Ich versuch das mal zurückhaltend zu formulieren: In den vergangenen Wochen hat die „Readers Edition“ viel negative Aufmerksamkeit bekommen. Und die freundlichste Umschreibung für das, was da gerade passiert, ist wohl: Die „Readers Edition“ befindet sich in einem schwierigen und schlecht organisierten Umbruch.
Da hat man als Unternehmen prinzipiell mehrere Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen. Entweder man arbeitet jetzt mal still vor sich hin, und versucht durch Taten allmählich wieder Vertrauen zurückzugewinnen. Oder man macht es wie die „Readers Edition“ und reißt stattdessen die Klappe richtig weit auf. Veröffentlicht zum Beispiel etwas, das sich „Readers Edition Vision“ nennt und worin mantraartig ein einziger Anspruch wiederholt wird (Hervorhebungen von mir):
„Die Readers Edition (RE) wird in Phase II (und folgenden) zur führenden Plattform für Ideen, Ressourcen, Publishing und die beteiligten Menschen, Unternehmen und Organisationen (Community) rund um das Thema Citizen Journalismus (CJ) und Social Media.
RE bietet die führende Citizen-News-Plattform (…).
Die Readers Edition übernimmt – partizipativ und im Dialog mit allen Beteiligten – die Ideen und Marktführerschaft in den Bereich Citizen Journalismus und Social Media.
Die (erweiterte) Readers Edition ist/wird die führende Community-Plattform für Citizen Journalismus in Deutschland. (…)
Die „Readers Edition“ ist die ‚Best Breed of Citizen Journalismus’ Online-Publikation im deutschsprachigem Raum und darüber hinaus.
Super-Konzept. Wir wissen zwar noch nicht, was wir tun wollen und wie und mit wem, aber wir haben schon mal beschlossen, Erster zu werden, in was auch immer.
Es ist sicher richtig und notwendig, über Bürgerjournalismus und seine Chancen und Möglichkeiten in Deutschland zu diskutieren. Aber das kann ich doch nicht ernsthaft anhand der „Readers Edition“ tun — es sei denn, man bräuchte unbedingt ein Negativbeispiel.
Aktueller Aufmacher ist ein Artikel, der drei Monate nach, ich wette: jedem einzelnen anderen Medium in Deutschland erklärt, dass Polonium gefährlich ist.
Die gleichen Autoren haben gestern einen Artikel über eine neue Impfstudie gegen HIV veröffentlicht, in dem zwar unter Wörtern wie „HIV“ oder „Placebo“ Links zu den entsprechenden Wikipedia-Einträgen liegen, aber der entscheidende Link fehlt: Der zur ddp-Meldung vom vergangenen Freitag, aus der der Artikel fast vollständig zusammengeklöppelt wurde:
Der von der Firma Merck produzierte Impfstoff habe bereits in kleineren Studien in den USA, Kanada, Südamerika, Australien und der Karibik gezeigt, dass er gut verträglich sei und bei mehr als der Hälfte der Teilnehmer eine gegen HIV gerichtete Immunantwort auslösen könne. |
Nach Angaben der Firma Merck, die den neuen Impstoff MRKAd5 HIV-1 entwickelt hat, haben kleinere Studien in den USA, Kanada, Südamerika, Australien und der Karibik bereits gute Ergebnisse gezeigt. Der Impfstoff sei in diesen Studien gut verträglich gewesen und habe bei mehr als der Hälfte der Teilnehmer eine gegen HIV gerichtete Immunantwort ausgelöst. |
Der Impfstoff besteht aus einem abgeschwächten Erkältungsvirus, in dem drei Schlüsselgene des HI-Virus verpackt sind. Dieses Design sorgt dafür, dass zwar das Immunsystem auf den Erreger aufmerksam wird, der Geimpfte jedoch weder an einer Erkältung erkranken noch sich mit HIV infizieren kann. |
Die Test-Impfung besteht aus einem abgeschwächten Erkältungsvirus, in dem drei HIV-Gene verpackt sind. Durch dieses Design soll das Immunsystem auf den Erreger aufmerksam gemacht werden ohne dass die Probanden an einer Erkältung erkranken oder sich mit HIV infizieren können. |
Sollte [diese Phase] viel versprechend verlaufen, soll sich eine weit größere Studie der Phase III anschließen, die dann auch zur Zulassung der Impfung führen kann. |
Wenn die ersten Phasen der Studie vielversprechend verlaufen, soll eine weit größere Studie folgen, die dann auch zur Zulassung der Impfung führen könnte. |
Agenturmeldungen leicht umformuliert als eigenen Text ausgeben? Das Prinzip hat die „Netzeitung“ jahrelang perfektioniert — da nannte es sich aber wenigstens nicht „Bürgerjournalismus“.
Bestbewerteter Artikel der Worte ist ein Bericht über Flashmobs, von denen die Autorin bislang nach eigener Auskunft nie gehört hatte, und unter dem als erster Kommentar die vermutlich nicht ironisch gemeinte Frage steht: „Ein wichtiger Bericht. Ist es richtig, dass in den großen Medien darüber gar nicht berichtet wurde?“ Richtig ist, lieber Leser, dass über Flashmobs in den großen Medien schon lange nicht mehr berichtet wurde. Und ich will nicht ausschließen, dass es auch im Jahr 2003, als Flashmobs so richtig angesagt waren, vielleicht ein großes Medium gab, das darüber nicht berichtet hat. Ich habe Artikel nur in „SZ“, „Berliner Zeitung“, „Berliner Morgenpost“, „Berliner Zeitung“, „Tagesspiegel“, „Stern“, „Focus“, „Spiegel“, „Welt“, „Sächsische Zeitung“, „Zeit“ und „FAZ“ gefunden.
Gut gefällt mir auch die neue Rubrik „ShortNews“, „ein Service der Redaktion Readers Edition“, in der jemand gestern z.B. eine kleine Polizeimeldung mit schlimmsten Berlin-Klischees und schiefen Sprachbildern aufmotzte:
Türken- und Araber-Gangs, Nazi-Schläger, allgemeine Verrohung: Zwei Teenager-Gören haben im Stadtteil Wedding nun das Kapitel „brutaler Zickenkrieg“ eröffnet.
(Man beachte den kreativen Umgang mit dem Doppelpunkt.)
Oder der Sportteil: „Bild“ spekuliert über Bernd Schuster, die „FAZ“ spricht mit dem Mann — und der brave Bürgerjournalist fasst beides ohne eigenen Gedanken in zwei Absätzen zusammen. Schön auch der Service, sich von der „Readers Edition“ am späten Sonntagabend noch einmal ungelenk alle Ergebnisse des Bundesliga-Spieltages referieren zu lassen. Das ist ja auch ein Bereich, der von den Massen- und Profi-Medien sträflich vernachlässigt wird: Ergebnisberichterstattung von der Bundesliga.
Ja, ich weiß, das ist alles noch unfertig und work in progress und überhaupt. Aber wo sind in der „Readers Edition“ die spannenden Ansätze, aus denen etwas werden kann? Woher nehmen die die Chuzpe, sich als natural born marktführer zu sehen? Und wollen wir wirklich den Begriff des Bürgerjournalismus dadurch diskreditieren, dass wir ihn in Deutschland als Synonym für dieses Projekt nehmen?