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Nackter Wahnsinn

Süddeutsche Zeitung

Premierenkritik zu „TV Total“ (Pro Sieben).

Über Rudi Carrell ist einmal gesagt worden, sein Erfolgsgeheimnis liege darin, daß seine Mundwinkel in einer Form festgefroren seien, die den (meist falschen) Eindruck erwecke, er lächle. Das stimmt nur fast. In Wahrheit – und schon für diese Erkenntnis muß man TV Total dankbar sein – gibt es bedeutsame Nuancen im Carrell’schen Mundwinkelkrümmungsgrad. Als Moderator Stefan Raab ihn in seinem Büro mit Ukulele überrascht und anfängt, ihm ein Ständchen zu singen, ziehen sich Carrells Mundwinkel nach oben und scheinen zu sagen: „Netter, junger Mann, hab‘ ich irgendwo schon mal gesehen, ist ja niedlich, komm‘ ich mal in eine andere Show als meine eigene.“ Raab singt Carrells alten Schlager „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer“, allerdings mit dem Text: „Wann wirst Du wieder richtig witzig . . .“ – die Mundwinkel senken sich – „. . . so witzig, wie Du früher schon nie warst.“ Und spätestens an dieser Stelle bilden Carrells Falten nur noch formal ein Grinsen, anscheinend denkt er sich: „Sei froh, daß ich Profi bin und diesen Mist mitmache, aber wag‘ bloß nicht, eine zweite Strophe zu singen!“

Sowas kann Raab. Nicht nur Ukulele spielen, sondern dem Feind direkt ins Gesicht singen. Viel mehr muß er für seine neue Show nicht können, die die Fortsetzung von Kalkofes Mattscheibe mit anderen Mitteln ist und davon lebt, daß der Wahnsinn, der täglich auf den Kanälen tobt, die Vorstellungskraft immer noch um ein Vielfaches übersteigt. Im Regionalsender Südwest macht Dr. Carlo Bussi (!) Hüftübungen: „Schieben, und wieder rausziehen.“ Andreas Türck steht in seiner Talkshow mit „landminengroßen Schweißflecken“ unter den Achseln da. Und Moderator Adi Furler ist halbnackt und erschreckt uns, so Raab, mit seinen „Titten“. Gut, die mußten wir nicht unbedingt sehen. Aber in glücklichen Momenten baut TV Total aus den Schnipseln eine eigene Dramaturgie, und Raab nimmt ab und zu sogar den Blick vom Monitor, auf dem er sich selbst sieht.

Jetzt könnten wir noch ein wenig lamentieren über die Selbstreferentialität des Mediums. Andererseits sind die Müllberge, die es täglich produziert, so gewaltig, daß die ein oder andere Wiederaufbereitungsanlage, die sie recycelt, verbrennt oder schlicht öffentlich ausstellt, nicht schaden kann. Vor allem, da die Alternative aller Wahrscheinlichkeit nach nur die Produktion neuen Mülls wäre.

Alarm!

Süddeutsche Zeitung

Nach dem Abschied von Christian Ulmen wird MTV in Deutschland zu einem normalen und ironiefreien Musiksender.

So schnell wird aus einem Kompliment die Prophezeiung eines Todes: Die Zeitschrift TV Today hat Moderatoren getestet und bei den Neuen von MTV viel Elend entdeckt. Fazit: „Nur der schlagfertige Christian Ulmen kann MTV vor dem Aus retten. “ Als das Heft am Freitag erschien, hatte Ulmen schon gekündigt: „Das Know-How, die Coolness und der Hochglanz von MTV- Live aus Berlin lassen mich beschließen: Wenn`s am Schönsten ist, soll man aufhören. “ Die Pressemitteilung trieft vor Ironie. Live aus Berlin ist so cool wie der Tigerenten-Club, hat den Hochglanz einer verpatzten Generalprobe und das Know-How eines von Praktikanten gefilmten Moderatorenwettbewerbs in der Fußgängerzone.

Nur weil sein größter Star kündigt, geht kein Musiksender zugrunde. Doch der 23jährige war das letzte Überbleibsel einer Zeit, als MTV nicht im Strom mitschwamm, sondern ihn formte. Ulmens erste Sendung Hot fand vor einem starren Fischauge statt, das ihn in einem fast leeren weißen Raum filmte. Bei Alarm war das Herzstück eine häßliche braune Schrankwand. Live aus Berlin beschreibt Ulmen dagegen als eine „typische Teenie-Nachmittags-Show“.

Dazwischen liegt der Antritt der Geschäftsführerin Christiane zu Salm – und ein Kulturschock. Sie ließ von Alarm nicht eine, sondern bis zu fünf Shows täglich aufzeichnen. In Live aus Berlin verbannte sie Ulmens schrägen Humor in kleine Biotope, was nicht funktionierte, weil ihn im sonst ironiefreien Programm niemand verstand. „Früher wurde bei MTV aus Leidenschaft fürs Programm gearbeitet und experimentiert“, erzählt Ulmen. „Heute heißt es, Fernsehen funktioniere nur nach bestimmten Regeln und alles Schräge von damals wird mit dem Argument abgebügelt: Hat keiner geguckt. “ Zum Glück hat er seine Hamburger Wohnung nicht gekündigt. Jetzt wird ausschlafen und die Angebote anderer Sender prüfen.

Süßes statt Spinat

Salm gibt ihren Kritikern erst einmal recht: „Christian hat MTV das Profil verliehen, das ich gerne hätte. “ Sie sagt, daß ihr bei Live aus Berlin „Substanz und Kanten“ fehlen. Im Konflikt zwischen Kanten und Quoten habe sie sich aber entschieden, mit Telephonspielen erst einmal die Massen zu gewinnen, um ihnen dann irgendwann auch Schräges zuzumuten. „Das ist“, meint Ulmen, „als wollte ich ein Kind dazu bringen, Spinat zu essen, indem ich ihm erstmal ganz viel Süßigkeiten gebe“. Doch die Berlin-Sendung war nicht nur als Zucker für die breite Masse, sondern auch für die Medienanstalt Berlin-Brandenburg entwickelt worden. Die bedankte sich und gab MTV den Vorzug vor Viva bei der Vergabe eines guten Kabelplatzes.

Christiane zu Salm, 32, ist seit einem Jahr Geschäftsführerin von MTV-Central Europe. Sie hat gründlich aufgeräumt. Heute ist kaum ein Mitarbeiter von damals mehr in leitenden Positionen. Komplette Abteilungen sind ausgewechselt; nach Ulmens Kündigung wollen weitere langjährige MTV-Mitarbeiter gehen. Jegliche Spuren ihrer Vorgänger beseitigte Salm, kündigte vorzeitig der Werbeagentur, beendete die Zusammenarbeit mit der Produktionsfirma MME, ließ Eigenproduktionen und Design außer Haus entwickeln.

