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Guildo Horn

Süddeutsche Zeitung

Unser Mann in Birmingham. Wie der Schlagersänger Guildo Horn mit Hilfe der Medien unschlagbar wurde.

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Der neue Meister des Grand Prix ist klein, hat seine Haare auf Millimeterlänge rasiert, trägt graue Anzüge und heißt Johannes Kram. Ein paarmal ist er dem alten Meister des Grand Prix, Ralph Siegel, vor der Veranstaltung in die Arme gelaufen. Der hat ihn an sich herangezogen und den Journalisten vorgestellt als den Mann, der eigentlich den Preis verdient hätte: für die geniale PR-Kampagne. Kram hat leicht gequält gegrinst, etwas gemurmelt von ‚Möge der Bessere gewinnen‘ und sich entschuldigt.

Johannes Kram ist der Manager, der die Nußecke in die deutsche Medienwelt gebracht hat. Regelmäßig zelebriert sein Schützling Guildo Horn seine Liebe zu diesem Gebäck der Mutter — eines von vielen Ritualen, die den Rummel um den Künstler ausmachen, der am Donnerstag die deutsche Vorausscheidung zum europäischen Schlagerwettbewerb gewonnen hat. Am 9. Mai vertritt er Deutschland in Birmingham. Horn ist 35 und zieht seit sieben Jahren mit seiner Band Die orthopädischen Strümpfe durch Dörfer und Städte. Zum Geheimtip wurde er nicht nur dadurch, daß er als einer der ersten das Potential entdeckte, das der deutsche Schlager der 70er und 80er als Popkultur für die Jugend der 90er hat. Sein Auftreten mit wirrem Haar, nacktem, speckigem Oberkörper und Kostümen, die jede Geschmacksgrenze sprengen, ist zu skurril, um ernstgenommen zu werden. Und seine Musik und Show sind zu gut, um ihn als bloße Comedy abzutun, die den Schlager lächerlich macht.

Was skeptische Beobachter ins Grübeln bringt, läßt die Fans rasen. Seine Fans nennen ihn „Meister“ und unterstützten ihn bei der Vorentscheidung in Bremen mit „Guildo für Deutschland“-Rufen, Spruchbändern und T-Shirts. Horn weiß, was er tut: Er hat Pädagogik studiert, Musik- und Theaterarbeit mit Behinderten gemacht und seine Diplomarbeit über „Die Befreiung von der Vernunft“ geschrieben.

Seit drei Wochen spaltet Guildo Horn angeblich die Nation und eint die Medien. Damals titelte die Bild-Zeitung „Darf dieser Mann für Deutschland singen“ und befragte ein paar ausrangierte Schlagersänger, die mit einem empörten „Oh mein Gott, wo kämen wir denn da hin?“ antworteten. Der Artikel sorgte dafür, daß außer der überschaubaren Masse ursprünglicher Guildo-Anhäger auch Gegner von Bild und des klassischen Schlagers aktiv wurden, und erfüllte damit genau seinen Zweck. Johannes Kram und sein Team hatten ihn selbst geplant. Exklusiv arbeiten sie mit dem Blatt zusammen, dessen Reporterin ihm sogar die Haare föhnen darf.

Am Tag der Entscheidung legte Bild noch mal nach: „Dramatischer Zwischenfall: Guildo Horn — Notarzt! Klinik!“ Der Sänger hatte sich mit einem Handtuch die Augen gerieben, auf dem ausgerechnet der Siegel-Klan Rheumasalbe zurückgelassen haben soll. Daß das rechtzeitig zur Endphase der Proben und vor der Abreise zur Harald-Schmidt-Show ein Unfall gewesen sein könnte, glaubt in Bremen zwar niemand — spielt aber auch keine Rolle: Horn hatte die erste und die letzte Schlagzeile vor der Grand-Prix-Wahl. Er gewann die Abstimmung mit 62 Prozent der TED-Anrufe.

Dazwischen lagen drei Wochen, in denen die meisten Medien in eine kollektive Hysterie verfielen. „Es war eine Entscheidung der Menschen auf der Straße“, sagte Guildo Horn nach seinem Sieg, den er als „Perestrojka“ des deutschen Schlagers sieht. Das ist bei 420 000 Fans, die für ihn stimmten, unbestreitbar. Wäre dies ein Umsturz nach osteuropäischem Vorbild, hätte das Volk allerdings mit tatkräftiger Unterstützung durch Prawda und fast allen anderen Medien des Landes gekämpft. Viele Fernsehsender und Zeitungen brachten die Bild-Geschichte in Variationen. 40 Interviews habe er in den vergangenen Tagen gegeben, sagte Peter Plate von der Gruppe Rosenstolz, die den zweiten Platz belegte, in 20 sei es nur um Horn gegangen. Die meisten Jugendradios riefen ihr Publikum dazu auf, massenhaft für Guildo zu stimmen. Sie bejubelten, daß da endlich jemand aufgetaucht ist, der die für sie immer größere Unerträglichkeit des deutschen Grand Prix gleichzeitig personifiziert und persifliert. Und Viva-Moderator Stefan Raab, der besonders heftig für Horn warb, verriet erst zum Schluß, daß er selbst als Komponist und Produzent von Horns Titel Guildo hat euch lieb hinter dem Pseudonym Alf Igel steckt.

Die Wucht der Medienmaschinerie, die er selbst mit in Bewegung gesetzt hatte, überrollte schließlich auch Johannes Kram. Daß die Medien Guildo, und zwar nur Guildo wollten, überfordete nicht nur sein Team, sondern gefährdete auch das Image von Horn als nettem Irren unter lieben Schlagerkollegen. Am Ende zog Kram ein überraschendes Fazit: „Beschämt“ habe ihn die Unfähigkeit der Medien, noch andere Themen zu behandeln. Dasselbe Wort wählte NDR-Organisator Jürgen Meier-Beer. Er freute sich über das Interesse und die doppelt so hohen Quoten wie üblich (knapp acht Millionen). Die Bedeutung, die dem Ereignis beigemessen wurde, treibt ihn aber zur Aussage: „Das hier hat größere Dimensionen als die Niedersachsenwahl.“

Selbst seinen Sender NDR 2 konnte er nicht davon abhalten, längere Auszüge aus Horns Stück zu spielen — obwohl das Reglement das untersagt. Fast alle Fernsehsender zeigten Horns Auftritt vorab. Die „Wettbewerbsverzerrung“, die Ralph Siegel beklagte, interessierte im allgemeinen Horn-Fieber niemanden.

Manager Kram versuchte, gegen die schlechte Stimmung hinter den Kulissen zu kämpfen und sagte den Konkurrenten, sie hätten sich ja auch eine nette PR-Strategie überlegen können. Er erntete ein müdes Lächeln: Ein solches Produkt, mit dem das möglich gewesen wäre, hatte keiner zu bieten. „Der Grand Prix hat den skurrilen Reiz, Popmusik und so was wie nationale Ehre miteinander zu verbinden“, versucht Meier-Beer eine Erklärung. „Das Thema Horn funktioniert hervorragend, weil es eine Provokation auf beiden Ebenen darstellt.“ Ein Reporter der Berliner B.Z., die als eines der wenigen Blätter Front gegen Horn machte, meinte, der Medienrummel beruhe schlicht auf Faulheit, sich die Mühe zu machen, andere Themen zu recherchieren. Denn nicht nur Horn brachte neue Ideen und bereitete den Siegelschen Produkten ein Debakel. Fokker sang: „Sie trat mir in die Hoden, in mein Leben trat sie nicht.“ Auch Die drei jungen Tenöre und der Punk-Pop von Maria Perzil sprengten die Grenzen der bis dahin bekannten Grand-Prix-Kunst. Gegen die Medienmacht für Horn hatten sie keine Chance. „Ich hätte mich schon gefreut, wenn wir gewonnen hätten“, sagte Rosenstolz-Mann Plate. Vor der Abstimmung.

