WM-Fernsehen

Die Welt und ihre Freunde zu Gast bei mir. Mit Beginn der WM fallen bei den Fernsehsendern alle Hemmungen. Ein Selbstversuch.

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Es ist nur ein Gerücht, daß schon alles gesagt sei, aber noch nicht von allen. Im „Frühstücksfernsehen“ am Freitagmorgen sitzt die Sat.1-Hausastrologin und sagt mit der ihrer Berufsgruppe eigenen Ernsthaftigkeit Dinge, die vorher sicher noch nie jemand gesagt hat: „Egal wie es ausgeht, am Wochenende wird erst mal gefeiert“ — eine Prognose, die wir bei einer, sagen wir, 1:5-Niederlage der Deutschen doch gerne überprüft hätten. „Der Klinsmann ist ein Doppellöwe“, sagt sie noch. Und über Miroslav Klose: „Von dem werden wir hören.“ Da lacht sogar die Moderatorin.

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Freitagmorgen. Der Countdown im ZDF zählt schon die Sekunden runter. Es ist der Tag, an dem kein Moderator, kein Experte, kein Studiogast um den Satz herumkommt, daß es nun endlich losgeht. Also, „nun“ im Sinne von: in ein paar Stunden, bald, nicht mehr lange, noch genau: 12 Stunden, 25 Minuten und 4 Sekunden. Dann wird sogar das Endlich-Sagen endlich ein Ende haben. Endlich.

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Bei n-tv läuft um diese Zeit noch ein anderer, interner Countdown. Der, bis man wieder anfängt, frisches Programm zu produzieren. Hier laufen Nachrichtenattrappen, die man offenbar irgendwann kurz vor Mitternacht aufgenommen hat, um sie bis in den Morgen zu wiederholen. Die Wetterfrau sagt immer wieder schönes Wetter für den „morgigen“ Eröffnungsspieltag voraus. Die Nachrichtensprecherin sieht munterer aus als die Kollegin, die seit 5.30 Uhr das ZDF-Morgenmagazin moderiert. Aber sie verabschiedet sich noch um kurz vor sieben mit den Worten: „Kommen Sie gut durch die Nacht!“

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Bei der Konkurrenz von N24 hat man dagegen schon am frühen Morgen einen fast ungesunden Ehrgeiz entwickelt und reiht besinnungslos eine Live-Schaltung an die nächste. Reporter Ulli Köhler steht offenbar schon länger in Sichtweite des Stadions in München und muss dort abwechselnd für N24 und Sat.1 berichten. „Die Sonne, der Planet, scheint auch schon“, sagt er glücklich und erklärt freundlicherweise, die deutsche Nationalmannschaft habe ihr Hotel „im Englischen Garten, das ist ein großer Park mitten in München“.

Alexandra Karle steht für N24 zwischen Reichstag und Brandenburger Tor. „Alex, wie ist die Stimmung“, fragen die Moderatoren ihre Korrespondentin, hinter der ein paar Absperrgitter und ein Grüppchen gelangweilter Sicherheitsleute zu sehen sind. „Ehrlich gesagt“, antwortet Alex, „ist das schwer zu sagen, morgens um sieben.“ Sie berichtet dann immerhin noch, daß die Sicherheitskontrollen schon jetzt total streng seien. Hinter ihr fährt ein Fahrradfahrer unbehelligt durch die Absperrung. Dann ein Bus.

Weiter nach Gelsenkirchen zum N24-Reporter, der aus einem Jugendcamp berichtet. Bis vier Uhr morgens sei hier noch gefeiert worden, sagt er. Deshalb würden jetzt wohl auch noch alle in ihren Zelten schlafen. Aber schön, das mal live gesehen zu haben: Zelte.

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Auch n-tv hat inzwischen jemanden live auf dem Berg gegenüber der „FIFA-WM-Arena München“, wie erstaunlicherweise alle sagen. Frage vom Studio auf den Hügel: „Wieviel Spannung liegt in der Luft, Britta?“

Bei N24 informiert ein Laufband über Neues aus der Politik: Mehrere Politiker wollen an der Warschauer Schwulendemonstration teilnehmen: „Volker Beck und Claudio Roth“.

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Fernsehtechnisch gesehen ist das Schlimmste an so einer WM ja nicht, daß nichts anderes mehr läuft, sondern daß die Sender glauben, sie können uns nun alles zumuten. Das ZDF veranstaltete am Donnerstagabend eine „Fifa-WM-Ticket-Show“. Sie wäre deutlich unterhaltsamer und weniger chaotisch gewesen wäre, wenn man die Menschen einfach vor einen einzelnen Ticketcounter gestellt und den ersten 2000 eine Karte in die Hand gedrückt hätte.

Am Freitagnachmittag strahlte das ZDF eine Sendung aus, die als „Wir warten auf den Anpfiff“ angekündigt war, dann aber doch ohne das „Wir“ am Anfang auskam — vermutlich hatte noch irgendjemand im Sender genug Sinne beisammen, zu erkennen, wie peinlich treffend die Nähe zum Weihnachtsritual „Wir warten auf das Christkind“ war. Der „ZDF-Showtruck“ hatte am Marienplatz in München haltgemacht, und auf der „ZDF-Showbühne“ standen zwei Menschen, die es (ähnlich wie die Zuschauer) nicht fassen konnten, daß sie diese Sendung moderieren durften. Gelegentlich fragten sie jemanden, wer Weltmeister wird, und wenn die Antwort „Deutschland“ lautete, juchzte Moderatorin Yvonne Ransbach. Stargäste der Sendung waren Sibylle Weischenberg, die sonst im Sat.1-Frühstücksfernsehen lebt, Verona Pooth sowie Ramona und Jürgen Drews. Es ist nicht völlig auszuschließen, daß Frau Ransbach noch heute auf dem Marienplatz steht und „großartig, Wahnsinn, Wahnsinn“ ruft.

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Eröffnungsgottesdienst, live. Stellvertretend für die Kinder Afrikas sagt ein Junge: „Wir spielen lieber mit Bällen als mit Waffen.“ Bischof Wolfgang Huber predigt. Seine zentrale These: „Fußball ist ein starkes Stück Leben.“

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ZDF-Moderatorin Babette Einstmann trägt eine niedliche Kette mit drei Fußbällen und droht, wenn ich es richtig verstanden habe, für jede Niederlage der Deutschen einen davon aufzuessen. Zunächst aber schaltet sie ins „ADAC WM-Verkehrsstudio“ und fragt: „Worauf sollte man achten?“ Die Expertin antwortet: „Also, man sollte auf jeden Fall darauf achten: Wie komme ich hin? Das wichtigste ist: öffentliche Verkehrsmittel nutzen.“

Ins Gard-Haarstudio hat das ZDF, soweit ich gesehen habe, nicht geschaltet. Ausschließen möchte ich es aber nicht.

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Thomas Gottschalk hat die Gesprächstechnik des Multiple-Choice-Fragens in Deutschland etabliert: Gästen, die auf dem „Wetten daß“-Sofa Platznehmen, gibt er in einem längeren Monolog mindestens zwei ausführliche Antwortmöglichkeiten vor, zwischen denen sie sich nur noch entscheiden müssen. So bekommt der Zuschauer insbesondere bei maulfaulen internationalen Gästen die Illusion eines flüssigen Gesprächs, auch es wenn natürlich fast ausschließlich der Moderator redet.

Man ahnt also, was Johannes B. Kerner an dieser Fragetechnik gefallen könnte. Am Freitagnachmittag unternahm er einen ersten Versuch, Gottschalks Meisterschaft in dieser Disziplin streitig zu machen und gleichzeitig den als unverwüstlich geltenden Franz Beckenbauer ins Koma zu reden. Er fragte ihn: „Franz, so kurz vor dem Eröffnungsspiel, so kurz vor der Eröffnungsfeier: Kehrt bei Ihnen jetzt Ruhe ein? Daß Sie sagen, Kinder, ab sofort kann ich sowieso nix mehr machen? Freuen Sie sich über diesen Tag? Kommt jetzt die Gelassenheit? Ist jetzt sozusagen die kindliche Naivität eingekehrt in den Körper des Franz Beckenbauer? Oder gibt’s immer noch was zu tun? Und ist immer noch irgendein Stress?“

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Warum können Zeitungen trotz allen Freudentaumels immer noch berichten, dass die Hotelzimmer in München nur gut zur Hälfte ausgebucht sind, während das Fernsehen ununterbrochen den Eindruck erwecken muß, das nächste freie Bett befinde sich ungefähr in Südtirol?

Natürlich ist so ein WM-Eröffnungstag nicht der ideale Tag für kritische Nachfragen. Aber vielleicht hätten die enthusiasmierten Mittagsmoderatoren auf Michael Steinbrechers Thesen zum Zerwürfnis zwischen Ballack und Klinsmann nicht jedes Mal mit der Frage antworten müssen: „Und ist der Bus noch da?“

Und wer eine ZDF-Dokumentation über Beckenbauers Rundreise durch die Teilnehmerstaaten stolz damit beginnt, wie er als letzte Station auch den eigenen Sender besucht, vergibt sich ohne Not noch den letzten Mikrometer mögliche Distanz zu dieser Heilsgestalt.

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Humor könnte eine Möglichkeit sein, die Spannung aufzulösen und aus dem Zwiespalt der Fernsehleute herauszukommen, gleichzeitig als Animateure und Berichterstatter auftreten zu wollen. Oder, wie Kerner es formulierte: mit „journalistischer Distanz und emotionaler Nähe“ zu berichten. Aber Humor geht mit dieser Art Großereignis gar nicht.

Kerner versuchte es tapfer. Als er seine Gesprächsrunde unterbrechen mußte, damit das ZDF zeigen konnte, wie der Mannschaftsbus vom Hotel losfuhr, sagte er: „Das sind natürlich zeitgeschichtliche Ereignisse: Ein Bus fährt durch Deutschland. Da vergißt man, daß wir schon auf den Mond geflogen sind.“ Doch solche Ironie verpufft, wenn der Sender tatsächlich einen Hubschrauber gechartert hat und damit den ganzen Tag schon die „9,6 Kilometer“ zwischen Hotel und WM-Arena abgeflogen ist, gelegentlich auch mit Umweg über das Olympia-Stadion, „in dem Deutschland zum letzten Mal Weltmeister geworden ist — zumindest auf heimischen Boden“, wie der ZDF-Mann im Hubschrauber sagte. Manchmal filmten die Kameraleute vom Hubschrauber aus die Kameraleute auf dem Boden, und die vom Boden filmten zurück, und es war ein großes Hallo.

Die ARD, die gestern Vormittag übernahm, hat als Humorbeauftragten den Kabarettisten Fritz Eckenga in die eigene WM-„Wohngemeinschaft“ einziehen lassen, aber der setzte gegen das allgegenwärtige Zu-Wichtig-Nehmen auch keine Lockerheit, sondern Griesgrämigkeit, die auch nicht halt.

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Das große Talent von Johannes B. Kerner ist es, aus dem Stehgreif scheinbar druckreife Sätze formulieren zu können. Als Füllwörter fügt er nicht „äh“ oder „öhm“ ein, sondern Begriffe wie „sehr herzlich“ oder „ganz außerordentlich“. Wie Stuck kleben wichtigtuerische Substantivkonstruktionen in seinen Sätzen. Das Nichts ist mit eindrucksvollen, kompetenzheischenden Ornamenten dekoriert.

Das große Talent von Jürgen Klopp ist es, dass er es merkt. Der Mainzer Trainer ist nicht nur deshalb so ein Glücksgriff für das ZDF, weil es schafft, Kompetenz und Verständlichkeit zu kombinieren, sondern auch, weil er der ideale Sidekick für Kerner ist. Mit einem einzigen Laut kann er die Luft aus einer Kerner-Frage herauslassen. Wenn der fragt, ob es nicht ein Fehler war, daß die Nationalmannschaft noch nie in der neuen Münchner Arena gespielt hat, macht Klopp ein Geräusch wie „öapf“, was klingt wie: „Ja, Gott, man kann natürlich in alles etwas hineininterpretieren, aber für diesen Kindergartenkram sucht Euch bitte jemand anderen.“ Als Kerner eine lange Reihe von Statistiken zitiert und nach der „Magie“ von Eröffnungsspielen fragt, sagt Klopp: „Mir ist das scheißegal, wie die alle gespielt hatten“, und das Publikum in der „ZDF-Arena“ applaudiert.

