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Gaga? Nur äußerlich!

Süddeutsche Zeitung

Hinter ihrer Prolo- und Fäkalfassade ist die Grand Prix Vorauswahl betrüblich bürgerlich.

Fußball ist unser Leben, und der Grand Prix auch. Nicht für dieselben Leute, klar, auch nicht für ganz so viele, aber doch. Der europäische Schlagerwettbewerb ist genau so unendlich wichtig wie eine Europameisterschaft. Und natürlich genau so unendlich egal. Aber erheben sich vor dem Endspiel oder nach einem 0:3 gegen Kroatien mahnende Stimmen, die sagen: „Regt Euch ab, ist doch nur Fußball?“ Also.

Der Grand Prix ist eine ernste Sache. Er ist wichtig, für ein paar Tage wenigstens, viel länger hält die Aufregung beim Fußball auch nicht an. Danach bleiben von der Schande nur noch geseufzte Kurzverweise, wie „Cordoba 1978!“ (Fußballpleite gegen die Ösis) oder „Berti 1998!“ (Fußballpleite bei den Franzosen) oder „Dublin 1995!“ (Grand Prix-Pleite bei den Iren). So ist das. Es mag ganz großartig sein, wenn Stefan Raab „für Deutschland“ singt. Oder ganz furchtbar. Nur egal ist es nicht, was heute abend so beim deutschen Countdown (20.15 Uhr, ARD) passiert. „Die Politik stellt sich selbst eine Bankrott-Erklärung aus, und wir schicken dann zu allem Überfluss womöglich noch Herrn Raab nach Stockholm“, schreibt einer vorab im Internet ins Gästebuch des Grand-Prix-Fanclubs, sowie den bemerkenswerten Satz: „Als ob die Deutschen in ihrer Geschichte nicht schon genug Schlimmes erlebt hätten . . .“

So schlimm wie dieses Jahr war’s noch nie. Aber das war schon immer so. 1995 wegen Stone & Stone, die später exakt einen Punkt bekamen. 1998 wegen Guildo Horn. 1999 wegen nicht mal Guildo Horn. Seit der MDR 1994 drei Babyhupfdohlen namens Mekado nominierte, die „Wir geben ’ne Party“ trällerten, ist es für Deutschland und den Grand Prix überhaupt schwer geworden, so schlimm zu sein wie noch nie. Bild aber hat die diesjährige Vorentscheidung schon zum „Gaga-Grand-Prix“ erklärt. Also ist es, wenn schon nicht schlechter, wenigstens anders als je zuvor. Stimmt, sagt Jürgen Meier-Beer, Leiter der TV-Unterhaltung beim NDR und Grand-Prix-Beauftragter der ARD. Anders, weil die Titel bis vor einer Woche nicht gespielt werden durften. Deshalb habe niemand über die Musik schreiben können, sondern alle nur über das Image der Beteiligten.

Auftritt Knorkator, fäkalverliebtes Trio mit tätowierter Haut. Auftritt Lotto King Karl, angeblicher Hamburger Aufsteiger Vom-Gabelstaplermonteur-zum-Millionär mit eigentlich unerklärlicher Mediendauerpräsenz. Auftritt Stefan Raab, Profi-Provokateur und Komponist von „Guildo hat Euch lieb“. Auftritt Fancy, aus den 80er Jahren gefallener „King of Disco-Fox“. Auftritt E-Rotic, großbusige Blondinentruppe („Greatest Tits“). Gaga? Keine Frage. Äußerlich.

Dann singen sie, und man wünschte sich, sie wären wirklich Gaga. Aber Fancy hat jemand ein Stück geschrieben, das sich anhört, als sänge die Fußballnationalmannschaft „Go West“. Lotto King Karl erinnert daran, dass man für Geld nicht alles kaufen kann, besonders keine Stimme. Stefan Raab beherrscht als viel beschäftigter Medienprofi das Gesetz der Aufwandsminimierung und hat sich mit einem durchschnittlichen Ritt auf der aktuellen Earth-Wind-and-Fire-leben-doch-noch-Welle beschränkt. Und bei Knorkators „Ick werd‘ zun Schwein“ wollte einer ein bisschen auf Ramstein machen, nun klingt das Ganze noch dümmer als das Original. Dass Bernd Meinunger und Ralph Siegel („Ein bisschen Frieden“) ihnen Talent und Können bescheinigen, muss dazu kein Widerspruch sein. Die Lieder sind furchtbar peinlich oder furchtbar eingängig, meist aber furchtbar belanglos. Und das ist doch eigentlich das, was man von einer deutschen Vorentscheidung zum Grand Prix erwartet – neben Meldungen wie der in der Schlager-Prawda Bild, dass Siegel den Proben in Bremen zeitweise wegen einer Diarrhö fern bleiben musste.

Allerdings ist nur ein echter deutscher Schlager dabei: Marcel, der tapfer versucht, bei seinem Refrain „A-a-a-adios, u-u-u-mon-amour“ ernst zu bleiben. Meier-Beer ist stolz: „Endlich bilden wir das Spektrum der Musik einigermaßen ab.“ Mit Ausnahme des Hip Hop. Eingereicht werden die Titel von den Plattenfirmen. Die meisten Beiträge sprechen dafür, dass dort ein Praktikant mal eben das Demotape seines besten Freundes weiter geleitet hat. Das ist aber gar nicht so. „Das ist in jeder Firma Chefsache“, sagt Meier-Beer: „Wenn ein Titel floppt, sind die blamiert.“ Und dass die Künstler, äh, Teilnehmer in diesem Jahr versuchen, sich mit zur Schau gestellter Gleichgültigkeit zu überbieten, sollte man ihnen nicht abnehmen: „Die haben alle Riesenschiss, nicht zu gewinnen.“ Was wiederum unnötig wäre, weil doch vor zwei Jahren Rosenstolz und Die drei Tenöre nur zweite und dritte wurden, aber hinterher viel mehr Platten verkauften als der große Sieger Guildo Horn.

Knorkator haben übrigens gestreut, sie würden bei ihrem Auftritt in Bremen auf der Bühne onanieren – aber so ein Gerücht reicht inzwischen auch nicht mehr für eine Meldung auf der ersten Seite im Boulevard. Wer heute abend einschaltet, um einen Skandal zu sehen, diesen oder einen anderen, wird enttäuscht.

Kann Spannung Sünde sein?

Süddeutsche Zeitung

„Wer wird Millionär?“ ist ein Erfolg und hat es verdient.

Die gute Nachricht zuerst: Wegen Wer wird Millionär? muss kein Mensch in der Hölle schmoren. Günther Jauch nicht, die Kandidaten nicht und die Zuschauer auch nicht. Denn das Erfolgsgeheimnis der Sendung ist nicht, wie der Spiegel vermutet, Gier. Es ist die Spannung. Und Spannung ist keine Todsünde. Glück gehabt.

Ein Kandidat bekommt 15 Fragen mit je vier Antwortmöglichkeiten. Jede richtige Antwort verdoppelt seinen Gewinn. Bei einer falschen verliert er fast alles. Er kann jederzeit aussteigen. Simples Konzept. Wollte kein Sender haben. Deshalb packte Paul Smith, Chef der britischen Produktionsfirma Celador, die es sich ausgedacht hatte, zum x-ten Termin bei einem Senderchef vier Briefumschläge ein. Mit 250, 500, 1000 und 2000 Pfund und je einer Frage. Die erste: Was machen Aborigines mit Wurleys? Essen? Damit jagen? Damit spielen? Darin leben? Der Senderchef stieg schon bei 500 Pfund aus: Gier trieb ihn nicht. Aber die Spannung hatte ihn sofort gepackt. Er nahm die Show.

In England ist sie der Renner. In den USA (wo sie schon zwei Millionäre schuf) schlägt sie die beliebteste Sitcom Frasier. Sie läuft in Südafrika, Russland und fast ganz Europa. Bei RTL haben am Montag über zwölf Millionen Menschen die bis zum Frühsommer letzte Folge gesehen. Das ist phänomenal.

Wer wird Millionär? funktioniert wie ein klassischer Filmthriller. Es geht um Dramaturgie, Suspense: Die meisten Zuschauer werden einen erhöhten Puls gehabt haben. Musik mit Herzschlag. Lichteffekte, aber im entscheidenden Moment ist alles dunkel bis auf die Gesichter der Protagonisten. Ein Held, mit dem man sich identifizieren kann. Wie beim Thriller wollen die Zuschauer ihm zurufen: Geh‘ nicht da lang! Weil sie wissen, dass am Ende des Gangs die Gefahr droht. Oder es auch nur vermuten. Der Gang aber hat eine Wendung mehr, als wir vermuten; vor der erlösenden Entscheidung liegt immer noch ein Umweg. Genauso zögert Jauch die Auflösung immer weiter hinaus.

Und natürlich geht es bei dem Helden im Thriller nicht um Zweimarkfuffzig oder eine Schürfwunde, sondern um Alles oder Nichts. Deshalb muss es auch bei dieser Show um ganz viel Geld gehen, also am besten gleich um eine ganze Million.

Es gibt wenige Erfolge, die man RTL uneingeschränkt gönnen kann. Dieser gehört dazu. Am Ende der vorläufig letzten Folge sagte Jauch, in den Gesichtern der Kandidaten habe man „menschliche Leidenschaften gesehen, Abgründe, die sich offenbaren, Hoffnung, Glück, Dramatik, Trauer, Zuversicht, alles, was das Leben zu bieten hat“. Das ist ein Werbesatz und doch wahr, denn natürlich geht es auch um Voyeurismus. Andere Shows bedienen ihn mit 100 Tagen in Quarantäne und lebensgefährlichen Stunts. Es funktioniert auch mit 15 Fragen. Allein für diesen Beweis muss man Wer wird Millionär? mögen.

