder – angekündigt, nie mehr teilnehmen zu wollen. „Ich fürchte, das Ausland lacht sich über uns kaputt“, kommentiert einer, der es wirklich wissen muss: Tony Marshall. Die deutsche Frage, was denn die Welt wieder von uns denken soll.

Ach, Tony: Die Welt, die versteht das schon! Am Freitag erzählte der britische Independent seinen Lesern die ganze Geschichte vom Maschendrahtzaun und bezeichnete Stefan Raab als den Mann, der den Deutschen ihren Sinn für Humor wiedergegeben habe. Womöglich wird Raab im Ausland gar nicht unter-, sondern sogar überschätzt. Aber wenn er doch beim Finale ganz hinten landen sollte, wie Siegel – der dort hinten schon war – prognostiziert, dann wäre das auch nett: Mal gucken, was er dann wieder daraus macht.