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Es gibt Ideen, die sind nur theoretisch gut. Wie die von RTL, sein WM-Studio im Berliner Fernsehturm einzurichten. Klingt toll — bedeutet aber in der Praxis nur, daß die RTL-Leute bei ihren nächtlichen Zusammenfassungen vor zwei dunklen Fenstern mit Neonröhren stehen. Billiger sieht nur das Studio der Tochter n-tv aus, wo der Sportmoderator in eine Art Abstellkammer umziehen mußte.

Die Zeiten, in denen die Privatsender den Öffentlich-Rechtlichen zeigten, wie man eine Fernsehsendung state of the art inszeniert, sind ohnehin vorbei. Ich möchte lieber nicht wissen, was die „ZDF-Arena“ im Sony-Center am Potsdamer Platz gekostet hat — aber genau so muß heute ein WM-Studio aussehen und genau so muß man das Studio, die Spiele und die Analysen in Szene setzen.

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Und zu Ingolf Lücks witzig gemeinter Sendung „Nachgetreten“, in der Karl Dall sagte, er hätte gedacht, Ecuador würde als Hauptexporteur von Guano auch „Scheiße spielen“, und selbst das hoffentlich alkoholisierte Publikum auf mehrere Holländerwitze mit Totenstille reagierte, nur soviel: Ich habe mir die Namen aus dem Abspann notiert. Die merk ich mir. Alle.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Zeitungen erforschen ihre Leser und erfahren, daß sie sich ändern müssen.

Zeitungsleser sind merkwürdig. Sie mögen es, wenn in einem Artikel ein Kasten mit einem Zitat steht. Aber wenn sie dann den Text lesen, hören sie gerne exakt an der Stelle, an der das Zitat im Artikel auftaucht, wieder auf zu lesen. Ein schlauer Redakteur, der solche Erkenntnisse ernst nimmt, wählt deshalb als Zitat für den Kasten eines, das erst weit hinten in seinem Artikel auftaucht. Oder, ganz pfiffig, eines, das gar nicht vorkommt.

Zeitungsjournalisten sind auch merkwürdig. Am liebsten würden sie das gar nicht so genau wissen. Zu abschreckend ist das Beispiel des Fernsehens, das in der Illusion lebt, sekundengenau nachvollziehen zu können, wann gutverdienende 19- bis 39jährige Frauen zur Kochshow umgeschaltet haben. Und man sieht ja, was aus dem Fernsehen geworden ist, das nur noch auf diese Zahlen starrt und sich nicht mehr fragt, was es eigentlich erzählen will. Da ist es kuscheliger als Zeitungsmacher, der kaum weiß, ob seine Artikel nur von Kollegen zur Kenntnis genommen werden oder von vielen Lesern. Im Zweifelsfall glaubt er, ohnehin selbst am besten zu wissen, was der Leser lesen sollte – und wenn der es dann nicht tut, ist es nun wirklich seine eigene Schuld.

Die Vorstellung von Quoten im Zeitungsalltag ist ein Kulturschock für Printjournalisten. Umfragen, was die Menschen lesen wollen, gab es immer schon – aber da gaben dann auch Boulevardzeitungsleser an, daß sie auf Sex & Crime gut verzichten könnten, aber Kultur und Leitartikel: ein Muß! Tagesaktuelle Daten, was die Leute wirklich lesen, welche Artikel und bis zu welcher Zeile, gibt es erst seit wenigen Jahren. „ReaderScan“ heißt die Methode, die der Schweizer Carlo Imboden vertreibt und bei der rund einhundert Menschen stellvertretend für die tatsächliche oder gewünschte Leserschaft mit einem elektronischen Stift markieren, was sie gelesen haben. Angeblich sind ihre Angaben nach einer Eingewöhnungszeit recht realistisch. Imboden ist überzeugt, daß die Daten die Zeitungslandschaft dramatisch verändern werden.

Knapp dreißig deutsche Zeitungen hat er inzwischen als Kunden, darunter „Berliner Zeitung“, „Kölner Stadt-Anzeiger“, „Die Zeit“, „Main Post“. Auch die „Bild“-Zeitung gehört dazu, obwohl deren „Sprecher“ das nicht bestätigt. Gerüchten zufolge wird in der Frankfurter „Bild“-Ausgabe mit ReaderScan getestet, welche Überschriften am besten funktionieren. Über mehrere Wochen erhalten die Zeitungen täglich detaillierteste Angaben über Lesequoten jedes Artikels und können versuchen, Zusammenhänge mit dem Thema, der Aufmachung oder der Länge herzustellen. Die Ergebnisse sind nicht immer die, die man sich als ambitionierter Journalist wünscht. Bei der „Berliner Zeitung“ zum Beispiel kam heraus, daß jeder Versuch einer feuilletonistischen Überschrift die Leser abschreckt, selbst wenn es in der Unterzeile um so sachlicher zugeht. Andererseits stellten die Redakteure verblüfft fest, daß man die Lesequote schon mit kleinen handwerklichen Tricks erheblich steigern konnte.

Aus den Daten lassen sich nicht die vielleicht zu erwartenden Argumente für eine Verflachung der Inhalte ablesen. Die Leute werden zwar gerne unterhalten, aber sie lesen Zeitung vor allem, um solide und hintergründig informiert zu werden. Die „Berliner Zeitung“ merkte, daß die vermeintlich so angesagten kleinteiligen Serviceseiten viel schlechter ankamen als gute durchgeschriebene Texte. Bei der „Zeit“ sollen ausgerechnet die Artikelriesen im „Dossier“ besonders gut gelesen worden sein, beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ kamen die großen Politiktexte auf den Seiten zwei und drei gut an. „Es gibt einen Bedarf nach langen und ausführlichen Texten“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Joachim Frank. „Allerdings: Sobald so ein Artikel schlecht geschrieben oder schlecht gestaltet ist, steigen die Leser in Scharen aus.“

Auch beim „Berliner Kurier“, der die Methode als erste Boulevardzeitung eingesetzt hat, staunte man, wie gut politische Themen ankamen. Bei größeren Ereignissen sei der „Kurier“ nun eher bereit, den Seitenumfang für die Politik auch zu verdoppeln, sagt Chefredakteur Hans-Peter Buschheuer. Verblüfft registrierte die Redaktion auch, daß ein eher versteckter Artikel über Breitbandangebote hervorragende Leserzahlen hatte, versuchte erfolgreich, das Ergebnis zu reproduzieren, und weiß nun, daß die „Kurier“-Leser sich heftig für „Digital Lifestyle“ interessieren.

Natürlich gibt es Ressorts, die unter der Betrachtung nach Quoten leiden. Die Feuilletons zum Beispiel. Sie müssen feststellen, daß die Leserzahl klassischer Rezensionen gegen null geht. Während die Kulturjournalisten nicht überrascht gewesen sein dürften, trifft es ihre Kollegen aus dem Sport eher unvermutet: Viel weniger Menschen als vermutet lesen Sportteile, und bei der verschwindend geringen Zahl von Lesern der Lokalsport-Seiten wäre es vermutlich günstiger, die Spielberichte einzeln durchzutelefonieren. Andererseits sind die örtlichen Lokalsportler und Kulturschaffenden trotz ihrer überschaubaren Zahl nicht ganz unwichtige und notfalls lautstarke Leser, wie die „Main Post“ erleben mußte, als sie ihren Kulturteil nach einer ReaderScan-Welle radikal umbaute und einen Sturm der Empörung auslöste.

Schon die Existenz der Zahlen ist brisant. Sie lassen sich als Machtinstrument gegen vermeintliche Luxus-Angebote einsetzen. Man kann mit ihnen Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellen, in denen die gesellschaftliche Funktion der Tageszeitungen keine Größe ist. Ist ein Ressort als Quotenkiller ausgemacht, kann es unter erheblichen Rechtfertigungsdruck geraten – auch wenn Verleger großer Regionalzeitungen sich beeilen, sich zum Wert solcher Minderheitenangebote zu bekennen. „Das Abschaffen oder Zusammendampfen des Kulturteils wäre für eine Zeitung unseres Zuschnitts undenkbar“, sagt Joachim Frank für den „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Aber wir versuchen jetzt, einen Kulturteil zu machen, der einen weiteren Kulturbegriff hat und mehr Leute anspricht.“

Aber wie ist das, wenn — wie bei der „Berliner Zeitung“ — plötzlich kein klassischer Verleger mehr hinter dem Titel steht, sondern renditeorientierte Investoren und ein erklärter Hochkulturverächter? Da wünschte man sich vielleicht, ihm nicht ganz so viele Argumente in die Hand geliefert zu haben. „ReaderScan-Ergebnisse eins zu eins umzusetzen wäre blanker Selbstmord“, warnt ein Redakteur.

Die Quote ist ein zweischneidiges Instrument: Einerseits bringt sie bestimmte Ressorts in die Defensive, andererseits liefert sie ihnen Anhaltspunkte, mit welchen handwerklichen Mitteln sich die Leserzahl eines Artikels erhöhen läßt — so daß gerade die eher schwierigen, aber wichtigen Themen ihr Publikum finden. „Wichtig ist, nicht die Quoten vom Panorama-Ressort mit denen des Kulturteils zu vergleichen“, sagt Joachim Frank.

Viele Schlußfolgerungen, die sich aus den Zahlen ziehen lassen, entsprechen klassischen Journalistenregeln: Gute Texte werden mehr gelesen als schlechte, es hilft, wenn Text und Bild nicht auseinanderklaffen, wenn überhaupt ein Bild da ist. Um das zu wissen, müßte man natürlich nicht einem Schweizer Geschäftsmann einen sechsstelligen Betrag für das aufwendige ReaderScan-Verfahren zahlen. Aber es scheint einen Unterschied zu machen, diese Regeln theoretisch vorgebetet zu bekommen oder ihre Auswirkungen täglich in der Praxis zu sehen.

Die „Neue Osnabrücker Zeitung“ hat sich gerade einen recht radikalen neuen Anstrich gegeben — auf der Grundlage von klassischen Umfragen und ReaderScan. „Ich weiß nicht, ob wir ohne Reader-Scan so weit gegangen wären“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Berthold Hamelmann. Im neuen Blatt erkennt man an vielen Stellen typische ReaderScan-Lehren wieder: So stehen die Kommentare nicht mehr geballt an einem Platz, sondern neben dem zugehörigen Artikel, und der Kommentator ist immer mit Bild zu sehen. In zwei weiteren Forschungswellen wird nun überprüft, ob diese und andere Umstellungen die Lesequote erhöhen.

Buschheuer vom „Berliner Kurier“ ist schon einen Schritt weiter. Gegen den Trend gewinnt seine Zeitung seit kurzer Zeit Auflage. Er führt das zu einem wesentlichen Teil darauf zurück, daß man Lehren aus den Quoten gezogen habe. „Durch die über Jahre sinkenden Verkaufszahlen gab es eine latente Verunsicherung in der Redaktion“, sagt Buschheuer. Nun habe sie die „Erdung“ wiedergefunden. „Das ist ein Hilfsmittel, um nicht gegen das Leserinteresse zu arbeiten.“ Es geht bei seiner Zeitung darum, den knappen Platz optimal zu nutzen und die Lesedauer zu erhöhen. Auch er warnt davor, alles rauszuwerfen, was nicht genug Quote bringt. Auch im Supermarkt würden die meisten Leute nur eine kleine Auswahl der angebotenen Produkte je kaufen, aber sie würden erwarten, daß er mehr Produkte anbietet. „Ein ähnliches Sortimentsbedürfnis müssen sie auch als Zeitung befriedigen.“

ReaderScan-Erfinder Imboden glaubt, daß Zeitungen die Ansprache von Minderheiten zum Beispiel im Sport- oder Kulturbereich radikal überdenken müssen. Andererseits sei die Angst vor den Quoten oft unbegründet: „Was die Leser von ihrer Zeitung erwarten, deckt sich stark mit dem, was der Journalist für wichtig hält — da gibt es keinen Widerspruch zu der wichtigen Rolle, die der Tageszeitung von der Gesellschaft in der Demokratie zugeschrieben wird.“ Letztlich bedeute der Einsatz der Quote auch eine Rückbesinnung auf den Kern einer Zeitung: „Sie können eine Zeitung nicht auf Dauer dadurch im Markt halten, daß sie den Lesern Kaffeemaschinen schenken, sondern nur dadurch, daß ihre Inhalte den Leserbedürfnissen entsprechen. Das Geld muß zurück ins Produkt.“

Wenn die Zeitung im härter werdenden Kampf um Aufmerksamkeit überleben will, wird sie auf Dauer nicht darum herumkommen, die Interessen und Verhaltensweisen ihrer Leser besser kennenzulernen und auf sie zu reagieren. Und auch wenn alle ReaderScan-erfahrenen Zeitungsmacher betonen, daß die Quote nicht die Erfahrung, das „Bauchgefühl“ und die Kreativität des Journalisten ersetzt, wünschen sich viele schon den nächsten Schritt, an dessen Umsetzung Imboden gerade arbeitet: ReaderScan als Dauerinstrument, an dem man jeden Tag ablesen kann, von welchem Thema die Leser genug haben und von welchem sie gar nicht genug kriegen können.