Salm sagt, all das sei nötig gewesen: „Kreativität ist nichts ohne Strukturen, und bei uns war alles immer ein Chaos. “ Alte MTVler nennen dieses Chaos den „Spirit“, der MTV ausgemacht habe. Eine von denen, die frustriert gegangen sind, trägt den schönen Namen Silke Super, bunte Haaren und schräge Klamotten. Sie war für die Kontakte zu Künstlern und der Musikindustrie verantwortlich und wird es in Zukunft für Viva sein: „Musik hat viel mit Gefühl und Identifikation zu tun“, sagt sie. „Man muß als Geschäftsführer nicht unbedingt selbst dieses Gefühl haben. Aber man muß die Leute holen, die es haben. “ Christiane zu Salm holte stattdessen Experten des Mainstream wie Programmchef Christofer Sebald – Ex-Vera-am-Mittag. „Mir fehlt bei MTV heute Liebhaberei“, sagt Super: „Man kann Lifestyle nicht vom grünen Tisch verkaufen. “ Ehemalige Verantwortliche sagen, kein anderer Sender müsse so sehr aus dem Bauch gemacht werden wie MTV. Es sind zwei Welten: Punks, die sich Silke Super nennen und auch so aussehen, und Anzugträger, die die Regeln des Privatfernsehens kennen und für die „Bauchgefühl“ ein anderes Wort für Dilettantismus ist. Salm verabreicht ihre Kulturschocks nicht mit Fingerspitzengefühl.

Die Mannschaft, die sie bei ihrem Amtsantritt vorfand, nennt sie „Hiwis“. Dem Vorwurf, sie habe viele Leute telephonisch aus ihrem Urlaub gefeuert, in den sie gleich nach ihrem Amtsantritt gefahren ist, widerspricht sie: „Die wurden alle vorher entlassen. “ Und bei der Telemesse steht sie vor ihren Moderatoren und erzählt, daß gerade die Moderatoren noch ein Schwachpunkt seien.

Anfang vergangener Woche verkündete MTV nur zwei Monate nach der Programmreform den Erfolg: Viva, bislang weit in Führung, sei überholt worden. Die Zahl der MTV-Zuschauer habe sich nach einer Umfrage des Instituts Phone Research gegenüber 1998 fast verdoppelt. Phone Research sitzt im gleichen Gebäudekomplex wie MTV und ermittelt seit Jahren auch in schlechten Zeiten gute Zahlen für den Sender. Intern arbeiten MTV und Viva mit handfesten GfK-Zahlen. Die gibt es, die Sender müßten aber Millionen bezahlen, um sie veröffentlichen zu dürfen. Laut GfK hat MTV in den ersten beiden Monaten seinen Marktanteil in der Zielgruppe tatsächlich fast verdoppelt, bleibt aber deutlich hinter Viva zurück. Experten führen das darauf zurück, daß MTV seit Januar unverschlüsselt über Satellit zu empfangen ist und doppelt so viele Haushalte erreicht.

Bitte nicht edgy

Dabei sind Quoten nur ein Nebenkriegsschauplatz. MTV und Viva erreichen beide nur Marktanteile im Promillebereich, in der Zielgruppe zwischen ein und zwei Prozent. Niemand wirbt bei einem Musiksender wegen der Zuschauermassen, sondern wegen der engen Verzahnung von Programm und Werbung und der Glaubwürdigkeit der Marke. „Schnell Quoten zu schaffen, wäre kein Problem“, sagt Viva-Chef Dieter Gorny: Man spiele einfach nur Top 20. Doch eine Marke, die Teil der Lebenswelt der Jugendlichen wird und Trends setzt, erzeuge man damit nicht. Salms Vorgänger Michael Oplesch hatte dennoch die Musikauswahl auf Top-40 umgestellt. „Wir mußten gegenüber der Plattenindustrie einen Schlingerkurs verkaufen, bei dem alle drei Monate die Richtung geändert wurde“, sagt Silke Super. Christiane zu Salm gab zwar offiziell die Devise „Back to the roots“ aus. Aber, sagt Super: „Das wurde nur ein Weilchen durchgezogen. Dann hieß es wieder: Bitte nicht zu edgy, verkaufen muß es sich auch.“

Was also wird aus MTV? „Wenn es das Ziel ist, Quote zu machen, werden sie das auch schaffen“, sagt Christian Ulmen, „wenn auch auf Kosten der Identität des Senders“. Den Erfolg von MTV garantiert eine solche Hinwendung zum Seichten in der Tat nicht. „Alarm war von Künstlern, die dort auftreten wollten und das Ambiente liebten, Monate vorher ausgebucht“, sagt Silke Super. Bei Live aus Berlin ist das, Quote hin oder her, offenbar anders. Einige prominente Stars sollen sich weigern, dort überhaupt aufzutreten.

Ein glorreicher Halunke

Süddeutsche Zeitung

Der Viva-Star Stefan Raab will jetzt bei Pro Sieben die TV Kollegen hochnehmen — einige finden ihn gar nicht komisch.

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So hatte man sich das Zuhause eines grinsenden Jungkomikers, eines respektlosen Mistkerls nicht vorgestellt. Stefan Raab wohnt in Köln, und zwar in Köln-Sülz. In Sülz stehen viele graue Häuser mit wohnzimmergroßen Kneipen und Läden im Erdgeschoß. Auf einem dieser Häuser steht in orangefarbenen Buchstabenquadraten „Metzgerei“ und in Schreibschrift darunter „Raab“. Eine traurige Gardine hängt inzwischen im Schaufenster, die Metzgerei ist nicht mehr in Betrieb. Und die Tür öffnet nicht eine charmante Assistentin, sondern Raabs Mutter.

Stefan Raab, 32, TV-Moderator und Musikproduzent, ist nicht da. Das ist erst einmal ein Glücksfall. Denn so geht es mit Mutter Raab in die Wohnküche, in der Raabs Freund Guildo Horn gerne sitzt und ihre Mettbrötchen ißt. Frau Raab erzählt, daß sie manchmal eine Stunde braucht, um zur Bank an der Ecke zu kommen, weil sie alle paar Minuten jemand auf der Straße anspricht. Aber das seien sie, die Raabs, als eingesessene Kaufleute gewohnt. Den Stefan kennt hier noch jeder von damals, als er im Laden gestanden und seine Metzger-Lehre gemacht hat. Und daß sich viel verändern wird, wo er jetzt von Viva zu Pro Sieben geht, das glaubt Frau Raab nicht. Eigentlich sei das mit der Karriere immer einfach so passiert. Der Stefan sei als Kind nie groß aufgefallen, nicht mal Schülersprecher gewesen. Eigentlich ein ganz ruhiger, naja, vielleicht nicht ganz ruhiger, naja, wie Jungs halt sind.