Weniger Englisch

Jedem Land sein eigenes MTV – die Pläne des Musiksenders.

Brent Hansen ist in diesen Tagen auf großer Europa-Tournee. Allein am Donnerstag vergangener Woche reiste der MTV-Europa-Chef von London nach Hamburg, Mailand, Stockholm und wieder zurück, um seinen Mitarbeitern und der Presse überall die gleiche Botschaft zu verkünden: Der Musiksender wird vom kommenden Jahr an deutscher, italienischer, schwedischer – und weniger englisch. Aus der starken Londoner Zentrale mit ein paar Außenposten soll ein wahres Netzwerk von MTV-Sendern in den meisten europäischen Staaten werden, die Programme für sich und einander produzieren, verspricht Hansen.

Im SZ-Gespräch nennt er erstmals Zahlen: 35 Millionen Pfund (rund 100 Millionen Mark) will er bis zum Jahr 2000 investieren, vor allem in das Programm, aber auch in die Technik. Erst die digitale Verbreitung nämlich hat die Ausstrahlung von verschiedenen MTV-Versionen in verschiedenen Ländern möglich gemacht: ‚Früher hätte jeder neue Kanal die Kosten vervielfacht – das wäre nicht finanzierbar gewesen‘, sagt Hansen. Doch es waren nicht nur die Möglichkeiten der Technik, sondern auch die Notwendigkeiten des Wettbewerbs, die zu der Entscheidung führten. MTV ist immer noch einer der wenigen Sender, die Geld verdienen. Der Erfolg aber war nur so lange ungefährdet, als es keine nationalen Konkurrenten gab. In Deutschland eroberte Viva in kürzester Zeit die Herzen der Mehrheit der Teenager und damit einen Platz in den Werbeetats der Industrie.

‚Keine kleinen Schritte mehr‘

In den vergangenen zwei Jahren hatte MTV mit kleinen Schritten auf die Entwicklung reagiert, in Deutschland und anderswo eigene Werbefenster und Programme in der Landessprache eingeführt. Jetzt will Hansen keine ‚kleinen, defensiven Schritte‘ mehr gehen, sondern gibt wirkliche Entscheidungsmacht über Marketing, Personal und Produktion in die Hände derjenigen Leute, die ihren Markt am besten kennen. Vor allem in London regte sich daher offenbar Widerstand. Hier baut MTV 80 Stellen ab, dafür sollen 150 Mitarbeiter in den anderen Ländern neu eingestellt werden – vermutlich ein paar Dutzend am deutschen Standort Hamburg. In Skandinavien, Holland und Osteuropa will MTV noch im nächsten Jahr eigene Kanäle aufbauen.

Das Konzept, von London aus ein jugendverbindendes Musikprogramm für ganz Europa zu machen, sei lange ein Erfolgsgeheimnis von MTV gewesen – heute bezeichnet es Hansen aber auch als ’schwierigen Kompromiß‘, was die Auswahl der Musik, den Informationsfluß und die Beziehung zu den Zuschauern angeht. Geändert habe sich auch das Zuschauerverhalten: Lag vor ein paar Jahren noch alles im Trend, was international war, begeistern sich zum Beispiel Italiener und Deutsche heute zunehmend für ihre eigenen Pop-Kulturen. ‚Wir wußten seit geraumer Zeit, daß wir in Richtung Regionalisierung gehen mußten.‘ Den internationalen Charakter der Marke MTV will Hansen nicht aufgeben, aber Programme, die aus irgendeinem undefinierbaren europäischen ‚Cyberspace‘ stammen, soll es in Zukunft nicht mehr geben.

Technisch ist es dank der digitalen Übertragung möglich, Dutzende von Musikkanäle für wenig Geld zu verbreiten, wirtschaftlich sind wahrscheinlich schon die fünf zuviel, die es in Deutschland zur Zeit gibt. ‚Die Stärke einer Marke wird über den Erfolg bestimmen‘, meint Hansen. ‚Wir müssen daran arbeiten, daß MTV nicht als Marke der achtziger Jahre, sondern der neunziger wahrgenommen wird.‘ Dazu sei es nötig gewesen, klare Prioritäten zu setzen und jetzt Geld dort zu investieren, wo auch sofort Geld zu holen ist. Die Entscheidung, Millionen in die Marke MTV zu investieren, ging mit dem Beschluß einher, den Etat der Tochter VH-1 um Millionen zusammenzustreichen. VH-1 richtet sich an Zuschauer, die aus dem MTV-Alter herausgewachsen sind. Im Gegensatz zu dem älteren Musiksender sei MTV stärker ein Teil der Pop-Kultur, habe eine emotionalere Beziehung zu seinen Zuschauern, kurz: sei mittelfristig wettbewerbsfähiger, sagt Hansen. ‚Wir müssen die Größe der Sender der Größe des potentiellen Marktes anpassen.‘

Anstatt in Schönheit zu sterben, soll VH-1 lieber etwas weniger glanzvoll leben. ‚Ich werde kein Geld verschwenden, nur um anderen etwas zu beweisen.‘

Mission erfüllt

Süddeutsche Zeitung

Der Preis ist heiß (RTL).

Ein letztes Mal fährt der Damenfinger die Formen des DE323S nach, umschmiegt seinen Griff und tippt dem Bügeleisen auf den Dampfknopf. 89 Mark kostet er nur, nicht 100, wie Liane geschätzt hatte. Trotzdem wird sie am Ende letzte Gewinnerin in der Geschichte von „Der Preis ist heiß“. Am Freitag verabschiedete sie die Show nach 1874 Sendungen für immer in die ewigen Schnäppchenjagdgründe. Die meisten anderen Dauerwerbesendungen sind schon früher gestorben, und nur bei „Der Preis ist heiß“ waren die Produkte gleichzeitig Hauptdarsteller, roter Faden und Wissensgebiet.

Nach seinem Verschwinden wird das deutsche Fernsehen nie mehr sein wie früher. Die Sendung war stilbildend wie einst „Dalli-Dalli“, wo sich ein Kandidat, der in die Kamera gewunken hatte, einmal von Hans Rosenthal ermahnen lassen mußte: „Sie sind in einer Großstadt – das macht man nicht!“ Die Show-Revolution der Privaten bestand darin, die Leute aus den Kleinstädten in Busse zu verladen und ihnen wieder beizubringen, ihrem Drang zu winken, toben und den Showmaster zu knutschen, ungebremst nachzugeben.

Ihre Mission haben die Dauerwerbesendungen erfüllt. Zuschauer in Ekstase und Markennamen in Großaufnahme brauchen kein eigenes Genre mehr. Sie sind im ganzen Fernsehen zu Hause.

London läßt deutsche MTVler von der Leine

werben & verkaufen

Erstmals sendet MTV Programme in deutscher Sprache. Die Ansprache jüngerer Zuschauer und eine weit stärkere Präsenz vor Ort sollen jetzt verlorenen Boden gutmachen.

So richtig entscheiden kann sich MTV-Deutschland-Chef Michael Oplesch nicht. Soll er die Neuigkeit der Presse als Sensation oder als Kleinigkeit verkaufen? Einerseits ist der Start deutschsprachiger Programme auf MTV für ihn der Höhepunkt von anderthalb Jahren Arbeit, in denen er ein 120köpfiges deutsches Team aufgebaut hat: »Wir waren die Pitbulls, die immer schon an der Leine gerissen und gekläfft haben, und jetzt dürfen wir endlich auf die freie Wildbahn.« Andererseits sende MTV in aller Welt falls möglich in der Landessprache. Daß auf dem deutschen Kanal künftig weniger Englisch gesprochen werden wird, sei also ganz natürlich. Es habe überhaupt nichts mit irgendwelchen »lokalen Wettbewerbern«, sprich: Viva, zu tun.