Und so verführerisch der Gedanke ist, so sehr klingt das nach der Quotenabhängigkeit, durch die das Fernsehen seine Relevanz verloren hat.

Digitale Revolution

Das Publikum an der Macht. Die digitale Revolution kommt gerade erst richtig in Schwung: Die Tage, in denen eine Handvoll Leute bestimmen konnte, was wir hören, sehen, lesen, sind gezählt. In naher Zukunft werden wir alle Programmdirektoren und Chefredakteure sein.

Trotz fünfzig Jahren Berufserfahrung hätte Deborah Howell nicht damit gerechnet, je in dem Maße beschimpft und beleidigt zu werden, wie es vorletzte Woche tausendfach geschah. Die Ombudsfrau der „Washington Post“ hatte sich mit einer Kolumne den Zorn vieler Leser zugezogen, die sich im Internet zu einer Art Mob formierten. Ihre Haßtiraden füllten die Kommentare in einem Weblog der „Post“, in dem Redakteure mit Lesern über ihr Blatt diskutieren, weshalb man sich schließlich entschloß, die Kommentarmöglichkeit für unbestimmte Zeit abzuschalten.

Mindestens so lehrreich wie diese kleine Episode über die Abgründe der offenen Diskussionskultur im Internet ist, wie sie in deutschen Medien aufgenommen wurde. Bei Spiegel Online erschien eine (bis heute unkorrigierte) Falschmeldung, wonach die „Post“ „ihr Experiment, Leser unter dem Dach der Zeitung bloggen zu lassen, beendet“ habe. Der Autor behauptete, die Zeitung habe ihr Blog geschlossen – was nicht stimmt und zudem verschweigt, daß sie Dutzende Blogs betreibt, fast alle nach wie vor mit offener Kommentarfunktion. Tage später erschien im „Tagesspiegel“ ein noch ahnungsloserer Artikel, der alte Fehler durch neue ersetzte und nebenbei Blogs als „prinzipiell kontrollfrei“ deklarierte, was wohl warnend gemeint war.

Der Subtext der Berichterstattung war unmißverständlich: Hätte man sich ja gleich denken können, daß das nicht gutgehen kann, wenn man das Publizieren und öffentliche Kommentieren nicht den Profis überläßt, Journalisten also. Experiment gescheitert. In Zukunft hört ihr wieder schön zu, was wir zu sagen haben, dann gibt es auch keinen Ärger.

Das wird nicht passieren. Die Zeiten, in denen Medieninhalte von einer kleinen, relativ homogenen Gruppe von Leuten produziert wurden und dem großen Rest nur das Rezipieren blieb, diese Zeiten sind bald endgültig vorbei. Das Publikum wird in Zukunft bestimmen, wann und in welcher Form es Medieninhalte konsumiert, es wird in einen viel stärkeren und öffentlicheren Dialog über diese Inhalte eintreten, und es wird selbst zum Produzenten von Inhalten.

Und je schneller sich Journalisten und Medien darauf einstellen, um so größer ist die Chance, daß sie auch unter diesen Bedingungen noch besonderes Gehör finden werden.

Es wird nicht damit getan sein, die neuen Kommunikationstechnologien als schöne Attrappen in das eigene Angebot zu stellen. Einige Versuche von Zeitungen, den Hype um Blogs nicht zu verpassen, sind Zeugen eines großes Mißverständnisses. Das Neue an dieser Technik ist nicht, daß Journalisten nun auch unter der modischen Rubrik „Blog“ Artikel schreiben können, die dann statt in der Zeitung im Internet erscheinen. Neu ist die Möglichkeit, ungefiltert, mutig und schnell zu schreiben, Nicht-Journalisten eine Stimme zu geben, in einen echten Dialog mit Lesern einzutreten, auf andere Seiten zu verlinken und zu reagieren. Die „Süddeutsche Zeitung“ (um nur ein Beispiel zu nennen) nutzt diese Möglichkeiten ungefähr so gut wie jemand, der in ein Flugzeug steigt, um damit schön über die Autobahn zu rollen. Vierzehn Blogs hat die „SZ“, die meisten Autoren schreiben einmal im Monat etwas rein und ignorieren dann, was andere dazu schreiben. Das Medium, das dafür besser geeignet wäre, ist schon erfunden und heißt „Buch“.

Diese Blogs sollen Interaktivität suggerieren und demonstrieren das Gegenteil. Echte Interaktivität wäre aber auch ein wahrhaft revolutionäres Konzept. Der amerikanische Journalist und Vordenker Jeff Jarvis, der unter anderem die Online-Ausgabe der „New York Times“ berät, beschreibt es so: „Das Problem mit der Art, wie die Medien Interaktivität definieren, ist, daß es immer um kontrollierte Reaktionen auf die Tagesordnung des Mediums geht: Kommt und redet über unser Zeug. Sie wird gestaltet wie ein Museum für Kinder, mit Knöpfen, die man drücken kann und die einen beschäftigen sollen. Das ist die Botschaft, die alle Foren und Chats und Blogs vermitteln, die sich mit den Veröffentlichungen der Medien beschäftigen. Bei Interaktivität geht es um mehr als ums Reagieren. Es geht ums Gestalten. Es geht nicht um kontrollierte Autorität. Es geht um geteilte Autorität.“

Kontrollverlust? Autoritätsverlust? Kein Wunder, daß vielen Journalisten sogenannter etablierter Medien vor der digitalen Zukunft (um nicht zu sagen: Gegenwart) graust. Wenn sie daran denken, daß das Publikum mitredet, sehen sie dumpfe Gestalten, die sich einen eskalierenden Brüllwettbewerb liefern, wie scheinbar in jenen Online-Kommentaren bei der „Washington Post“ (obwohl auch hier von den tausend Kommentierern nur eine Minderheit die Regeln verletzte). Was sie meist nicht sehen, ist die Chance, stärker, besser, klüger zu werden, wenn sie auf ihr Publikum hören. Der Journalist Dan Gillmor, der den Begriff citizen journalism geprägt hat, sagt im notebook-onlinejournalismus.de: „Etwas, das ich vor langer Zeit gelernt habe, als ich im Silicon Valley über Technologie geschrieben habe: Die Gesamtheit meiner Leser weiß viel mehr als ich! Das war eine großartige Chance, besseren Journalismus zu produzieren.“

Man fühlt sich einigermaßen albern, über solche Konzepte zu diskutieren, wenn man sich die Online-Realität deutscher Medien ansieht. Zu deren Standard gehört es, Foren einzurichten. Hier kann jeder seine Wünsche, Beschwerden, Anregungen, Fragen loswerden – er könnte sie alternativ aber auch auf ein Stück Papier schreiben und verbrennen, mit ungefähr derselben Wirkung. Meist sind diese Foren kleine verwahrloste Interaktivitätsattrappen. Nicht selten wird der Online-Nutzer wie ein Idiot behandelt. Wenn „Bild“ hundert Gründe aufschreibt, warum Mozart toll ist, macht Bild-Online daraus ein Pop-up mit je einem Grund, so daß man hundert Mal klicken muß, was kurzfristig gut ist für die Statistik – und jeden halbwegs intelligenten Leser auf Dauer vertreibt. Wer auf bravo.de die Titelgeschichte anklickt, kommt nicht zum zugehörigen Artikel, sondern muß sich noch ein halbes Dutzend Mal durch verschachtelte Menüs klicken.

Dahinter steckt der Versuch, dem Publikum den Abschied von den etablierten Vertriebswegen so unattraktiv wie möglich zu machen. Und die Sorge, daß Leser, Zuschauer und Nutzer sich tatsächlich nur noch das angucken, was ihnen gefällt. Genau diese Möglichkeit bietet das Internet, und man könnte nun annehmen, daß die Medien versuchen, dadurch eine besonders gute Ausgangsposition zu erreichen, daß sie ihren Lesern diesen Wunsch erfüllen. Häufiger ist das Gegenteil der Fall: Die Angst, daß das Publikum das Gesamtpaket aufschnürt und sich nur noch heraussucht, was ihm gefällt, ist so groß, daß man ihm das Aufschnüren so schwer wie möglich macht.

In ein paar Jahren wird man auf eine Zeit, in der voraufgezeichnete Fernsehprogramme nur zu einer einzigen, bestimmten Zeit anzusehen waren (und auch dann erschwert durch Werbeunterbrechungen), ähnlich mitleidig zurückschauen wie heute auf Stummfilme oder Fernsehgeräte, die nur ein Programm zeigten. Welchen Grund gibt es, auf die nächste Folge von „Desperate Housewives“ eine Woche zu warten? Oder zu verzweifeln, daß man die letzte Folge verpaßt hat? Keinen – in Zeiten von Breitband und verschmelzender Technik von Fernsehern und Computern.

Die Zeichen dafür sind unübersehbar: Die BBC experimentiert mit einem eigenen Media-Player, über den das riesige Archiv zugänglich gemacht wird. Nutzer können die Clips herunterladen und austauschen, und jeder, der die BBC-Rundfunkgebühr bezahlt hat, soll sie kostenlos sehen können. Vor drei Monaten gab das amerikanische Network ABC bekannt, seine Serien auch über den Apple-downloaddienst iTunes verfügbar zu machen. Für 1,99 Dollar kann man eine Folge von „Lost“ oder „Desperate Housewives“ auf den Computer oder den iPod herunterladen. Konkurrent NBC („Law & Order“) folgte im Dezember, diese Woche schloß MTV Networks („Spongebob Schwammkopf“, „South Park“) einen entsprechenden Vertrag ab.

Solche Plattformen eröffnen den Produzenten und Sendern nicht nur neue Erlöswege jenseits der Werbung; sie helfen ihnen auch, neue Zielgruppen zu erobern. Verblüfft stellte NBC fest, daß sich die Quoten für die Comedyserie „The Office“ dramatisch verbesserten, nachdem das Network Folgen davon bei iTunes zum kostenpflichtigen Runterladen angeboten hatte. Vertriebschef Frederick Huntsberry glaubt, daß durch iTunes neue Zuschauerschichten auf die Show aufmerksam wurden: „Konsumenten haben die Wahl, und wir erreichen nicht alle Konsumenten mit nur einer Technologie.“ Vor allem ein sehr junges Publikum werde so erstmals erreicht. Und Jeff Jarvis fügt hinzu, man möge sich nur vorstellen, um wieviel größer die Wirkung gewesen wäre, wenn NBC eine Folge von „The Office“ kostenlos (aber mit Werbung) zum grenzenlosen Download und Weiterreichen zur Verfügung gestellt hätte.

Zweifellos werden Menschen in absehbarer Zeit selbst entscheiden, wann und wie sie ihre Lieblingsprogramme sehen. Selbst ohne Breitband-Angebote kann man einen Vorboten davon in Deutschland schon erkennen: die explodierenden Umsätze mit Fernseh-DVDs. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Art der Programme, die produziert werden. Das kommerzielle Fernsehen von heute fährt ganz gut damit, Sendungen herzustellen, die eine große Zahl von Leuten gerade so wenig langweilt, daß sie nicht ausschalten. Zu den Gewinnern der Zukunft werden Produzenten gehören, die es schaffen, Inhalte herzustellen, die eine bestimmte Zahl von Leuten wirklich sehen will – und deshalb bereit ist, dafür Zeit oder Geld zu investieren.