Ja, klar, Frau Raab. „Der tut nichts“, ruft das Herrchen am Horizont, während der Hund mit sabbernden Lefzen auf sein Opfer zugalloppiert. „Der spielt nur“, brüllt der Mann, während das Tier zubeißt. So ist Stefan Raab. Er will keinem etwas Böses. Aber läßt man ihn von der Leine, stürmt er los, und zerbeißt das Lieblings-Spielzeug der anderen. Schreibt ein Lied für Guildo Horn und versaut damit Ralph Siegel seinen Schlager-Grand-Prix. Sprengt die Hitparade, weil er sich an den Moderator fesselt. Ärgert Dieter Thomas Heck, indem er bei der Verleihung der Goldenen Stimmgabel die Lippen nicht zum Playback bewegt. „Mein Mann und ich fanden es nicht witzig“, sagte Frau Heck hinterher. Und Raab steht da wie der Hund im Blumenbeet und versteht nicht, wofür man ihn prügelt. „Ist doch nur Spaß“, sagt er. „Wer den nicht versteht, ist selber schuld. Es gibt zuviele Leute, die sich und das, was sie machen, zu ernst nehmen.“ Das kann Stefan Raab nicht passieren.

Von 1993 an hat er auf dem Musiksender Viva die Sendung Vivasion moderiert. „Viva hat mir die Gelegenheit gegeben, fünf Jahre lang On-Air zu proben“, sagt Raab. Das ist kokett, aber nicht falsch. Zur öffentlichen Dauerprobe gehört, daß Raab von seiner Redaktion markierte Stellen aus der Bravo oder aus Zuschauerfaxen vorliest. Das Besondere besteht schlicht darin, daß Raab in das Manuskript exakt in dem Moment zum ersten Mal sieht, in dem er es vorliest. Dann nimmt ein Sänger oder Halb-Promi neben ihm Platz und Raab fängt an, in dessen Biographie zu blättern: „Mensch, Du hattest ja letzthin, wollen wir mal gucken, was Du da alles gemacht hast, äh, ach ja hier, wie war das denn..?“ Freunde gewinnt man damit nicht. Aber Fans. Und das alles ist doch kein Grund für die Gäste, beleidigt zu sein: „Ist doch nur Spaß.“

Spaß ist für Raab ein anderer Ausdruck für „gute Unterhaltung“. Die schafft er, meint er, indem er mal die Gala zur Verleihung der Goldenen Stimmgabel aufmischt. Und freut sich, wenn ein Mini-Skandal daraus wird. „Provokation ist ein Mittel, um für Aufmerksamkeit zu sorgen“, sagt Raab“,aber keines, mit dem man langfristig Entertainment machen kann“. In den letzten zwei Jahren habe er schon versucht, „nicht nur über Randale zum Spiel zu kommen“, wie er es am Anfang fast ausschließlich tat.

Daß man ihn ein „Arschloch“ nennt, läßt er sich gefallen. Gegen den Ausdruck „arrogant“ hingegen wehrt er sich. „Vielleicht kommt das so rüber“, sagt er und legt Wert darauf, daß er das Fußvolk hinter der Bühne auch im Streß nett behandelt. „Was ich im Fernsehen mache, ist Show. Es hat zwar mit dem privaten Raab zu tun, ist aber immer sehr überspitzt“, sagt er. Als Alf Igel peitscht er beim Grand Prix die Massen in goldener Glitzerjacke an; bei der Echo-Verleihung fährt er auf dem Dach eines Wagens vor und gibt eine Michael-Jackson-Parodie. Wenn er aber ganz privat auf die Straße geht, zieht er sich die Baseballkappe tief ins Gesicht und schaut auf den Boden. Bei Filmpremieren ist er kaum zu sehen. Und tatsächlich gibt es weder Stefan-Raab-Schlüsselanhänger noch einen Fanclub. Als zu seiner Hoch-Zeit bei Viva Mädels in Schlafsäcken vor seiner Tür übernachteten, habe er das als „totale Eingrenzung seines persönlichen Bereiches“ empfunden, sagt er pikiert.

In der ehemaligen Wurstküche der Metzgerei hat sich Raab ein großes Studio eingerichtet, in dem er seiner Hauptberufung nachgeht: Künstler zu produzieren und sich gelegentlich selbst immense Hits wie „Börti Vogts“ oder „Hier kommt die Maus“ zu schreiben. Wenn’s um seine Musik geht, soll ihm bloß keiner dumm kommen: Dann hält er schon mal Kurzreferate, warum sich hinter der scheinbaren Schlichtheit eine komplexe Struktur verbirgt, und erwähnt dezent, daß der Spitzen-Jazztrompeter Till Brönner ein guter Freund von ihm ist: „Wenn ich mich entscheiden müßte für die Musik oder das Fernsehen, würde ich mich sofort für die Musik entscheiden.“ Alt möchte er nicht werden im Fernsehen: „Vielleicht erwachsen.“

Den Sprung aus der Kinderecke des Fernsehens hätte Raab längst machen können. Dutzendweise hatte er Angebote vorliegen: TV Kaiser, Cashman, eine Prominenten-Karaoke, Samstagabendshows auf RTL und Sat 1. Er hat alles abgelehnt: „Da war viel Müll dabei.“ Und weil der Zeitpunkt nicht der richtige war: „Es bedurfte noch einer Entwicklung bei meinem Image. “ Seit er sich mit seinem Hit „Hier kommt die Maus“ auch in Kinderzimmer und Elternherzen gesungen hat, ist er wenigstens nicht mehr nur der Rabauke: „Die Maus war mir sehr dienlich.“

Es ist immer noch alles nur Spaß, was Raab im Fernsehen macht, aber heute nennt er es „Entertainment“. Sein neuer Chef Jobst Benthus, „Abteilungsleiter Show“ bei Pro Sieben, kirrt ihn zur Verkörperung „der Generation der jungen Entertainer“. Ab März hat er dort seine eigene wöchentliche Show TV Total. Bald wird er dort wohl, wie Arabella Kiesbauer, auch als Werbeträger für den Sender auftreten und beide Seiten sind glücklich: Pro Sieben läßt Raab erwachsen werden und ein breiteres Publikum ansprechen. Raab bringt zu Pro Sieben im Idealfall einige jüngere, vorzugsweise weibliche Zuschauer von Viva mit.