Klar ist zumindest, wie die Neuerungen dem Publikum verkauft werden sollen: ganz groß. Die Woche, in der die neuen Programme starteten, begann fast ohne Programme: Seit Montag läuft auf MTV tags-über nur noch Video an Video, ohne Moderationen und Shows, getrennt nur von dem Hinweis »The future starts on MTV March 7th«. Begleitet wird der Countdown von einer TV-Kampagne der Münchener Agentur Start, die ein neues Programm »mit Liebe gemacht«, »nur für dich« verspricht.

Der Riesenwirbel dreht sich zunächst nur um wenige Stunden am Nachmittag. Diese Zeit will MTV in Deutschland zu seiner Primetime machen. Mit neuen Moderatoren, ein paar neuen Sendungen und neuer Sprache: Zwischen 14 Uhr und 19.30 Uhr spricht MTV seit heute deutsch.

Dabei geht es nicht nur darum, mit welchen Worten dieses oder jenes Musikvideo angekündigt wird; mit dem neuen Programm ist auch eine neue Positionierung von MTV in Deutschland verbunden. „Wir haben mit großem kreativen Potential eine Ansprache geschaffen, in der wir den Leuten die große weite Welt nach Hause gebracht haben“, sagt Programmchefin Mona Rübsamen. Das funktioniere, weil die Menschen neugierig seien, über den Tellerrand hinaus in andere Regionen hineinzuschauen. „Aber darüber hinaus wollen die Zuschauer Sachen sehen, die etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Und sie wollen selbst reflektiert werden.“

Diesen Spagat zwischen dem Glamour der Welt und den Sorgen der Jugendlichen in Buxtehude will MTV in Zukunft vollbringen. Für den Glamour sind die News und die etablierten internationalen Formate am Abend zuständig, für Buxtehude die neue Show In Touch. Beim Flaggschiff der deutschen Programmstrecke fährt der Moderator mit einem silbernen Bus durch deutsche Lande und besucht Jugendliche zu Hause. Die bekommen die Möglichkeit, über den Jugendklub zu sprechen, der geschlossen werden soll, einen selbstentwickelten Tanz aufzuführen, ihre Trennung vom Freund, von der Freundin darzustellen und, selbstredend, sich Videos zu wünschen.

Daß die Sendung um 14 Uhr beginnt, ist kein Zufall. Das ist die Zeit, in der pubertierende Schulpflichtige nach Hause kommen. Die haben um die Mittagsstunde sonst fast alles gemacht – nur nicht MTV eingeschaltet. Schon der Sprache wegen! „Ich versteh‘ nur die Hälfte“ oder: „Das ist mir zu anstrengend“ sind Klagen, die Mona Rübsamen und Team als Erklärung dafür hörten. Die Barriere, die das Englisch vor allem für junge Zuschauer darstellte, soll nun gesenkt werden. „Die Leute hören gerne Englisch, weil sie da was lernen können“, sagt die Programmchefin. „Aber wir müssen ihnen zwischendurch das Gefühl geben, sich entspannen zu können und das Programm einfach zu 100 Prozent zu verstehen.“

Ziel ist es, beide Sprachen auf möglichst natürliche Weise miteinander zu verweben. Zum Beispiel bei Select, einem Wunschkonzert, das in Zukunft eine Stunde lang von Kimsy auf deutsch und eine Stunde mit einem internationalen Co-Moderator auf englisch moderiert wird. „Es gibt auch unter den englischen Moderatoren solche, die von unseren deutschen Zuschauern gut verstanden worden sind“, erklärt MTV-Sprecher Stefan Vogel. „Und es gibt welche, die einen schottischen Dialekt haben – die werden in dieser Form in Deutschland nicht mehr stattfinden.“

Maßgeschneidert für den deutschen Geschmack ist ab sofort auch die Musikauswahl. Bislang stammte nur eine Hälfte der gespielten Titel von der deutschen Playlist, die andere Hälfte war europaweit festgelegt. Jetzt sollen zum Beispiel in Select nur noch Titel zur Auswahl stehen, auf die deutsche Zuschauer Lust haben. In paneuropäischen Sendungen wie Amour können jetzt national interessante Titel plaziert werden. Damit kehrt MTV einem Prinzip den Rücken, das Viva-Chef Dieter Gorny immer als „Kultur-Imperialismus“ der Londoner Zentrale bezeichnet hat. Mit dem „Euro-Pudding“, dessen Bestandteile den Jugendlichen in allen Ecken des Kontinents schmecken mußten, soll Schluß sein.

Statt dessen stellen die Hamburger MTVler ihr Menü aus einer Speisenkarte mit internationaler Küche und regionaler Hausmannskost zusammen: Bei der Klatsch-Show MTV Hot – ab sofort ebenfalls auf deutsch – heißt das: ein wenig „Pamela Anderson“ (Marke: schillernd und international), etwas „Fettes Brot“ (sympathisch von nebenan), dazu nationale Tourneedaten und Nachrichten.

Mit seiner neuen Programmstruktur will MTV auch den Kampf um Titelblätter und Starschnitte der Jugendzeitschriften gewinnen. Bisher hatte eine MTV-Kimsy in London wenig Chancen gegen einen Viva-Mola in Köln. Jetzt sollen deutsche MTV-Moderatoren häufiger vor Ort auf Veranstaltungen erscheinen, und im Programm sowieso: Die beiden bekannten VJs Kimsy und Christian bekommen Unterstützung von zwei neuen Gesichtern.

Das Ende der Entwicklung ist das jedoch noch nicht. In absehbarer Zeit sollen alle Sendungen in Hamburg produziert werden, die Zahl der Mitarbeiter in Deutschland auf 200 steigen. Bei der deutschen Nachmittagsschiene und bei Wochenend-Specials, die eigens für den hiesigen Markt produziert werden, muß es dann nicht bleiben. „Nach der Gründung von MTV Europe und dem Aufbau eines deutschen Büros ist das erst die dritte Stufe unserer Rakete“, sagt Michael Oplesch. „Ich glaube, daß wir 1998 und 1999 weitere Stufen zünden können.“

Jetzt wird getrennt, was zusammengehört

werben & verkaufen

Um die Zuschauer vom Umschalten abzuhalten, schaffen die Privatsender die Werbeblöcke zwischen den Sendungen ab. Mediaplaner sehen das mit gemischten Gefühlen.

Fünf Minuten vor Ende der Sendung deutet Günther Jauch mit dem Zeigefinger mahnend in Richtung Zuschauer auf der heimischen Wohnzimmer-Couch. „Sie bleiben doch dran?“, versichert er sich fragend, bevor er seinen Platz für die Werbung räumt. Der übliche Ausblick, welche Mordsbeiträge der Zuschauer verpassen würde, falls er fahrlässigerweise die Pause zu einem Senderwechsel nutzte, fehlt indes.

Das ist kein Wunder, denn ein solcher Werbeflüchter verpaßt nichts. Nach der Werbung und einigen Trailern erscheint Jauch gerade noch zum Abspann, sagt, daß Stern TV in der nächsten Woche wieder eingeschaltet werden möge, und wünscht einen schönen Abend. Sofort danach meldet sich Heiner Bremer und legt ohne weiteres Zögern mit dem RTL-Nachtjournal los.