Die schlechte Nachricht zum Schluss: Die Nachahmer, die jetzt kommen, werden sich nicht auf Spannung allein verlassen. In den USA gibt es schon den verschärften Nachfolger, der auch an die Instinkte des Menschen appelliert, aber vor allem an niedere. Der Nachfolger heißt Gier.

P.S.: Wurleys heißen die Hütten der Aborigines.

„Scheitern ist meine Welt“

Süddeutsche Zeitung

Herbert Feuerstein über sein „Morgengrauen“ an Silvester.

„Genug gefeiert, jetzt folgen tausend Jahre Kater“, sagt Herbert Feuerstein am Neujahrsmorgen. Von 0.30 bis 6 Uhr ernüchtert er die Menschheit: live im WDR-Fernsehen unter dem durchaus programmatisch zu verstehenden Titel „Feuersteins Morgengrauen“.

SZ: Herr Feuerstein, Sie haben keine Chance.

Feuerstein: Wieso?

Während Sie granteln und grübeln, läuft im MDR „Musik zum Tanzen“, auf N3 „Disco Inferno“ und auf Sat.1 „Jetzt geht die Party richtig los – das Beste aus Elmis witziger Oldie-Show“!

Ach, ich bin es gewohnt, für mich und ein paar Tiere zu senden. Andererseits glaube ich nicht, dass ich alleine bin mit meinem Mangel an Glücksgenen. Es ist ja nicht so, dass ich sauertöpfisch ins neue Jahrtausend gehen und Leute mit runterziehen will. Aber für mich ist das Normalität: Ich grüble jeden Morgen über Existenz und Sinn des Daseins nach. Andere offenbar auch: Massenhaft werden Millenniums-Reisen abgesagt, im Supermarkt sieht man mehr und mehr Leute, die Einkaufswagen voller Nudeln und Orangensäften schieben, weil sie mit dem Weltende rechnen. Die werden da sein, um halb zwölf nach Hause gehen und warten. Und dann werden sie erleichtert sein, wenn nichts passiert ist.

Und um halb eins, wenn Sie anfangen, liegen sie im Bett oder sind besoffen.

Nichts dagegen, solange sie nur zuschauen. Man macht und hofft, dass es einer guckt. Wenn niemand guckt, kann man auch nichts machen. Ich sehe mich ein bisschen als Hüter einer aussterbenden Gattung: der Live- Sendung. Ich finde es spannend, nicht zu wissen, wo es hingeht. Nach einer Stunde verlierst du den Boden — dann wird’s interessant.

Und der WDR war sofort begeistert von der Idee?

Sie glauben nicht, wie hart wir dafür gekämpft haben. Die wenigen Sachen, die mir Spaß machen, unterzubringen, war und ist immer eine Heidenarbeit. Als wir das Konzept Anfang des Jahres vorlegten, wurde es abgeschmettert. Ende des Jahres haben die dann gemerkt, dass in all der Feierei vielleicht eine Farbe fehlen könnte. Als ich mich dann vorsichtig wieder meldete, hieß es: Ja, toll, wir haben eh kein Geld, dann können wir so was ja machen. Deshalb sitze ich die ganze Sendung im Büro von Intendant Fritz Pleitgen. Jeder andere Ort hätte werweißwas gekostet, für Umbau und so. Und Pleitgen hat eben Vertrauen in mich — naja, in wen sonst? Das Einzige, was er gemacht hat: Er hat an der Wand ein ganz teures Bild — ich glaube, das ist die Grundlage, dass der WDR Kredite kriegt, — das wird abgehängt, aus Versicherungsgründen.

Und er ahnt nicht, dass Sie sein Büro verwüsten könnten?

Das mit dem Verwüsten dürfen Sie nicht mal andeuten, sonst rückt er den Schlüssel nicht raus … Ich werde das Büro pfleglich behandeln. Er wird es mir selbst übergeben. Um halb eins schließ ich mich da oben ein. Auf dem Dach ist ein klassischer Gitarrist. Ich stelle mir das einfach schön vor: wie er da oben steht. Vor dem Kölner Dom. Bei minus vier Grad. Und die Finger nicht bewegen kann. Das ist Kunst. Kunst kommt nicht von Können. Kunst ist Versuchen und Scheitern. Das ist meine Welt. Wir machen Verbindungen mit Bild-Telefon und gucken in fremde Fenster; die Leute können faxen, anrufen und mailen. Wir schalten zu Korrespondenten, Zukunftsforschern und Philosophen. Wir haben eine Feng-Shui-Frau, die uns sagt, wie wir das neue WDR-Gebäude umbauen müssen, damit das Programm besser wird.

Und Ihr Fernseh-Hund Billy?

Der kann wie viele Hunde die Knallerei nicht ab. Ich hab mich nach Ohrstöpseln erkundigt, aber das mögen die Hunde nicht so gern. Als Alternative hatte ich gefragt, ob Fritz Pleitgen seinen Hund hergibt, aber der will auch nicht. Ich werde also zu Billy eine Bildtelefonschaltung machen und ihm einen Geruchsbrief schicken.

Einen Geruchsbrief.

Ja. Man kann ein Papier einen Tag lang in die Unterwäsche schieben und dem Hund schicken. Der wird verrückt vor Freude und frisst den Brief.

Hm.

Sie brauchen da gar nicht zu muffeln, Sie kriegen den Brief ja nicht! Wenn Sie dem Hund regelmäßig so was schicken, wartet der schon am Briefschlitz. Frauen machen so was nicht.

Jedenfalls wird Feuersteins Morgengrauen ganz schön schräg, oder?

Ich habe noch nie was Schräges gemacht, sondern immer das, was mir ein Bedürfnis ist. Naja, meistens wenigstens. Ich möchte Sachen machen, die nicht langweilig sind, neu sind, Anstöße geben. Ich versuche, den kleinen Vorteil, den man als Älterer hat, zu nutzen, und bohre, dass man den Versuch nicht aufgibt, im Fernsehen ein paar neue Nischen zu öffnen. Das ist so selten geworden!

Was haben Sie in anderen Jahren an Silvester gemacht?

Ich habe mich eingeschlossen und die Steuern gemacht.

Ernsthaft?

Ja, ich bin ganz ungeeignet zum Feiern. Ich bin zu depressiv. Ich spüre den allgemeinen Freudendruck, der auf der Menschheit lastet. Dieser Freudenschleim dringt dann durch Tür und Schlüsselloch und erstickt mich und macht mich ganz traurig, weil ich merke: Ich bin ein Außenseiter, ich kann da nicht mitmachen. Nur das Steuernzahlen tröstet mich.

Und nun das Wetter

Süddeutsche Zeitung

Es wird wärmer und menschlicher zwischen Azorenhoch und Blumenkohlwolken: Wie die Vorhersage durch das Privatfernsehen erst verständlich und dann Show wurde.

Die Geschichte des Deutschen Fernsehens lässt sich einteilen in Zeiten mit und ohne Frontensysteme. Deshalb können junge Menschen heute mit so vielen Begriffen nichts mehr anfangen. Subpolare Luftmassen. Ausläufer eines Azorenhochs, die in den nächsten Tagen wetterbestimmend wirken. Nordflanken, auf denen der Zustrom milder Meeresluft nach Mitteleuropa anhält. Oder das Wort „örtlich“, dessen Rolle in der deutschen Sprache sich weitgehend darauf beschränkte, die „Nebelfelder“ zu begleiten, mit denen zu rechnen war. Bis in die 90-er Jahre hielt der Zustrom endloser Sätze mit Substantivmassen an und wirkte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wetterberichtsbestimmend. Dann kam das Privatfernsehen und machte aus Frontensystemen eine aussterbende Art.

Dabei taugte schon die öffentlich-rechtliche Wetter-Geschichte für Revolutionen. 1977 hörte die ARD auf, das Wetter für Deutschland in den Grenzen von 1937 vorauszusagen. Bereits 1969 durfte Dr. Karla Wege im ZDF zunächst vor Pappen auf einer Stafette und später drei drehbaren Tetraedern den Wetterbericht präsentieren – zwei Jahre vor der ersten Nachrichtensprecherin.

Die Vorhersagen entsprachen den Prototypen öffentlich-rechtlicher Informationsvermittlung: Als staatstragender, höchst korrekter, überaus unverständlicher Bericht im Ersten. Oder als didaktischer Vortrag im Zweiten. Dr. Karla Wege und Dr. Uwe Wesp standen noch mit Zeige-Stöcken vor den Karten. Dass sie Wolken und Luftdrucklinien nicht erst in der Sendung aufmalten wie ein Lehrer, lag nur daran, dass die Kreide zu sehr gequietscht hätte, sagt Wesp.

Auch bei den Privaten spiegelt sich im Wetterbericht ihr grundsätzliches Prinzip: Entweder ganz schnell und knapp. Oder ausführlich, aber dann als Show. Bei Sat 1 turnte zeitweise ein glatzköpfiger Komiker namens Manfred Erwe, der heute für Lockenwickler wirbt, auf einer dreidimensionalen Karte herum. Dass er schneller in Vergessenheit geriet als alle wetterbestimmend wirkenden Tiefausläufer in der ARD, lag nach Meinung von Jörg Kachelmann aber eher daran, dass die Prognose so selten stimmte.

Uwe Wesp ist heute Sprecher des Deutschen Wetterdienstes, der auch Privatsender mit maßgeschneiderten Vorhersagen beliefert. „Bei den Öffentlich-Rechtlichen wird der Wetterbericht immer noch meist als Nachricht verpackt“, sagt er, und dafür gebe es gute Gründe. Mit einer Show komme man schnell in Schwierigkeiten: Wenn nämlich die Wetterlage, über die der Präsentator am Vortag Faxen gemacht hat, zu bösen Schäden führt, vielleicht Menschenleben kostet. Wetter ist eine ernste Sache.