Zum Erwachsensein gehört, daß Raab in Zukunft die Sende-Manuskripte vorher durchlesen wird. „Major-TV“ nennt Raab Pro Sieben respektvoll im Gegensatz zum Mini-Sender Viva. TV-Total ist die Raab-Version von Kalkofes Mattscheibe auf Premiere: Die Dauerglotzer von der Firma Brainpool, die auch die Wochenshow auf Sat 1 produziert, suchen nach Pannen, Katastrophen oder Originalen wie Gustav Lommerzheim, der im Offenen Kanal Berlin einen Tanzclub für Senioren veranstaltet. Die besten Geschichten aus den täglichen Talkshows werden als Märchen nacherzählt. Zwischendurch darf Raab machen, was er am liebsten macht: Unschuldige Menschen auf der Straße oder am Telephon mit blöden Fragen nerven — drauf zutraben und freundlich zubeißen.

Einen riesigen Schritt sieht er in dem Wechsel dennoch nicht: „Es bleibt ja dabei, was ich nicht witzig finde, kommt nicht in die Sendung.“ Seine Hauptstärke wird weiterhin in dem Mut bestehen, mit einer Mini-Gitarre die Show-Ikone Rudi Carrell zu überraschen und zu singen: „Wann wirst du endlich wieder witzig? So witzig, wie du früher schon nie warst…“ Herr und Frau Heck und viele andere auch werden immer noch nicht drüber lachen können.

Vera

Süddeutsche Zeitung

Ne ne ne ne. Ne ne. Ne ne. “Vera am Mittag”: Michaela hat Harry, Andreas hat Michaela.

Harry, 39, ist arbeitslos, Alkoholiker und eine Niete im Bett – das sollte für ein erfülltes Leben reichen. Doch jetzt weiß Harry außerdem, daß seine Frau Michaela, 25, ihn betrügt. Und der Rest der Welt weiß es auch, denn rausgekommen ist alles bei Vera am Mittag auf Sat 1. Eigentlich waren Harry und Michaela nur gekommen, um über eine uralte Geschichte zu reden. Peter, 27, hatte sich zum Thema „Warum hast du mir das angetan?!“ gemeldet. Er war vor acht Jahren kurz mit Michaela zusammen; sie betrog und verließ ihn. Und heute, sagt er, ist Michaela nicht mit Harry, sondern mit einem Andreas zusammen.

Andreas, 25, ist am Telephon. Stimmt, sagt er, ich habe ein Verhältnis mit Michaela. Die sieht plötzlich nicht mehr ganz so glücklich aus. Ihr Mann Harry noch weniger. Peter lacht und sagt, daß ihm das eine Genugtuung sei, nachdem er Michaela damals in flagranti mit Harry erwischt habe. „Peter, das war, nachdem die mit dir Schluß hatte“, widerspricht Harry. Aber Peter: „Ne ne ne ne ne ne ne. Ne ne ne ne. Ne ne. Ne ne.“ Michaela erklärt, warum sie Peter damals verließ: „Ich frag mal hier im Publikum, ob eine der Frauen Lust hat, mit einem zusammen zu sein, der sich auf die Brücke stellt und umbringen will.“ – „Ja wegen dir, blöde Kuh!“ schreit Peter zurück. Beifall. Vera, bekümmert: „Ist da soviel Haß in dir, Peter?“

Dann will sie wissen, was Michaela eigentlich bei Harry vermißt, und zwar „ganz ehrlich, denn wir haben uns drauf geeinigt: Wir sind da ganz ehrlich!“ Also gut: Weil er Alkoholiker ist und nicht weiß, wie man eine Frau richtig behandelt. „Ist ein Problem in der Sexualität da?“ fragt Vera. „Ein bißchen ja. Ich bin nur noch wegen der Kinder mit meinem Mann zusammen.“ Jetzt wird es etwas kompliziert. Andreas sagt, daß Harry Michaela mal mit dem Messer ins Bein gestochen habe, was man aber, wie Vera feststellt, hier nicht beweisen kann. Andreas will Michaela. Die aber stört, daß er arbeitslos ist. Sie sei fassungslos, daß er „das hier in aller Öffentlichkeit auf den Tisch kehrt“.

Vera versichert, daß es doch gut sei, daß jetzt wenigstens alles raus sei, oder, Harry? Klar! „Der glücklichste Mensch“ sei er, sagt er, „wunderbar, daß der dahin geht und meine Familie kaputtmachen will.“ Zum Publikum: „Immer man drauf! Jetzt habt ihr alle die Chance dafür.“ Immerhin ist er – außer Vera – der einzige, der sich nicht umbringen will, während Andreas, Michaela und Peter abwechselnd damit gedroht haben, sich „hinter den Zug zu werfen“.

Keine Sorge, sagt Vera, wir haben eine Psychologin da. Eine ordentliche Talkshow läßt ihre Gäste nicht allein mit den Problemen, in die sie sie stürzt. Noch ein Rat von Vera an Anreas: Gib Michaela auf! „Aber . . .“ – „Nein, Andreas, jetzt reden wir nicht mehr darüber. Ganz, ganz lieben Dank, daß du Zeit hattest, ans Telephon zu gehen, und von hier aus viele Grüße. Tschüß!“

Operation Phoenix

Süddeutsche Zeitung

Das Übersinnliche lauert überall. Die erste deutsche Mystery-Serie: „Operation Phoenix“.

Wenn die Außerirdischen klug sind, wovon auszugehen ist, werden sie die Amerikaner enttäuschen und die Erde von Deutschland aus erobern. Wir wären ihnen schutzlos ausgeliefert. Genau wie der Wahrheit, sollte sie je genug davon haben, „irgendwo da draußen“ zu sein, und in die Nachbarschaft einziehen wollen. RTL hat zwar immerhin als erster Sender eine eigene Spezialeinheit installiert, die sich um Kriminalfälle im Zusammenhang mit paranormalen Phänomenen kümmert. Aber im Ernstfall würde sie, wie viele große Ideen, am kleinen Detail scheitern. „Sie können hier nicht rein“, ruft eine Krankenschwester den Spezialisten zu, als die in die Intensivstation eindringen. „Wir können“, widerspricht ihr ein Ermittler, und seine Kollegin wirft ihr im Vorbeirennen ein erklärendes „BMI!“ zu. Beeindruckt gibt die Krankenschwester jeden Widerstand auf.

