Qualitätsmedien im Netz, Folge 3271

Gelegentlich wird BILDblog ja vorgeworfen, unsere Arbeit sei schon deshalb unsinnig, weil die meisten Leser eh nicht glaubten, was in der „Bild“-Zeitung steht. Interessanterweise aber glauben Journalisten, was in der „Bild“-Zeitung steht. Tag für Tag übernehmen sie „Bild“-Meldungen ungeprüft in ihre eigenen Medien — nicht nur in den Redaktionen der Boulevardmagazine im Fernsehen, auch bei vermeintlich seriösen Medien und deren Online-Ablegern.

Am vergangenen Wochenende fielen sie reihenweise auf das „Bild“-Märchen von Angelina Jolies „Schock-Beichte“ herein, mit dem das Blatt groß aufmachte.

Zum Beispiel das Online-Angebot von der „Rheinischen Post“. Nach meiner Wahrnehmung bestückt kaum ein anderer Online-Ableger sein Angebot so konsequent mit selbst umgeschriebenen „Bild“-Meldungen, was natürlich damit zusammenhängen könnte, dass sowohl Zeitungs- als auch Online-Chef von „Bild“ kommen. Jedenfalls hieß es auf „RP Online“:

Angelina Jolies schockierende Sex-Beichte

Sie gehört zu den schönsten Frauen Hollywoods aber auch zu den exzentrischtsten. Angelina Jolie ist Schauspielerin, Mutter und Femme fatale zu gleich. Jetzt geht die 31-Jährige mit einem intimen Buch an die Öffentlichkeit und gesteht: „Ich wollte eine Frau heiraten!“ (…)

Das ist Quark und (mal ganz abgesehen von den sprachlichen Schwächen) sogar noch falscher als die „Bild“-Geschichte. „Bild“ hatte nämlich nur geschickt suggeriert, das Buch sei von Angelina Jolie selbst. Inzwischen glaubt anscheinend auch „RP Online“ nicht mehr an die Richtigkeit des eigenen und des „Bild“-Artikels:

„Spiegel Online“ konnte ebenfalls nicht widerstehen, verbreitete den Unsinn von „Bild“ ebenfalls weiter — und nannte das aus alten Zitaten zusammengequirlte Buch entsprechend schon in der Dachmarke ein „ENTHÜLLUNGSBUCH“. Bei „Spiegel Online“ ist der Artikel auch heute noch online, aber in einer leicht veränderten Version. Der ursprüngliche Satz „In wenigen Tagen kommt die Biographie der schönen Schauspielerin in Deutschland auf den Markt“, bekam den Nebensatz: „die allerdings nicht autorisiert ist.“

Hm. Sah es zwischenzeitlich nicht mal so aus, als würde „Spiegel Online“ solche nachträglichen Korrekturen kenntlich machen? Oder gilt das nicht für Verschlimmbesserungen — denn um die Frage der Autorisierung geht es eigentlich gar nicht. Die Zitate, die „Bild“ aus dem Buch bringt, kommen teilweise durchaus aus respektablen Quellen, sind also vermutlich auch autorisiert, aber eben schon viele Jahre alt. Was will uns „Spiegel Online“ also mit dieser Änderung sagen? Auf eine Anfrage an „Spiegel Online“-Chef Mathias Müller von Blumencron habe ich leider keine Antwort erhalten.

Geantwortet hat mir aber Hans-Jürgen Jakobs, Chef von sueddeutsche.de. Der Internet-Auftritt der „Süddeutschen Zeitung“ hatte, wie „RP Online“, die „Bild“-Fehler noch verschärft:

Nachdem BILDblog über den Fall berichtet hatte, wurden ein paar merkwürdige Sätze in den Text redigiert, die (wie bei „Spiegel Online“) am Kern vorbeigingen:

Bei diesem Buch handelt es sich um eine unautorisierte Biographie. (…) Aber wie gesagt: Das Buch „Angelina Jolie“ zitiert Angelina Jolie rauf und runter, aber Angelina Jolie selber hat dieses Buch nie autorisiert.