Dass der Wetterbericht heute verständlicher ist, liegt nach Ansicht von Wesp vor allem an der Technik: Satellitenfilme, bunte Temperaturverläufe, computeranimierte Regenfälle. Die private Konkurrenz, die das Wetter als attraktives Zugpferd entdeckte, habe die Sache nur beschleunigt. Auch wenn es den Wettermann schmerzt, der den Menschen gern etwas beibringen würde: „Ob Hoch oder Tief ist den Leuten völlig schnurz, die wollen wissen, wie das Wetter wird.“

Kollege Kachelmann, Martin Luther der Wetterkarte im Ersten, sieht seine Arbeit überhaupt nicht durch die Privaten angestoßen. Aber ohne sie hätte er es vor fünf Jahren nicht — gegen den Widerstand des Jahrzehnte langen Wetterverwalters Hessischer Rundfunk — bis vor die „Tagesschau“ geschafft mit seiner flapsigen Form. „Das war die Revolution, aber wir haben`s nicht gewusst“, sagt er. Kalkuliert war nichts. Er brachte einfach seine „gesunde Grundvulgarität“ mit. Wobei revolutionär weniger die vielzitierten „Blumenkohlwolken“ waren. Kachelmann sprach erstmals davon, dass es „kälter“ wird, und nicht von einem „Temperaturrückgang“. Und er schaffte die Niederschläge ab. Niederschläge! „Geregnet“ hat’s früher nie.

Heute wird sogar geflogen im Ersten. Mal von Erfurt nach Stuttgart, mal von Rostock nach Nürnberg führt ein Trickfilm unter Wolken oder Hagel hindurch. „Grotesk“ findet Kachelmann das, weil es nicht aussieht, wie ein Flug aussehen würde, und der Nutzen für den Zuschauer im Neblig-Trüben bleibt.

Aber es ist bunt und unterhaltsam und gelegentlich fliegt die Animation da vorbei, wo der Zuschauer zu Hause ist. Auch beim Wetter bedeutet „Quote“ nicht mehr nur die Trefferwahrscheinlichkeit bei der Vorhersage.

Bastian Pastewka

Süddeutsche Zeitung

Der Große mit dem warmen Bruder.
Deutschland lacht – Bastian Pastewka, ein stiller Star in einem lauten Gewerbe. Heute startet „Brisko’s Jahrhundert-Show“.

Wenn einer, so lange er denken kann, das Fernsehen als besten Freund hatte, weil es „immer das Beste war, was es gab“, er mittwochs nicht schlafen konnte aus Sorge, donnerstags Sindbad der Seefahrer zu verpassen, er heimlich bei der Oma Aktenzeichen XY guckte und sich an die ARD-Kindersendung Spaß am Montag erinnert, wenn einer vier Videorekorder hat, um das Nachtprogramm zu konservieren, dann ist es für einen erst 27-Jährigen ein großer Tag – wenn Wetten dass . . .? anruft!

Zum Glück passierte das bei Bastian Pastewka erst kurz vor der Sendung, so dass er nicht viel Zeit hatte, Freunde und Kollegen vor Aufregung in den Wahnsinn zu treiben. Aber da für Leute wie ihn eine Unterhaltungssendung nicht nur eine wichtige, sondern auch eine ernste Sache ist, hüpfte Pastewka, längst mehr als ein Nachwuchs-Komiker aus der Sat 1-Wochenshow, natürlich nicht einfach aufgeregt neben Gottschalk aufs Sofa. Es sollte unterhaltsam und überraschend und passend sein. Eine eigene Wette vom Wettpaten, das hatte es noch nie gegeben. Gemeinsam mit der Redaktion überlegte er, wie man das so machen könnte, dass es nicht aussehen würde wie ein Fake.

Er wettet also, dass er 40 Titel der Kinderkrimis Die drei ??? auswendig kann – und gewinnt. Nicht nur die Wette. Gottschalk fragt eingangs: „Hat der junge Mann schon Wetten-dass-Größe?“ Später titelt die B.Z: „Wenn Gottschalk ehrlich ist, dann hat ihm dieser junge Mann die Show gestohlen“. Das findet Pastewka nicht korrekt, weil es eine unzulässige Zuspitzung sei, um Aufmerksamkeit auf einen Artikel zu lenken. Ein Gefühl für Gerechtigkeit hat er auch noch.

Die Leute von Wetten dass . . .? wollten, dass er den Brisko Schneider gibt, seine populärste Figur. Das hat er abgelehnt. Weil ein Auftritt als Kunstfigur „rätselhaft“ sei. Weil Brisko als Zugabe lustiger sei. Und weil Brisko neben realen Menschen verpuffe. Pastewka ist einer, der ganz viel reflektiert. Die Fernsehbranche handelt ihn als eines der größten Talente der letzten Jahre. Oberflächlich besteht dieses Talent aus einem unerschöpflichen Repertoire unglaublich dämlicher Gesichtsausdrücke. Weniger oberflächlich aus der Fähigkeit, verschiedensten Figuren in der Wochenshow in drei Minuten gleichzeitig Tiefe, Glaubwürdigkeit und Witz zu geben. Es ist keine Parodie; es ist, wie Pastewka sagt, „eher der Mensch, den man erkennt, ohne ihn zu kennen“. Ein Stereotyp, dem er das Gefühl nimmt, es schon zu oft gesehen zu haben. Wie Ottmar Zittlau, ein unangenehmer, aber harmloser Typ im Trainingsanzug, scheinbar einem Daily Talk entsprungen, mit sonnigem Gemüt. Oder Brisko Schneider. Brisko ist nicht seine beste Rolle. Aber was wäre Pastewka ohne ihn? Noch nicht der neben Anke Engelke beliebteste TV-Komiker.

Eigentlich gibt es Brisko nur wegen Ingolf Lücks großen Füßen. Der wollte eine Lilo-Wanders-Parodie machen, was daran scheiterte, dass es keine Stöckelschuhe in 47 gibt. Das ist Lücks Erklärung, die Pastewka diplomatisch, wie es seine Art ist, die „inoffizielle Version“ nennt. Tatsächlich sei bei den Wanders-Proben deutlich geworden, dass die Rolle anders besetzt werden müsse. Und weil die Wochenshow gerade auf eine Stunde verlängert worden war, habe man entschieden, stattdessen eine ganze Erotik-Sendung-Parodie namens Sex-TV einzuführen. Moderiert wird sie von einem Mann mit festgegelter Playmobil-Männchen-Frisur in zu enger Kleidung, die seine Arme wie Strohhalme erscheinen lassen, die an den Gelenken nur im 90-Grad-Winkel abknicken können und deshalb ausladend herumwirbeln. Brisko kann eine einzige Silbe über drei Oktaven ziehen. Eine siedende Mischung aus Verklemmtheit und Erotik.

Und ein Phänomen. Er sagt „Hallo, liebe Liebenden“, und das Volk tobt. Brisko ist eine Variante des uralten Tunten-Klischees aus Warmbadetag- und Mikrofon-Ständer-Witzen, erweitert um innovative Elemente wie große Tollpatschigkeit und röchelndes „Hähähä“-Lachen. Das führt erstaunlicherweise dazu, dass die Massen nicht nur über ihn lachen, sondern sogar mit ihm. Pastewka sagt nüchtern: „Briskos kindliche Naivität und seine Lust am Ausprobieren, mit der er scheitert, sind ein System, das viele Figuren sympathisch macht.“

Jetzt bekommt er auf Sat 1 eine Serie. Brisko’s Jahrhundert-Show, ab heute Abend sechsmal. Pastewka dementiert schon im Voraus den Verdacht, der Sender könnte ihn zum Einsatz seiner Kultfigur zwangsverpflichtet haben: „Mich hat niemand überredet.“ Und nein, er habe Brisko nicht über. Und grundsätzlich: „Es zieht mich keiner in eine Richtung, in die ich nicht will.“ Sat 1 fragte: Was machen wir mit Pastewka? Antwort: die Parodie eines Jahrhundertrückblicks. Pastewka sagte: Das ist was für Brisko. Weil noch so schöne Elemente nicht funktionieren ohne einen dramaturgischen Rahmen. Um den zu spannen, sei Brisko die optimale Figur. Soweit der Theoretiker. In der Praxis ist es eine große Last für eine Figur, die Pastewka zwar atemberaubend perfekt verkörpert, deren Tiefe aber bislang aus kaum mehr als einem Schwulenwitz bestand und nur für Fünf-Minuten-Sketche reichen musste.

Singend treibt Pastewka diesen Brisko in der Jahrhundert-Show dennoch zu neuen Höhen, mit einer Version von Queens „Bohemian Rhapsody“ etwa. In Filmen verwandelt er sich in Christo, Peter Alexander und Freud, parodiert Dalli Dalli und den Internationalen Frühschoppen. Opulent, mit Liebe fürs Detail. Nur die Drehbücher, die sind mau. Ein hungriger Hitler, der Deutschländerwürstchen braucht? Puh!

Die Serie ist Pastewkas Chance zu zeigen, was er kann. Auf den Titel der Hörzu hat sie ihn schon gebracht. Der ersten Zeitschrift, die er in seinem Leben gelesen hat! Er ist da, wo er immer hin wollte: „Ich sage nicht: Was für ein Zufall, dass es mich getroffen hat. Ich habe dieses Ziel viel zu kompromisslos verfolgt!“ Seine ersten Komik-Versuche unternahm er mit Bonner Freunden. Sie spielten vor 20 Leuten; der Sprit war teurer als die Gage. Er studierte Geschichte und Pädagogik, mit der vagen Aussicht, Museumspädagoge zu werden – aber damit lege man sich ja mehr fest als mit drei Jahren Brisko. Er war Komiker in der WDR-Jugendsendung Lollo Rosso, was seine Bewerbung für die Wochenshow wurde. Heute hat er im Ensemble die bequemste Position: Weder von Boulevard-Hysterie überrollt wie Anke Engelke. Noch ungnädig übersehen wie Ingolf Lück und Markus Maria Profitlich.

