Deutscher Fernsehpreis

Das große Schweigen. Warum der Deutsche Fernsehpreis so wenig Bedeutung hat.

Ein gutes halbes Jahr lang haben wir so getan, als sei der Deutsche Fernsehpreis wichtig. Wir haben uns, jeder für sich, durch immer neue Postpakete mit Videokassetten und DVDs gearbeitet. Haben uns an die Geschäftsordnung gehalten, die es Jurymitgliedern untersagt, sich bei Abstimmungen zu enthalten, selbst dann, wenn sie wirklich, wirklich nicht entscheiden wollen, ob nun „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ oder „Unter uns“ es verdient hätte, als „beste tägliche Sendung“ nominiert zu werden. Haben ausführlich und mit großer Ernsthaftigkeit darüber diskutiert, ob es überhaupt vorstellbar ist, „Speer und Er“ nur für die „Beste Ausstattung“ zu nominieren, und was die Konsequenzen wären. Haben neue Kategorien erfunden, alte abgeschafft, Probeabstimmungen veranstaltet, durchgezählt, welche Sender nun auf wie viele Nominierungen kommen, erneut abgestimmt und uns ununterbrochen gefragt, wie unsere jeweiligen Signale von der Branche interpretiert werden würden. Die ehrliche Antwort hätte wohl gelautet: gar nicht.

Eine Diskussion fand nicht statt. Nicht über die Frage, ob es richtig war, das vermeintliche Fernsehereignis des Jahres, „Speer und Er“, bis auf einen Preis für Sebastian Koch durchrasseln zu lassen. Nicht darüber, wie sinnvoll es war, quasi eine eigene Telenovela-Kategorie zu schaffen – grundsätzlich und insbesondere, wenn es zum Stichtag überhaupt nur zwei Telenovelas gibt. Nicht über unsere Entscheidung, für die „Königskategorie“ des besten Fernsehfilms auch eine leichte Sat.1-Familienkomödie („Das Gespenst von Canterville“) zu nominieren – und dabei hatten wir das öffentliche Raunen über diese scheinbar mutige Entscheidung fast schon im Ohr, den Beifall, die Empörung. Statt dessen: Schweigen.

Der Deutsche Fernsehpreis ist offenbar nicht halb so wichtig, wie er glaubt. Und wie er sein müßte als einer von nur zwei echten Fernsehpreisen in Deutschland und einziger, der sich ausdrücklich als nichtelitärer Branchenpreis versteht. Daß das so ist, liegt an den Medien, am Fernsehen – und am Fernsehpreis selbst.

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat in diesem Jahr über den Deutschen Fernsehpreis weniger berichtet als über den Comedypreis und fand nicht einmal Platz, die wichtigsten Preisträger zu nennen. Aber auch die meisten anderen Kollegen beschränkten sich darauf, das Showritual zu kritisieren und als gesellschaftliches Ereignis zu würdigen. Eine Medienkritik, die den Preis zum Anlaß nähme, auf das Fernsehjahr zurückzuschauen, Glanzlichter und Fehlentwicklungen auszumachen, darüber zu streiten, was preiswürdig wäre und was nicht, gibt es offenkundig nicht. Aber was sonst – abgesehen von der persönlichen Freude der Ausgezeichneten – wäre der Sinn eines solchen Preises? In der Selbstbeschreibung heißt es, sein Ziel sei es, „die Qualität des deutschen Fernsehprogrammes zu fördern“. Das kann nur gelingen, wenn der Preis öffentliche, zumindest brancheninterne Debatten darüber anstößt, wie „Qualität“ zu definieren ist. Wenn er nicht ausschließlich als Anlaß genommen wird, über die trostlose Gewerbegebietslage des Veranstaltungsortes, die ermüdende Länge der Zeremonie und die Qualität des Buffets zu schreiben.

Bei den berichtenden Journalisten scheint der Preis trotz seines jungen Alters von sieben Jahren nur Langeweile auszulösen. In den wenigen Zeilen, die sich inhaltlich mit den Entscheidungen auseinandersetzen, kann man gelegentlich ein Flehen herauslesen: Überrascht uns! Das ist nicht leicht, denn auch nach vielen pflichtbewußten Abenden vor dem Videorecorder entdeckt man wenig Überraschendes, Neues, Frisches, Gewagtes, Unentdecktes im deutschen Fernsehen. Man sieht viele herausragende Krimis, eine Reihe bewegender Fernsehspiele, eine Handvoll vorbildlicher Dokumentationen. Doch im Alltagsgeschäft des Fernsehens, bei Serien, Comedy, Show, Reality, Magazin, gibt es kaum etwas zu entdecken. Diese Genres sind im Fernsehpreis eigentlich ohnehin unterrepräsentiert – und trotzdem lassen sich in manchen Kategorien kaum überhaupt genügend nominierungswürdige Programme finden. Zählen Sie mal mehr als drei gute Sitcoms auf. Oder Serien. Oder Shows. Wie viele junge Moderations- oder Comedy-Talente fallen Ihnen ein, die dringend einen Fernsehpreis bräuchten, der ihnen einen kleinen, verdienten Karriereschub verleiht?