Am Dienstagnachmittag teilte mir Jakobs auf meine grundsätzlichen Fragen zum Umgang mit „Bild“ folgendes mit:

Gibt es bei sueddeutsche.de Regeln für den Umgang mit Quellen im Allgemeinen und „Bild“ im Besonderen?

Der Umgang mit Quellen unterscheidet sich bei sde nicht von den Prinzipien der Süddeutschen Zeitung oder anderer etablierter Medien. In der Regel werden Nachrichten mit Quellenangaben zitiert, wie auch in dem von Ihnen betrachteten Fall.

Gelten vermeintliche „Bild“-Exklusiv-Meldungen bei sueddeutsche.de grundsätzlich als vertrauenswürdig? Und sogar so vertrauenswürdig, dass die Redakteure auf eine Plausibilitäts-Kontrolle durch eine kurze Google-Suche verzichten können?

Die Meldung beruhte auf einer „Bild“-Geschichte, die am Samstag erschien. Am Wochenende sind in der Regel die Personenen aus den Ressorts Panorama und Leben & Stil nicht im Büro. Zu einer gesonderten Überprüfung kam es in diesem speziellen Fall nicht. Die sde-Seite, auf die BildBlog zunächst verlinkt hat, ist längst gelöscht.

Ich kann mich ja irren, aber ich habe das Gefühl, Herr Jakobs hat zwar meine Mail, aber nicht meine Fragen beantwortet.

Tatsächlich erhält aber, wer den Angelina-Jolie-Artikel auf sueddeutsche.de aufruft, nun dies:

Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich unter dem Artikel eine lange, heftige und teilweise kontroverse Diskussion entwickelt hatte:

Mehrere Dutzend Leserkommentare sind nun, zusammen mit dem Artikel, gelöscht worden. Wenn diese Kommentare ein Mittel sein sollen, um Leser zu binden, und wenn Hans-Jürgen Jakobs beim Relaunch von sueddeutsche.de einen „verstärkten Dialog mit den Lesern“ ankündigte: Wie wirkt das eigentlich auf Leser, wenn eine Diskussion, an der sie sich beteiligt haben, und ihr Gegenstand ohne Erklärung von einer Minute auf die andere verschwindet?

Und: Woran erkennt man nochmal ein Qualitätsmedium im Netz? An seinem Umgang mit zweifelhaften Nachrichtenquellen? An der Transparenz, wie es mit eigenen Fehlern umgeht? An seinem Umgang mit Leserkommentaren? Oder doch nur daran, dass es sich für etwas Besseres hält?

Jürgen von der Lippe

Der Handwerker. Ausgerechnet Jürgen von der Lippe kriegt schon wieder den renommierten Grimme-Preis.

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Er hat in der sonst gerne halbwegs seriösen Gesprächssendung „Unter vier Augen“ im Bayerischen Fernsehen diese Woche erstmal ein Wasserglas und eine Aspirin-Tablette ausgepackt und der Moderatorin gezeigt, wie man diesen Requisiten ein Kondom sich selbst aufblasen lassen kann. Soviel mal vorweg, um die Fallhöhe des Humors von Jürgen von der Lippe deutlich zu machen, beziehungsweise: ihr Fehlen.

Es ist noch nicht ganz so weit, dass sich die langjährigen Abonnenten auf den Adolf-Grimme-Preis Sorgen um ihren Platz in der Fernsehgeschichte machen müssten. Dass die Gefahr bestünde, dass ein vermeintlich kleiner Witze-Erzähler wie Jürgen von der Lippe die großen Geschichten- und Geschichte-Erzähler wie Heinrich Breloer oder Georg Stefan Troller irgendwann in den Schatten stellen könnte. Aber von der Lippe erhält diese Auszeichnung, die eine der renommiertesten des deutschen Fernsehens ist und Sendungen würdigt, die „nach Inhalt und Methode Vorbild für die Fernsehpraxis sein können“, kommende Woche nun schon zum zweiten Mal* und war sogar doppelt nominiert. Da wird es langsam schwer, die Wahl als bloßes Versehen abzutun. Da müsste man, wenn man wollte, schon ganz grundsätzlich fragen, wie es sein kann, dass ein Mann, dessen Werk Elke Heidenreich in den Worten „5000 Jahre Herrenwitz im Bierzelt“ bündig zusammenzufassen glaubte, einen so ehrenvollen Preis gewinnt. Da müsste man, wie es manche auch getan haben, schon sehr besorgt fragen, ob dieser Preis nicht beschädigt wird durch solche Entscheidungen. Und ob es in Deutschland jetzt endgültig alle Maßstäbe, was Qualität ist, verloren gegangen sind.