Einer wie Pastewka ist in solchen Zeiten zufrieden, aber nicht euphorisch. Auch nicht, wenn er erfährt, dass er eine eigene Show bekommt: „Ich bin keiner, der sofort ausrastet. Ich bin ein ewiger Skeptiker. Bevor die Kiste nicht durch ist, glaub ich nicht, dass sie läuft.“ Kollegen erzählen, dass sich Pastewka manchmal lange, lange in sein Büro zurückzieht, kaum ansprechbar. Er ist 1,90 Meter groß, aber er wirkt nicht so. Nicht dass er sich duckt. Aber selbst als Mittelpunkt steht er da wie eine Nebenperson. Sympathisch, aber distanziert, vorsichtig. Im Gespräch kein kritischer Halbsatz über Sat 1, seinen Arbeitgeber Brainpool oder die Last mit Brisko.

Parallel zur Wochenshow hat Pastewka die neue Reihe entwickelt, gedreht und promotet. Das schlaucht, das ist nicht das entspannte Leben eines Promis, das man sich so vorstellt. „Stimmt“, sagt Pastewka: „Aber ich bin jemand, der es schön findet, jeden Tag mit geregelten Arbeitszeiten irgendwo hin fahren zu müssen.“ Die große Samstagabend-Show, für die er eingeflogen wird, sei nicht sein Traum: „Ich wünsche mir lieber ein schönes kleines Projekt, das lange währt, an dem man basteln kann. Ich bin Ausbesserer, Sachbearbeiter.“

Das mit dem „Promi“ will ihm nicht in den Kopf. Rückblickend findet er keinen Moment, an dem ihm klar wurde, dass mit Wochenshow plötzlich die Post abging: „Es gab nie einen Punkt, wo man sagen konnte: Jetzt bist du berühmt. Das möchte ich mir auch so lange wie möglich erhalten. Weil ich in erster Linie für eine Sendung arbeiten und nicht ein öffentliches Interesse wecken oder befriedigen will.“ Sagt er, und fügt statt des üblichen „ein Stück weit“, das seine Sätze sonst immer relativiert, ein „ganz ehrlich“ hinzu.

Gerhard Zeiler

Max

Der Stratege. Vor neun Monaten übernahm er das Ruder bei RTL. Seither hat
Gerhard Zeiler viele unpopuläre Entscheidungen getroffen. Notfalls gegen
die eigene Mannschaft. Gibt der Erfolg ihm recht?

Notfalls reicht ihm eine Tischdecke, um seine Qualifikation nachzuweisen. Er räumt das Geschirr ganz an den Rand, greift sich einen Löffel und malt damit ein Diagramm seiner Erfahrungen auf das weiße Linnen. Oben steht ein Kasten für den Aufsichtsratsposten beim ORF. Darunter zwei weitere – einer für die Zeit, als er rechte Hand des Intendanten war, und einer für die Zeit als Chef selbst. Und dann noch je ein Kasten für die komplette Umwandlung von Tele 5 und den Aufbau von RTL 2.

Das, sagt Gerhard Zeiler und umkastet seinen unsichtbaren Karriereturm, das sei das Know-how, das er sich erarbeitet habe.

Fast beiläufig beweist er mit dem Teelöffel, daß er für seinen neuen Job als Geschäftsführer von RTL geeignet ist wie kein zweiter. Mit der Ausstrahlung von einem, der meint, daß die Fakten für sich sprechen. Was ist das Geheimnis seines Erfolgs? Zeiler fällt sofort eine Antwort ein. Aber er ziert sich. Er weiß, diesen Satz würde ihm die Presse ewig anhängen. Schließlich sagt er ihn, aber er sagt ihn nur in der Vergangenheitsform. Früher, da hätte er geantwortet: „Ich bin einfach gut.“ Heute klingt das so: „Eine Mischung aus Erfahrung, Instinkt und Managerial Abilities.“

Von seinen Manager-Qualitäten sind nicht alle so überzeugt wie er. Im November vergangenen Jahres wurde Zeiler, 44, RTL-Chef. Seit dem Frühjahr weht ihm der Wind voll ins Gesicht. Mitarbeiter erzählen genüßlich, daß ihnen ein paar Fehler nie passiert wären. Zum Beispiel „Veronas Welt“ auf den Samstag legen? Ha! Das hätte man wissen müssen, daß die gegen die „Wochenshow“ nicht ankommen kann! Dann ist da noch sein Vorgänger Helmut Thoma. Eine Legende, bei RTL und im deutschen Fernsehen überhaupt. Wurde aber mit sanfter Gewalt von seinem Stuhl entfernt. Den Verlust kompensiert er mit regelmäßigen Interviews, in denen ergebetsmühlenartig wiederholt, daß sein Nachfolger sich überschätze: „ein Abteilungsleiter“.

Hat Zeiler mit soviel Gegenwind gerechnet? Ja, sagt er. Ärgert es ihn? Ja. Trotzdem.

Gesprächstermin im „Peninsula“, einem noblen Hotel an der Fifth Avenue in New York. Zeiler kommt gerade aus Hollywood, wo er auf einer großen TV-Messe, den May Screenings, nach neuen Programmen Ausschau gehalten hat. Auf dem Rückweg macht er in New York Halt für ein paar Geschäftstreffen. Jetzt sitzt er vor seinem Bircher-Müesli (testweise, um zu sehen, ob die Amis das hinkriegen), malt mit einem Teelöffel auf der Tischdecke herum und versucht, trotz Rückflugtermins im Nacken, den Eindruck zu vermeiden, er sei einer dieser Menschen, die ihre Zeit nicht in den Griff bekommen. So viel wie jetzt wolle er nur im ersten RTL-Jahr arbeiten. „So ein Pensum jahrelang zu leisten scheint mir etwas übertrieben zu sein“, formuliert er vorsichtig. Zwei Abende in der Woche und einen Tag am Wochenende, das hat er seiner Frau versprochen, will er für die Familie reservieren. Meist klappt das, sagt er. Muß auch. „Wenn einer keine Zeit für sich und seine Familie aufbringt, organisiert er sich falsch und ist nicht geeignet für seinen Job.“

Aber das erste Jahr ist hart. Er muß den Laden und seine Leute kennenlernen. „Wenn man sich in kürzester Zeit ein perfektes Gesamtbild des Unternehmens machen will, muß man sehr tief rein“, sagt Zeiler. Deshalb beschäftigt er sich nicht nur mit den großen Strategien, sondern auch mit dem Tagesgeschäft. Das bringt Detailkenntnisse. Und die spielen eine große Rolle im System Zeiler. Sie helfen ihm, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Aber sie helfen vor allem auch, sie durchzusetzen. Detailkenntnisse bedeuten Macht.

Das wußte er schon mit 30, als er Generalsekretär des ORF wurde – engster Mitarbeiter des Generalintendanten, zuständig für Personal, Organisation, Marketing, innere Revision und vieles mehr. Drei Wochen nahm sich Zeiler, um Aktenberge aus acht Jahren durchzuarbeiten, die sein Vorgänger hinterlassen hatte. „Danach wußte ich mehr als der größte Teil des Managements. Das war eine notwendige Voraussetzung, um Dinge umzusetzen.“ Zeiler verläßt sich gern auf sich selbst.

So erledigt er, bis das erste RTL-Jahr rum ist, auch den zweitwichtigsten Job im Haus: den des Programmdirektors. Das ist gewagt. Seine Vorgänger Thoma und Mark Conrad waren ausgelastet. Und ausgerechnet Programmkenntnisse gelten als Zeilers schwacher Punkt. Doch seine Möglichkeiten, selbst zu gestalten, sind zur Zeit ohnehin begrenzt: Die Puzzlestücke, aus denen er das RTL-Programm baut, hat Thoma noch angeschafft. Zeiler kann sie höchstens neu zusammensetzen. Bis die eigenen Stücke fertig sind, vergehen bis zu eineinhalb Jahre. Im Herbst gibt es eine andere Verpackung für das Puzzle: neue Werbeagentur, neue Kampagnen.

Vor Mitte 2000 könne eigentlich niemand beurteilen, was Zeiler bringe, sagt sein Gegenüber von Sat. 1, Fred Kogel. Fernsehen ist ein langfristiges Geschäft. Zeiler erzählt, was ihm ein guter Freund sagte: „Den Titel hast du am ersten Tag. Daß die Außenwelt weiß, daß du ihn hast, kannst du in einem halben Jahr schaffen. Daß jeder Mitarbeiter dich als Geschäftsführer akzeptiert, dauert mindestens ein Jahr. Bis du selber weißt, du hast alles unter Kontrolle, vergehen vielleicht eineinhalb.“

Zur Zeit ist der Neue in der Phase, in der er im Haus noch um Vertrauen buhlen muß. Auf der oberen und mittleren Ebene ist die Stimmung nicht besonders. Teils, weil die Mitarbeiter gerne genauer wüßten, wohin die Reise geht. Teils, weil sie nicht sicher sind, ob sie mitreisen dürfen.

Zeiler erzählt gerne, er habe nur einen Mitarbeiter zu RTL mitgebracht und sei nicht „mit einer ganzen Truppe einmarschiert“. Er habe jedem einzelnen eine Chance geben wollen, seine Kreativität unter Beweis zu stellen. Ein hehrer Anspruch. Aber die Realität? Praktisch hat er die komplette obere Führungsebene ausgetauscht, darunter die Verantwortlichen für Marketing, Kommunikation, Einkauf und strategische Entwicklung. Der Chef eines anderen Privatsenders gibt ihm recht: Ohne solche Entlassungen ginge es gar nicht – sonst wären alte Loyalitäten zu mächtig. Aber im Haus sorgen sie für Unruhe.