Und doch ist letztlich vor allem der Fernsehpreis selbst schuld daran, daß er so bedeutungslos ist. Paradoxerweise auch deshalb, weil er sich so wichtig nimmt. Man muß das erlebt haben, wie in den vielen Jurysitzungen jede mögliche Entscheidung darauf hin abgeklopft wird, ob man sie irgendwie mißverstehen könnte. Wie groß die Sorge ist, daß am Ende zu viele Preise an einen Sender gehen könnten. Die schlimme, aber logische Konsequenz daraus ist, daß die Jury so sehr unter dem Verdacht steht, durch Proporzdenken geleitet zu sein, daß auch gut begründbare und begründete Entscheidungen (wie etwa die gegen „Stromberg“ und für „Nikola“ als beste Sitcom) oft nur noch als Zugeständnisse an diesen Proporz interpretiert werden.

Nach welchen Gesetzen der Fernsehpreis funktioniert, läßt sich vielleicht am Beispiel des Mainzer Trainers Jürgen Klopp erzählen, der als ungewöhnlich angenehmer Fußball-Experte im ZDF ins Gespräch kam. Eine Nominierung konnte daraus nur im Paket mit dem Moderator, dem Kommentator und sämtlichen Experten einer Fußball-Übertragung werden – und so wurde ausgerechnet auch der gewöhnlich unangenehme Franz Beckenbauer für den Deutschen Fernsehpreis vorgeschlagen. Und abgesehen davon: Wem ist mit einer solchen Sammelnominierung gedient? Was würdigt man damit? War der Kommentator so gut, weil ihn die Experten mitgerissen haben? Oder umgekehrt? Nicht im Ernst.

Der deutsche Fernsehpreis leidet unter seinen vielen Kategorien, die man selbst als Juror kaum unterscheiden kann. Anke Engelke sprach von einer Kategorie „Beste Impro-Comedy“, dabei handelte es sich nur um die ganz normale Rubrik „Comedy“, die allerdings zugegebenermaßen schwer von „Sitcom“ und „Unterhaltungssendung“ abzugrenzen waren. Wer erklärt dem Zuschauer (und den Juroren), wie sich die „beste Reportage“ von der „besten Dokumentation“ unterscheidet? Die Sitcom von der Serie? Was von dem Gemischtwarenladen „beste tägliche Sendung“ zu halten ist, in dem schon Qualitätssendungen wie „Lenßen & Partner“ und „Barbara Salesch“ nominiert waren und aus dem in diesem Jahr die „beste tägliche Serie“ wurde, damit – welche Überraschung! – „Verliebt in Berlin“ ausgezeichnet werden konnte, ohne mit „richtigen“ Serien konkurrieren zu müssen.

Wenn der Deutsche Fernsehpreis wirklich relevant sein will, muß er aufhören zu versuchen, die vermeintlichen Erwartungen an ihn zu erfüllen. Vielleicht fangen dann die Leute an, wieder welche zu haben.

Der Autor war in diesem Jahr erstmals Mitglied der Jury des Deutschen Fernsehpreises, der Preis wurde am vergangenen Samstag in Köln verliehen (F.A.Z. vom 17. Oktober).

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Dahin, wo’s weh tut

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wie sehen moderne deutsche Fernsehserien aus, die das Publikum nicht unterschätzen? Die Sender probieren das jetzt einmal aus.

Frank ist ein Verlierer. Der einzige Lichtblick ist der Scheck vom Amt. Seine Frau ist vor drei Jahren verschwunden: spurlos, aber nicht grundlos. Mit seinen sechs Kindern lebt er in einer engen Sozialwohnung — wobei es leben nicht ganz trifft. Sie ist der Ort, an dem ihn die Kinder auf dem Fußboden in die stabile Seitenlage bringen, wenn die Polizei ihn von der Kneipe geholt hat. Es ist eine Welt voller Müll und Drogen, unbezahlten Rechnungen und Kleinkriminalität. Und die Fernsehserie, die die Geschichten dieser gleichermaßen kaputten wie unzerstörbaren Familie erzählt, ist auf eine Art warmherzig und sentimental, kraß und komisch, originell und authentisch, provokativ und versöhnlich, daß es einem den Atem raubt.