Man könnte natürlich auch fragen, warum es den Deutschen so schwer zu fallen scheint, Menschen zu würdigen, die nichts mehr wollen, als ihr Publikum gut zu unterhalten, vor allem aber auch: nichts weniger.

Der 58-jährige Jürgen von der Lippe bezeichnet sich gerne als unterhaltenden Dienstleister – ganz in der Tradition seines Vaters, der als Cocktail-Mixer in einer Rotlicht-Bar gearbeitet hat. Das Bild vom Dienstleister markiert ganz gut, welche Ansprüche an sich hat und welche nicht. Von der Lippe ist kein Magier – auch wenn er auf der Bühne gerne Zaubertricks vorführt. Mit der ganz großen Illusion hat von der Lippe nichts am Hut, er strebt nicht nach Höherem oder gar Tieferem. Von der Lippe ist Handwerker – im besten Sinne. Er weiß, wie er sein Publikum zum Lachen bringt. Er ist ein Meister des Timings, der eine Pointe, je nach Bedarf, endlos verzögert oder unmittelbar verschießt. Der einen misslungenen Witz mit einem Blick oder einer Geste retten kann.

Es ist ein bisschen desillusionierend, von der Lippe über das Humorhandwerk reden zu hören. Es scheint, vor allem, harte, aber ehrliche Arbeit zu sein. Es hat damit zu tun, alle Witze dieser Welt zu kennen (der Vorrat scheint letztlich doch überschaubar zu sein) und die Tricks der großen Komiker gründlich analysiert zu haben. Von der Lippe hat regelrechte Dienst- und Studienreisen in die Vereinigten Staaten unternommen. Es geht um Recherche und Training, viel Raum für ein wunderbares Humor-Geheimnis bleibt da nicht.

Man darf nicht den Fehler machen, den Verzicht auf irgendeinen höheren Anspruch mit Schludrigkeit zu verwechseln. Von der Lippes Auftritte zeichnet, anders als die vieler jüngerer „Comedians“, eine große Präzision aus: Wie er artikuliert, phrasiert, Lautstärke und Tempo dosiert und mit dem Publikum spielt. Es ist ja nicht so, dass es damit getan wäre, sich eine alberne rote Nase aufzusetzen, lustige Hemden zu tragen und schlüpfrige Witze aufzusagen. Ja, das ist sehr dämlich, wenn von der Lippe auf der Bühne steht und zur Gitarre das Lied von den „Saunafreunden ‚Aufguss ’09′“ singt, in dem es etwa heißt: „Wenn wir in unsrer Schwitzeklitsche / auf der Glitschepritsche schwitzen, / Schwitzeschweiß verspritzen, / dabei Zwetschgenschnäpschen zwitschern.“ Aber wenn er sich dann („Jetzt Sie!“) mit dem Gestus eines Studienrates daran macht, mit dem Publikum das Lied einzuüben und alle gemeinsam in die von ihm aufgestellten Sprachfallen tappen, entstehen kleine Momente großer Unterhaltung. Und wenn sich das Publikum danach die Tränen aus den Augen wischt, mag die Kritikerfrage, ob es nicht ein bisschen mehr Anspruch sein dürfe, zu Recht sehr abwegig erscheinen.