BMI? Das Kürzel steht für „Bundesministerium des Inneren“, wo die Einheit angesiedelt ist. Nur daß es sich im Alltag noch nicht ganz so durchgesetzt hat wie das „F.B.I.“, mit dem sich die amerikanischen Kollegen in Sekunden Respekt verschaffen. In Wirklichkeit hätte die Krankenschwester mit dem Hinweis „ABM“ vermutlich mehr anfangen können. Wie soll man unter solchen Umständen erfolgreich übernatürliche Straftäter fangen können?

Argumente, die mit „In Wirklichkeit…“ anfangen, sind müßig im Mystery-Genre – das Beispiel „BMI“ zeigt nur, wie originalgetreu RTL bei der ersten deutschen Serie dieser Art Originale wie „Akte X“ oder „Millennium“ übersetzt hat. Die deutsche Truppe heißt „Operation Phoenix“. Sie besteht aus drei Mitgliedern, mit klar verteilten Rollen: Mark Pohl (Dirk Martens) ist der vermeintliche Spinner, die treibende Kraft. Wenn es so aussieht, als sei Seelenwanderung im Spiel, ist seine Erklärung, daß Seelenwanderung im Spiel ist. Er weiß, daß das Fachwort dafür „Palingenese“ lautet und sucht solange in der Bibliothek, bis er ein Photo davon gefunden hat. Kris Mertens (Alana Bock) ist die Psychologin. Das Unerklärliche schließt sie nicht aus – siedelt es aber erstmal im Kopf des Betroffenen an. Palingenese? Vielleicht doch eher ein Virus, das Aggressionen hervorruft. Richard Lorentz (Robert Jarczyk) schließlich ist der Kluge, der im Mystery-Genre klassischerweise der Dumme ist. Lorentz ist so rational, daß er selbst an Bord des UFOs noch einen Trick mit Spiegeln vermuten würde. Seelenwanderung? Humbug! Höchstens Hypnose.

Mystery sprengt die Grenzen des klassischen Krimis. Es geht nicht darum, das scheinbar Unerklärliche zu erklären – sondern eine Möglichkeit zu finden, mit dem Unerklärlichen zu leben. Wenn der Täter den Körper wechseln kann, ist es nicht mehr damit getan, ihn zu ermitteln und dingfest zu machen. „Mystery bietet mehr erzählerische Freiheiten“, sagt Drehbuchautor Marco Rossi. Durch die Kombination von Kriminalfällen mit paranormalen Phänomenen könne eine Spannung kreiert werden, die jenseits konventioneller Erzählformen liegt.

Daß die grünen Leuchtbänder, mit denen die Seele von Mund zu Mund wandert, am Ende nicht als Taschenspielertricks entlarvt werden, ist für deutsche Serien eine echte Innovation. Es bedeutet auch, daß die Phoenix am Ende machtlos ist – und das Übersinnliche überall lauert. Solche Paranoia ist in den USA weit verbreitet. Ob sich der Deutsche, und sei es nur für den Nervenkitzel vor dem Fernseher, davon massenhaft anstecken läßt, ist eine spannende Frage. Die Privatsender werden sie klären: Im nächsten Jahr zieht „Akte-X“-Sender Pro Sieben mit einer eigenen Mystery-Serie nach. RTL jedenfalls mußte sich schon gewaltig anstrengen und einen echten Parapsychologen aufbieten, um das Übersinnliche in den Deutschen halbwegs nachweisen zu können: Nur an Nahtodeserfahrungen oder Genmanipulationen glaubt die große Masse. Von der Existenz von UFOs oder Reinkarnation ist nicht mehr als ein Drittel der Deutschen überzeugt.

Vorsicht, Wissen!

Süddeutsche Zeitung

Das Magazin „Galileo“ soll intelligent sein, aber nur ein bißchen.

Was kommt dabei heraus, wenn man „Die Sendung mit der Maus“ mit Barbara Eligmann kreuzt? Ein Satz wie dieser: „Wissen ist Macht, und mein Name ist Aiman Abdallah.“ Von heute an präsentiert er täglich eine Sendung, die wie ein Boulevardmagazin daherkommt, sich aber nicht mit Sex und Gewalt, sondern Magenknurren und Regenbogen beschäftigt. „Galileo“ heißt sie und will beweisen, daß sich die Erde doch um die Sonne dreht und daß um kurz vor acht im Fernsehen doch nicht nur Peinliches funktioniert.

Sichtlich stolz ist das Team auf sein neues Wissensmagazin, das nicht nur schön sein soll, sondern auch lehrreich und intelligent. Gleichzeitig ist seine größte Sorge, daß die Sendung als lehrreich und intelligent gelten könnte – was die Zuschauer möglicherweise vom Einschalten abhielte. „Wir wollen nicht altmeisterlich erklären, sondern unterhalten“, sagt Rainer Laux, bei Pro Sieben für Information und Dokumentation verantwortlich. „Galileo ist kein Intelligenz-Fernsehen und darf nicht viel Allgemeinwissen voraussetzen.“ Manchmal sind die Wissensfragen auch nur Vorwand, um einfach schöne Bilder zu zeigen. Zur Frage „Wie kommt die Farbe ins Fernsehen“ sehen wir ausführlich große, bunte Naturaufnahmen und denken uns: Egal, wie die Farbe reinkommt – aber schön, daß sie drin ist.

Theoretisch ist Galileo genau das richtige Programm zu dieser Zeit auf diesem Sender: Das Magazin fängt den Zuschauer mit dessen Interesse ein, zu einer aktuellen Meldung mehr erfahren zu wollen. Der Nachrichtenmoderator weist auf Galileo hin, und Galileo soll, so oft es geht, direkt mit einem aktuellen Stück andocken. Wüten auf der Welt gerade Hurricanes, soll es sich etwa der Frage widmen: „Warum gibt es in Deutschland keine Wirbelstürme?“ Das alles verpackt in die Pro-Sieben-Hochglanz-Optik, die der Sender im Lauf der Jahre perfektioniert hat und die den Übergang zu den internationalen Serien und Spielfilmen fließend macht, bei denen der „Galileo“-Zuschauer nach knapp 30 Minuten abgeliefert wird.