Die Serie heißt „Shameless“ und läuft im britischen Channel 4. Bis das deutsche Fernsehen solche Serien hervorbringt, ist es noch ein weiter Weg. Aber immerhin scheint es sich gerade mal in die richtige Richtung zu bewegen.

Was natürlich daran liegt, daß die anderen Wege sich als Sackgasse herausgestellt haben. Programmmacher wie die stellvertretende Sat.1-Chefin Alicia Remirez sprechen offen von einer „Krise“ der deutschen Serie. Die schnell zusammengeklöppelten Varianten amerikanischer Formate versagten, die endlos ratternde Erfolgskopiermaschine machte das Publikum müde und satt, die Erfolgsserien von gestern haben ihre besten Zeiten meist hinter sich.

Diese Krise ist ein Glücksfall für das Publikum (das sie ja überhaupt erst ausgelöst hat), insbesondere, seit die Massenbegeisterung vor allem junger Zuschauer für „C.S.I.“ oder „Desperate Housewives“ zeigt, daß sie keineswegs der fiktionalen Serie an sich müde sind – nur ihrer traurigen, anspruchslosen deutschen Erscheinungsform.

„Das ist der beste Zeitpunkt, eine moderne Serie zu machen“, sagt Remirez. „Es hatte nicht die Lust und den Mut gegeben, neue Serien anzugehen.“ Inzwischen würde aber viel mehr Mut dazugehören, das weiterzuführen, was nur mittelmäßig gelaufen ist. Der Begriff „Qualität“ taucht plötzlich wieder in Gesprächen mit Privatfernsehleuten auf — und anscheinend nicht nur als PR-Floskel, sondern als Synonym dafür, gute Drehbuchautoren zu beschäftigen, sich Zeit zu nehmen, Figuren zu erschaffen, die eine Tiefe haben, und Konflikte zu erzählen, die nicht nur Scheinkonflikte mit eingebautem Happy-End sind.

Für den Anfang hat Sat.1 eine Abkürzung gewählt. Die Serie „Bis in die Spitzen“, die morgen beginnt, ist eine Adaption der BBC-Serie „Cutting it“ – allerdings eine offizielle, kein heimlicher Abklatsch mit den damit verbundenen Kompromissen. Es ist die Geschichte der schicksalhaften Verbindungen zwischen zwei Paaren, die konkurrierende Edel-Friseursalons in Berlin betreiben. Der Stoff ist der, aus dem Seifenopern sind: sexsüchtige Männer, überehrgeizige und doch verletzliche Frauen, fiese Intrigen und überraschend auftauchende Kinder. Erst Inszenierung und Besetzung machen daraus eine außergewöhnliche dramatische Serie, die sich ernst nimmt und eine erstaunliche Sogwirkung entfaltet.

„‚Bis in die Spitzen‘ ist eine Serie, wie sie Sat.1 noch nicht gehabt hat“, sagt Remirez. „Es gab selten eine solche Wucht an Schauspielern in einer Serie.“ Die Hauptrollen spielen Jeanette Hain und Muriel Baumeister, Tobias Oertel und Ralph Herforth. Für gute Serienkonzepte, das sagen alle, kann man inzwischen die erste Garde deutscher Schauspieler gewinnen – das sei vor ein paar Jahren noch ganz anders gewesen. Auch insofern half es „Bis in die Spitzen“ wohl, daß es ein Original zum Vorzeigen gab. Dann mußten Sender und Produzent nur noch die Wunschschauspieler und -regisseure überzeugen, daß man das in der gleichen Qualität umsetzen wolle.

Der Sender Sat.1 entwickelt zur Zeit nach eigenen Angaben mehr Serien als je zuvor. Ungefähr zehn neue Formate sind in Arbeit. Mit der x-ten Variante eines odd couples soll Fiction-Chefin Remirez dabei keiner kommen; als Erfolgsrezept gilt auch, dem Zuschauer möglichst wenig Anlaß zu dem Gefühl zu geben, daß ihm die Konstellation irgendwie bekannt vorkommen könnte. Und es darf durchaus so etwas geben wie Relevanz, Ernsthaftigkeit, Fallhöhe. Remirez formuliert es vorsichtig so: „Es gibt zwei Fernsehtrends zur Zeit. Der eine ist der totale Eskapismus. Aber der andere ist, im Gegenteil, einen Hauch von dem aufzunehmen, was um uns passiert.“