Und es wird nicht mehr nötig sein, das Okay von mutlosen Senderverantwortlichen zu bekommen. In Großbritannien produziert der Komiker Ricky Gervais, Hauptdarsteller und Miterfinder von „The Office“ (dem Vorbild für „Stromberg“), eine wöchentliche Radioshow als Podcast. In den ersten sieben Wochen ist sie über zwei Millionen Mal heruntergeladen worden. „Normalerweise muß man eine Show auf BBC Radio 1 oder Radio 2 machen, um von Millionen Leuten gehört zu werden“, sagt Gervais. „Das Problem ist, daß diese Sender von einem erwarten, kompetent und professionell zu sein. Wir mußten einen Weg finden, das zu umgehen.“

Das kann man schon wieder als eine alarmierende Aussage und das Ende aller professionellen Standards sehen. Doch im deutschen Fernsehen sind professionelle Standards längst gleichbedeutend mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner, unbedingter Massentauglichkeit und Innovationsfeindlichkeit. Je mehr das Fernsehen dadurch zu einem durchformatierten Medium wie dem Radio wird, das eigentlich nur nebenbei zu konsumieren ist, um so größer ist der Bedarf an aufregenden Alternativen. Das Internet wird sie bieten.

Der amerikanische Sender Comedy Central hat im November ein Breitband-Portal namens „Motherload“ eröffnet. Dort kann man sich nicht nur viele hundert Clips aus bekannten Programmen des Fernsehkanals ansehen, sondern auch eigens für das Internet hergestellte Produktionen. Es soll ein Ort für experimentellere Programme sein, nichttraditionelle Stimmen, Formate jenseits der üblichen dreißig Minuten – kurz: ein „Brutkasten“ für neue Ideen.

Daß nur eine kleine Gruppe von Menschen die Möglichkeit hatte, Inhalte zu erzeugen und einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, lag allein an technischen Beschränkungen: Die Kanäle und Vertriebswege waren limitiert und teuer. Das hat sich inzwischen geändert, nun ist potentiell jeder Produzent von Inhalten – und schlaue Medien nutzen das neue kreative Potential für sich. Im Kleinen probiert das gerade das Religionsportal des ORF im Internet, das unter religion.orf.at seine Nutzer auffordert, in eigenen Filmchen zu zeigen, was ihnen „heilig“ ist. Systematischer geht der britische Fernsehsender Channel 4 das Thema an. Unter dem Label „FourDocs“ kann jeder vierminütige Dokumentationen hochladen und mit der Welt teilen. Der Erfolg ist groß genug, um demnächst ein verwandtes Projekt namens „FourLaughs“ zu starten, das ein Showroom für Komiker werden soll. Diese Projekte sind kein Selbstzweck, Channel 4 erhofft sich auf diese Art, nicht nur ein Publikum an sich zu binden, sondern spannende neue Talente zu entdecken.

Auf der internationalen Fernsehmesse NATPE zitierte BBC-Chef Michael Grade diese Woche in Las Vegas Schätzungen, wonach in zehn Jahren zehn bis fünfzehn Prozent der neuen Inhalte von Anbietern wie „Ein-Mann-Bands, Hinterhof-Produktionen und Leuten, die eine gemeinsame Leidenschaft wie Fliegenfischen haben“ stammen wird. „On-Demand kommt und wird alles ändern“, sagt er. „Wir werden die Medienwelt nicht wiedererkennen.“

Für zukünftige Generationen wird es keine unüberbrückbare Trennung zwischen Produzenten und Konsumenten von Medieninhalten mehr geben. Laut einer amerikanischen Studie hat die Hälfte aller Zwölf- bis Siebzehnjährigen ein Blog oder eine Homepage, hat eigene Kunstwerke oder Fotos, Geschichten oder Videos im Internet veröffentlicht oder die von anderen weiterverarbeitet. Die Untersuchung nennt sie „Content Creators“.

„Was früher nur eine Vorlesung war“, sagt Dan Gillmor, „bewegt sich immer mehr in Richtung einer Konversation. Wenn Medien ihre Attitüde und ihre journalistische Praxis nicht ändern, um darauf zu reagieren, wird ihnen das auf lange Sicht schaden.“ Oder in den Worten von Jeff Jarvis: „Wer nicht Teil der Konversation ist, wird nicht gehört werden.“

Es ist erstaunlich, wie wenig über diese Revolution in Deutschland gesprochen wird, wie wenig Ansätze hierzulande zu erkennen sind, ihr gerecht zu werden. Vielleicht liegt es daran, daß diese Revolution schon einmal angekündigt war, vor ein paar Jahren im allgemeinen Dotcom-Hype, und dann doch nicht eintrat. Jetzt hat sie begonnen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Presserat

Zur Sache, Kätzchen. Der Presserat wird fünfzig. Er tut niemandem weh — außer denen, die sich von ihm wirksame Selbstkontrolle erwarten

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Fragen Sie mal einen, der Publizistik studiert hat oder auf der Journalistenschule war, nach dem Deutschen Presserat. Reflexartig wird er antworten: „Der zahnlose Tiger“.

Seit Generationen klebt diese Metapher am Selbstkontrollorgan der Presse, und zu den größeren Irrtümern gehört der Glaube, daß es sich dabei um Kritik handele. In Wahrheit schmeichelt ihm das Bild vom „zahnlosen Tiger“, weil es den Eindruck erweckt, er würde zubeißen, wenn er nur könnte. Nein, der Presserat ist etwa so angriffslustig wie ein Goldfisch und so agil wie eine Riesenschildkröte.

Da war doch diese Debatte, ob es ethisch vertretbar sei, daß „Bild“ über einem Foto der entführten Susanne Osthoff titelte: „Wird sie geköpft?“ Anfang Dezember diskutierte darüber „ganz Deutschland“. Der Presserat diskutiert darüber Anfang März. In die Debatte konnte er nur Wasserstandsmeldungen über die Zahl der eingegangenen Beschwerden werfen und auf das aufwendige Verfahren verweisen, das eventuellen Rügen, Mißbilligungen oder Hinweisen vorausgeht. Fragt man aber Lutz Tillmanns, den Geschäftsführer des Presserates, sieht er da keinen Anachronismus: „Ein Aktualitätshype ist nicht unser Ding. Ich sehe keine Gefahr, daß wir mit unserer Entscheidung zu spät kommen – wir wollen ja auch präventiv wirken.“

Das ist auch so ein Mißverständnis: Alle diskutieren und schauen dann erwartungsvoll auf den Presserat, daß der den Schiedsrichter gibt. Der Presserat aber sagt: „Hey, war doch grad so ’ne interessante Diskussion, macht ruhig weiter, irgendwann mische ich mich vielleicht ins Gespräch und geb‘ euch ein paar Gedanken für die Zukunft mit auf den Weg.“ Tillmanns formuliert es so: „Wir sind kein Polizist, sondern ein Spieler unter vielen. Das Besondere an uns ist allerdings, daß wir die einzige institutionalisierte Einrichtung freiwilliger Selbstkontrolle sind.“

Das gibt dem Presserat, theoretisch, Gewicht. Und praktisch? Nach dem eigenen Selbstverständnis sollen die Entscheidungen des Gremiums ein Leitfaden für Journalisten sein. 2003 mißbilligte der Presserat die „unangemessen sensationelle“ Berichterstattung des „Sterns“ über den „Kannibalen von Rotenburg“. Die „detaillierte Schilderung der Zubereitung und des Essens von Körperteilen“ gehe über ein begründbares Informationsinteresse der Öffentlichkeit weit hinaus. Und nun liest man die Berichte der Boulevardzeitungen über den Revisionsprozeß und fragt sich, ob die den Spruch kennen.

Unveröffentlichte Rügen

Wenn Zeitungen oder Zeitschriften gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat sie „öffentlich rügen“. Das ist seine schärfste Sanktion. Diese Rügen sollen die Gerügten dann abdrucken – so steht es im Pressekodex, und dazu haben sich, nach heftigen Auseinandersetzungen in den achtziger Jahren, die Verlage verpflichtet. Doch tun sie es nicht, hat der Presserat kein Mittel, sie zu zwingen – außer natürlich, sie zu rügen.

„Unsere Sanktionsmöglichkeiten sind effektiv und werden ernst genommen“, widerspricht Tillmanns, „insgesamt wird die Pflicht zur Rügenveröffentlichung branchenweit akzeptiert.“ Aber wenn es um heikle, umstrittene Fälle geht, keine Pannen, die die Verlage zähneknirschend einräumen, fehlt dem Presserat jedes Druckmittel. Schlimmer noch: Er zieht sich zurück auf eine Position des freundlichen Abwartens. Eindrucksvoll demonstriert das der lange schwelende Konflikt zwischen Presserat und „Bild“. Sechs öffentliche Rügen, die das Blatt 2004 kassierte, hat es nicht abgedruckt. Tillmanns sagt: „Ich bin zuversichtlich, daß das noch passieren wird. ,Bild‘ hat uns nichts Gegenteiliges mitgeteilt. Diese Rechnung ist noch offen, aber es ist klar, daß es keine offene Rechnung bleiben darf.“ Es klingt nicht, als ob er mal den Gerichtsvollzieher rufen wolle.

Um die Treuherzigkeit dieser Haltung richtig zu würdigen, muß man sie mit der Aggressivität vergleichen, mit der die „Bild“-Zeitung ihren Standpunkt formuliert: Mehrere Rügen seien „unter schweren Verstößen gegen die Verfahrensordnung zustande gekommen“. Chefredakteur Kai Diekmann habe den Presserat „umgehend schriftlich um Klärung gebeten, aber über sieben Monate keine Antwort erhalten“. Nach einem gemeinsamen, unbefriedigenden Gespräch habe „Bild“ den Presserat im September 2005 erneut gefragt, wie nun verfahren werden solle – eine Antwort stehe aus.

Na, da können ja beide Seiten noch ein bißchen warten, kommt auf ein Jahr mehr auch nicht mehr an. Vielleicht platzt vorher in China noch ein Sack Reis.

Vor drei Jahren, es ging um die „Miles & More“-Affäre, nannte Diekmann den Presserat ironisch den „Gralshüter der sauberen Recherche“. Die „Zweifel an der Wahrhaftigkeit“ der „Bild“-Vorwürfe stellten „die Sinnhaftigkeit dieser Institution in Frage“. Auf die Frage, ob „Bild“ die „Sinnhaftigkeit“ des Presserates immer noch in Frage stelle, antwortet „Bild“-Sprecher Tobias Fröhlich heute: „Nur der Presserat selbst kann seine Sinnhaftigkeit erschüttern, beispielsweise durch Verfahrenswillkür, Parteilichkeit oder derart kryptische Begründungen, daß die Entscheidungen für die tägliche Redaktionsarbeit mangels klarer Vorgaben unbrauchbar sind.“

Man kann es auf einen einfachen Punkt bringen: Die Urteile des Presserates gelten in der Branche fast nichts. Nicht nur „Bild“ gibt sich unbeeindruckt. Der „Tagesspiegel“ etwa, der für eine Serie über „besonders attraktive Angebote“ von Autohäusern gerügt wurde, weil sie nach Ansicht des Presserates Schleichwerbung darstellte, druckte unter die Rüge den Hinweis, die Reihe werde „ungeachtet der Rüge“ fortgesetzt. Und der „Bote vom Untermain“ veröffentlichte vor zwei Wochen eine „Mißbilligung“ durch den Presserat – und erläuterte gleichzeitig, warum er anderer Meinung bleibt.

Das ist okay. Presserats-Geschäftsführer Tillmanns sagt: „Wir würden nie an so einem Redaktionsschwanz Anstoß nehmen. Dadurch setzen sich die Redaktionen mit der Kritik öffentlich auseinander. Man kann allerdings niemanden zwingen, Erkenntnisse zu akzeptieren.“ Anscheinend ist für den Presserat jede öffentliche Kritik am Presserat auch ein willkommenes Argument gegen den Verdacht, weitgehend ignoriert zu werden. Konfrontiert man Tillmanns mit Internetseiten, auf denen sich Beschwerdeführer bitter beklagen, daß Zeitungen für ihre Verstöße nur mißbilligt wurden, nicht gerügt, so daß nicht einmal eine Veröffentlichungspflicht besteht, nimmt er selbst dies als Beleg dafür, daß Mißbilligungen wirken.