Diese Bühnenauftritte bezeichnet von der Lippe als seine eigentliche Arbeit, das Fernsehen ist angeblich nur ein Hobby. Vielleicht sei das ein Geheimnis seines Erfolges dort, meint er: „Die Entspanntheit, mit der ich Fernsehen gemacht habe, weil ich es nicht musste.“ Über Jahrzehnte war er ein öffentlich-rechtliches Urgestein, etablierte im WDR mit der Sendung „So isses“ eine einzigartige Mischung aus größter Albernheit und ernsthaftem Interesse an Menschen. Seine Show „Geld oder Liebe“, für die er 1994 seinen ersten Grimme-Preis bekam, war lange Jahre eine der erfolgreichsten Shows und zelebrierte seine große Leidenschaft für das Gesellschaftsspiel in allen Formen, besonders der des Geschlechterkampfes. Das war, wie es bei guten Spielen so ist, nur oberflächlich völlig sinnfrei, in Wahrheit war es eine wunderbare Möglichkeit, Menschen kennenzulernen.

Seit dem Ende von „Geld oder Liebe“ 2001 ist er ein bisschen heimatlos und tingelt durch viele Shows. Wirklich am Herzen liegt ihm seine Sendung im Dritten: „Was liest Du?“ Darin liest er mit einem Gast aus Büchern vor. Es ist eine ganz kleine Form, die die scheinbaren Widersprüche von der Lippes wunderbar vereinigt. Er ist ja ein bisschen wie jemand, der unglaublich belesen ist, weil er sich durch die gesamte Weltliteratur gearbeitet hat – wenn auch nur auf der Suche nach den besten schweinischen „Stellen“. Und so liest er, in scheinbarer Verschwendung der Möglichkeiten des Mediums Fernsehen, die deftigsten Passagen oder auch die kühnsten Wortspiele aus eher massentauglichen Werken vor, und behauptet, seine Show verkaufe mehr Bücher als Elke Heidenreichs. Es ist leicht, auch „Was liest du“ als läppisch zu verachten, und die Leidenschaft für Sprache zu übersehen, die von der Lippe darin ausstrahlt.

Dabei ist er Harald Schmidt gar nicht so unähnlich und hat mit ihm dem Fernsehen schon einige Sternstunden beschert, vor allem, wenn beide ihre angebliche Hypochondrie pflegen und sich lustvoll in freier Improvisation mit Krankheitsbildern, lateinischen Fachausdrücken und Behandlungsirrtümern überbieten. Aber anders als Schmidt taugt von der Lippe nicht zum Maskottchen für irgendeine Elite. Er beruft sich auf Epikur, dem alles Elitäre fremd war und für den das Streben aller nach Glück und Lust so zentral war – der aber dazu riet, sich vorher über die Folgen des Handelns Gedanken zu machen: Ich mag gerne Wein, aber ich mag auch ein gutes Gespräch, was ich aber nach drei Glas Wein nicht mehr führen kann. „Ich denke“, sagt von der Lippe, und er klingt dabei ganz unironisch, „viel Klügeres ist der Menschheit nicht mit auf den Weg gegeben worden.“

Man kann, mit etwas gutem Willen, seine Karriere als einen langen Kampf gegen die Unvereinbarkeit von Zote und Goethe lesen. Dass er dabei nicht völlig erfolglos war, zeigt der neuerliche Grimme-Preis – auch wenn die Auszeichnung für die von ihm moderierte ProSieben-Spielshow „Extreme Activity“ (eine Mischung aus Scharaden, „Montagsmaler“ und Kindergeburtstag) heftig umstritten ist. Andererseits: Mindestens so sehr, wie über die Anerkennung selbst, wird er sich wohl darüber freuen, dass sie für so viele Feuilletonisten einen Affront darstellt.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

*) Ich war Mitglied der zuständigen Grimme-Jury für Unterhaltung.

Echo, live on tape

Frage: Was bedeutet das Wort „LIVE“, das RTL in die Aufzeichnung der Echo-Verleihung einblendet?

Zusatzfrage: Ist denen das nicht zu doof, wenn das, was mit über zwei Stunden Verzögerung „live“ auf RTL zu sehen ist, lange vorher schon woanders zu sehen war? (Okay, ich ziehe die Zusatzfrage zurück.)