Die Zeiten, in denen die Fernsehsender ihr Geld zwischen den Sendungen verdienten, sind so gut wie vorbei. Statt dessen verschieben sie die Werbung in die Programme und lassen die Sendungen direkt aneinanderstoßen. Der Zuschauer soll durch eine Pause nach Ende einer Sendung nicht unnötig ermuntert werden, umzuschalten und womöglich nicht zurückzukehren.

Bei Sat.1 trennt der Werbeblock, der früher das vorherige Programm von der Harald-Schmidt-Show trennte, jetzt Schmidts ersten Auftritt vom Rest der Show. Ganze drei Minuten erst läuft die Sendung, da wird sie schon zum ersten Mal unterbrochen. Der Moderator hat seine ersten Witze gemacht und die Gäste des Abends angekündigt, so daß das Interesse der Zuschauer größer ist als der Abschaltreiz durch die Reklame ± hofft jedenfalls Sat.1.

Zu den ersten, die diese Strategie in Deutschland umsetzten, gehörte die Ipa. RTL begann vor etwa zwei Jahren damit, die sogenannten Scharnierinseln durch Unterbrecher kurz davor oder danach zu ersetzen; zunächst allerdings nur bei den drei Talkshows am Nachmittag und zwischen den Krimis am Dienstagabend. Damals sah Ipa-Sprecher Andreas Kühner nur bei solchen Sendungen mit ganz ähnlichen Zielgruppen ein Potential für die Umstellung.

Inzwischen ist praktisch das ganze RTL-Programm entsprechend umgebaut. „Nur dort, wo es einen kompletten Bruch gibt, zum Beispiel vom Spielfilm auf Spiegel TV, behalten wir die Scharnierwerbung“, sagt Kühner heute. Von 1995 auf 1996 stieg der Anteil der Unterbrecherwerbung an der gesamten RTL-Werbezeit von 58 auf 76 Prozent. Doch mit Auskünften über die Umstellung und ihre Folgen, die die Ipa intern untersucht hat, hält sich der Vermarkter bedeckt. Weder gegenüber den Zuschauern noch gegenüber Kunden ließ er sich über das neue Konzept aus.

Geht’s nach der Ipa, gibt es dazu auch keinen Grund. Der Publikumsfluß von Sendung zu Sendung sei verbessert, die Reichweite der Werbeinseln erhöht worden: „Die Operation ist gelungen“, sagt Kühner. Daß eine 60-Minuten-Sendung jetzt praktisch drei- statt zweimal unterbrochen wird, sei kein Problem, meint der Ipa-Sprecher: „Die Zuschauer gehen gut damit um, sonst würden sie uns ja durch Zapping bestrafen.“

Sat.1 verabschiedete sich ebenso leise wie die Konkurrenz, aber erst zum 1. Januar 1997 von den meisten Scharnierinseln. 70 Prozent der Programmumfelder sind jetzt nach Angaben von Verkaufsschef Klaus-Peter Schulz scharnierfrei. Der Trend sei positiv: In den ersten drei Wochen nach der Umstellung habe zum Beispiel bei der Krimi-Serie Stockinger die Reichweite im Werbeblock 80 Prozent von der Sendung betragen ± im Vorjahr seien es im Schnitt nur 76 gewesen. Von 100 Zuschauern der Talkshow Kerner ließen 64 Sat.1 auch während der Werbung eingeschaltet, immerhin fünf mehr als vor der Umstellung. Genaue Zahlen zu Harald Schmidt, der sich schon seit einiger Zeit die Eingangsmoderation unterbrechen läßt, will Sat.1 nicht nennen. Bei seiner Show hänge die Zapping-Quote vor allem vom Angebot der Konkurrenz ab.

Die Umstellung ist für die Sender nicht zuletzt eine Möglichkeit, mehr Geld zu verdienen. Denn Werbung in Unterbrechern kostet traditionell mehr als in Scharnierinseln, da die Sender sich die größeren Reichweiten hoch bezahlen lassen. So kommen die Zuschauer inzwischen bei RTL 2 durch das komplette Vorabend- und Abendprogramm ohne eine einzige Scharnierinsel, und auch die MediaGruppe München hat nachgezogen: ProSieben führt sein Publikum am Sonntagabend nahtlos vom Spielfilm zu Focus TV und wieder zum Spielfilm.

Doch die Mediaplaner sind skeptisch. Grundsätzlich sei die Lösung nicht schlecht, sagt Mediapolis-Chefeinkäuferin Anette Kullmann, und bei einem jungen Publikum von Sendungen wie Beverly Hills 90210 vermutlich unproblematisch. Sie aber sei von den frühen und häufigen Unterbrechungen „entnervt“, weshalb sie vermutet, daß es anderen Zuschauern ähnlich geht: „Werbekunden, die besonderen Wert auf ein gutes Image legen, würde ich nicht empfehlen, in solche Blöcke zu gehen.“

Ihr Chef Manfred Krupp hält die Praxis der Sender, Werbung gleich nach zwei Minuten oder direkt vor den Abspann zu plazieren, für „Auswüchse“ des Prinzips: „Das ist eine Unverschämtheit.“ Mit dem Abschied von der Scharnierwerbung würden die einzelnen Blöcke allerdings „sauberer“, meint der Mediapolis-Geschäftsführer. Zum Beispiel bei Spots zwischen Glücksrad und ran: Die älteren Frauen, die die Gameshow anschauten, bräuchten eine Weile, bis sie sich für die nächste Schau entschieden hätten; die älteren Männer, die auf Fußball warteten, trudelten nach und nach ein. Wanderte der Werbeblock jedoch in die Sendungen selbst, sei die Zuordnung klarer, Zielgruppen ließen sich genauer erreichen.

Daß die Werbeblöcke damit enger ans Programm angebunden werden, begrüßt Bernd Deppermann, Vize-Chef von Zenith Media, Frankfurt/M. Auch er sieht ein Problem, wenn die erste Unterbrechung zu früh kommt. „Aus qualitativer Sicht ist das ein Ärgernis“, sagt er. „Ich würde es bei einer solchen Plazierung vom Gefühl her eher vermeiden, in den ersten und eventuell auch den letzten Block zu gehen.“ Auf sein Gefühl ist der Mediaplaner mehr noch als sonst angewiesen, denn Untersuchungen über die Akzeptanz der neuen Unterbrecher gibt es nicht. „Es besteht ein echter Informationsmangel“, so Deppermann, der Analysen von den Sendern einfordern will.

Im Nachtprogramm zeigt RTL schon, wie sich das Prinzip auf die Spitze treiben läßt: Bei den Serien am frühen Morgen kommen die Werbeblöcke konsequent vor dem Abspann der einen Sendung und nach dem Vorspann der nächsten. Mit dem Ergebnis, daß zwischen zwei Sendungen ein Block entsteht, der nur aus Vor- und Abspännen, zweimal Werbung und Trailern zusammengesetzt ist — mehr als zehn Minuten ohne Handlung.

Der heißgeliebte Minusmann

Süddeutsche Zeitung

Platte Gags und Pärchenspiele: Warum Jürgen von der Lippe mit seiner Show „Geld oder Liebe“ so erfolgreich ist.

Mal ehrlich: Würden Sie diesem Mann eine Samstagabend-Show geben? Er hat einen dieser Vollbärte, mit denen höchstens noch ergraute Rußland-Korrespondenten auf den Bildschirm gelassen werden. Er gerät leicht ins Schwitzen, weswegen er weite Hawaiihemden trägt, die zwar Schweißflecken verhindern, aber seinen Bauch unangenehm betonen. Er liebt Sätze von der Art, daß sich Adam für Evas Apfel mit einer Banane revanchierte. Und wenn er Musik ansagt, hält er mehrminütige Monologe, die bei Programmchefs Alpträume von massenhaft zur Fernbedienung greifenden Zuschauern auslösen.