Christiane Ruff, Chefin der Sony-Pictures-Fernsehproduktion, sagt es deutlicher: „Die Zuschauer wollen auch dahin gehen, wo es weh tut.“ Ruff war bislang Spezialistin für Comedyserien wie „Ritas Welt“, aber heute stellt sie fest: „Die Leute sind des Lachens müde geworden.“ Der Eskapismus habe neue Formen gefunden, vor allem die Telenovelas. Doch daneben gebe es ein wachsendes Bedürfnis, die Abgründe des Lebens im Fernsehen wiederzufinden. „Die Menschen haben kein Problem mehr, sich die krasse Realität im Fernsehen anzusehen. Sie ertragen ein Abbild der Wirklichkeit, auch wenn es Schläge in die Magengrube sind.“ Was sie nicht ertragen, seien Seichtigkeit und Mischkost.

Sony produziert für RTL gerade „Die Familienanwältin“, eine oft unbequeme, beklemmende Serie, unübersehbar im Hier und Jetzt verankert. „Sie zwingt den Zuschauer permanent dazu, eine moralische Haltung einzunehmen“, erklärt Ruff, „befriedigt ihn darin aber nicht unbedingt immer.“ Ob das Publikum den Mut honoriert, auf leichte Lösungen und ein tröstliches Happy-End zu verzichten, weiß natürlich niemand. „Die Bereitschaft, etwas auszuprobieren, ist in den Sendern da“, sagt Ruff, „aber auch Angst: Können wir das den Zuschauern zumuten?“

In Barbara Thielen haben Produzenten, die das Düstere und Tiefe nicht fürchten, neuerdings eine Komplizin bei RTL. Die Produzentin der bestechenden Sat.1-Krimireihe „Der Elefant“ ist seit einem Monat Fiction-Chefin bei dem Kölner Sender. „Es geht nicht unbedingt um ernste Serien“, sagt sie, „aber es geht darum, das Publikum ernst zu nehmen.“ Und: „Wir müssen durch alle Genres gehen und nach modernen Formen der Umsetzung suchen.“ Daß sie nun bei RTL verantwortlich ist, wird man erst später im Programm sehen können. Aber viel spricht dafür: Man wird es sehen können.

Sogar an Pro Sieben geht der Trend zur eigenproduzierten Serie nicht vorbei. „Nach dem vorübergehenden Boom spekulativer Reality-Formate ist wieder ein großes Bedürfnis nach starken fiktionalen Inhalten zu spüren“, sagt Christian Balz, Leiter „Deutsche Fiction“. Angesichts „neuer, erzählerisch aufregender Formate“ hätten viele deutsche Serien plötzlich „völlig verstaubt“ gewirkt: „Ein Innovationsschub in der deutschen Serienlandschaft war also überfällig.“ Die punktuellen Pro-Sieben-Eigenentwicklungen sollen aus der Lebenswelt der Zuschauer erzählt sein und den Sender „anfaßbarer machen“: „Das Tempo unserer Serien ist flotter als üblich, und der Look muß hochwertig sein und darf gegenüber den Standards der US-Serien nicht abfallen.“ Ob die gewünschte „emotionale Sogwirkung“ allerdings ausgerechnet mit der „Sex and the City“-Kopie namens „Alles außer Sex“ erreicht wird, bezweifeln viele.

Und doch: Von vielen Seiten sickert neues Leben in die deutsche Serienwelt, und sogar gelegentlich das wahre Leben. Nur die Öffentlich-Rechtlichen, für die Begriffe wie „Qualität“ und „Innovation“ doch eine Bedeutung haben müßten, scheinen merkwürdig unbeteiligt. ARD und ZDF fahren mit ihren herkömmlichen, hausbackenen Familienserien zu gut, als daß sie große Experimente wagen würden. Im Ersten gibt es immerhin eine Aufgabenteilung: Auf dem Serienplatz am Hauptabend laufen die biederen „Dr. Kleist“ und „Um Himmels Willen“ – am Vorabend, ermuntert durch den wunderbaren Erfolg „Berlin, Berlin“, moderne, junge Formate.

Nur das ZDF traut sich jenseits der inflationären „Soko“-Reihen selten, sich mehr als einen halben Schritt vom „Landarzt“ wegzubewegen. Erfolge feiert der Sender ausschließlich im Konventionellen – um den Preis, ein Serienpublikum, das „Six Feet Under“ liebt, unbefriedigt zu lassen. In dieser Woche begann man mit der Ausstrahlung einer sehr egalen Hotelserie (!) mit Ralf Bauer (!), der man nicht anmerkte, ob sie nicht vor zehn Jahren schon gelaufen ist. In zehn Jahren wird sie garantiert nicht mehr laufen.