Besser ist die Stimmung beim Fußvolk. Bei einer Betriebsversammlung Ende April stellte sich Zeiler erstmals den Mitarbeitern – und machte eine gute Figur. Die Leute waren zwar distanziert und skeptisch. Aber viele wollten Zeiler nicht vorverurteilen, sondern ihm eine Chance geben. Zeiler, der Psychologie studiert hat und einmal Therapeut werden wollte (heute würde er Jura und BWL belegen, sagt er), steht im Formel-l-Studio von RTL auf der Bühne. Er referiert, hört zu, sieht den Leuten in die Augen und wirkt verblüffend gelassen. Bei der offenen Fragerunde umkreist sein Zeigefinger unablässig das Kinn – ein Zeichen dafür, daß jemand unbewußt seine Sinne schärft, sich wappnet für unangenehme Fragen. Zum Beispiel die, wann er nun endlich, wie versprochen, alle Redaktionen besucht haben wird.

Das ist eine häufige Kritik am neuen Chef: mangelnde Kommunikation. Zeiler empfindet es allerdings schon als Zumutung, darüber öffentlich diskutieren zu sollen – und nährt damit den Vorwurf noch. Nach einigen Monaten macht er den murrenden Mitarbeitern einen Vorschlag: Sie könnten ihre Anliegen ja perE-Mail an ihn richten; er werde dann in der Mitarbeiterzeitschrift antworten. Das war nicht gerade das, was die Leute wollten. Nicht das, was sie von Thoma gewohnt waren. Und auch nicht das, was Zeiler ihnen bei seinem Amtsantritt versprochen hatte, als er versicherte: „Ich bin ein Teamplayer.“

An vielen Punkten tun sich erstaunliche Widersprüche zwischen der Selbstdarstellung Zeilers und der Wahrnehmung durch andere auf. Er selbst sagt: „Ich liebe es zu kommunizieren.“ Doch dann fällt ihm auf die Beschwerde von Kollegen, man treffe ihn nie in der Kantine, nur ein, daß er halt mittags nie warm esse – und verkennt, daß die Kantine nur ein Symbol ist. Zeiler ist niemand, der schulterklopfend und small-talkend durchs Haus geht. Muß er auch nicht. Aber auch von seinem Referenten sagen Mitarbeiter, nicht einmal grüßen täte der. Wenn Zeilers engster Mitarbeiter sein Draht zur Außenwelt ist, läßt sich nachvollziehen, daß die Außenwelt einen Draht zu Zeiler vermißt.

Im Gespräch ist er dann aber angenehm direkt, schnörkellos, verbindlich. Denkpausen füllt er mit sehr österreichischen, stimmhaften Ohms, die seine Sätze unendlich weich klingen lassen. Doch der altmodische Charme des Wieners ist ihm fremd. Das heißt: Dem Geschäftsmann Zeiler ist er fremd. Der Privatmann soll ganz anders sein. Doch die beiden leben völlig getrennt voneinander. In seinem Büro lebt ausschließlich der Geschäftsmann Zeiler: Es ist so unpersönlich, daß jedes Zimmer bei Ikea individueller und bewohnter wirkt. Das einzige Bild an der Wand ist ein RTL-Werbeposter. Helmut Thomas Büro war voll von Andenken, Spielzeug, Preisen – buntem Gedöns aller Art.

Immer wieder der ungeliebte Vergleich. Thoma verpackte seine Schmähungen anderer in charmanten Anekdoten. Zeiler ist auch in der Kritik direkt. Als eine seiner Tugenden nennt er, anderen ehrlich ins Gesicht nein sagen zu können. Wenn er sich ärgert, spricht er mit purem, humorlosen Zynismus. Der Neue hat mit dem Alten nichts gemein. Das war Einstellungsvoraussetzung. Der Bertelsmann-Konzern, der hinter RTL steht, meint, daß einer wie Thoma nicht der richtige Typ ist für die harten Zeiten, die der Branche bevorstehen. Statt mit zweistelligen Wachstumsraten wie in den vergangenen Jahren rechnen die großen Privatsender künftig mit einem geringeren jährlichen Einnahmenplus. Als Werbeträger verliert das Fernsehen an Bedeutung.

In solchen Zeiten braucht es – nicht nur nach Ansicht der gewinnfixierten Bertelsmänner – andere Manager. Thoma entschied aus dem Bauch. Er hätte die Champions League gekauft, um sie zu haben. Er führte RTL, wie er selbst sagte, „als ob der Sender mir gehört“. Zeiler entscheidet rational, läßt die Champions League sausen, wenn die Zahlen gegen den Kauf sprechen. Er stellt sich und RTL in den Dienst des Gesamtkonzerns. 15 Prozent Rendite hat er ihm versprochen, in diesem Jahr sollen es noch weit mehr werden.

Auch unter Thoma hat RTL guten Gewinn gemacht, aber im Zweifel war das nicht das Wichtigste. Und weil manchmal im Leben einfach alles zusammenpaßt, mußte Zeiler in den ersten Monaten seiner Amtszeit in ein Nachbargebäude umziehen, das RTL übernommen hat, eine ehemalige Bank. Alte Mitarbeiter lästern öffentlich, dies sei genau der Ort, wo einer wie Zeiler hingehöre: in eine Sparkasse.

Zeiler hat den Ruf eines kaltherzigen Erbsenzählers. Er hält das für ein Produkt von Journalisten, die ihn nicht kennen. Und einige seiner Ziele sind tatsächlich ganz und gar nicht buchhalterischer Natur: „Ich hoffe, daß ich in vier Jahren sagen kann, RTL ist meine zweite Familie.“ Und daß auch die Mitarbeiter dieses so empfänden – eine „gewisse Geborgenheit“, die man brauche, um motiviert arbeiten zu können. Das klingt ehrlich und kein bißchen nach vorbereiteten Image-Phrasen.

Dazu ist zumindest dem Geschäftsmann Zeiler sein Image zu egal. Wie könnte er es auch ändern, ohne Gefühle und Persönliches öffentlich zu machen. Und das will er nicht. Als Zeilers Abschied beim ORF vergleichsweise emotional ausfällt, entdeckt eine Zeitung überrascht, er habe ja eine „zarte Seele“. Zeiler sagt, selbstverständlich habe er die: „Sie war immer da und wird immer da sein. Aber das muß man mit sich selbst ausmachen.“

Beim Abschied von Tele 5 hatte er Tränen in den Augen. Heute zeigt Zeiler als einer, der unbeirrt Widerstände überwindet, keine Verletzungen mehr. „Das kann und soll man nicht. Da braucht man Familie und gute Freunde, denen man sich öffnen kann.“ Brauchte er die im vergangenen halben Jahr besonders oft? Zeilers erste Reaktion – ein Abwehrreflex: „Warum fragen Sie?“ Erst nach ein paar Sekunden entspannt er sich und sagt: „Ja, klar.“

Überhaupt hat Zeiler oft zwei Antworten parat: eine offizielle, manchmal pampige; und eine, die ahnen läßt, daß sich dahinter ein sensibler Mensch versteckt. Warum übernimmt jemand eine Aufgabe wie die Gewinnmaximierung von RTL, bei der er sich nur unbeliebt machen kann? „Meine Existenz ist nicht auf das Wohlwollen der Journalisten angewiesen“, antwortet er barsch. Erst dann sagt er, daß die jetzigen Verrisse ja kein Dauerzustand sein werden. „Fred Kogel wurde ganz anders vorgeführt. Er hat’s überlebt, und plötzlich hat man Respekt vor ihm. Glauben Sie mir: Ich werde diese Phase auch überleben.“

Zeilers Laufbahn ist bemerkenswert. Immer war er entweder „Kofferträger“, die rechte Hand der Chefs, oder selbst Chef. Er erklomm nicht die Karriere-, sondern die Unternehmensleiter: Die Firmen wurden wichtiger, nicht die Positionen, die er bekleidete. 24 Jahre war er, als er Pressesprecher von Fred Sinowatz wurde – der erst Unterrichtsminister, später Bundeskanzler war. 24! „In einem kleinen Land wie Österreich sind die Möglichkeiten leichter“, sagt Zeiler. Als erklärte das irgendwas.

Eine andere mögliche Erklärung wischt er vom Tisch, noch bevor sie geäußert wurde: daß sein Aufstieg irgend etwas mit der Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei zu tun haben könnte. Glück habe er gehabt. Etwa, daß ihm sein Chef als ORF-Generalsekretär viele seiner Aufgaben übertrug. ORF- Übervater Gerd Bacher sagt, Zeiler habe sich nie als „Durchführungsorgan“ verstanden, sondern als „autonomer Machthaber“.

Eines haben alle seine Stationen gemeinsam: Wenn er ging, war das Unternehmen nicht wiederzuerkennen. Tele 5 wandelte er vom Musik- in ein Vollprogramm um, RTL 2 schuf er gleich ganz aus dem Nichts. Den ORF machte er fit für die Zukunft, aber er orientierte ihn an einem einzigen Maßstab: der Quote. Österreichische Kommentatoren sagten damals das gleiche wie heute die Leute bei RTL: „Ein Kulturschock“.

Zwei Eigenschaften attestieren Zeiler Freunde wie Feinde. Erstens: Zuverlässigkeit – selbst Konkurrenten loben ihn als direkt und ehrlich; und zweitens: Konsequenz. Zeiler steckt sich große Ziele – und setzt sie gegen alle Widerstände durch. „Ich bin jemand, der, wenn er eine Aufgabe übernimmt, sie zu Ende bringt. Mit jedem Einsatz.“ Wie das geht, zeigte er als Generalintendant des ORF: Er wußte, daß sich gegen seine Radikalkur Widerstand regen würde. Deshalb setzte er sie in Rekordzeit um. Nach sechs Monaten war er bereits mit dem Austausch von Personal und Sendungen fertig. Bevor seine Kritiker überhaupt zur Besinnung gekommen waren.