Es sieht ganz so aus, als ob Jürgen von der Lippe, 48, nicht einmal von seinen Mitarbeitern ernst genommen wird. „Wo hast du denn diiie Schuhe her“, kreischt eine Dunkelhaarige ungehemmt in die Probe rein von „Geld oder Liebe“ und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf die Füße ihres Chefs. Der steht da wie ein waidwunder Elefant, läßt die Arme hängen und schaut traurig, aber nicht wirklich überrascht, von einem Kollegen zum anderen. Wäre er auf Sendung, würde er zum Schluß noch mit dicken Augen in die Kamera schauen. Es ist derselbe Blick, mit dem er als Sänger sein Publikum in Exstase versetzt, bevor er überhaupt angefangen hat. Eine rote Plastiknase zu diesem Gesicht genügt.

Den anderen Jürgen von der Lippe kann man entdecken, wenn gerade eine Musikgruppe bei ihm auftritt. Unbeobachtet von den Kameras kuschelt er sich in seine Sitzgruppe auf der Bühne. Er klopft geistesabwesend den Rhythmus mit und ist sichtlich zufrieden mit sich und seiner Show. Die Band hat er selbst ausgesucht, und die großen Stars stehen Schlange, ihre neue Platte bei ihm vorsingen zu dürfen. Denn die ARD-Sendung „Geld oder Liebe“ ist die „nach Wetten daß…?“ erfolgreichste Show im deutschen Fernsehen. Und Jürgen von der Lippe moderiert sie nicht nur, er ist ihr Chef. Wenn ihm das neue Stück von Genesis nicht gefällt, tritt Genesis nicht auf. Da mögen die verantwortlichen WDR-Leute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, soviel sie wollen.

Acht Millionen Menschen sehen im Schnitt zu, wie drei Frauen und drei Männer mit skurrilen Hobbys sich in kleinen Spielen kennenlernen. Um zu erklären, wie genial das ist, kritzelt Redakteur Michael Bleichenbach auf ein Blatt sechs Kringel, die für die Singles stehen. Darunter zieht er diagonale Linien, die sich kreuzen — jeder spielt mal mit jedem. Am Ende bleiben zwei Kringel übrig, die nach Meinung der Zuschauer am besten zusammenpassen. Ganz so zwingend, wie das auf der Skizze aussieht, war das am Anfang nicht. In nur einer Woche hatte Lippe, der eigentlich Hans-Jürgen Dohrenkamp heißt, das Konzept 1989 mit dem Kabarettisten Wendelin Haverkamp entwickelt. „Wir haben nicht gesagt: Wir wollen die und die Zuschauerstruktur, wollen so und so lang werden“, erzählt er. „Wir haben uns hingesetzt und rumgesponnen.“ Vor der ersten Sendung sei er der einzige gewesen, der noch an ihren Erfolg geglaubt hätte. Ohne die richtigen Kandidaten wirkten die simplen Spielchen in den Proben einfach unterdurchschnittlich.

Doch dann kamen Leute wie die Frau, die Kühe designt, und Siggi, der Tannenzapfenpflücker aus dem Bayerischen Wald, der nach der Sendung vom ganzen Dorf am Bahnhof empfangen wurde — und das Ding lief. „So ein Schwein hat man einmal im Leben“, sagt Jürgen von der Lippe. „Ich wüßte nicht, in welche Richtung ich heute denken sollte, um etwas zu finden, das dieses Neue hätte, das ‚Geld oder Liebe‘ darstellte.“

Klaus de Rottwinkel, der mit Lippe die Sprüche und Blödeleien entwickelt, beschreibt dessen besonderen Charme so: „Jürgen ist eine Mischung aus redegewandtem Intellektuellem und zur Völlerei neigendem Lebemann.“ Das erklärt vielleicht, warum ihm mindestens ebensoviele Zuschauer nicht ausstehen können, wie ihn lieben.

Lippe stellt sich nicht nur gern dumm, sondern auch klug. Er präsentiert sein Wissen aus einem abgebrochenen Philosophiestudium mit den Ergebnissen einer dreitägigen Recherche mehrerer Mitarbeiter mit den Worten. „… aber das wissen Sie ja“. Als er 1994 für seine Mischung aus Zoten und humanistischem Bildungshumor sowie für seinen Umgang mit den Kandidaten auch noch den Grimme-Preis bekam, hielt er ihn noch monatelang triumphierend seinen Kritikern vor, die schon wegen seiner unerschütterlichen Begeisterung für Spiele, bei denen Leute naßgespritzt werden, ihre Probleme mit ihm haben.

Für sein eigenes Selbstbewußtsein hätte er den Grimme-Preis genausowenig gebraucht wie den „Bambi“, der ihm im Oktober verliehen wird: Daß er sich für einen Spitzenmann der deutschen Fernsehunterhaltung hält, hat er schon vorher ganz selbstverständlich erzählt. Hinter der tapsigen Bildschirmfigur steckt ein Perfektionist, der die Leute von der Requisite immer und immer wieder antreten läßt, bis irgendein kleines Teil genau so hängt, wie er das möchte. Kritische Sätze beginnt er mit den Worten: „Noch schöner wäre es natürlich, wenn …“, und die dünne Ironie kann den Ärger des Chefs kaum verdecken. Aber wenn es dann doch nicht funktioniert in der Sendung, kann er immer noch ein Highlight daraus machen, oder noch besser: ein Ritual.

Als es der WDR monatelang nicht schaffte, einen Kiosk zu bauen, bei dem sich die beschrifteten Tafeln, die der Moderator mit einem Hebel weiterblättert, nicht nach wenigen Minuten hoffnungslos verkanteten, wurde das Spiel erst richtig beliebt. Anstatt vielleicht mal bei Show-Profis wie dem Unterhaltungskonzern Endemol nachzufragen, wie man so was vernünftig konstruieren kann, setzte von der Lippe seinen Assistenten auf einen Hochstuhl, von wo aus dieser von Hand eingreifen konnte — und bald mit Liebesbriefen überschüttet wurde.

Überhaupt: das Publikum. Wenn Lippe dazu aufruft, was zum Thema „Meine Olle und ich“ einzuschicken, setzen sich mehr als tausend Menschen hin und fangen an zu basteln, zu hämmern und zu kleben. Ganze Schulklassen malen Riesenbilder, und ein Ehepaar bastelte einen Jürgen aus Seide, dessen Rippe sich mit einem Reißverschluß öffnen läßt, aus dem eine vollbusige Frau schlüpft. Der Meister selbst sieht den unglaublichen Aufwand der Menschen ganz nüchtern: Die Leute wollen halt ins Fernsehen, ein paar Minuten berühmt sein.

Letztlich hat Geld oder Liebe damit das gleiche Erfolgsgeheimnis wie „Wetten daß…?“ Nur, daß „Geld oder Liebe“ nicht als großes Event daherkommt, sondern als lockeres Treffen, bei dem einer schmutzige Witze erzählt, ein anderer mit seinem Halbwissen prahlt, zwei sich flirtend aus dem Gespräch verabschieden und alle hinterher noch in die Kneipe einen trinken gehen. Heute, meint WDR-Redakteur Bleichenbach, hätte vermutlich kein Sender mehr den Mut, so etwas neu zu starten.

Wie wird man ein normaler Mensch?