Kuscheln mit Politikern ist nicht

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Sie will nicht im Salon kellnern, sondern hart an der Wirklichkeit arbeiten: Maybrit Illner fragt sich für das ZDF durch.

Sie hat diese unangemessen gute Laune. Sitzt da zwischen alten Männern, die miteinander über Renten, Reformen und Regierungskoalitionen streiten, und ihre funkelnden Augen und ihre Körperhaltung zeigen: Sie vergnügt sich. Nicht daß sie die Probleme, um die es geht, nicht ernst nähme. Sie weiß einfach: Dies ist eine Fernsehsendung. Hier geht es nicht nur darum, daß sich Menschen unterhalten, sondern auch darum, daß Menschen unterhalten werden. Sie selbst eingeschlossen. Fast erinnert Maybrit Illner darin an Michel Friedman, von dessen Aggression sie nichts hat, aber dem man auch immer die Lust am Streit ansieht, an politischen und rhetorischen Auseinandersetzungen.

Schelmisch ist ihr Lächeln in der Sendung – der größtmögliche Gegensatz zum abgeklärten, wissenden Lächeln von Sabine Christiansen. Die Talkmasterin der ARD, deren Sendung aus unerfindlichen Gründen immer noch viel mehr Zuschauer erreicht, strahlt in ihren Männerrunden das Gefühl aus: Hey, wir hier oben wissen längst, wie Deutschland zu retten wäre, aber kauen wir den Stoff einfach noch einmal durch. Maybrit Illner strahlt in „Berlin Mitte“ das Gefühl aus: Gut, vermutlich werden wir Deutschland mit dieser Gesprächsrunde nicht retten, aber laß uns wenigstens ein paar ketzerische Fragen stellen, zusehen, daß wir den einen oder anderen Teilnehmer aus der Reserve locken und uns und die Welt nicht langweilen.

Während Sabine Christiansen mit jeder Pore und Party demonstriert, daß sie Teil des politischen Establishments ist, strengt sich Maybrit Illner an, das Gegenteil zu vermitteln. Inzwischen ist sie viel zu wichtig, als daß sie tatsächlich den politischen Betrieb wirklich noch von außen betrachten könnte und nicht von innen. Und Menschen aus ihrer Umgebung berichten, daß sie keineswegs gefeit ist vor den Veränderungen, die Leute durchmachen, wenn sie prominent werden; vor der Gefahr, sich zu wichtig zu nehmen. Aber trotz allem scheint sie mehr Wert als andere auf einen gewissen Abstand zu legen. Und sei es durch gute Laune und Ironie.

Sie kann aber auch staatstragende Sätze zum Thema formulieren: „Es besteht ja grundsätzlich die Gefahr, daß der Zuschauer politische Talkshows nur als einen Salon wahrnimmt, in dem sich die politische Elite zum Plaudern trifft. Diesem Eindruck muß man entgegenwirken, mit jeder Sendung, jeder Frage. Wir verstehen uns nicht als Programmkellner, die auf silbernen Tabletts nette Fragen servieren. Und wir laden nie nur Politiker ein. Diese Gratwanderung müssen wir hinbekommen: einerseits mit den Verantwortungsträgern über ihre Entscheidungen zu diskutieren, andererseits dem politischen Souverän das Wort zu geben – in Gestalt von Fachleuten, Freidenkern und Querdenkern. Das kann nur hinhauen, wenn man sich eben nicht als politischer Salon versteht, sondern als Werkstatt, in der wirklich gearbeitet wird.“

Und was die Nähe zwischen Politikern und Berichterstattern angeht: „Es gibt Kollegen, die schreiben Politikern ihre Biografien, tummeln sich auf deren Privatfeten und coachen sie für Wahlkampfauftritte. Und am nächsten Tag tun sie dann in ihren Blättern so, als wären sie unbestechliche Kritiker. Das sollten deutsche Journalisten endlich mal diskutieren. Wir brauchten einen Verhaltenskodex, wie es ihn bei der ,New York Times‘ gibt. Kuscheln mit Politikern verstößt dort gegen die Hausordnung.“

Maybrit Illner ist 1965 in (Ost-)Berlin geboren und arbeitete nach dem Journalistik-Studium in Leipzig als Sportjournalistin im DDR-Fernsehen. Nach der Wende moderierte sie dort ein Reisemagazin und das „Abendjournal“. Schließlich wurde sie Reporterin im ZDF-Morgenmagazin und 1998 dessen Leiterin, vertrat Ulrich Kienzle in „Frontal“ und bekam 1999, als der Sender beschloß, das Feld der politischen Talkshow nicht mehr allein der ARD zu überlassen, überraschend die Moderation von „Berlin Mitte“. Das ist nicht gerade der typische Werdegang eines politischen Journalisten, und es ist ein großes Glück für Illner, daß ihr dieser ungewöhnliche Hintergrund einerseits hilft, positiv aufzufallen, und sie andererseits nicht als „Dreifachquote“, wie sie sagt, wahrgenommen wird: „Jung, aus dem Osten und auch noch Frau.“