Soviel Durchsetzungsvermögen und Berechnung mag bewunderswert sein. Zeiler sagt allerdings sogar selbst, ihm sei erst rückblickend der Gedanke gekommen, daß er eigentlich Zweifel hätte haben müssen. Er hatte sie nicht. „Es war mir immer klar, daß wir das jetzt machen müssen“, sagt er. Diskussionen über das Ziel hält Zeiler für unnötig. Das Zielgibt er vor. Allenfalls über den Weg dahin redet er, in kleinen Gruppen.

In der Zeit als ORF-General muß Zeiler seinen Führungsstil verändert haben. Ulrich Krenn, unter Zeiler Nachrichtenchef bei Tele 5, sagt, damals sei er noch „sehr umgänglich“ gewesen. „Genau das Gegenteil von dem, wie ihn heute seine Kritiker bei RTL beschreiben: Er hat sich nicht abgeschottet. Man konnte in sein Büro kommen, und in fünf Minuten hatte man eine Entscheidung.“

Einer, der ihn seit Jahren kennt, sagt, Zeiler sei „im zwischenmenschlichen Bereich absolut okay“. Aber: „Er ist auch ein Karrierist, ein knallharter Geschäftsmann. Er ist in der Lage, Leute gegeneinander auszuspielen, wenn es ihm hilft, seine Interessen durchzusetzen.“ Der das sagt, bezeichnet sich übrigens als Freund Zeilers.

RTL geht es gut. Gerade das ist ein Problem für den Reformer. Beim ORF traf er auf eine Mannschaft, die nach Veränderungen dürstete. Anders bei RTL. Hier fehlt der Leidensdruck. Zeiler sagt, es gehe darum zu vermitteln“, daß wir dennoch eine Kurskorrektur vornehmen müssen“. Es sei der Versuch, ein Unternehmen zu übernehmen, bevor es in den Sinkflug gehe. Weil RTL praktisch nur für 14bis 49jährige Zuschauer Werbegeld bekommt, wird er das Programm weiter verjüngen. Kaltgestellte „Alte“.“ wie Ilona Christen und Geert Müller-Gerbes haben sich schon lautstark beschwert. Aber Zeiler hat ein dickes Fell. Zu ORF-Zeiten ließ er sich die heftigen Schlagzeilen über sich gar nicht erst zeigen.

RTL wird unter ihm wieder provokanter werden. Für den Samstagabend ist eine Stuntshow mit Amateuren geplant, die selbst hausintern als im Wortsinn mörderisch gilt. Allerdings gibt es Grenzen: Eine Prügel-Talkshow wie „Jerry Springer“ in den USA wird es nicht geben. „Da ist unter uns noch eine Qualitätsstufe, die wir nicht mehr bedienen.“

Zeiler akzeptiert dennoch keine anderen Qualitätsmaßstäbe als die Quote. Mit Boulevard, Trash und billigen US-Importen hat er kein Problem. Ein Problem hat er mit Leuten, die darin ein Problem sehen. Um so erstaunlicher, daß er im Fragebogen des FAZ-Magazins auf die Frage nach seiner Heldin in der Literatur Heinrich Bölls Katharina Blum angegeben hat: eine Frau, deren Leben durch Sensationsreporter einer Boulevardzeitung zerstört wird. „An ihr hat mich der Kampf fasziniert“, sagt Zeiler. „Daß es auch noch um eine gerechte Sache ging, ist schön, aber das stand für mich nicht im Vordergrund.“ Die Blum hat ihren Gegner am Ende erschossen. Zeilers Gegnern sei es eine Warnung.

Anders, wie alle anderen

Süddeutsche Zeitung

MTV will mit neuen Shows wieder schräg werden.

MTV hat jetzt eine richtige Musiksendung. Doch, das ist eine Nachricht! In den vergangenen Jahren wurde der Platz zwischen den Videos wie bei Viva vorzugsweise mit Informationen darüber gefüllt, welche Haarfarbe der Künstler gerade ausprobiert und mit wem er vorletzte Woche im Restaurant gesehen wurde. Bei Brand:neu erfährt man tatsächlich, welche Leute an der Platte mitgewirkt haben und warum die Single nur in den USA rauskam. Kein Meilenstein des Journalismus – aber den erwartet auch niemand. Eine Offenbarung ist immerhin der Moderator: Gerd Bischoff, der erste Video-Jockey, der nicht ausgewählt wurde, weil er aussieht wie Holger Speckhahn oder Kristiane Backer, sondern weil er 15 000 Platten, Erfahrung als Journalist und Ahnung von Musik hat. Der erste über 40 ist er außerdem.

Brand:neu ist eine von vier neuen deutschsprachigen Sendungen auf MTV – und die einzige, die hausintern nicht umstritten ist. Klar: In unsicheren Zeiten funktioniert die Rückbesinnung auf den Kern am besten. MTV ist trotz steigender Quoten in einer Identitätskrise. Das liegt zum einen daran, daß es schwerer denn je zu sein scheint, zu wissen, was die Jugend will – im allgemeinen und vom Musikfernsehen im besonderen. Aufmüpfigkeit, Rebellion? Och nö. Kooperationen mit Greenpeace? I bäh!

Sterni steht und sächselt

Ein weiterer Grund ist Christiane zu Salm, seit 15 Monaten Deutschlandchefin von MTV. Als sie antrat, gab sie die Devise aus, um jeden Preis Quote zu machen. Das Ergebnis war die Show Live aus Berlin, die den Begriff „Infotainment“ als kombinierte Abwesenheit von Sinn und Witz definierte und auch nach Salms Ansicht ein Fehler war. Jetzt sollen die Sendungen wieder schräg sein, ironisch, respektlos – anders. Das ist nicht leicht, da die Fernsehwelt heute bevölkert ist von Harald Schmidts und Stefan Raabs und die MTV-Welt nicht mehr von Ray Cokes und Christian Ulmen.

Die neue Show emtevau mit deutscher Musik moderiert Sterni, ein netter 24jähriger Koch, den Salm in Leipzig getroffen hat. Sie war begeistert von seinen „Nüs“ und „Geleschenheiten“, gab ihm ein altes Mikrophon im handlichen Riesensalamiformat, stellte ihn vor eine Panoramatapete und bat ihn, sich seine Unbeholfenheit und seinen Dialekt nie abzugewöhnen. Da steht er nun und sächselt. Das ist zwar innovativer als bei Viva, wo sich die Moderatorinnen nur durch ihre Gesichtspiercings unterscheiden – aber seit Stefan Raab die „Öla Palöma Boys“ groß rausgebracht hat, ist Sterni so originell wie Toastbrot in Scheiben.

Salms Vorgänger machte den Fehler, nur die Hitparaden-Top-40 zu spielen; Salm steuerte um und schuf mit den neuen Shows gezielt Nischen. Dennoch erbleichten ihre Musikredakteure, als sie Kitchen sahen. Erstes Video: Nancy Sinatra. Manchmal gibt es zwischen Smashing Pumpkins und Blur auch Ray Charles. Schöne Idee, nur: Wer will das sehen, mittags um eins? Fünftkläßler, die von der Schule kommen? Kitchen ist eine der Sendungen, die dem Prinzip folgen, es reiche, jeden Tag einen anderen Gast „Schnapp die Wurst“ spielen zu lassen. David Copperfield war da. Unsichtbar allerdings, „sein neuester Trick“. Netter Gag. Aber eine Stunde lang? Kitchen krankt am fehlenden Mut, wirklich radikal zu sein. Salms MTV ist schräg, aber harmlos. Der Kitchen-Moderator Max von Thun ist kein Anarcho; er spielt einen. Einmal hatte er das sprechende Spielzeug Furby in seiner Sendung und taufte es – sein Kollege Niels Ruf hatte auf Viva 2 zuvor zwei Furbies. Er probierte mit ihnen Stellungen des Geschlechtsverkehrs.

Dann ist da noch Enjoy MTV, eine Kooperation mit der Frauenzeitschrift Joy. Paarungswillige Menschen erzählen, was sie toll an sich finden, was nicht und wie das war, als sie beim Sex im Englischen Garten erwischt wurden. Alles komplett in Schwarz-Weiß; das ist fast so cool wie Joy und die Kandidaten. Steve, 26, sucht eine Frau, die gebaut ist wie ein Porsche: „Melde dich, mein Sportwagen, dann fahre ich dich. “ Und Mehmet, 33, bewirbt sich mit dem Satz: „Es ist immer wieder peinlich, wenn ich im Bett zu schnell komme. “ In der Tat.

Gag-Academy

Stern

Lachen nach Lehrplan. Seit aus dem Comedy-Boom eine Industrie geworden ist, hungert die Branche ständig nach neuen Witzen. Mit Seminaren werden jetzt erstmals Nachwuchstalente auf den ernsten Beruf des Gag-Schreibers vorbereitet.

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Fischhaltefolie. Fischlein deck dich. Woran erkennt man das Geschlecht eines Fisches? An Brust- oder Schwanzflosse. Seit 45 Minuten sammelt eine Gruppe junger Humor-Azubis Wortspiele mit Fisch. Inzwischen haben sie mehrere Blätter gefüllt, aber eine witzige Angel-Szene für Bastian Pastewka ist nicht entstanden. Sie lernen: 97 Kalauer machen noch keinen guten Sketch. Der steht heute auf dem Lehrplan. In Theorie und Praxis. Mit Referat und Gesprächsrunde. 13 Comedy-Schüler und zwei Schülerinnen sitzen in einem humorlos eingerichteten Seminarraum in Köln. Vorne die Lehrer: Regisseure und Autoren der „Harald Schmidt Show“, „Sieben Tage, sieben Köpfe“, „TVTotal“ — und Pastewka selbst, der Brisko Schneider aus der „Wochenshow“.