Süddeutsche Zeitung

„ran“-Moderator Johannes B. Kerner gibt sich größte Mühe: Im Interview gähnt er herzhaft und beträgt sich wie ein alter Freund

Es gibt Momente, da wünscht sich Johannes B. Kerner, er wäre kein so netter Moderator. Der Ärger beginnt, wenn er eigentlich fertig ist, eine ran-Sendung moderiert oder drei Folgen Kerner aufgenommen hat. Dann sehen die Leute im Publikum ihre Zeit gekommen und gehen auf Tuchfühlung. Und sie machen nicht nur Photos mit ihm, sondern legen ihren Arm um ihn und drücken ihn ein bißchen. „Die denken, der ist hier der Teddy, den darf ich auch knuddeln“, sagt Kerner und fühlt sich gar nicht wohl. Dabei ist den Leuten ihre Hemmungslosigkeit gar nicht zu verdenken. Schließlich hat Johannes Kerner sich gerade eine ganze Sendung lang alle Mühe gegeben, ihnen zu zeigen, daß er einer zum Anfassen ist: Hat sich ins Publikum gestellt als der Kumpel von nebenan, hibbelig, die blonden Haare etwas wirr, mit den Händen wild gestikulierend wie Kermit, der Frosch. Und hat, wenn ein Gast allzu dämlich daherkam, ihm schon mal mitten im Satz gesagt, er rede ja wie Rüdiger Hoffmann. Das ist zwar nicht nett, aber es gefällt dem Publikum, das ja nicht ist wie der Kabarettist Rüdiger Hoffmann, sondern scheinbar wie Kerner.

Kerner ist so normal, daß er nie wie die Leute in seiner Talk-Show geizig oder kaufsüchtig wäre, besonderen Sex praktizieren würde oder eine Frau hätte, die Frauen liebt. Und wenn doch, wäre er wenigstens normal genug, das nicht im Fernsehen zu erzählen. Er interviewt immer aus der Sicht des staunenden, unbeteiligten Normalos. „Man wird ja noch mal fragen dürfen“, das Motto der ansonsten in den USA gekauften Talk- Show, stammt von ihm selbst. Und wenn der Stern giftet, er wirke, als habe er den gesunden Menschenverstand für sich gepachtet, nimmt er das noch als Kompliment.

Kerner ist 31 und hat eine Karriere hinter sich, die er selbst „einen Wahnsinn“ nennt. Gerade hat ihn Sport Bild zum besten Sportmoderator gewählt, der Vertrag für Kerner wird wohl verlängert, und für 1997 plant Sat 1 mit ihm eine eigene Show am Hauptabend. Alles begann vor zehn Jahren mit einem Praktikum in der Sportredaktion des SFB. Als er die Chance bekam, vom Berliner Presseball zu berichten, fragte er den Regierenden Bürgermeister nicht nach seiner Tanzpartnerin, sondern, ob er seine Anzüge maßschneidern läßt. Fortan durfte Kerner Sport und den ARD-Länderreport moderieren.

1992 holte ihn Reinhold Beckmann zu Sat 1. Am Anfang moderierte er ran nur freitags, später sonntags. Bis er zum ersten Mal am Samstag randurfte, verging fast ein Jahr. „Das ist wie bei einem Trainer, der einen talentierten Nachwuchsspieler wie Lars Ricken in der 60. Minute rausnimmt, damit er nicht ausbrennt“, meint Kerner – im Gegensatz zu Ricken ganz unbescheiden.

Kerner landet schon in der allerersten ran-Sendung vor vier Jahren wichtige Treffer: Nachdem alle Leitungen zusammengebrochen sind, kommt der Redakteur ins Studio und sagt: Wenn jemand Interesse hat, sich ein Spiegelei auf dem Sicherungskasten zu braten, wäre jetzt die geeignete Temperatur erreicht. Johannes Kerner moderiert, was das Zeug hält. „Ich dachte, da mußt du durch, mußt reden, reden, reden.“ Das tut er noch, als das Licht ausgeht und längst niemand mehr zusieht.

Oder am 24. Februar 1996, als das Studio wegen einer Bombendrohung geräumt werden muß. Kerner beruhigt die Besucher, daß auch draußen Fernseher stehen, daß Schalke null zu zwei gegen Düsseldorf verloren hat, und probt seine nächste Ansage: „… die mit Verlaub beschissenste Situation meiner Karriere“, murmelt er vor sich hin und fragt dann laut: „Sagt mal, darf man beschissen im Fernsehen sagen?“ Fast auswendig schafft er die Überleitung zum nächsten Spiel. Als ein paar Werbepausen später die Feuerwehr Entwarnung gibt, lassen die ran-Leute das Publikum nicht sofort ins Studio. Erst als die Kameras wieder laufen, dürfen sie rein, damit die Zuschauer auch eindrucksvoll durchs Bild traben. Fußball, Beinahekatastrophen – ist halt alles nur Show, und Johannes Kerner der Master, der sie beherrscht.

Geschadet haben kann es nicht, daß seine Chefs sahen, daß der Mann auch bei Totalausfällen eine gute Figur macht. Die Talk-Show Kerner ist zwar aufgezeichnet, aber bei den Gästen solcher Shows muß man eigentlich immer mit Totalausfällen rechnen. Manchmal, sagt er, läuft es ihm kalt den Rücken runter, wenn er die Themenvorschläge sieht. Aber dann nehme er einen Stift und streiche sie durch. Männer sind Lügner fand er ein gutes Thema. Ich steh auf Lack und Leder hat er abgelehnt. Ich geh lieber in den Puff will er ebenfalls gestrichen haben, aber das stellt sich später als Irrtum heraus …

Und so erscheint Kerner fast täglich auf der Bühne und hat dabei eine merkwürdige Distanz zu seinen Gästen. „Ist ja völlig in Ordnung, wunderbar“, bestätigt er jede noch so abstruse Äußerung, bevor er – „eine Frage hätte ich dann doch“ – ganz unschuldig das Gesagte komplett in Frage stellt. Nimmt er seine Gäste ernst? „Nö“, grinst Kerner. „Doch“, korrigiert er sich. „Ich habe Respekt vor ihnen“, formuliert er schließlich. Nur daß Kerners zur Schau gestellte unbedarfte Normalität manchmal wirkt, als sei er gleichzeitig anbiedernd und arrogant.

Die Talk-Show ist für Kerner Arbeit, ran ist „pure Lust“. Er kann sich gut vorstellen, ein Leben lang Sportreporter zu sein. Vielleicht nicht immer bei Sat 1, denn es wäre schon nett, wenn in ein paar Jahren das ZDF-Sportstudio noch mal anrufen würde. Aber auch Wetten, daß…? würde er sich zutrauen. Und die Tagesthemen. Am liebsten gleichzeitig. Kerners Selbstbewußtsein verträgt keine Grenzen.

Bei ran fühle er sich nicht wegen, sondern trotz der Showtreppe wohl, behauptet Kerner: „Die Leute gucken nicht wegen Wontorra-Beckmann-Kerner, sondern wegen Hamburg-Dortmund-Bayern.“ Als klassischer Gastgeber will er sich verstehen. Aber was das bedeutet, formuliert er mit so vielen Worten, daß von der vorgeblichen Bescheidenheit nicht viel übrigbleibt: „Angenehm, daß Sie uns gestatten, bei Ihnen Gast zu sein. Wir hätten ein bißchen Fußball für Sie. Wenn Sie bitte die Ergebnisse vergleichen möchten …“

Kerner feilt weiter am Image, „normal“ zu sein. Diese Image ist ihm nicht nur für den Alltag wichtig, sondern vor allem für die Schlagzeile in der Zeitung. Beim Interview fläzt sich der Fernsehmann hemmungslos auf der Bank, räkelt sich, gähnt, redet scheinbar ungefiltert drauf los und verhält sich, als wäre man seit Jahren befreundet. Normal, ein Interview auf diese Weise zu absolvieren? „Wenn ich was mache“, sagt Kerner, „mache ich es auch richtig.“ Als absolut natürlich zu gelten, will schließlich hart erarbeitet werden.