Zaghafte Reformen

Es wäre ein Fehler, die Entscheidungen des Presserates nicht wie Diskussionsbeiträge zu behandeln, sondern wie richterliche Urteile. Aber natürlich machen Menschen immer wieder diesen Fehler. Die Zeitschrift „Öko-Test“ hatte 2004 mehrere Vaterschaftstest-Labore getestet, aber nach Ansicht des Presserates ihre Auswahlkriterien nicht offengelegt. Er sprach eine „Mißbilligung“ aus, die den Labors dann in einem Rechtsstreit gegen „Öko-Test“ als Argument gegen die Zeitschrift diente. „Öko-Test“ klagt deshalb nun seinerseits gegen den Presserat wegen der ausgesprochenen Mißbilligung (eine irgendwie geartete Einspruchsmöglichkeit gegen Presserats-Entscheidungen gibt es sonst nicht). In der ersten Instanz wird die Zeitschrift wohl unterliegen; der Presserat argumentiert, es handele sich bei seiner Entscheidung nur um eine „Meinungsäußerung“.

Die Kritik am Presserat ist nicht neu. Nachdem sie vor zwei Jahren besonders heftig aufflammte, gab es einige zaghafte Reformen: Beschwerdeführer und
-gegner erhalten nun ausführlichere Bescheide, die Öffentlichkeitsarbeit wurde intensiviert, erstmals wurde die Spruchpraxis auf CD-Rom veröffentlicht (allerdings ohne den Namen der gemaßregelten Presseorgane zu erwähnen – der Presserat will auf keinen Fall, daß man seine Entscheidungen als „Pranger“ verwenden kann, selbst dann nicht, wenn zum Beispiel eine Zeitung wie „Bild“ Jahr für Jahr für unzulässige Berichte über Selbstmorde ermahnt wird). Forderungen wie die, die Sitzungen der Beschwerdekammern öffentlich zu machen und nicht nur Vertreter von Verleger- und Journalistenverbänden entscheiden zu lassen, kann und will der Presserat aber nicht erfüllen. Immerhin soll bis November, wenn der Rat seinen 50. Geburtstag feiert, der Pressekodex überarbeitet und modernisiert werden.

Darauf wollten die Mitglieder des Netzwerkes Recherche nicht warten. Sie verabschiedeten gestern in Berlin als Gegenentwurf einen Medienkodex. Darin steht zum Beispiel, daß Journalisten keine PR treiben (obwohl diese Mischung angesichts knapper Honorare für viele Freie die Existenzgrundlage darstellt) und keine Vorteile annehmen dürfen, auch nicht die beliebten Presserabatte. Möglichkeiten, diese Forderungen durchzusetzen, hat das Netzwerk Recherche noch weniger als der Presserat.

Doch dessen Ziel ist, wenn man es genau nimmt, auch nicht die Verbesserung journalistischer Qualität, sondern die Verhinderung staatlicher Kontrolle. Dafür wurde er 1956 gegründet – und das ist immer noch eines seiner Erfolgskriterien. „Wie erfolgreich der Presserat ist, läßt sich auch an der Zurückhaltung des Gesetzgebers ablesen, Gesetze zu erlassen, die die Grenzen journalistischer Arbeit definieren“, sagt Geschäftsführer Tillmanns.

Um das zu erreichen, genügt es offenbar, auf größere Distanz ein bißchen wie ein Tiger auszusehen. Er muß wirklich nicht beißen können.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ein Geschenk

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Es gibt ja, zugegeben, nicht viele peinliche Momente in der „Tagesschau“ und den „Tagesthemen“. Aber wenn es im weitesten Sinne um die eigenen Belange der ARD geht, kann man meist gar nicht schnell genug umschalten, bevor das Fremdschämen einsetzt. Fröhlich wird da die Senderlinie in Beiträge gegossen und den eigenen Intendanten unterwürfig das Mikrophon hingehalten.

Man muß diese lange ARD-Tradition kennen und auch das Unverständnis, mit dem viele Verantwortliche beobachten, daß das NDR-Medienmagazin „Zapp“ tatsächlich gelegentlich glaubt, Mißstände im eigenen Haus nicht ausblenden zu können, um die Ungeheuerlichkeit würdigen zu können, die sich am vergangenen Mittwoch im WDR abspielte. Anläßlich seines 50. Geburtstages hatte der Sender seine Talkshow „Hart aber fair“ dem Thema Fernsehen gewidmet. Es ging um Qualität und Quote, Gebühren und Schleichwerbung, und Jürgen Doetz, der Oberlobbyist der Privatsender, der sich von der ersten Minute an routiniert in den ARD-Programmdirektor Günter Struve verbissen hatte, hielt bald für eine Minute inne, um verblüfft festzustellen, daß die Beiträge die Themen ja wirklich korrekt und unvoreingenommen auf den Punkt brächten. Moderator Frank Plasberg und sein Team zerlegten nach allen Regeln der Kunst die Scheinheiligkeit Struves, um kurz danach Doetz ähnlich schonungslos zu demontieren. Die Filmbeiträge enthielten nicht nur Alibispitzen gegen die ARD, sondern legten die Finger in die Wunden: Kommerzialisierung, Marathon- und Doppel-Berichterstattung von Königsfeiern, Schleichwerbung, Volksmusikwahn.

In den Feiern zum 50. Geburtstag war dieses kleine Kunststück das schönste Geschenk, das der WDR sich und seinen Zuschauern machte. Bevor man die Sendung an Journalistenschulen und Fernsehpreisjurys verschickt, müßte man nur noch das Gespräch mit dem Berufswahnsinnigen Henryk M. Broder herausschneiden.

ARD und ZDF

Mit den Dritten sieht man besser. Junge Leute meiden ARD und ZDF, und es spricht wenig dafür, daß sich das ändert, wenn sie älter werden.

Nicht, daß seine vorzeitige Wiederwahl zum ZDF-Intendanten in Frage gestanden hätte. Aber sicherheitshalber hatte Markus Schächter in den Tagen zuvor in mehreren Pressegesprächen dezent auf seine Erfolge hingewiesen. Und so las man in vielen Artikeln den Hinweis, daß es das ZDF in diesem Jahr vermutlich (wenn auch ganz knapp) schaffen werde, Marktführer zu sein.

Feine Sache. Wirklich wichtig sind diese Zahlen nicht. Wirklich wichtig wäre es für das ZDF, ein paar junge Zuschauer zu gewinnen. Das gelang dem Sender unter Schächter weniger denn je: Bei den 14- bis 49jährigen hat das ZDF nicht einmal mehr halb so viele Zuschauer wie RTL und liegt nur noch knapp vor RTL 2 und Vox. Bei Zuschauern, die jünger als dreißig sind, schrumpft das ZDF auf die Größe eines Spartensenders und liegt nur auf Platz acht – weit abgeschlagen hinter Kabel 1 und der ARD.

An dieser Stelle könnte Herr Schächter nun ein paar wohlklingende Worte gegen den Jugendwahn unserer Gesellschaft sprechen. Und natürlich ist nichts daran verwerflich, wenn das ZDF, wie es gerade geschieht, seine Dominanz bei den Alten weiter ausbaut. Die Frage ist nur, wer den Sender in zwanzig, dreißig Jahren schauen wird, wenn ein Großteil derer, die heute das ZDF einschalten, nicht mehr lebt.

Es gibt eine Hoffnung, an die sich die alternden öffentlich-rechtlichen Sender klammern: Vielleicht verändert sich die Motivation zum Fernsehen mit dem Lebensalter der Menschen. Vielleicht werden die Dreißigjährigen, die heute RTL und Pro Sieben schauen, die Vorzüge von ARD und ZDF entdecken, wenn sie erst einmal ihre wilden Jahre hinter sich und eine Familie gegründet haben. Vielleicht kommen auch die Jungen von heute irgendwann in das Alter, in dem sie erkennen, daß Fernsehen mehr sein kann als „Deutschland sucht den Superstar“. Dann wäre die Vergreisung für ARD und ZDF kein wachsendes Problem: Auch bei zukünftigen Generationen würden die Älteren öffentlich-rechtliche Programme schauen und die Jüngeren Private.

Leider gibt es auch die gegenteilige These. Was, wenn nicht das Lebensalter über den Fernsehkonsum entscheidet, sondern die Generationenzugehörigkeit? Wenn Menschen, die mit „RTL aktuell“ groß geworden sind, auch im Alter von vierzig, sechzig und achtzig Jahren die „Tagesschau“ verschmähen? Wenn sich herausstellt, daß manche Menschen nie des Ulrich-Meyer-Empörungsjournalismus überdrüssig werden und die Reife entwickeln, sich endlich gepflegt von „Monitor“ informieren zu lassen?

Die ARD wollte es endlich genauer wissen. Ihr oberster Medienforscher Camille Zubayr hat versucht, aus der Entwicklung der Quoten in den vergangenen zwanzig Jahren Prognosen über das zukünftige Zuschauerverhalten abzuleiten. Ein bißchen sei er sich dabei vorgekommen wie ein Klimaforscher, sagt er: Wirklich verläßliche Aussagen über die Zukunft ließen sich nicht treffen, aber alles spreche dafür, daß man jetzt handeln müsse, weil es in ein paar Jahren zum Reagieren zu spät sei.

Zubayr fand Belege für beide gegensätzlichen Effekte: Wenn die Menschen älter werden, ändert sich ihr Fernsehverhalten – hin zu ARD und ZDF. Andererseits bleiben sie dem treu, was sie bisher gesehen haben – die Dreißigjährigen von heute werden auch als Fünfzigjährige noch lieber RTL und Sat.1 schauen. Das ist auch nicht erstaunlich: „Die Angehörigen etwa der sogenannten ,Generation Golf‘ teilen viele Lebensentwürfe und Meinungen und legen die nicht einfach ab, wenn sie älter werden“, sagt Zubayr.

Das beunruhigende Ergebnis seiner Studie ist für ARD und ZDF, daß offenbar der Generationeneffekt sehr viel stärker ist als der Alterseffekt. Die zu erwartenden Zuschauerverluste werden nicht einmal annähernd durch die zu erwartenden Zuschauergewinne ausgeglichen. Wenn das stimmt, ergibt sich ein düsteres Bild für die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen. Für die nächste Zuschauergeneration läßt sich prognostizieren, daß die ARD selbst bei den Zuschauern, die sie am meisten einschalten, den Über-65jährigen, dann nur noch auf knapp zehn Prozent Marktanteil kommt. In der übernächsten Generation könnte die ARD ein Kleinstsender sein. Beim ZDF sieht es vermutlich noch düsterer aus – die Neigung der jüngeren Generationen, den Sender einzuschalten, ist noch geringer.

Verkompliziert wird die Lage dadurch, daß sich das wachsende Problem im Gesamtmarktanteil, den nicht nur Schächter so stolz errechnen läßt, vorläufig nicht bemerkbar macht: Dadurch, daß die älteren Menschen viel mehr Fernsehen schauen als jüngere, prägen sie den Durchschnittswert besonders stark. Und ein Mann, der heute fünfzig ist, kann damit rechnen, 86 Jahre alt zu werden. Eine gleichaltrige Frau hat sogar eine Lebenserwartung von noch vier Jahrzehnten. Die heute Über-Fünfzigjährigen werden in zehn Jahren (dann als Über-Sechzigjährige) immer noch vierzig Prozent des gesamten Fernsehkonsums ausmachen. Diese treuen ARD- und ZDF-Zuschauer prägen also noch lange die Statistik und überdecken das fortschreitende Fehlen jüngerer Generationen.

Erkennbar wird die Schieflage allerdings schon heute am Durchschnittsalter vieler öffentlich-rechtlicher Sendungen. Der ARD-„Presseclub“ am Sonntagmittag zum Beispiel hat zwar regelmäßig sehr anständige eineinhalb Millionen Zuschauer – die jedoch im Schnitt fast siebzig Jahre alt sind.