Sie hat gerade ein Buch herausgegeben über „Frauen an der Macht“. Dabei war das eigentlich gar nicht ihr Thema. „In der DDR war es für gewöhnlich kein Drama, nicht als Mann auf die Welt zu kommen. Mein Bruder und ich hatten eine sehr selbstbewußte Mama, die uns immer das Gefühl gegeben hat, daß wir zwar ihre Augäpfel sind, aber daß sie neben uns schon noch andere Hobbys hat. Sie hat uns vorgelebt, was Emanzipation im Alltag bedeutet. Insofern war meine Weltsicht nicht geprägt durch die Erfahrung von trotziger Selbstbehauptung und Geschlechterkampf. Nach der Wende kamen dann — mit einem gewissen Erfolg — ständig Fragen nach meiner spezifisch weiblichen Sicht auf die Dinge. Die ich eigentlich gar nicht hatte. Also habe ich meinen Blick scharf gestellt und mich umgesehen. Und die gesellschaftliche Realität hierzulande sieht immer noch so aus: zu wenig Professorinnen, Politikerinnen in Spitzenpositionen, viel zuwenig Frauen in Vorständen und überhaupt in politisch und gesellschaftlich relevanten Positionen. Und da das so ist, denke ich mittlerweile über meine ’spezifisch weibliche Sicht‘ öfter mal nach.“

Daß es auf dem Fernsehschirm inzwischen keinen Mangel an Frauen mehr gibt, erklärt sie mit typischem Spott: „Ende der Neunziger gab es so eine Art Aufholjagd. Frauen waren plötzlich nicht mehr nur auf die weichen Themen abonniert. Sie durften Männer-Domänen besetzen und Wirtschaftsmagazine und Nachrichtensendungen und sogar Polit-Talks moderieren. Das Pendel schlug kurzzeitig heftig in die entgegengesetzte Richtung aus und ist jetzt in der Mitte zur Ruhe gekommen. Also kein Grund zur Panik!“

Natürlich hat ihre kokette Art, die meist männlichen Gesprächsteilnehmer aus der Reserve zu locken, viel damit zu tun, daß sie eine Frau ist. Aber als prägend für ihr Berufsverständnis empfindet sie weniger ihr Geschlecht als ihr Alter: „Die Journalisten meiner Generation sind vielleicht einfach pragmatisch. Sie dienen sich keiner Partei an, sind keine verkappten Missionare, sondern verstehen sich als Beobachter, als Informations-Staubsauger und Analytiker. Diese Sorte Journalisten ist schwer erpreßbar.“

Auf über 250 Sendungen hat es „Berlin Mitte“ gebracht, und was die Talkshow im Gegensatz zu ihrem ARD-Gegenstück auch auszeichnet, ist, daß sie nicht erstarrt ist. Seit einem Jahr nutzt sie die Möglichkeit, die Diskutanten mit Zitaten, Zahlen und kleinen Erklärstücken zu konfrontieren, und immer häufiger ist sie Interviewerin von nur einem Gesprächspartner statt Moderatorin von fünf „Quälgeistern“ (Illner). „Wir lehnen uns nicht zufrieden zurück“, sagt sie, „sondern fragen uns: Wie können wir aus unserem spröden Werkstoff – der Politik – ein möglichst ansehnliches Format bauen. Auch eine Talkshow braucht, wenn sie bleiben will, ständige Veränderung.“

Ihre Kollegen stöhnen manchmal über die Besessenheit, mit der sie alles Politische verfolgt, und manchmal ahnt man, daß die Entspanntheit, die sie in ihrer Sendung zeigt, hart erarbeitet ist und eine sehr unentspannte Kehrseite jenseits des Bildschirms hat. Aber vor allem ist Maybrit Illner wohl ein glücklicher Mensch. Spricht man sie auf ihre Entspanntheit an, sagt sie: „Ich glaube, ich habe auch allen Grund dazu. Wovor sollte ich mich fürchten? wäre die Gegenfrage. So elend sich das vielleicht anhört: Es gibt wirklich nichts, worunter ich leide.“