„Das ist Gewaltbefürwortung!“

Süddeutsche Zeitung

Verstoßen die „Glücksritter“ gegen die Menschenrechte?

„Ordentlich fest“ soll sie werfen, ermahnt Ulla Kock am Brink die Kandidatin, die Zielscheibe ist der Rücken des Mannes vor ihr. Wenn die Dart-Pfeile richtig in seiner Haut sitzen, hat sie gewonnen. Diese Szene aus der neuen RTL-Show Glücksritter hat die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM) auf den Plan gerufen. In einem Brief unter anderem an den Ausschuß für Menschenrechte im Bundestag fordert sie die Absetzung, denn: „Die Bereitstellung eines Menschen zum Zwecke der Bewerfung mit Pfeilen ist ein Anschlag auf die Menschenwürde.“ Ein Gespräch mit dem Chef Karl Hafen.

SZ: Die IGfM sorgt sich um Menschenrechte. Gehört für Sie in Zukunft neben sozialistischen und islamischen Staaten auch das Privatfernsehen zu den Brutstätten von Unterdrückung und Gewalt?

Hafen: Menschenrechtsverletzungen gehen in der Regel vom Staat aus. Aber in der Sendung Glücksritter ist das Pfeilewerfen Gegenstand eines Massenspektakels, und die natürliche Hemmung vor Gewaltanwendung wird abgebaut. Die Zuschauer wurden gezwungen, zuzusehen, und das ist eine Erniedrigung. Das geht an die Menschenwürde, ist nahe an der Menschenrechtsverletzung.

Gezwungen, zuzusehen? Aber es muß doch niemand RTL einschalten …

Der Zuschauer zu Hause kann natürlich ausschalten. Aber der, der live in der Halle sitzt, kann nicht einfach weggehen.

Was hatten Sie denn erwartet, als Sie die Glücksritter eingeschaltet haben?

Ich habe die Sendung nur zufällig gesehen. Mein Sohn ist zehn und war fürchterlich erschrocken. Er guckte weg, meine Frau auch, die wollten das nicht anschauen. Ich aber war so schockiert, ich mußte das sehen. Ich habe meinen Sohn gefragt, was er meint, wenn diese Frau Kock am Brink sagt: „Bitte nicht nachmachen, dazu gehört jahrelanges Training.“ Seine Reaktion: „Ja, warum soll ich jetzt nicht damit anfangen?“ Wenn man sich vorstellt, daß Kinder auf dem Schulhof mit Dart-Pfeilen auf andere werfen …

Sie meinen, die Sendung verrohe die Jugend. Dann müssen Sie ja dauernd protestieren: Haben Sie mal Explosiv gesehen? Oder Bärbel Schäfer?

Im Wettstreit um Quoten werden immer spektakulärere Szenen eingesetzt, und das ist häufig mit Gewalt verbunden. Und Glückritter war ein ganz konkretes Beispiel, wo ein lebender Mensch als Zielscheibe eingesetzt wird. So etwas in einer Samstagabendsendung – das kann man doch überhaupt nicht entschuldigen. Das ist Gewaltbefürwortung!

Gibt es außer der Dart-Szene Kritik?

Frau Kock am Brink bietet Leuten Tausender an, wenn sie sich spontan für eine Sache entscheiden. Wenn sie das nicht können, wird es ihnen wieder aus den Händen genommen. Da wird die Gier nach schneller Befriedigung gefördert. Das ist für Kinder nicht geeignet, das sollen sie am späten Abend bringen. Auch die Sache mit den Dart-Pfeilen. Wenn der Mann Fakir ist, soll er das in geschlossenen Klubs machen. Oder sie sollen es wie Sex-Filme nach zwölf Uhr zeigen.

Eine Comicfigur aus Mönchengladbach macht Karriere

Süddeutsche Zeitung

Der Zeichner Walter Moers hat mit ‚Käpt’n Blaubär‘ einen Volltreffer gelandet, doch sein Held geht nun eigene Wege.

Walter Moers hat einen Alptraum: Irgendwann wird er als alter Mann im Rollstuhl von einer dicken blauen Comic-Figur verfolgt werden. Käpt’n Blaubär grinst ihm dann von Kaffeetassen und Postern entgegen, das Fernsehen wiederholt alte Käpt’n-Blaubär-Klassiker, Journalisten rufen ihn an und fragen zum xten Mal nach Käpt’n Blaubärs Entstehung. Und Moers wird mit Grausen zurückdenken an 1993 — das Jahr, in dem sich seine Figur, entfesselt von Verlagen und Marketingexperten, verselbständigte.

Vor vier Jahren hatte der 36jährige Zeichner seine Schöpfung noch fest im Griff. Für das Sandmännchen erfand er 13 Geschichten über den Seebären, der seinen drei Enkeln Lügengeschichten von seinen Weltreisen erzählt. Die Kreuzung aus Münch- und Entenhausen ergänzte er mit dem unglaublich doofen Leichtmatrosen Hein Blöd und Elementen des bösartigen Moersschen Humors, der auch den Comic-Helden „Das kleine Arschloch“ hervorbrachte.

Die Mischung kam an: Der WDR bestellte auf einen Schlag 104 Folgen, Käpt’n Blaubär zog aus einer schäbigen Sozialwohnung in eine ansehnliche Schiffskulisse und mit seinem Seemannsgarn in die „Sendung mit der Maus“. Nachdem nicht nur Kinder und komplette WDR-Redaktionen, sondern immer mehr erwachsene Zuschauer auf den Geschmack kamen und die fünfminütigen Trickfilme als Geheimtips entdeckten, durfte der füllige Märchenopa auch im Frühstücksfernsehen der ARD auftreten.

Jetzt macht der Blaubär weiter Karriere. Seit zwei Monaten öffnet er jeden Samstag um kurz nach neun in der ARD seinen ‚Club‘, eine eigene Show mit Kinderfilmen und Musikeinlagen und dem Puppenkollegen Hein Blöd sowie Lindenstraßen-Tanja-Schildknecht Sibylle Waury als Ko-Moderatoren. Parallel dazu läuft eine multimediale Marketing-Kampagne, die bislang einzigartig ist für eine Figur, die nicht in Hollywood, sondern in Mönchengladbach erfunden wurde. Zum Serienstart brachte Ravensburger auf einen Schlag sechs Rätsel- und Witzhefte mit Käpt’n Blaubär heraus, es wird große Comic- und kleine Bilderbücher, Videos und Hörspiele geben. Rund 20 Firmen in aller Welt stellen für die Merchandising- Tochter des Verlags mehr als hundert verschiedene Produkte her. Käpt’n Blaubär als Pyjama und Plüschtier, auf Tassen und Seifenblasen. Nur: Mit seinem schrägen Helden, schimpft Walter Moers, wird all das nichts mehr zu tun haben.

Seinem Helden? „Käpt’n Blaubär ist eine Ravensburger-Figur, die Walter Moers einmal erfunden hat“, stellt Verlagssprecherin Ulrike Hauswaldt die Rechtslage klar. Seit den Folgen in der „Maus“ hat der Zeichner alle Blaubär-Rechte an die Produzenten abgetreten — ein finanziell lukrativer Vertrag, den Moers heute bereut. Bei seiner anderen Kultfigur kann er mit seinem Veto verhindern, daß aus dem „Kleinen Arschloch“ einmal Kaffee getrunken wird. Die Entscheidung, ob man Käpt’n Blaubär und Hein Blöd als Wärmflaschenbezug kaufen kann, liegt allein beim Ravensburger Merchandising-Leiter Alwin Jeck. Und man kann.