Jeder von ihnen sagt, die Möglichkeit, an einem Expertengespräch namens „Der gute Sketch“ teilzunehmen, sei ein Traum. Nicht nur, weil sich das selbst nach einem Stück Comedy anhört. Sondern auch, ganz ernsthaft, weil sie so etwas selbst gern gehabt hätten, als sie ihre ersten Schritte in Richtung Fernseh-Humor machten.

Zum Beispiel 1992, als Martin Keß anfing, für die erste Late Night Show mit Thomas Gottschalk zu schreiben. Damals schaute sich Keß Stunde um Stunde einschlägige US-Sendungen an. Schrieb jeden Witz auf, analysierte ihn, kategorisierte ihn. Aber das wirkliche Wissen, was zündet und was im Rohr krepiert, kam erst mit den Jahren. Heute ist Keß 34, Chefautor der TV-Produktionsfirma „Brainpool“, und aus dem Comedy-Metier ist längst eine Industrie geworden. Immer hungrig nach neuen Lachern.

Da muß Nachwuchs und Ausbildung her. Seit wenigen Wochen gibt es drei Versuche, aus Humor ein Lehrfach zu machen. Die Kölner Comedy-Schule etwa, mit RTL im Boot, kümmert sich um Talente vor der Kamera; zwei anderen Comedy-Unternehmen geht es um Autoren: „Frühstyxradio“ schult in Hannover für den Hörfunk; „Brainpool“ lud potentielle TV-Mitarbeiter zur „Gag-Academy“ nach Köln.

Sie sind in der Regel zwischen 20 und 30 Jahre alt. Etwas Erfahrung haben die meisten, echten Erfolg die wenigsten. Vier Academy-Teilnehmer aus Recklinghausen haben es immerhin schon geschafft, für die Chaos-Sendung „Viva Family“ zu schreiben — aber die ist eingestellt worden. Roland Slawik ist es gelungen, dem ZDF eine Sitcom zu verkaufen. Die vom Sender überarbeitete Fassung hat er gerade zurückbekommen: „Jetzt versuche ich, die Witze wieder reinzuschreiben.“ Tanja Sawitzki ist erst 18, hat aber schon mit 13 bei Stefan Raab als „Zuschauerin der Woche“ den Kopf hingehalten und seitdem zwei humorige Bücher veröffentlicht.

Witzigsein lohnt sich. Ralf Husmann zum Beispiel, einer der Referenten bei der Gag-Academy, 34 Jahre alt, früher Chefautor bei Harald Schmidt, heute für Anke Engelke, hat sich schon vor Jahren mit eigenem Kabarett seinen Lebensunterhalt verdient. „Mit freiem Theater“, sagt er, „wäre das viel schwieriger gewesen.“ Vor allem der Verkauf einzelner Witze bringt Geld: Bei einer guten Handvoll TV-Shows gibt es etwa 200 Mark pro Pointe. Wer würde dagegen einen einzelnen Bühnendialog, einen genialen Reim kaufen?

Wo Scherze industriell produziert werden, zählt nicht Kunst, sondern vor allem Handwerk. Harald Schmidts Monologe, sagt sein Ex-Chefschreiber Husmann, beruhten letztlich nur auf der Kombination immer gleicher Standards mit aktuellen Themen. Mal treten Figuren wie Jürgen Drews in den Witzen als Sexmonster auf, mal Bill Clinton. Und wenn eine Susan Stahnke kommt, darf an ihr das ganze Repertoire von Blondinenwitzen durchgespielt werden.

Handwerk heißt auch, zu einer bestimmten Zeit Brauchbares abzuliefern. Wer auf den Kuß der Muse wartet, hat verloren. Deshalb sieht der Radio-Nachwuchskomiker Rene Steinberg gerade gar nicht amüsiert aus. Noch zwei Stunden: Dann muß er einen Hörfunksketch produziert haben. Und die Schlußpointe fehlt immer noch. Mit seiner Grundidee ist er ganz zufrieden: Ein Professor wird interviewt, der alte Tonbandaufnahmen von Goethe gefunden hat, auf denen der Meister sich als Schweinigel outet. Aber wie das Ding zum Ende bringen?

Das „Frühstyxradio“-Team um Oliver Kalkofe kennt Tricks für Notfälle: sich dreimal versprechen und im Chaos enden. Lachen, bis alle mitlachen. Eine Katze platzen lassen. Steinberg entscheidet sich am Ende dafür, Goethes Sauereien ins Absurde zu steigern. Nicht genial, aber sendbar. Die Schüler lernen: Irgendwas geht immer, wenn es gehen muß.

In den USA ist Comedy-Autor bereits ein Büro-Job wie jeder andere. Er kommt um neun und geht um fünf. In Deutschland können immerhin schon um die 100 Leute vom TV-Gagschreiben leben, schätzt Martin Keß. Und der Bedarf nach frischen Albernheiten ist groß: „Ich kenne keine Sendung, die Beiträge von neuen Autoren ablehnt, weil sie genug Material hätte“, sagt Husmann. Das ist für die jungen Comedy-Macher, die bislang allein vor sich hingewitzelt haben, durchaus eine ermutigende Erfahrung.
Die wenigsten von ihnen sind mit dem Vorsatz nach Hannover oder Köln gefahren, aus der Begeisterung für Comedy einen Beruf zu machen — nicht, weil sie davon nicht träumten, sondern weil sie es nur für einen Traum hielten. Wie Rene Steinberg: Plötzlich ärgert er sich, daß er gerade im Uni-Prüfungsstreß steckt und nicht sofort die offenen Türen einrennen kann, die er entdeckt hat.

Doch die Anforderungen sind hoch, gerade beim Hörfunk, wo man am liebsten fertige Serien-Dauerbrenner bekäme. Und bei allen Schulregeln: Humor bleibt eine Frage des Geschmacks — im Zweifelsfall hat der entscheidende Redakteur einen anderen.

Für solche Fälle gibt „TV Total“-Moderator Stefan Raab seinen Schülern die vermeintliche Antwort, warum jemand über etwas lacht oder nicht. Seine Mitarbeiter haben sie — als steten Quell von Trost und zugleich Verzweiflung — – in ihrem Büro aufgehängt. Sie lautet: ‚Witzig ist witzig.“ Das erklärt nichts und stimmt immer. Und der Nachwuchs erkennt: Alles kann man eben doch nicht lernen.

Wo falsche Schlampen mit falschen Haaren werfen

Süddeutsche Zeitung

Hans Meiser zeigt, daß frei erfundene Talkshows am erfolgreichsten sind — die Konkurrenz sieht es mit Grausen.

Wenn Hans Meiser nach einem kleinen Spaß zumute ist, steckt er sich seinen Klaus-Kopka-Button ans Revers. Klaus Kopka war früher CSU-Landtagsabgeordneter und ist heute Vorsitzender des Medienrates der Bayerischen Landesmedienanstalt. Er hat viel Zeit fernzusehen, und viele Möglichkeiten, mit seinem Urteil über das, was er sieht, in die Schlagzeilen zu kommen. Meiser ist Kopkas Lieblingsgegner, und Kopka der von Meiser. Deshalb trägt Meiser gelegentlich in seiner Talkshow den Anstecker mit Kopkas Bild und sagt ironisch, wie sehr die beiden doch das Streben nach „sauberen Talk“ eine.

Wenn Hans Meiser nach einem großen Spaß zumute ist, macht er Sendungen, von denen er weiß, daß sie Leute wie Kopka besonders ärgern werden. Er läßt seine Gäste übereinander herfallen, intimste Geheimnisse offenbaren, sich gegenseitig das Leben ruinieren — und in dem Moment, wenn der Abspann läuft und Kopka vermutlich gerade zum Hörer greift, um seine Empörung einem Journalisten anzuvertrauen, verrät er, daß alles nur ein Spaß war. Frei erfunden, von Schauspielern dargestellt. Als Aprilscherz hat er das in diesem Jahr gemacht, der verwirrenderweise schon am 31. März ausgestrahlt wurde. Und am Montag dieser Woche wieder.

Es war der Tag nach Muttertag; die Sendung hieß „Mami, mit dir hab ich noch eine Rechnung offen“. Sie bestand im Wesentlichen daraus, daß sich Familienmitglieder gegenseitig beschimpften, mit ihren Liebhabern konfrontierten, handgreiflich wurden und bekannten, mit ihren Schwiegersöhnen geschlafen zu haben, was sie anhand des Intimschmucks beweisen konnten. Nachdem die Geschichten sich ins Absurdeste gesteigert hatten, enthüllte Moderator Meiser am Schluß, daß es tatsächlich nur Geschichten waren. „Märchen“, wie in der erfolgreichen Aprilscherz-Sendung. Die habe ja, erklärte Meiser, „so manchen Medien- und Moralapostel aufgeregt“.

Und nicht nur Kopka. Auch die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), die von den Privatsendern mit der Überwachung des Jugendschutzes betraut ist, war über Meisers Idee nicht glücklich. „Wenn die Sendung am 1. April gelaufen wäre, hätten die Zuschauer sie vielleicht von vornherein mit anderen Augen angesehen“, sagt Geschäftsführer Joachim von Gottberg. „So aber haben die Leute das übliche Geschäft erwartet.“ Das sei problematisch. Meiser ist der einzige Talkmaster, der sich an anderen Tagen als dem 1. April traut, das eigene Genre und sich selbst unangekündigt zu parodieren — in seiner eigenen Show Meiser und in der Sendung Birte Karalus, die auch von seiner Firma Creatv produziert wird. Creatv-Sprecherin Jutta Oellig erklärt, man habe nach der Aprilscherz-Sendung so viele Zuschauerpost mit Talk-Märchen bekommen. Und warum zum Muttertag? Weil diese Einrichtung doch „eigentlich absurd“ sei, sagt Oellig.