Sie werde immer wieder danach gefragt, was nach „Berlin Mitte“ kommen könnte. „Aber ich finde den Job, den ich momentan mache, überhaupt nicht langweilig. Ich muß mich zu nichts überreden, mich nicht zwingen, Politik aufregend zu finden. Und offensichtlich merkt man mir das auch an. Wie lange das so bleibt, kann ich natürlich nicht sagen. Ich weiß, daß Fernsehen nicht mein ganzes Leben ist“, sagt Maybrit Illner. „Vielleicht nicht mal mein halbes. Und ich bin trotzdem fasziniert von diesem Medium, von seiner Schnelligkeit, Authentizität und Emotionalität.“

Und wenn sie eines Tages doch niemand mehr auf dem Schirm sehen wollte, werde sie das auch verkraften, sagt sie. Dann werde sie das als Wink des Schicksals verstehen und neue Pfade einschlagen, vielleicht mit ihrem Mann Krimis schreiben oder nach London gehen. „Das Leben — vor allem im ZDF ist bekanntlich eine Telenovela. Das gilt auch für ‚Maybrit – Wege zum Glück‘.“

Martin Reinl

Der Herr der Monster. Wiwaldi & die Kassler-Zwillinge: Martin Reinl läßt seine Puppen herrlich schlechte Witze machen

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Wer kann das schon sagen, als Dreißigjähriger, daß er nun wirklich lange genug die anspruchsvollen Rollen gespielt hat?

Martin Reinl kann das sagen. Drei Jahre lang hat er sie gespielt: die zickige Küchenrolle, die grummelige Klopapierrolle, die langweilige Nackenrolle und den unterschätzten kleinen Rollmops. Auf einem Putzwagen saßen sie und unterhielten sich mit den Gästen in der WDR-Show „Zimmer frei“, immer bereit, durch angemessen schlechte Laune zu demonstrieren, daß das alles hier eigentlich unter ihrem Niveau ist. Die Küchenrolle gestand Katja Riemann, daß sie ihr ganz, ganz großes Vorbild sei, schon seit ihrem Auftritt damals als „Das Superweib“, und als Riemann schüchtern darauf hinwies, daß sie das gar nicht gewesen sei, erwiderte die Küchenrolle: „Ach. Dann sind Sie auch gar nicht mein Vorbild.“ Sie pöbelten Udo Jürgens an, weil der nicht sofort begriff, daß er zum Klavier gehen sollte („Wer hat den denn hier reingelassen?“), und brachten Alice und Ellen Kessler dazu, für sie zu tanzen. Aber im vergangenen Jahr haben sich die vier Rollen dann doch tränenreich verabschiedet und das Angebot angenommen, zu diesem Lars Vegas in die Vereinigten Staaten zu ziehen.

Seitdem hat Wiwaldi ihren Platz eingenommen, ein brummiger Hundeflokati, der die Gäste blöde von der Seite anmacht, und Martin Reinl versteckt sich nicht mehr hinter dem Putzwagen, sondern hinter dem Sofa, vor sich einen Monitor, auf dem er verfolgt, was seine Hände oben machen. (Einmal, als er sich da verrenkte, raunte ihm Moderatorin Christine Westermann gut gelaunt zu, daß er den Job ja in zehn Jahren wohl auch nicht mehr machen könne.) Dieser Wiwaldi jedenfalls hat dem unrasierten Thomas Fritsch erzählt, daß er häufig mit ihm verwechselt werde. Dem Fernsehkoch Tim Mälzer wollte er ein lustiges Gespräch über den Hang der Chinesen aufdrücken, Hunde zu kochen. Mälzer ließ keinen Zweifel, daß das kein Thema war, über das er scherzen wollte, aber das bremste Wiwaldi kaum. Doch, doch, sagt Martin Reinl später, er habe Mälzers Unwillen gleich bemerkt. Aber er hätte halt unterm Sofa einen ganzen Din-A4-Zettel voller wunderbarer Hunde-im-Essen-Kalauer bereitliegen gehabt…

Ein „Kalauer-Fetischist“ sei er, sagt Reinl. „Sobald mir was einfällt, schreibe ich es auf.“ Er müßte das eigentlich nicht erklären – man muß nur ein paar Minuten einen seiner Auftritte gesehen haben, um ähnliches zu ahnen, etwa wenn Wiwaldi von den befreundeten Schweinen auf dem Bauernhof erzählt: den „Kassler-Zwillingen“. Schon daher ist es ein großes Glück, daß Reinl nicht einfach Komiker geworden ist, sondern auch Puppenspieler. Ein menschlicher Erzähler wäre längst von der Witzpolizei verhaftet worden, aber einem orangeflauschigen „Haselhörnchen“, einem schmutzigbeigen „Jammerlappen“ oder gar einem violetten Riesenmonster, das als Fernsehprogramme fressender „Serienkiller“ eigentlich ein eigenes Theaterstück bekommen sollte, verzeiht man vieles. So wie die Prominenten in „Zimmer frei“ ihm auch die Pöbeleien nie wirklich übel genommen hätten, erzählt Reinl. „Das warst doch nicht du“, hat er häufiger gehört, wenn er nach der Sendung kam, um sich zu entschuldigen.