Konsequent allerdings, dass RTL.de als Aufmacher auf seiner Seite zum Echo auch jetzt, hinterher, noch Karten für die Veranstaltung verlost:

Knut

Ich wäre dann gestern Morgen fast wieder bereit gewesen für neue Nachrichten. Hatte mich bei dem Gedanken ertappt, dass in diesen Tagen, in denen ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Niedlichkeit von diesem Knut gerichtet habe, etwas passiert sein könnte in der Welt. Dass vielleicht in der Zwischenzeit in einem anderen Zoo in einem anderen Land ein anderes Tier geboren worden sein könnte, das von einer anderen Mutter verstoßen wurde und nun von einem anderen Tierpfleger von Hand aufgezogen wird, ganz anders, aber genau so niedlich. Aber dann lief im Ersten diese neue Doku-Soap über Knut und die hatten Babyfotos von Knut, die ich noch gar nicht gesehen hatte, und einmal knabbert der Knut total süß in die Plastikschüssel, in der er gewogen wurde, und ich hatte vorher nur gesehen, wie er an den Gummistiefeln von seinem Pfleger und in seine Schmuse- und Trockenrubbeldecke knabberte, und vor allem war da diese Szene, in der der Pfleger Knut tropfnass aus der Badewanne hob und unter den Schultern packte und ausschüttelte und das war wirklich das Goldigste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.

All das darf uns aber nicht daran hindern, kritische Fragen an die Medien zu stellen. Zum Beispiel: Wäre ein Rumpelsender wie N24 technisch und personell dafür gerüstet, notfalls die Live-Übertragung der ersten Pressekonferenz von Knut zu unterbrechen, wenn gleichzeitig ein Nacktnasenwombatwaisenkind im Zoo von Münster erstmals seine Augen öffnet? Kann ich mich darauf verlassen, dass mich n-tv, wenn dort gerade nur Knut-Bilder vom Vortag wiederholt werden, wenigstens im Laufband aktuell über den Grad von Knuts Niedlichkeit informiert? Wo sind die kritischen Hintergrundberichte? Wer prangert den Skandal an, dass immer noch, Tag für Tag, irgendwo in der Wildnis potentiell unfassbar niedliche Flauschzottel unter Ausschluss der Öffentlichkeit geboren werden? Wann ändert Sabine Christiansen ihr Programm und fragt nach dem Verantwortlichen dafür, dass unermessliche Niedlichkeits-Ressourcen in entlegenen Regionen ungenutzt verkümmern? Wird Volker Panzer oder Peter Sloterdijk das „ZDF-Spezial“ zur philosophischen Frage moderieren, ob ein niedliches Tier, das niemand sieht, überhaupt niedlich ist? Und: Wenn Knut in ein paar Jahren zu Reinhold Beckmann in die Talkshow geht und der ihn fragt, wie er sich fühlte, damals, als ihn seine Mutter verstieß, wie groß ist die Chance, dass er ihn statt einer Antwort auffrisst?

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Warum tut denn keiner was? (1)

Die Bayerische Landeszentrale für Neue Medien (BLM), die u.a. für 9Live zuständig ist, versteht sich traditionell weniger als Kontrollbehörde denn als Lobby der Privatsender.

Im August 2004 gab die BLM gemeinsam mit den Kollegen aus Baden-Württemberg einen „Leitfaden für TV-Gewinnspiele“ [pdf] heraus (seit 2005 gibt es eine überarbeitete Fassung aller Landesmedienanstalten [pdf]). Darin steht ein verräterischer Satz:

Um die Akzeptanz der Call-in-Formate für die Zukunft zu erhalten, ist auf die Aufforderung zu wiederholtem Anrufen zu verzichten.

Es geht also nicht darum, die Zuschauer davor zu schützen, ihr ganzes Geld zu vertelefonieren. Es geht darum, „die Akzeptanz der Call-in-Formate für die Zukunft zu erhalten“.