Zubayrs Prognosen sind nicht unumstritten. Aber auch wenn man das Szenario für realistisch hält, liegen die Konsequenzen, die man daraus zieht, keineswegs auf der Hand. „Ab wann und in welchem Ausmaß muß sich das Programm ändern?“ lautet die Kernfrage nach Meinung des Medienforschers. Er würde zum Beispiel nicht dazu raten, auf Volksmusik-Sendungen zu verzichten, nur weil die jungen Leute vor ihnen in Scharen flüchten. Wichtig sei es, „Inseln“ im Programm zu schaffen, die auch junge Leute einschalten, die die ARD sonst überhaupt nicht sehen – denn realistischerweise wird ein Zuschauer, wenn er älter wird, nur zu einem Programm wechseln, das er vorher überhaupt als Angebot wahrgenommen hat. Vor allem das ZDF scheint für viele junge Leute aber nicht einmal mehr als Programmalternative wahrgenommen zu werden.

Der gutgemeinte Versuch, gegenzusteuern, führt zu einigen erstaunlichen Reaktionen. So ließ das ZDF im Bemühen, seine Marke jüngeren Zuschauern ins Bewußtsein zu bringen, die halbe Republik mit Fotos der kolumbianischen Popsängerin Shakira (und dem ZDF-Logo) zuplakatieren – eine scheinbar absurde Investition angesichts einer einzigen Konzert-Übertragung nachts ab 0.30 Uhr. Auch die Ausstrahlung von „Bravo TV“ im ZDF stellt den Versuch dar, eine solche Insel zu schaffen – er wurde vergangenes Jahr nach zwei weitgehend erfolglosen Jahren abgebrochen.

Auch die Strategie der ARD, in ihrem Werberahmenprogramm am Vorabend zu großen Teilen auf junge Zuschauer zu setzen, ist nicht frei von Rückschlägen. Theoretisch schien es eine so gute Idee zu sein, eine Serie rund um Yvonne Catterfeld zu bauen (und auch diese in außerordentlichem Maße zu bewerben). Catterfeld begann ihre Karriere als Star in der RTL-Seifenoper „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, und eigentlich hätte man sich vorstellen können, daß sie viele ihrer jungen Privatfernsehfans mit zur ARD ziehen könnte. Tatsächlich sind die Quoten mit einstelligen Marktanteilen bei den jungen Zuschauern „ernüchternd“, wie es Camille Zubayr formuliert. Und die älteren gucken „Sophie – Braut wider Willen“ auch nicht mit größerem Interesse. Die tägliche Serie läuft nur noch bis Anfang Februar.

Das ist das größte Risiko für ARD und ZDF: mit ihren Verjüngungsversuchen nicht nur die Jungen nicht zu gewinnen, sondern auch die Alten zu verschrecken. Und der Fernsehkonsum individualisiert sich – das große Familienprogramm, das sich alle Generationen gemeinsam ansehen, gibt es jenseits von „Wetten, daß…“ und „Wer wird Millionär?“ praktisch nicht mehr.

Wenn ARD und ZDF auch in Zukunft große Marken sein wollen, werden sie Strategien entwickeln müssen, die nicht nur über den Tag, sondern auch das Jahr hinausschauen. Markus Schächter hat immerhin nach der Wahl zum ZDF-Intendanten bis 2012 davon gesprochen, das Problem der fehlenden jungen Zuschauer jetzt verstärkt angehen zu wollen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

K11

Fernsehen für Menschen, die lieber bügeln. Mehr Redundanz wagen: Der unheimliche Erfolg der pseudodokumentarischen Serien “K11” und “Lenßen & Partner”

Es gibt „Tatort“-Folgen, die sind so dicht und komplex konstruiert, daß es reicht, einmal für zwei Minuten auf die Toilette gegangen zu sein, um die ganze Geschichte nicht zu verstehen. Na und? Es gibt Folgen von „Lenßen & Partner“, die sind so überschaubar gebaut, daß es reicht, zwei Minuten vor Schluß einzuschalten, um den ganzen Fall zu verstehen und nichts Wesentliches verpaßt zu haben.

Eine ganze Ausgabe von „Lenßen & Partner“ zu sehen lohnt sich eigentlich nur, wenn man nebenbei den Abwasch erledigt, telefoniert und versucht, Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie zu verstehen. Alles andere wäre Verschwendung. Diese Krimiserie ist für ein Publikum gemacht, das nur mit einem halben Ohr hinhört. Wir sehen eine junge Frau mit einer blutigen Kopfwunde auf der Straße liegen und fragen uns, ob sie nur gestürzt ist oder zusammengeschlagen wurde. Der Sprecher sagt aus dem Off: „Die junge Frau hat eine blutige Kopfverletzung. Ist sie unglücklich gestürzt oder brutal niedergeschlagen worden?“ Und schon beugt sich Ingo Lenßen über die Frau und sagt: „Sie bluten ja. Sind Sie gestürzt? Oder hat Sie jemand zusammengeschlagen?“

Es wäre falsch, deshalb die Zuschauer von „Lenßen & Partner“ für blöd zu halten. Sie haben halt Besseres zu tun, als auf den Fernseher zu achten, nur weil der gerade läuft. Das Bahnbrechende an der Serie ist, daß sie sich in einem nie gekannten Maß auf diese Fernsehhaltung eingestellt hat. Natürlich weiß jeder aufmerksame Zuschauer, daß der Detektiv jetzt eine Kamera vor der Wohnung installiert, um herauszufinden, ob sich darin ein Bordell befindet (und das nicht nur, weil er es vor drei Sekunden seiner Kollegin erklärt hat). Aber für unaufmerksame Zuschauer sagt der Off-Sprecher sicherheitshalber: „Betreibt der Mann in der Wohnung ein Bordell? Die Ermittler erhoffen sich, über eine Kamera Klarheit zu bekommen.“ Im Zweifel funktioniert die Fernsehserie problemlos auch als Hörspiel.

„Lenßen & Partner“ hat ein neues Fernsehgenre begründet. Erfunden wurde es von der Firma Constantin Entertainment, die sich als Produzent billiger Gerichtsshows einen Namen gemacht hatte und ahnte, daß man ihr hochwertige Serien nicht unbedingt abkaufen würde. Also holte sie statt dessen das Prinzip, echte Protagonisten in sehr abwegigen Geschichten, umgeben von hundsmiserablen Laiendarstellern, sich selbst spielen zu lassen, aus dem Gerichtssaal. Ingo Lenßen, ein echter Anwalt, der bislang als Verteidiger bei Fernsehrichterin Barbara Salesch aufgetreten war, eröffnete im Fernsehen eine Detektei und sucht seither nach entlaufenen Ehemännern, betrügerischen Huren, den Grenzen des guten Geschmacks und dem endgültigen Gegenteil von „Hochglanz“.

Und die Constantin stellte fest, daß billigste Herstellungsweisen einen Reiz darstellen können: Die verwackelten Bilder der Videokameras vermitteln ebenso wie der – wohlwollend formuliert – Verzicht auf Perfektion beim Aufsagen der Texte und beim Darstellen der Rollen ein Gefühl von Authentizität.

„Scripted reality“ nennen die Programmacher das pseudodokumentarische Genre, und das Verblüffende ist: Es macht nicht nur einen kostenfixierten Privatsender glücklich, sondern auch die Zuschauer. Neben „Lenßen & Partner“ um 18 Uhr laufen auf Sat.1 täglich „Niedrig & Kuhnt“ (17 Uhr) und „K11 – Kommissare ermitteln“ (19.45 Uhr). Daß Sat.1 seine größten Sorgen los ist, liegt weniger an Prestigeprojekten als an diesen Discount-Produkten: „Niedrig & Kuhnt“ hat sagenhafte Marktanteile von zwanzig Prozent in der Zielgruppe; „K11“ ist mit weit über vier Millionen Zuschauern oft die meistgesehene Sat.1-Sendung. Ein Exportschlager ist das Format auch: Nach Polen, China und Rußland hat es der Sender schon verkauft.

Die einfachste Erklärung für den Erfolg wäre natürlich, daß die Menschen regelmäßig vor dem Bildschirm erstarren, fassungslos angesichts des darstellerischen und erzählerischen Grauens. Aber so einfach ist es wohl nicht. Constantin-Chef Ulrich Brock sagt, es liege nicht zuletzt daran, daß die Polizistendarsteller in „K11“ echte Polizisten seien: „Die Zuschauer erleben die Hauptfiguren als überzeugend und authentisch, nicht als Schauspieler. Sie agieren aus der Kompetenz des Echten. Die Fälle haben alle etwas mit der Realität zu tun, sie sind der Realität entliehen.“ Brock räumt ein: „Nicht alle Geschichten sind plausibel und logisch bis ins letzte Detail.“ Aber gerade manche besonders absurden Fälle seien ähnlich passiert. Es zählt nicht die innere Logik, und ob der Schluß einer Geschichte mit dem Anfang zusammenpaßt, gilt als zweitrangig – Hauptsache, es gibt ein paar schöne Überraschungseffekte zwischendrin.

„K11“ hat etwas Holographisches. Auch im kleinsten Teil findet sich das Ganze wieder. In jeder Szene wird das bisher Geschehene zusammengefaßt. Bei „K11“ fragt niemand: „Wo waren Sie gestern abend?“ Ein „K11“-Verhör geht so: „Herr Meyer, Sie haben Frau Müller, die Tote, mit der Sie ein Verhältnis hatten, ja als letzter lebend gesehen. Wo waren Sie gestern abend, also zu dem Zeitpunkt, als sie ermordet wurde?“ Das Ermitteln ist nur eine Nebentätigkeit der Kommissare; vor allem sind sie damit beschäftigt, das Gesagte zu wiederholen und zu erklären. Wenn eine Frau sagt: „Ich bin nämlich mit Peter zusammen“, erwidern sie: „Ach so, der Geschäftspartner des Toten ist Ihr Freund?“ Wenn sie einen Zettel finden: „Wir treffen uns in der Fabrik“, sagen sie: „In der Fabrik, also am Tatort.“ Und wenn sie einen Laptop entdecken, auf dem eine Internetseite mit dem Wort „Chatroom“ zu sehen ist, müssen sie noch sagen: „Hm, sein Laptop ist ja noch hochgefahren. Hier, da ist noch eine Internetseite eingeloggt. Das ganze scheint über Chatrooms abzulaufen. Die Leute geben sich einen Nickname und können sich verabreden.“ Selbst auf die Verdächtigen färbt das mitunter ab, die auf die Frage: „Wo waren Sie um 19 Uhr“ dann erwidern: „Um sieben?“

Für einen Konkurrenten von Sat.1 hat das Kölner Institut Rheingold das Phänomen „Lenßen & Partner“ untersucht und festgestellt, daß ein wesentlicher Teil des Erfolgs gerade damit zusammenhängt, daß es so „trashig“ ist. „Auch regelmäßige Zuschauer dieser Sendungen haben eine diebische Freude, sie als schlecht zu kritisieren“, sagt der Psychologe und Medienforscher Frank Szymkowiak. „Denen ist klar, daß das nur eine Pseudoauthentizität ist und daß die Fälle an den Haaren herbeigezogen sind.“ (Besonders mag er die Folge, in der eine Frau mit gespaltener Persönlichkeit als Prostituierte arbeitet, dabei auf ihren Ehemann als Kunden trifft und danach den Verdacht nicht los wird, daß er sie mit sich selbst betrügt. Oder so ähnlich.)

In fast allen Fällen tun sich hinter kleinbürgerlichen Fassaden Abgründe auf. „Es geht um sehr schmuddelige, unsaubere Verhältnisse“, sagt Szymkowiak. „Wenn man sich da als Zuschauer wirklich involvieren würde, müßte man sich ekeln und entrüsten.“ Doch das verhindert die billige Gesamtanmutung, die gebrochene Dramatisierung – kurz: die Tatsache, daß es sich erkennbar um Trash handelt. „Auf diese Art kann man mit der Nase tief in den größten Schmuddel hinein, ohne sich selbst schmutzig zu machen.“ Ingo Lenßen sei mit seinem akkuraten Zwirbelbart das beste Symbol dafür: Selbst nach einer Entführung und Flucht war er nicht schmutzig. „Wasch mich, aber mach mich nicht naß“ – dieses Kunststück schafft auch das Publikum. „Die Geschichten gehen spurlos an dem Zuschauer vorüber; er wird nicht gepackt oder angerührt.“ Gerade am Vorabend sei das genau die Funktion, die das Fernsehen für viele erfüllen soll.