Soweit die Idee. In der Praxis weiß Pro Sieben, wie gewagt es ist, ein teures tägliches Wissensmagazin in der Hauptsendezeit etablieren zu wollen. „Wir wollen fünf bis sieben Prozent Marktanteil, das ist unsere große Hoffnung“, sagt Pro Sieben-Programmchef Borris Brandt. „Von diesem Niveau aus wollen wir uns dann Schritt für Schritt hocharbeiten.“

Pro Sieben hat sich nicht gerade den Ruf erworben, bei neuen Formaten sehr geduldig zu warten, bis sich der Erfolg einstellt. Die entscheidende Frage, die das Wissensmagazin beantworten muß, lautet daher: Wie lang ist der Atem bei „Galileo“? Die Pro Sieben-Leute antworten mit Indizien: daß man extra ein Team mit der beachtliche Zahl von rund 25 Redakteuren aufgebaut und sechs Monate lang hart gearbeitet habe. Und daß „Galileo“ nicht, wie sonst bei Pro Sieben üblich, von einer fremden Produktionsfirma, sondern im eigenen Haus hergestellt werde. „Wir wollen langfristig eine Marke aufbauen“, sagt Brandt. Und wer gutes Geld verdiene, solle auch gutes Geld ausgeben.

Hete Petete

Süddeutsche Zeitung

Nun ist er die Titelstory. Wenn sich ein Prominenter gegen den Satz wehrt, er sei schwul.

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Wie geschäftsschädigend ist es für einen Nachrichtensprecher, wenn er in der Öffentlichkeit als homosexuell gilt? Wie viele Schlagerfestivals wird er weniger moderieren dürfen? Auf wieviele Einladungen zu Firmenfesten und PR-Terminen wird er verzichten müssen? Konkrete Antworten konnte auch der Hamburger Nachrichtensprecher nicht geben, der in einem Buch über 500 berühmte Lesben, Schwule und Bisexuelle erwähnt wurde. Aber er verklagte den Berliner Quer-Verlag auf Schadensersatz. Diesen Anspruch wird er vorm Hamburger Landgericht wohl nicht durchsetzen können – mehr als ein Jahr nach der Veröffentlichung hätte man davon „etwas gemerkt haben“ müssen, der Betroffene aber sei anscheinend „gut im Geschäft“, so der Richter.

Für den Verlag bedeutet der Prozeß dennoch eine Bedrohung seiner Existenz. Der TV-Sprecher fordert nämlich 50 000 Mark Schmerzensgeld für die Verletzung seiner Intimsphäre. Der Anwalt des Verlags, Helmuth Jipp, rechnet damit, daß das Gericht ihm etwa die Hälfte zusprechen wird. Das könne ihr kleiner Verlag unmöglich aufbringen, sagte Geschäftsführerin Ilona Bubeck. Es bedeute den Konkurs. Deshalb kam auch ein Vergleich über 5000 Mark Schmerzensgeld nicht zustande — mitsamt den Gerichtskosten wären 14 000 Mark zusammengekommen. Der Berliner Förster-Verlag, der die Behauptung übernommen hatte, einigte sich mit dem Sprecher, ihm 15 000 Mark zu zahlen. Außerdem werden die — zumeist schwulen — Leser der Förster-Zeitschrift Adam in einer kommenden Ausgabe mit dem Hinweis überrascht, der Sprecher sei nicht wie dargestellt schwul, sondern, im Gegenteil: nicht schwul. Ob das stimmt oder nicht, spielte im Prozeß gegen den Quer-Verlag allerdings keine Rolle. Um eine schwere Verletzung des Persönlichkeitsrechts handele es sich in jedem Fall, sagte der Vorsitzende Richter. Daß die Behauptung „offenbar falsch“ sei, mache es nur schlimmer. Die Beklagten konnten nur Indizien vortragen, die vom Kläger als „Geschwätz von Kollegen“ abgetan wurden.

Daß die Nennung des Mannes eine Verletzung seines Persönlichkeitsrechts darstellt, räumte Verlagsanwalt Jipp ein. In der Geldforderung sieht er aber ein Beispiel für die zunehmende Kommerzialisierung dieses Rechts. In einer Zeit, in der sich schwule und lesbische Paare in Hamburg registrieren lassen können und die künftige Regierung Anti-Diskriminierungs-Gesetze plane, könne von einem entstandenen seelischen Schaden nicht die Rede sein. Homosexualität sei kein Makel mehr. Gesellschaftliche Vorurteile, unter denen der Sprecher leiden könnte, würden durch solche Urteile gerade noch verstärkt, sagte Jipp.

Ein meßbarer Imageschaden könnte dem TV-Sprecher allerdings durch die Klage selbst entstanden sein. Bis Freitag hatten nur 3000 Käufer des Buches und ein paar tausend Adam-Leser von der Behauptung gewußt. Am Wochenende stand dies überall, die Hamburger Morgenpost brachte sein Photo auf den Titel.

Der Zufall muss genau geplant sein

Süddeutsche Zeitung

Warum es so schwierig ist, eine Lottoshow zu entwickeln, für die sich auch die Zuschauer interessieren.

Auf 18 Seiten erklärten die Juristen der West-Lotto-Gesellschaft, was geht, was nicht geht, und auf welcher Seite des Ziehungsgerätes der Notar stehen muß. Spätestens da zweifelten die Fernsehleute von der Produktionsfirma GAT, ob die Lotto-Geschichte wirklich eine so gute Idee war. Fast alles, was Bestandteil einer klassischen Samstagabendshow wäre, fiel in die Kategorie Geht nicht: Geschicklichkeit und Wissen, um den Sieger zu küren, oder Spiele, bei denen einer wie Gottschalk unter Beifall des Publikums sagt: Ok, das lassen wir noch gelten.

Spätestens, als sie die Zufallsmaschinen sahen, zweifelten die Lotto-Leute, ob die Fernseh-Geschichte wirklich eine so gute Idee war. Die Kreativen von der GAT hatten einen Aufruf in einer Fachzeitschrift für Erfinder gestartet. Gesucht war eine witzige Konstruktion, mit deren Hilfe und Glück ein Gewinner gefunden werden sollte. Allein, daß die Fernsehleute sich vorstellen konnten, einen Millionär aufgrund einer von einem obskuren Menschen entworfenen obskuren Maschine zu bestimmen, ließ die Lotto-Leute frösteln.

Die Regularien von Lotto und die Regeln für eine gute Show gehen eigentlich überhaupt nicht zusammen, sagt WDR-Unterhaltungschef Hugo Göke. Deshalb ist es den Beteiligten nicht peinlich, daß die Lotto-Show schon vor Monaten hätte auf Sendung gehen sollen. Statt dessen überwiegt die Überraschung, daß es überhaupt geklappt hat. Für beide Seiten geht es um viel: Für die ARD ist die zweimonatliche Sendung einer der wichtigsten Bausteine in der proklamierten „Offensive“, die künftig an jedem Samstagabend eine Show vorsieht. Der Deutsche Lottoblock will neue Zielgruppen erschließen, weg vom Image der „anonymen Gelderzeugungsmaschine“, wie Winfried Wortmann, Geschäftsführer der federführenden Westdeutschen Lotterie in Münster, sagt. Das makellose Image darf darunter nicht leiden. Die Regeln, nach denen Lotto Millionäre macht, sind so ausgefeilt, daß die übliche Preisausschreibenfloskel fehlt, daß Mitarbeiter ausgeschlossen sind. Selbst der Lottochef darf Lotto spielen.