Die Sorge, daß viele Zuschauer vor dem Schluß der Sendung umgeschaltet und die Auflösung verpaßt haben, scheint unbegründet: Die Muttertags-Sendung schaffte es, die Zuschauer zu fesseln. Bis zum Finale wuchs die Quote kontinuierlich, von einer auf über zweieinhalb Millionen. Das ist bei Meiser sonst nicht immer der Fall. Jugendschützer Von Gottberg zweifelt jedoch, ob ein 13jähriger wirklich in der Lage sei, sich im Nachhinein von dem Gesehenen zu distanzieren. „Wenn Menschen eine Stunde lang nach allen Regeln der Kunst vorgeführt werden und das erst in den letzten drei Minuten aufgelöst wird, stellt sich die Frage: Wird die Wirkung der ganzen Fürchterlichkeiten, des Hasses und der Verletzung der Menschenwürde dadurch relativiert? Oder sind die vorher geweckten Emotionen viel zu groß?“

Kollegen und Konkurrenten von Meiser gehen auf Distanz: „Wir würden das nie machen“, sagt Talk-Produzent Peter Schwartzkopff (Sonja, Andreas Türck, Pilawa). Die Versuche Meisers beeinträchtigten die Glaubwürdigkeit aller. „Es ist nicht in Ordnung, wenn ein echter Moderator plötzlich in einer Talkshow mit nicht echten Gästen steht.“ Wenn Meiser Märchen ansagen wolle, dann auch immer und konsequent — in einer Show wie dem Comedy-Talk TV Kaiser. Was immer Meiser geritten habe — als Provokation der Medienanstalten seien seine Aktionen in jedem Fall „unklug“.

Angesichts der anhaltenden Schmuddel-Diskussion haben Meisers Späße Sat 1-Sprecherin Kristina Faßler gerade noch gefehlt. Damit würde ausgerechnet das Kernargument der Privatsender konterkariert, daß die Talkshows „einfach Realität“ abbildeten. Die Glaubwürdigkeit ist der wunde Punkt der Shows: Einerseits leben Meiser, Sonja, Arabella und Co davon. Sat 1 kündigt seine Talkshows gar als „Information“ an. Andererseits hat der Sender in einem Verfahren, das ein Mann, der in Vera am Mittag als gewalttätiger Alkoholiker geoutet wurde, gegen den Sender angestrengt hatte, argumentiert: Die Zuschauer wüßten, daß es sich nicht um Journalismus handle, sondern die Talks Gästen nur eine Art „Tanzfläche“ böten. Also doch eher Fiktion als Realität?

In den getürkten Shows geht es noch heftiger zu als im Talkalltag von Meiser und den anderen. „Wenn das wahre Geschichten wären, würden wir das nicht zeigen“, räumt creatv-Sprecherin Oellig ein. Der Gedanke liegt nahe, daß Meiser auf die fiktive Ebene wechselt, um sich richtig austoben und neue Grenzen erproben zu können. Von Gottberg fragt, ob so der Verhaltenskodex, den sich die Privatsender gegeben haben, unterlaufen werden solle. Ein Freibrief wäre der Einsatz von Schauspielern allerdings nicht. „Allein als Ausrede für Exzesse reicht mir das nicht“, sagt Von Gottberg. „Es gibt keine Legitimation“, sagt Sat 1-Sprecherin Faßler, „mit Schauspielern Verhaltensweisen zu zeigen, die mit real existierenden Menschen nicht gezeigt werden dürften.“

Creatv versichert, weitere Fakes seien vorerst nicht geplant. Allerdings sahen am Montag über 900 000 junge Zuschauer zu, wie die „Tochter“ ihrer „Schlampe“ von „Mutter“ die Perücke vom Kopf riß. So viele erreichte Meiser in den Wochen davor mit keiner Sendung. Die beiden erfundenen Sendungen hatten die höchsten Marktanteile aller Meiser-Sendungen der letzten Zeit. Es wäre das erste Mal, daß ein Privatsender auf den Einsatz eines dramaturgischen Mittels verzichtete, das besseren Quoten bringt.

Meiser treibt ein gewagtes Spiel: Ausgerechnet in einem Genre, in dem falsche Gäste ohnehin eher Regel als Ausnahme sind, spielt er mit Erwartungen und Vertrauen des Publikums. Aber vielleicht protestieren die Konkurrenten auch deshalb so laut, weil Meiser einen Trend entdeckt haben könnte: Daß es den Zuschauern möglicherweise egal ist, ob die Leute, denen sie beim Streiten zusehen, echt sind oder nicht. Dann hätten die Produzenten sich die Auseinandersetzungen um verletzte Persönlichkeitsrechte sparen können. Und das bißchen Recherche noch dazu.

Große Freiheit für Viva

Süddeutsche Zeitung

Dieter Gorny sitzt in seiner Suite in einem Hamburger Hotel und ist zufrieden mit sich und der Welt. Am Tag zuvor hat der Musiksender MTV seinen Abschied aus der Stadt bekanntgegeben. Aus der Routinereise des Viva-Chefs zu Musikproduzenten und Agenturen ist plötzlich ein kleiner Staatsbesuch geworden. Hamburger Politiker rufen an und bitten dringend um ein Gespräch. Journalisten geben sich die Klinke in die Hand. Die Sonne scheint.

Im Gegensatz zu Gorny hält MTV-Chefin Christiane zu Salm nicht Hof. Deshalb läßt sich nur vermuten, daß auch sie strahlt. Hat sie es doch nach monatelangen Verhandlungen geschafft, der Bayerischen Staatsregierung Geld für den Umzug nach München aus der Tasche zu leiern – vier Millionen sollen es sein. Doch da eine Entscheidung selten zwei Konkurrenten gleichermaßen dauerhaft beglückt, stellt sich die Frage, wer zuletzt lachen wird.

Christiane zu Salm kennt das TV-Geschäft. Sie hat dank des absurden Wettlaufs der Medienstandorte geschafft, was in kaum einer anderen Branche denkbar wäre: Für ein Unternehmen Subventionen zu bekommen, das 1998 mit 26 Millionen Mark Gewinn rechnete. Nun sind vier Millionen Mark für einen Sender wie MTV eine Menge Geld – nicht viel höher ist etwa der Jahresetat für die deutschen Sendungen. Aber auf Dauer sind solche Einmalzahlungen ohne Bedeutung, es sei denn, ein Fernsehsender wechselte jährlich seinen Standort. In Hamburg hat zu Salm dagegen mehr verlassen als nur eine Stadt, die ihr keine Millionen zahlen konnte und wollte.

Vom Musik-TV-Geschäft versteht zu Salm nicht viel. Das wäre nicht so tragisch, hätte sie ihre Führungsriege nicht mit Leuten bestückt, denen es genauso geht. Für Musiksender gelten eigene Regeln. Das fängt damit an, daß A und O des Geschäftes nicht Quoten sind, sondern Glaubwürdigkeit. In der Reichweite werden Viva und MTV nie mit RTL 2 oder Pro Sieben mithalten können. Aber sie können eine viel größere emotionale Nähe und Überzeugungskraft zu Teenagern aufbauen – nur das macht sie interessant für Werbekunden. Dazu muß ein Sender dicht an der Szene und den Trends von morgen sein. Über die zukünftige MTV-Heimat München läßt sich einiges Positives sagen. Daß von ihr die angesagtesten Mode-, Musik- und Jugendkulturtrends ausgehen, gehört eher nicht dazu.

Musiksender sind in der kuriosen Situation, daß die Plattenfirmen gleichzeitig Produzenten und Kunden sind: Sie liefern die Videos und werben für die Musik. Die Musikbranche aber sitzt in Hamburg. Die Werbebranche auch. Die kurzen Wege waren ein Vorteil, um den Viva MTV bislang beneidet hatte. Auf seinen Reisen zu Produzenten und Kunden verbringt Gorny regelmäßig vier Tage in Hamburg. München schafft er in einem.

Und dann ist da noch Viva 2: Ambitioniert, laut und billig, für Leute, die weder DJ Bobo noch Rolling Stones, sondern Guano Apes hören wollen; von Gorny mit viel PR als Alternative für die Leute verkauft, die das alte, schräge MTV vermissen. Solange MTV fest in Hamburg saß, verhinderte die Landesmedienanstalt HAM, daß Viva 2 ins Kabel kam. Das tat Gorny weh. Weil Viva 2 naturgemäß eher was für Großstadtmenschen ist als für die Bewohner Mittelhessens. Und weil ausgerechnet die Masse der Werbe-, Musik- und Medienleute sein verlustmachendes Prestigeobjekt nicht sehen konnte – und deshalb nicht buchte oder drüber schrieb.

Das ändert sich jetzt. Vermutlich noch im Sommer wird die HAM bekanntgeben, daß Viva 2 ins Hamburger Kabel kommt. Im Gegenzug wird Viva bekanntgeben, die örtliche Musikszene mit ein paar Hunderttausend Mark zu fördern. Ähnliche Geschäfte hat Gorny schon in Niedersachsen und Berlin abgeschlossen. Gespräche in Hamburg gab es schon länger, aber die Verhandlungssituation hat sich geändert: Bislang brauchte Gorny Hamburg dringender als Hamburg Gorny. Seit dieser Woche ist das umgekehrt.

Christiane zu Salm kommt – wie der Großteil des neuen MTV-Managements – aus München und ist mit der Münchener Medienszene eng verbandelt. Wenn zu Salm in den vergangenen Monaten die Abwanderungspläne dementierte, tat sie das gerne entrüstet: „Sie glauben doch nicht im Ernst, daß wir umziehen werden, weil es mir persönlich in München besser gefällt?“ Eigentlich nicht. Aber nicht nur Dieter Gorny fällt kein anderer Grund ein.