Moers beschreibt sich selbst als „relativ skrupellos“, was die Vermarktung seiner Figuren in Form von diversem Schnickschnack angeht, „wenn es gut gemacht ist“. Viele Blaubär-Produkte stießen dagegen in den Bereich der „Kundenverarschung“ vor. Doch was Moers als „massiven Mist“ bezeichnet, ist für Alwin Jeck wirtschaftliche Notwendigkeit. Durch den Verkauf der Serie ins Ausland allein können die Kosten nach seinen Worten nicht gedeckt werden. „Merchandising“ ist gefragt. Immerhin soll der „Käpt’n-Blaubär-Club“ wegweisend für das öffentlich-rechtliche Kinderprogramm der Zukunft im Kampf gegen die Billigware der privaten Konkurrenz sein. Und dazu ist er bereits auf dem besten Weg. Der Käpt’n-Blaubär-Fanclub wächst und wächst; dem Bär, der das Blaue vom Himmel herunterlügt, huldigen am frühen Samstagmorgen im Schnitt eine halbe Million Zuschauer. Ein Hit auch unter Erwachsenen: Von den 10 000 Briefen, die pro Woche beim WDR eingehen, stammen etwa 750 von Volljährigen.

Schon für den Großauftrag vom WDR für die „Sendung mit der Maus“ mußte Walter Moers auf die Hilfe anderer Autoren zurückgreifen, um in einem knappen halben Jahr Blaubär-Folgen in einer Gesamtlänge von rund fünf abendfüllenden Spielfilmen produzieren zu können. Abnützungserscheinungen und „höllische Schwierigkeiten“ seien die Folge gewesen. Zufällig eine der schlechteren Blaubär- Folgen morgens im Fernsehen gesehen zu haben, sagt Moers, könne ihm immer noch den ganzen Tag versauen.

Mit dem heutigen Blaubär-Boom hat er nichts mehr zu tun — er verdient nur noch daran. „Schmerzensgeld“ nennt er seine Prozente von den Gewinnen. Dafür muß er alten Fans erklären, daß nur, wo Moers draufsteht, auch wirklich Moers drin ist. Und er muß mitansehen, wie seine Figur in immer neuen Mutationen erscheint. Je nachdem, welcher Zeichner auf der Welt für ein Produkt versucht hat, den Moersschen Stil zu kopieren, ist der Bär mal hell- und mal dunkelblau, mal leicht untersetzt oder mal richtig fett.

Es bleibt nicht bei äußerlichen Veränderungen. Nach den Worten von Uwe-Michael Gutzschhahn, dem zuständigen Redaktionsleiter bei Ravensburger, macht der Charakter einer Figur mit dem Erfolg zwangsläufig eine „marktkonforme Entwicklung“ durch. Und wenn ein Produkt in die „Maschinerie des Merchandising“ gerate, würden automatisch viele Formen ausgekostet, die nicht im Sinne des Erfinders seien. Vor allem die billigen Angebote, kleine Bücher, die als Mitbringsel dienen sollen, griffen nur ein Klischee der Figur auf. Der Blaubär, wie ihn Moers erfand, sagt Gutzschhahn, hatte einen viel weiteren Horizont.

Ein Bär wird zur Kultfigur. Ein Kult allerdings, der ohne Risiken und Nebenwirkungen anarchistisch angehauchten Humors auch konservative Eltern ansprechen soll. Wenn Walter Moers Pech hat — mit großem Erfolg.

David Copperfield

taz

US-Magier David Copperfield erstmals auf Europatournee. Illusion oder Zauberei?

München (taz) — Der Mitteleuropäer von heute ist ein aufgeklärter Mensch und läßt sich so schnell nichts vormachen. Ist der US-Entertainer David Copperfield etwa wirklich der „größter Magier aller Zeiten“? Vielleicht für die TV-geschädigten Amis, aber hier doch nicht! Denn wenn man die Illusionen, die der 36jährige am vergangenen Freitag in München, erstmals in Europa, inszenierte, mit der nötigen kritischen Distanz verfolgt, wird man sicher einen Teil der Tricks erhaschen können. Wäre ja gelacht.

Da haben wir zum Beispiel die Nummer mit der Frau im wallenden roten Kleid, die er gerade auf die Bühne gezaubert hat und wohl folgerichtig von dort in Kürze wieder verschwinden lassen wird. Jetzt hält sie ein großes rotes Tuch zwischen sich und die Zuschauer. Klarer Fall, sie steht so dicht am verwirrend glitzernden Vorhang hinter der Bühne, daß sie sicher durch ein Schlupfloch nach hinten abtreten kann. Oha, sie entfleucht noch gar nicht, sondern schwebt plötzlich aufrecht in die Lüfte! Auch das läßt sich bestimmt durch irgendwelche Winden und versteckte Schnüre erklären — wo immer sie auch befestigt gewesen sein mögen, als Copperfield mit seiner Partnerin quer über die Bühne tanzte.

Aber jetzt rudert die schwebende Frau noch mit den Armen, und löst sich dann — nichts weniger als das — in Luft auf: Ihre Figur zeichnet sich mit einem Mal nicht mehr unter dem Stoff ab, das Tuch fällt haltlos in sich zusammen und leer auf den Boden.

Schritt für Schritt nahm David Copperfield Hunderten aufgeklärten Mitteleuropäern im Deutschen Theater in München die Sicherheit ihrer Rationalität. Er zersägt eine Jungfrau — längs. Er läßt eine Assistentin seinen Bauch und Rücken durchdringen und mitten durch seinen Körper kriechen. Er verwandelt sich in seine Partnerin am anderen Ende der Bühne und sie sich in ihn, und beide waren höchstens für eine Sekunde nicht zu sehen.

Dinge, die so offensichtlich unmöglich sind, daß dem Zuschauer der Gedanke an Magie mindestens so naheliegend erscheint wie der an raffinierte Tricks, er das Grübeln aufgibt und sich ganz aufs kindliche Staunen konzentrieren kann. Vor allem beim Fliegen.

Der Effekt ist jedesmal der gleiche, erklärt Copperfield nach der Vorstellung. Wenn er auf der Bühne abhebt und sich mit schwimmähnlichen Bewegungen durch die Luft zieht, denken die Leute noch an die Fünfzig-Tonnen-Technik und suchen nach Schlüsseln, die zumindest andeuten könnten, warum sie sehen, was nicht sein kann. Nach einigen Minuten aber, wenn der Künstler immer noch seine Bahnen zieht, Purzelbäume dreht, eine Frau aus dem Publikum auf dem Arm mit sich hinaufnimmt und selbst in einem geschlossenen Plexiglas-Aquarium weiterschwebt, lassen sie sich fallen und fliegen mit.

„Die Leute wollen eigentlich gar nicht wissen, wie es funktioniert“, meint der Meister. „Das Gefühl des Staunens ist viel wichtiger.“

Wenn Copperfield in Pulli und Jeans auf der Bühne steht, wirkt er fast wie der kleine David, der vor 25 Jahren anderen Kindern etwas vorzauberte, um beliebt zu werden. Trotz dreier Shows täglich und 500.000 Zuschauern allein während der kommenden Wochen in Deutschland, scheint er sich immer noch über jeden Trick zu freuen, mit dem er seine Träume wahr werden läßt, und über jede Überraschung, die seine Zuschauer begeistert. Aber vielleicht ist gerade dieses Gefühl, das er dem Publikum vermittelt, seine beste Illusion.