Der Lottoblock hat für die Show viel Geld freigeschlagen: eine Hälfte des Topfes, der für Sonderauslosungen bestimmt ist; das Geld stammt aus nicht abgeholten Lottogewinnen. Vor zwei Jahren beauftragte die Gesellschaft zehn Agenturen damit, Konzepte zu entwickeln, wie das Geld unter die Leute gebracht werden kann. Am Ende bekam die Münchner GAT, eine 49-Prozent-Tochter des Unterhaltungsriesen Endemol, den Zuschlag.

Als erstes mußte sie ein Grundproblem lösen: Über den Gewinn von Lottogeld darf nur der Zufall entscheiden. Das fängt beim Finden der Kandidaten an. Sie wurden aus dem Kreis der Spiel-77-Teilnehmer gelost. Weiter: Ob jemand sieben Tabletts balancieren kann oder die Hauptstadt von Marokko weiß, darf keine Rolle spielen. Ein reines Glücksspiel aber würde die Leute nicht 90 Minuten am Fernseher halten: „Es war schnell klar, daß wir aus dramaturgischer Sicht ein Problem kriegen“, sagt GAT-Producerin Nina Glattfelder. „Roulette ist nur spannend, wenn ich selbst 100 Mark auf Rot setze, nicht, wenn ich jemandem dabei zuschaue.“ Hunderttausendmal hätten die Showexperten in ihrem Konferenzraum neue Versionen an die Tafel gemalt, wie man aus 49 Kandidaten, die selber nichts tun dürfen, einen Gewinner zieht.

Die Lösung ist ein Umweg. Den potentiellen Millionären werden Kandidaten zugelost, die gut in ihrem Beruf sind. Stellvertretend spielen die in sechs ‚TopJob‘-Spielen gegeneinander. Ihre Partner kommen ins Finale und spielen um die Million. Im Grunde waren alle Beteiligten damit glücklich, und das war schon eine Menge. Schließlich steht hinter der Produktion nicht eine Lotto-Show-Firma, sondern elf ARD-Anstalten und 16 Landes-Lottogesellschaften.

Eine richtige „Abstimmungsmaschine“ sei entstanden, sagt GAT-Chefredakteur Andreas Lebert, wöchentlich der neueste Stand der Entwicklung protokolliert und durch die Republik gefaxt worden, mit Durchschlag für Moderatorin Ulla Kock am Brink auf Mallorca. Jede Spielidee, die die GAT-Leute im 5. Stock eines Bürogebäudes im Münchner Vorort Unterföhring entwickelten, wurde von den Lotto-Revisoren überprüft. Das sind Menschen, die sonst ihr Geld damit verdienen, Teilnahmebedingungen zu schreiben, und zwar so klein und engmaschig, daß nichts durchrutscht. „Ich werde nie die Blicke der Kreativen vergessen, als sie unseren Entwurf für eine Ziehungsordnung für die Sendung gesehen haben“, sagt West-Lotto-Prokurist Hans-Joachim Rotermund. Dabei war das als Hilfe gemeint: Wenn man wisse, wie eng das Korsett sei, könne man sich schließlich viel freier darin bewegen.

Kellner, die durch Massen tanzender Menschen balancieren sollen? Oh nein, sagten die Juristen, da könnten sich die Paare ja vor einem einzelnen Kellner ballen — abgelehnt. Ein Wissensquiz für Geographielehrer? Nette Idee, aber was, wenn alle auf keine Frage eine Antwort wissen? Und überhaupt: Wer gibt das Startkommando? Von wo? Hören das alle gleich gut? Im übrigen stehen in der Ziehungsordnung klassische Lotto-Sätze: „Vor Beginn der Lotto-Show vergewissern sich Ziehungsleiter und Notar/Aufsichtsbeamter von der Funktionstüchtigkeit und Vollständigkeit aller Ziehungsmittel.“ Dazu: Vorschriften, was zu tun ist, wenn der Strom ausfällt, wenn ein Kandidat ausfällt, wenn ein Vertreter eines Kandidaten ausfällt…

Heute heißt es aus München und Münster, daß alle Einsprüche und Was-wärewenn-Fragen die Spiele erst richtig gut gemacht hätten. Doch vieles spricht dafür, daß in München zwischenzeitlich Mordpläne geschmiedet wurden. Einmal beschlossen die Kreativen, in den einzelnen Top-Job-Spielen unterschiedlich viele Kandidaten gegeneinander antreten zu lassen. Geht nicht, sagten die LottoLeute, da sind die Gewinnchancen der zugelosten Lotto-Gewinner unterschiedlich. Geht wohl, sagten die Fernsehleute und ließen sich von einem Gutachten der Technischen Universität München bestätigen, daß mathematisch die Chancen gleich sind. Moment mal, sagten wieder die Lotto-Leute und machten eine eigene Umfrage, ob die Zuschauer das akzeptieren, bevor sie zustimmten. „Es reicht nicht, daß mathematisch alles genau ist“, sagt Rotermund. „Es muß auch vom Empfinden der Leute her gerecht sein.“

Immerhin seien die Lotto-Leute bis an ihre Grenzen gegangen, sagt Producerin Glattfelder. Geld, das Nicht-Lottospieler heute abend gewinnen können, stammt aus dem Werbe-Etat von Lotto. Da ließen sich die Beamten auch auf ein Telephonspiel ein, bei dem sie sich letztlich auf die Aussage der Telekom verlassen müssen, daß alles mit rechten Dingen zugeht. Bei den Preisen, die aus Lotto-Einzahlungen stammen, gab es dagegen nichts zu rütteln. Die Kugeln etwa, mit denen ganz am Schluß der Millionär bestimmt wird, bekommt kein Requisiteur in die Hände. Die legt ein Ziehungsbeamter ins Gerät.

Überhaupt, das Ziehungsgerät: Einerseits muß es durchsichtig sein, damit jeder Zuschauer sieht, daß bei den Kugeln nichts manipuliert ist. Andererseits muß es undurchsichtig sein, damit kein Verdacht entsteht, daß irgendjemand sehen kann, welche Kugel er zieht. Aktueller Stand: Die beschrifteten Kugeln stecken in unbeschrifteten Kugeln in durchsichtigem Gerät. Langsam ahnt man, wie es kommt, daß 3 Lotto-Angestellte und 20 GAT’ler sich seit Anfang des Jahres mit nichts als dieser Show beschäftigt haben.