Ein guter „Tatort“ zwingt die Zuschauer, sich zu dem Geschehen zu verhalten. Eine gut funktionierende Scripted-Reality-Folge schafft es, sie auf Distanz zu halten. „Alle eventuellen Ambivalenzen werden spätestens durch den Off-Sprecher geglättet“, sagt Szymkowiak. Noch bevor die Zuschauer sich entscheiden müßten, ob sie das in Ordnung finden, was zwei da miteinander treiben, beschreibt der das Geschehen schon als „perverse Sexspiele“. Und vollkommen wird das Gefühl, daß alles klar und nichts offen ist, dadurch, daß alle Formate mit dem Verlesen der Urteile und Schicksale enden; Menschen, die schuldig, aber nicht straffällig geworden sind, bringen sich gerne um.

Szymkowiak rät davon ab, die Geschichten hochwertiger zu produzieren (nicht daß die Gefahr wirklich bestünde), und er glaubt nicht, daß sie in der Hauptsendezeit funktionieren könnten, in der das Zuschauerverhalten ein anderes ist. Aber vielleicht ändert sich das auch gerade. Ulli Brock sagt: „Der nächste Schritt ist es, das Genre aus den Kinderschuhen herauszuführen und in der Prime-Time auszuprobieren. Die Zeit ist jetzt reif dafür.“ Im übrigen wartet er darauf, daß die günstigen, aber vergleichsweise teuren Telenovelas an ihre Grenzen stoßen, um dann in die Lücke zu stoßen: „Dieses Gefäß, das wir entwickelt haben, das schnelle Produktionen ohne großen Aufwand mit dem notwendigen authentischen Look erlaubt, läßt sich auch mit anderen Inhalten füllen – es müssen nicht unbedingt Detektiv-, sondern können auch Liebesgeschichten sein. Wir sind überzeugt, daß es mehr solcher Sendungen geben wird.“

Große Gefühle im Fernsehen sehen dann so aus wie am Ende von „K11“. Vor der Werbepause sagt der Sprecher: „Wird die minderjährige Tochter die traumatischen Erlebnisse verkraften?“ Hinterher sagt er: „Das Opfer hat die Tat nicht verkraftet und befindet sich in psychiatrischer Therapie.“ Und die Schauspielerin kommt nicht mal mehr ins Bild.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

„Sophie“

Das Mädchen mit den Schokowaffeln. Yvonne Catterfeld trüge gern mal einen Kartoffelsack: “Sophie – Braut wider Willen”

Man hat sich das ja immer schon gefragt, was diese Lindt-Herren mit ihren gestärkten weißen Mützen und Kitteln eigentlich machen, wenn sie abends oder sonntags einmal kurz den endlosen Rührprozeß unterbrechen, mit dem sie unsere Schokoladen herstellen. Wohin die edlen Ritter reiten, wenn sie genügend Brennholz gesammelt haben, damit das schöne Hanuta-Mädchen ihre Nußwaffel-Täfelchen weiter von Hand für uns backen kann. Und wie die Landliebe-Sennerin nach getaner Butterproduktion ihre Abende in den Alpen verbringt. Denn daß alle diese Menschen, die im Werbefernsehen liebevoll Lebensmittel für uns veredeln, tatsächlich unter uns sind, daß man sie abends in der Kneipe treffen könnte oder morgens in der S-Bahn auf dem Weg zu ihren Back-, Rühr- und Puppenstuben, war immer schon sehr unwahrscheinlich.

Von heute an erfahren wir endlich, daß auch für die Hanuta-Mädchen das Leben kein Zuckerschlecken ist. Daß das nicht immer so reibungslos klappt mit ihnen und den Rittern. Und daß es böse Menschen gibt, die ihnen ihre kleine Waffelproduktion neiden. Denn auch wenn die ARD behauptet, daß ihre neue Serie „Sophie – Braut wider Willen“ im ausgehenden 19. Jahrhundert spielt, lebt Sophie doch eigentlich in einer Welt, die uns viel vertrauter ist: in diesem fiktiven Früher der Werbefernsehfiktion, in der es noch echte Märkte, urige Wohnstuben und ehrliches Handwerk gibt, in der die Kleider seidig sind, die Gesichter makellos und die Gefühle rein. Und bei aller behaupteten Liebe zum historischen Detail fehlt auf den herrschaftlichen Tischen im Gutshof von Ahlen doch eigentlich der Teller mit den Rocher-Kugeln, um das Szenenbild wirklich authentisch zu machen.

Die Szenen sind fast komplett in edles Königsblau und warmes Gold getaucht; es ist eine seriengewordene Pralinenpackung. Das perfekte Porzellangesicht von Yvonne Catterfeld strahlt inmitten dieser Puppenhausszenerie, die manchmal jemand zu schütteln scheint, und dann geraten zwar die Leben der kleinen Figuren heftig durcheinander, aber dafür schneit es auch in dicken, großen, falschen Flocken.

Keine zehn Minuten dauert es, bis Sophie, die junge Gräfin, zum ersten Mal Max, den einfachen Schneidersohn, sieht. Es ist, natürlich, Liebe auf den ersten Blick – einen ersten Blick, der nicht enden will, während die Streicher einen spannungsreichen Ton in die Ewigkeit dehnen und das Klavier perlt, und alle wissen, daß beide nun nicht mehr voneinander lassen können, egal was ihre standesbewußte Umgebung sagt, egal welche Prüfungen und Umwege das Schicksal ihnen auferlegen wird, egal ob der Weg zum Glück dreißig Folgen lang sein wird oder (wenn die Quoten stimmen) hundertzwanzig.

Sie trifft ihn auf einer Bauernhochzeit in der Gastwirtschaft, ein Ort, an dem sie als Gräfin natürlich überhaupt nichts zu suchen hat, in den sie sich aber geschlichen hat, weil ihr eigenes reiches Leben so leer und langweilig ist im Vergleich zu dem Spaß, den die Dienstboten haben. „Sag mal, wird da heute abend auch getanzt?“ fragt Sophie, und ihre Zofe Rike antwortet: „Jaja, auch auf den Tischen. Was wäre das sonst für eine Hochzeit?“ Und Sissi, nein: Sophie schnappt sich den kleinen Bruder von Rike, dem sie gerade freundlicherweise einen Saft vom Markt mitgebracht hat gegen seinen bösen Husten, und tanzt mit ihm schon mal, heißa, probeweise durch die Küche. „Aber du bist die Gräfin von Ahlen“, wendet Rike noch ein, und Sophie sagt: „Kein Mensch wird mich erkennen.“ Und Rike sagt: „Selbst in einem Kartoffelsack siehst du noch aus wie eine Gräfin“, und der Zuschauer sagt: „Hach!“, und die Kartoffelsäcke dieser Welt sagen: „Was würden wir darum geben, einmal von Yvonne Catterfeld getragen zu werden.“

So perfekt zerbrechlich und trotzig und lebenshungrig und verzweifelt spielt Yvonne Catterfeld die Sophie, als hätte sie die letzten Jahre nur deshalb in den Seifenopern und den Charts verbracht, um heute diese Rolle geben zu dürfen. Es scheint, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht, als den Kopf effektvoll zur Kamera zu drehen, wie sie es gleich im Vorspann zweimal machen darf, einmal trotzig und einmal schmachtend. Und während sich alle um sie herum mit ihren großen Koteletten und wallenden Kleidern steif und fremd in dieser künstlichen Welt bewegen, die in jeder einzelnen Sekunde nach einem Fernsehstudio aussieht, wirkt Catterfeld, als sei das ihr natürlicher Lebensraum. (Allerdings ist schwer zu sagen, ob das dieses Vorabendmärchen als einziges erträglich oder vollends unerträglich macht.)

Die ARD meidet den Begriff „Telenovela“ für ihre neue „Vorabendserie im historischen Gewand“. Vielleicht liegt das daran, daß der gerade erst ausgerufene Trend der nächsten Jahre schon ein wenig schwächelt: Nach dem großen Erfolg von „Bianca – Wege zum Glück“ (ZDF) und „Verliebt in Berlin“ (Sat.1) kommen die deutschen Telenovelas drei („Julia“, ZDF) und vier („Sturm der Liebe“, ARD) beim jungen Publikum längst nicht mehr so gut an. Und von „Sturm der Liebe“, das die Qualitätsgrenzen des neuentdeckten Genres nach unten auslotet, trennen den Edelkitsch von „Sophie“ tatsächlich Welten.

Wer mag, kann in „Sophie“ auch Parallelen zu unserer Zeit finden. Wie große Ausrufezeichen stehen Sätze wie der von Sophies Vater in der Gegend herum, der über einen konkurrierenden Geschäftsmann sagt: „Er gehört zu denen, die wie eine Heuschreckenplage in das Land einfallen und sich ohne Rücksicht nehmen, was sie wollen. Mag sein, daß ich altmodisch bin, aber es geht mir um mehr als Geld in meinem Leben.“ Eigentlich aber funktioniert „Sophie“ ganz gut ohne Ton. Besser sogar, so muß man den Besitzer eines Weingutes nicht mit sorgenvollem Blick aus dem Fenster Sätze sagen hören wie: „Manchmal wünschte ich mir ein Geschäft, das weniger wetterabhängig ist.“ Aber sicher kommt spätestens morgen eine Frau vorbei, die die Qualität seiner Piemontkirschen prüft und mit ihm im güldenen Abendlicht die ersten Byzantiner Königsnüsse probiert, und dann wird auch für ihn alles gut.

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Vom Glück, Jacky Dreksler zu sein

Der erfahrene Comedy-Produzent hat es sich in den Kopf gesetzt, wieder eine komische Sendung zu machen.

Man muß den Zinnober erlebt haben, den Fernsehsender sonst veranstalten, wenn sie sichergehen wollen, daß die Presse ein neues Programm zur Kenntnis nimmt, die abgefahrenen Locations, die PR-Show, die Luxus-Schnittchen, um die Geräuschlosigkeit würdigen zu können, mit der RTL das Konzept von „Samstag Nacht“ wiederbelebt hat. Kein Event, keine Pressekonferenz, keine Hochglanzmappe. Es ist einfach wieder da, schon seit drei Wochen, und heißt diesmal „Comedy Nacht“. Und weil das so ungewöhnlich ist, dieses sachte Pffft statt des großen Kawong, könnte man auf den Gedanken kommen, daß RTL nicht an das Konzept glaubt.

Wahrscheinlicher ist das Gegenteil: Der Sender hat erkannt, daß es diesem Format ganz gut tut, langsam entdeckt statt schnell verkauft zu werden, und daß es den jungen Komikern nicht hilft, gleich mit großen Worten aufs Podest gestellt zu werden.

Jedenfalls scheint alles viel schwieriger als 1993, als RTL zum ersten Mal jungen, unbekannten Menschen die Gelegenheit gab, sich in einem Randbereich seines Programmes auszuprobieren. Es war viel mehr Geld da, RTL war noch der ungestüme Angreifer und nicht der bräsige Titelverteidiger, und es gab noch keine frühere deutsche Version der legendären amerikanischen Talentschmiede „Saturday Night Live“, mit der man alles vergleichen konnte. „Das sind die Schatten der Vergangenheit: eine Folge von ‚RTL Comedy Nacht‘ wird mit dem Besten aus fünf Jahren ‚RTL Samstag Nacht‘ verglichen werden“, sagt Jacky Dreksler, der als Produzent hinter beiden Sendungen steht. Es sind tödliche Vergleiche mit den grimmepreisgekrönten Auftritten von Olli Dittrich und Wigald Boning in „Zwei Stühle – eine Meinung“, mit dem absurdesten Slapstickklamauk von Mirco Nontschew, mit „Kentucky schreit ficken“, „Margarethe Schreinemakers ihre Schwester“ oder dem ewig sterbenden Karl Ranseier.

An den langen Weg dahin erinnert sich natürlich niemand mehr. Der RTL-Pressemann hat extra die Quoten von damals mitgebracht, um zu zeigen, wie mühsam er war. Und Dreksler droht, die ersten Sendungen von „Samstag Nacht“ aus dem Archiv zu holen. Zur Abschreckung. Dann erzählt er, wie er Esther Schweins entdeckte, die die Kandidaten bei einer kleinen Gameshow betreute, eigentlich Schauspielerin werden wollte und auf gar keinen Fall Komikerin und vor allem gut aussah, und wie er die anderen auf irgendwelchen Geburtstagen oder über gemeinsame Freunde kennenlernte und sie vor allem auflas, weil sie irgendwie wahnsinnig waren. Und plötzlich wirkt „Samstag Nacht“ rückblickend nicht mehr wie ein Geniestreich, sondern wie ein grandios glücklicher Zufall.