Warum sorgt sich eine Landesmedienanstalt darum, dass die „Call-in-Formate“ von den Zuschauern akzeptiert werden sollen? Weil sie diese sogenannten Telefon-Mehrwertdienste den Sendern als Einnahmequelle ans Herz legt. Im Februar 2005 legte sie dazu eine Studie vor. BLM-Chef Wolf-Dieter Ring erklärte:

„Eine wichtige Intention dieser Studie ist, gerade den lokalen und regionalen Hörfunk- und Fernsehanbietern zu zeigen, dass Mehrwertdienste auch in ihrem Bereich ein nicht zu unterschätzendes zusätzliches Instrument der Wertschöpfung darstellen können.“

Die Studie ist gut zwei Jahre alt und wirkt im Rückblick erschütternd naiv:

Die bislang häufig verfolgte Strategie des „hit & run“ wird langfristig keinen Erfolg bringen. (…)

Die Qualität der angebotenen Dienste [wird sich] — vor allem im Hinblick auf deren inhaltlichen Programmbezug und die Transparenz — in Zukunft weiter deutlich erhöhen. (…)

Die vorgestellten und diskutierten Ansätze lassen erwarten, dass der Zuschauer und Hörer künftig noch stärker in den Mittelpunkt von Call Media-Anwendungen rücken wird.

Im letzten Satz muss es natürlich heißen, „…dass das Geld der Zuschauer und Hörer künftig noch stärker in den Mittelpunkt rücken wird…“, aber das ist sicher nur ein Tippfehler.

Am 26. Oktober 2005 sagte Ring in der Münchner „Abendzeitung“:

Abendzeitung: Es gibt immer wieder Kritik, dass die Zuschauer im Femsehen abgezockt werden.

Ring: Ich habe schon immer — zum Beispiel bei der Diskussion um Neun Live — gesagt, wir müssen über die Regeln sprechen. Es ist wichtig, dass man den Verbraucher nicht irreführt. Aber der Zuschauer muss auch ein Stück eigene Verantwortung wahrnehmen. Inzwischen ist Neun Live ein akzeptables Geschäftsmodell.

Ein „akzeptables“ Geschäftsmodell? Vermutlich meinte Ring: Ein von der BLM akzeptiertes Geschäftsmodell. Ich habe keine Hinweise gefunden, dass sich daran seitdem etwas geändert hätte.

Medienaufsicht kritisiert Gesamtsituation

Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet heute, die nordrhein-westfälische Landesmedienanstalt LfM habe eine Konferenz angesetzt:

Am 3. Mai sollen die Regeln für Call-In-Formate besprochen werden (…). Seitens der Sender mangelt es nach Ansicht der Landesmedienanstalten an der konsequenten Umsetzung der Richtlinien, die von Medienwächtern und TV-Anbietern 2004 und 2005 erarbeitet wurden. Zwar hätten sich in letzter Zeit weniger Zuschauer beschwert, dennoch sei man „mit der Gesamtsituation unzufrieden“, sagt Peter Widlok, Pressesprecher der LfM (…).

Bei der Konferenz wollen die Medienanstalten mit allen Sendern, die Call-In-Formate im Programm haben, sowie mit den beteiligten Produktionsfirmen die bestehenden Regeln überarbeiten. Es geht auch um strengere Einhaltung.

Sind 9Live-Moderatoren Betrüger?

„Das ist ja Betrug“, sagt man als juristischer Laie schnell, wenn man sich ansieht, wie in Anrufsendungen auf 9live, Sat.1, ProSieben, Kabel 1, DSF, Nick, Viva, Comedy Central und anderen Sendern den Zuschauern mit allerlei Täuschungen das Geld aus der Tasche gezogen wird. Aber ist es das wirklich? Im juristischen Sinne?

Die drei Kölner Juristen Moritz Becker, Martin Ulbrich und Johannes Voß haben sich nur einen Aspekt aus der ganzen Problematik herausgegriffen: Die dauernde Suggestion der Moderatoren, man habe beim sogenannten „Hot Button“-Spiel bessere Gewinnchancen, wenn man zu einer bestimmten Zeit / möglichst früh / jetzt „ganz schnell“ anrufe. In Wahrheit geht es natürlich keineswegs um Geschwindigkeit, sondern nur darum, den Zeitpunkt zu erwischen, im dem ein Redakteur einen Anrufer auswählen und ins Studio stellen lässt.