Großes kleines Fernsehen

Süddeutsche Zeitung

Sendungskritik: „Gute Nacht, Gottschalk“

Angenommen, jemand kriegt kurz nach seinem 48. Geburtstag eine sentimentale Phase und beschließt, sich eine Freude zu machen. Er lädt ein paar Idole seiner Jugend ein, Rockgitarristen, Models, sowas. Er zeigt ihnen, daß er ihre alten Platten noch hat, legt sie auf, summt mit. Ein paar der Gäste haben neue Platten mitgebracht, gemeinsam lauscht man, klimpert auf der Gitarre, erzählt sich, was an den guten alten Zeiten so gut war und ißt ein paar Käsehäppchen, weil der Pizza-Service schon zu hat. Gelegentlich klingelt das Telephon, Bekannte sind dran und Wildfremde, die auch gerade 48 geworden sind oder erst 22 oder schon 63. Drei Stunden dauert das Ganze, die ersten Besucher verabschieden sich immer wieder, neue sagen Hallo, ein paar haben ihre Frauen mitgebracht. Käme irgendwer auf die Idee, das ungefiltert im Fernsehen zu zeigen? Ok, der sentimentale alternde Typ ist nicht irgendwer, sondern Thomas Gottschalk. Aber will das ein Schwein sehen? Drei Stunden lang? Ohne Publikum, TED und Gewinnspiel?

Möglich wär’s, schön wär’s auch. „Gute Nacht Gottschalk“ sei „kleines Fernsehen“, sagt der Moderator am Anfang: „Es passiert nix.“ Doch die 190 Minuten kleines Fernsehen sind spannender als die meisten 90 Minuten großes, da sie völlig ohne die Rituale der Fernsehunterhaltung auskommen. Ringo Starr sieht ein wenig irritiert auf den CD-Spieler, in dem sein neuestes Werk läuft, ohne daß er mitsingen müßte. Rick Partiff von Status Quo und Brian May von Queen sträuben sich, ihre Plätze für Paola und Kurt Felix zu räumen. Assistentin Anke Engelke macht sich über Gottschalks Fragetechnik lustig und macht muffelig den Tisch sauber, weil außer Paola und Kurt keiner sein Glas selbst weggeräumt hat. Und Gottschalk kann sich bis zum Schluß nicht merken, daß der Sender „WDR Fernsehen“ heißt. Es ist egal, daß es in Köln keine Pizza mehr zu bestellen gibt und daß unbekannte Menschen fröhlich durchs Bild wuseln, um technische Probleme zu lösen. Die einzige wirkliche Panne ist der Versuch, das englisch-deutsche Sprachchaos zu übersetzen — und Dieter Thomas Heck durchzustellen, der anruft, um den „lieben Kurti“ zu grüßen.

WDR-Redakteur Michael Au hat nach „Feuersteins längster Nacht“ ein weiteres Fernsehexperiment gewagt. Passiert ist nichts. Aber die Art, wie nichts passierte, war spannend.

Einer wird gewinnen

Süddeutsche Zeitung

Tomate Leandros. Fernsehkritik: Einer wird gewinnen (ARD).

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Als es 21.04 Uhr wurde am Samstagabend, lehnten sich einige Manager des Privatfernsehens entspannt zurück, schalteten das Erste aus und wußten, daß sie die Show-Offensive der ARD in aller Ruhe auf sich zukommen lassen konnten. Um diese Zeit rief ein Regie-Assistent in der Meirotels-Halle in Rotenburg an der Fulda Moderator Jörg Kachelmann live zu, die Zuschauer hätten das gerade gespielte Spiel nicht verstanden. Das war nicht weiter verwunderlich, denn auch den beiden Kandidatinnen konnte Kachelmann die Regeln nur erklären, indem er sie ihnen direkt ins Ohr brüllte. Hinter ihnen stand nämlich als Teil des Spiels ein tobender, singender, trötender Mob von Fußballfans aus 21 Ländern. Das hätte eigentlich auch schon während der Proben so gewesen sein müssen – falls der Hessische Rundfunk sich nicht einfach auf seine jahrzehntelange Erfahrung mit dem Blauen Bock verlassen und darauf komplett verzichtet hatte.

Dabei produziert die Neuauflage von Einer wird gewinnen kein Geringerer als Wolfgang Penk, Ex-Unterhaltungschef des ZDF. Er und sein Team haben sich von den erfolgreichen Shows der Privaten einiges abgeguckt: zum Beispiel, daß das Saalpublikum nett angeleuchtet werden sollte. Wie man das so macht, daß es nicht nach drei rotierenden 60-Watt-Lämpchen im Partykeller aussieht, haben sie leider nicht in Erfahrung bringen können. Nette Computertricks bastelten sie um die Vorstellung der einzelnen Kandidaten und dachten sich: Eine Version davon wird wohl reichen, die kann man ja achtmal zeigen. Und irgendwann werden sie vielleicht lernen, wie man Vicky Leandros in wabernden roten Nebel einhüllen kann, ohne daß sie aussieht wie eine Tomate.

Dabei ist das alte EWG-Konzept durchaus 90er-Jahre-tauglich. Interessanten Leuten zuzusehen, wie sie raten, wofür ein ausländischer Werbespot wirbt oder aus welchem Land eine Wetterfee kommt, kann durchaus für nette anderthalb Stunden vor dem Fernseher mit Familie und Chips sorgen. Doch dann müssen das Timing stimmen und diese ganzen Kleinigkeiten, die aus einem blöden Ratespiel eine „große“ Samstagabendshow machen.

An Kachelmann lag’s am wenigsten. Der arme Kerl war nicht nur furchtbar nervös (und überzog eine halbe Stunde), er hatte sich auch noch erkältet. Richtig glücklich wirkte er in seiner neuen Show („ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer Sprung für mich“) nicht, er redete wiederholt von den Zeitungen, die er am Montag lieber nicht lesen wolle, und vom „Generalanschiß“ nach der Sendung. In guten Momenten aber schaffte er die Balance zwischen den Ritualen öffentlich-rechtlicher Unterhaltung und ironischer Distanz. Als der deutsche Kandidat, den seine Freundin gerade verlassen hat, mit null Punkten ausschied, sagte Kachelmann: „Jetzt verstehe ich, warum sie gegangen ist.“