Dreksler behauptet natürlich, daß der Zufall Methode hat. Als er jetzt wieder für die „Comedy Nacht“ nach Talenten suchte, wählte er nicht unbedingt Schauspieler oder Komiker. „Ich möchte einfach Charaktere haben, ungewöhnliche Menschen.“ Von „Großen Versprechungen in der Luft“ spricht er, halb im Scherz, und, sehr im Ernst, davon daß Menschen plötzlich ganz neue Talente an sich entdecken, wenn man sie einfach machen läßt. Ausdauer und Freiheit braucht es dafür.

Am Ende ist „Samstag Nacht“ für fast alle ein Sprungbrett geworden, für Esther Schweins sogar doch noch in die ernste Schauspielerei. Kein Wunder, sagt Dreksler, „das Schwierigste haben sie ja gepackt: Das Komische zu spielen.“

Der 59jährige scheint ein beneidenswerter Mensch zu sein. Als er 1990 seine eigene Firma gründete, nannte er sie Pacific Productions – weil der Plan war, damit genug Geld zu verdienen, um sich und seiner Frau einen entspannten verlängerten Lebensabend in der Südsee zu ermöglichen. Und wenn man ihm sagt, daß der Plan ja offensichtlich nicht aufgegangen ist, sonst hätte er die Firma ja nicht gerade nach sieben Jahren Pause reaktiviert, dann lächelt er nur wissend.

Sein Lebenswerk ist gleichermaßen eindrucksvoll wie abschreckend. An vielen Dutzend Sendungen war er in den achtziger und neunziger Jahren als Autor oder Moderatoren-Coach beteiligt, Shows wie „Bananas“, „Volkstümliche Hitparade“, „Vier gegen Willy“ und „Alles nichts oder“ und zu Recht vergessene Sendungen wie „Tele-As“ und „Bistro Bistro“. Er erfand „Schreinemakers live“ und produzierte mit Hugo Egon Balder 150 Folgen von „RTL Samstag Nacht“. Nach dessen Ende, das ein bißchen später kam, als gut gewesen wäre, und einigen gescheiterten Versuchen mit ähnlichen Formaten verabschiedete er sich 1998 vom Fernsehen, um sich seiner Familie zu widmen und zu lesen („Lieblingsthemen: Erkenntnistheorie, Sozialpsychologie und Evolutionsbiologie“).

Irgendwann sei er aus der „Festung des Nichtstuns“ wieder aufgetaucht, weil ihm aufgefallen sei, daß ihn seine kleine Tochter noch nie arbeiten gesehen habe. Da paßte es gut, daß RTL merkte, wie groß das Humordefizit inzwischen geworden war, und sich entschied, das nicht durch den Ankauf von Stars zu lösen, sondern durch die Talentpflege – und also durch die „Comedy Nacht“.

Er ist der Meister der sinnlosen Unterhaltung, die nichts weiter will, als lustig sein, und was ihn von anderen Produzenten unterscheidet, sind nicht nur die Erfahrung und der unbedingte Wille zum Spaß bei der Arbeit („Der Hauptzweck dieser Sendung ist es, Jacky Dreksler glücklich zu machen“), sondern auch seine Unabhängigkeit. Er könne Aikido, sagt Dreksler grinsend: die Kunst, Druck von außen gegen den Angreifer selbst zu richten. Er ist das Gegenteil der marktforschungsgläubigen Auf-Nummer-Sicher-Geher und sagt, er liebe den Sprung ins Unbekannte, „im Vertrauen darauf, daß uns im Fallen Flügel wachsen“.

Gut, dafür ist es wichtig, daß der freie Fall nicht zu früh durch den Aufprall gebremst wird, und die ersten Quoten lassen ahnen, daß die Geduld von RTL ernsthaft getestet wird. Sehr viel Ausschuß ist noch in den Shows, auch unglaublich lange und überflüssige Auftritte von Comedy-Gaststars. Aber zwischendurch gibt es in den Fernseh- und Werbeparodien, Sketchen und Stand-ups schon ein bißchen was zu entdecken: Die Duette von Carolin Kebekus und Rüdiger Brans zum Beispiel, das traurige Gesicht und die Mini-Cartoons von Attik Kargar oder die Stimmenvielfalt von Jürgen Bangert. Die Dokureihe über die Society-Ladies „Pute und Schnute Pohofen“ darf seit der zweiten Folge aus naheliegenden Gründen nicht mehr so heißen, aber zum Glück kann man an den Schlauchbootlippen auch so gut erkennen, wer gemeint ist.

Und selbst wenn sich herausstellen sollte, daß sich diese Art von Nummernrevue überlebt hat: Jacky Dreksler ist wieder da. Und wenn man ihn läßt, wird er noch eine Menge albernen Unsinn auf den Bildschirm bringen, von dem ein kleiner Prozentsatz dann Jahre später als „wegweisend“, „Kult“ oder „Talentschmiede“ bezeichnet werden wird.

LiebesLeben

Diese Serie hat eine Seele. So sind sie, die jungen, modernen Großstadtmenschen: „LiebesLeben“ bei Sat.1.

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„Kannst du dir zum Beispiel vorstellen“, fragt die liierte junge Frau in Torschlußpanik kurz vor dem drohenden Heiratsantrag ihre beste Freundin, „von jetzt an bis ans Ende deines Lebens nur noch Sex mit einem einzigen Partner zu haben?“ Und die partnerlose Freundin antwortet: „Sex, ja, das wär toll.“

So sind sie, die jungen, modernen Großstadtmenschen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Und wie es ist, ist es verkehrt.

Auf der nach oben offenen Weltproblemskala sind die Sorgen dieser jungen, modernen Großstadtmenschen in einem kaum meßbaren Bereich. Aber es sind ihre Sorgen, und das macht sie zu den wichtigsten der Welt. Sicher, Malte könnte froh sein, so wie er aussieht und die Frauen auf ihn fliegen. Und Caren und Björn, als junges Paar, das gerade zusammengezogen ist. Und Edwin hat ja seine süße Tochter, die „Prinzessin“, die ihn bedingungslos liebt. Und Verena ist Paketfahrerin von Beruf, da klingelt sie täglich bei so vielen fremden Männern an der Tür, da muß doch irgendwann der richtige dabeisein.

Andererseits hat es Malte so satt, daß diese attraktiven jungen Dinger sich ihm alle vor die Füße werfen und nur auf sein Äußeres abfahren, wo er sich doch eigentlich nur wünscht, daß ihm seine Ex-Freundin noch eine letzte Chance geben würde (leider weiß genau die am besten, daß der Sex mit ihm gut funktioniert, sonst aber auch nichts). Caren und Björn merken, daß das mit dem Zusammenziehen zwar theoretisch eine gute Idee war, aber die ganzen Unterschiede zwischen den beiden, die vorher so spannend schienen, sich dadurch plötzlich in echte Beziehungskiller verwandeln. Edwin leidet wie ein Hund, daß die Frauen dauernd auf seinen Kumpel Malte abfahren und nie auf ihn, und fragt sich, ob es dem Pech nicht irgendwann langweilig wird, immer nur ihn zu verfolgen. Und Verena hängt sich so verkrampft an jede nur halbwegs aussichtsreich erscheinende Beziehung, daß sie jeden Bewerber schon dadurch in die Flucht schlägt.

„LiebesLeben“ erzählt die Geschichten dieser fünf, ihre endlose Suche nach dem kleinen bißchen Glück, das dann aber bitteschön perfekt sein soll, weil es sonst doch nur eine andere Form von Elend ist. Und daß daraus so eine wunderbare leichte, aber nicht flache Serie geworden ist, liegt nicht zuletzt daran, daß ihr das Kunststück gelingt, diese Dreißigjährigen in ihrem subjektiven Unglück ernst zu nehmen und sich gleichzeitig über die Absurdität dieser Probleme lustig zu machen. Seinen Witz zieht das Buch von Tommy Jaud vor allem daraus, daß die Angehörigen dieser Generation ja tatsächlich viele Probleme haben, die ihre Eltern und Großeltern nicht kannten. Daß es viele Situationen gibt, die zu ihrem Alltag gehören, für die es aber keine Verhaltensknigge irgendeiner Art gibt.

Wie geht man mit dem neuen Mann der Ex-Freundin um, der offenbar sehr viel Geld hat und ein arrogantes Arschloch ist, mit dem sich aber ein Zusammentreffen nicht vermeiden läßt, weil die kleine Tochter in seinem Haus wohnt? Wie teilt man ihm mit, daß es schön wäre, wenn er die Tochter nicht mit siebentausend Stofftieren in zwei Spielzimmern bestechen würde, wenn man sich selbst finanziell gerade mal so durchschlagen kann? Oder was ist die sozial akzeptable Art, einem One-night-Stand am nächsten Morgen zu sagen, daß eigentlich nicht nur eine Wiederholung ausgeschlossen ist, sondern auch ein gemeinsames Frühstück? Unter welchen Voraussetzungen darf man sich als Mensch in glücklicher Partnerschaft mit einem früheren Partner treffen, einfach nur so? Und wie kriegt man raus, ob die Table-Tänzerin wirklich Interesse an einem hat oder nur ihren Job richtig gut macht? (Okay, das letzte ist eine Spezialfrage.)

„LiebesLeben“ erzählt die Versuche der Frauen und Männer, diese und andere Fragen zu beantworten, teils fortlaufend, teils episodenhaft. Und auch wenn die Serie meist den kürzesten Weg zur nächsten trockenen Pointe ansteuert, geht sie doch auf eine ungewohnt zärtliche Art mit ihren Protagonisten um und gibt ihnen Tiefe und Aufrichtigkeit. Ihre Beziehungsgeschichten sind nicht nur lustig und bizarr, sondern auch wahr. Sat.1 hat diese Mischung offenbar aus Verlegenheit auf der Suche nach einem passenden Genrebegriff mit „Romantic Comedy“ bezeichnet, doch sie hat nichts von dem Süßlichen, das man mit diesem Begriff verbinden kann, sondern eher eine abgründige Komponente.

Es ist eine der innovativsten Comedyserien seit langem. Nicht nur, weil sie diese zweite, ernste Ebene hat. Sondern auch durch die Art, wie sie erzählt ist. Die Protagonisten sprechen mit dem Zuschauer aus dem Off und in die Kamera, in Einschüben wird Vergangenes, Erhofftes und Befürchtetes visualisiert, und wenn eine fast vergessene Nebenfigur am Ende einer Folge plötzlich wiederauftaucht, kann es sein, daß sie sagt, sie sei der Mann „vom Anfang der Folge“. Die Macher hatten offenkundig Spaß an kleinen Gags und daran, mit der Erwartung des Publikums zu spielen.

Und man muß zum Beispiel nur sehen, wie liebevoll der Stadtalbtraum Köln in Szene gesetzt wurde, mal kalt und großstädtisch, mal romantisch und attraktiv, um zu erkennen: Dieses Programm hat eine Seele. Vorspann, Musikauswahl, Schnitt, Regie (Tobi Baumann) – alles strahlt Leidenschaft aus. Und in den besten Momenten schaffen es die Schauspieler, ihre Charaktere von Comedyfiguren zu echten Menschen werden zu lassen, mit denen man fühlt. Allen voran Michael Lott als depressives Knautschgesicht Edwin, der zwischen Witzfigur und tieftraurigem Loser changiert. Julia Stinshoff als Caren darf endlich mehr als süß gucken, Florian David Fitz mehr als ein Serienschönling sein, und Bettina Lamprecht macht als schroffe Barfrau Sanne aus einer Nebenrolle ein Highlight.

Und dann steht Edwin samstags morgens wieder unter der nicht eingeschalteten Dusche und fragt sich, warum er sich überhaupt die Mühe macht aufzustehen, an einem Tag, von dem er doch nichts zu erwarten hat. Weil er doch wieder keine Frau treffen wird, die ihn akzeptiert, so wie er ist: ungeduscht und depressiv. Und entscheidet sich dann, sich trotzdem zu waschen, „denn wenn ein Mann schon abends allein und traurig nach Hause kommt, soll er dabei wenigstens gut riechen“.

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