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Multimedia und Recht“ (MMR 3/2007) kommen die Experten zu dem Ergebnis, das Verhalten der Moderatoren könne durchaus den Straftatbestand des Betrugs nach Paragraph 263, Absatz 1 des Strafgesetzbuches erfüllen. Die Moderatoren täuschten die Anrufer über die „Geschäftsgrundlage des Spiels“. Es handele sich bei ihren Versprechungen auch nicht nur um „reklamehaft übertriebene Redewendungen und Floskeln“, die allgemein die Sendung und die Gewinnchancen anpreisen, wodurch der Straftatbestand des Betruges nicht erfüllt wäre. Die Moderatoren spiegelten den Anrufern vor, für ihre 50 Cent Einsatz bekämen sie eine andere Gegenleistung, eine andere Chance auf einen Gewinn, als sie tatsächlich bekommen. Schließlich handelten die Moderatoren vorsätzlich und mit der Absicht, einen Dritten (den Fernsehsender) zu bereichern.

Das Fazit der Autoren:

Die Grenze zwischen anrüchigem Geschäftsgebahren und strafrechtlich relevanter Übervorteilung ist hier überschritten.

Mit anderen Worten: Anna Heesch, Alida-Nadine Lauenstein, Khadra Sufi, Max Schradin, Stefan Pollak, Norman Magolei, Thomas Schürmann, Martin Scholz und all die anderen können sich durch ihre Moderationen des Betrugs strafbar machen.

Sicher wäre es übertrieben zu sagen, sie stünden mit einem Bein im Knast. Ich mag die Vorstellung trotzdem.

Es lebe die Doppelmoderation!

Die Moderatoren Fearne Cotton und Terry Wogan geben bekannt, wen die BBC-Zuschauer zum britischen Vertreter beim Eurovision Song Contest gewählt haben — Scooch oder Cindy:

BBC-Chef Mark Thompson sagte hinterher:

„I think they were trying so hard to get the phones right that something else must have gone wrong. I’ll find out tomorrow morning exactly what but whoever’s fault it was I’m sure it wasn’t Terry Wogan’s.“

(via MediaGuardian)

Fehlende Reflexe

Vorgestern schreibt der ehemalige Microsoft-Blogger Robert Scoble in seinem Blog „Scobleizer“:

Microsoft’s Internet execution sucks (on whole). Its search sucks. Its advertising sucks (…).

Die britische „Sunday Times“ findet das bemerkenswert und schreibt heute einen Artikel darüber („‚Microsoft sucks‘, says top blogger“).

Ein Redakteur aus dem „Multimedia“-Ressort von „Spiegel Online“ liest den „Sunday Times“-Artikel, findet die Geschichte ebenfalls bemerkenswert, schreibt ebenfalls einen Artikel darüber („‚Microsoft sucks‘ — Top-Blogger rechnet mit Microsoft ab“) — kommt aber offenbar nicht auf die Idee, dass er durch eine schlichte Google-Suche das entsprechende Blog und den entsprechenden Eintrag finden könnte.

Stattdessen verlässt er sich ausschließlich auf die Sekundärquelle und schreibt:

„Microsofts Internet-Anwendungen, die Suche und die Werbung sind Mist“, erklärte Scoble nach Angaben der „Sunday Times“.
(Hervorhebung von mir.)

Himmel! Wenn heute noch selbst ein fürs Internet zuständiger Redakteur eines Internet-Mediums nicht reflexartig in einem solchen Fall die Originalquelle aufsucht und sich dort ein eigenes Bild macht (geschweige denn, sie für seine Leser gleich zu verlinken) und nicht einmal merkt, wie absurd es ist, eine Zeitung als Quelle für den Inhalt eines Blogs (!) anzugeben, wie viele Jahre mag es noch dauern, bis es die breite Masse der Kollegen begreift?

Nachtrag. „Spiegel Online“ hat inzwischen den Verweis auf die Zeitung entfernt und verlinkt direkt auf das Blog. Dort können sich die Leser ja dann direkt davon überzeugen, dass Scoble gar nicht meint, dass Microsoft insgesamt saugt, wie „Spiegel Online“ und „Sunday Times“ in ihren Überschriften behaupten.