Seine Monster baut er alle selbst. Schon als Kind hat er seine Teddybären aufgeschlitzt, um nachzusehen, was für ein Material darinsteckt, und auszuprobieren, wie die Schnauze verstärkt sein muß, damit man das Tier mit der Hand zum Sprechen bringen kann. Später hat er sogar die Original-Muppets von Jim Henson begutachten dürfen, die den Stil seiner eigenen Kreaturen unübersehbar prägen, und festgestellt, daß die aus ganz normalen Alltagsgegenständen hergestellt werden – und sich selbst an die Arbeit gemacht. Fortan bastelte er aus Schaumstoff, auf links gezogenen Pullovern und Tischtennisbällen eigene Puppen, kaufte sich eine alte Kamera und drehte kleine Filme. Alle Projekte, die er während seines Studiums an der Kölner Hochschule für Medien machte, hatten mit Puppen zu tun. Und als die Redaktion von „Zimmer frei“ jemanden suchte, der mit lustiger Stimme das Bilderrätsel der „anspruchsvollen Rollen“ sprechen sollte, nutzte er natürlich die Gelegenheit und baute – was eigentlich gar nicht verlangt war – gleich entsprechende Puppen. Nach und nach integrierte er die vielen Monster dann auch in sein Stand-up-Bühnenprogramm.

Vor drei Jahren hat Reinl für Super-RTL das Haselhörnchen als Maskottchen für dessen Kinderprogramm „Toggo TV“ entworfen. Die Haselhörnchen-Szenen sind anders als ähnliche Figuren im Kinderfernsehen: Es sind keine statischen Puppe-hinter-Schreibtisch-Situationen, sondern Szenen voller Aktion, inszeniert nicht wie kindische Pausenfüller, sondern als Miniaturfilme – und natürlich voller Mut zum Wahnsinn. „Wir denken nicht darüber nach, worüber Kinder lachen würden, sondern machen, worüber wir lachen“, sagt Reinl. Das ist für die besorgten Kinderprogramm-Menschen von Super-RTL manchmal ein bißchen beunruhigend, und es gibt eine klare Regel: „Nichts darf einzeln abgefressen werden.“ Ganz gefressen zu werden, geht aber in Ordnung, am liebsten natürlich so, daß man das Haselhörnchen hinterher noch aus dem Bauch so etwas sagen hört wie: „Mensch, hier muß ich erst mal ein paar Bilder aufhängen.“

Wenn man mit Martin Reinl spricht und er gerade zufällig eine seiner Puppen auf dem Arm hat, ist es schwer, sich nicht mit ihr statt ihm zu unterhalten. Sie gucken einen mit leicht wirrem Silberblick direkt an, und auch wenn Reinl als er selbst redet, und nicht als das Monster auf seinem Arm, werden sie nicht leblos: Er läßt sie den Kopf ein kleines bißchen schieflegen oder den Mundwinkel kaum merklich zucken, und es ist unmöglich, sich ihrem Charme und ihrer Lebendigkeit zu entziehen. Dazu kommt sein Talent, verschiedenste Stimmen zu modulieren, und seine Improvisationsfähigkeit, und man fragt sich plötzlich, warum er (oder Wiwaldi oder die Spaßbremse oder eine seiner Dutzenden anderen Figuren) nicht längst eine Abendshow im deutschen Fernsehen hat. Er selbst fragt sich das auch und klappert seit Monaten die Sender ab, „aber die haben immer noch Schiß“, sagt er. Und es hilft nicht, wenn er darauf hinweist, daß die „Muppet Show“ ein weltweiter Erfolg war und überall außer in Deutschland im Abendprogramm lief. Nach dem Erfolg von internationalen Puppensendungen für Erwachsene wie „Crank Yankers“ gab es eine gewisse Bereitschaft, Puppen ins Fernsehen zu bringen, die kiffen oder Sex haben, aber das ist eigentlich nicht, was er meint. „Mir geht es um Puppen, die sich wie Menschen aufführen, mit echten Gefühlen und Konflikten.“

Vielleicht klappt es ja mit nicht ganz so echten Gefühlen und Konflikten: Im Angebot hat Reinl auch die überfällige erste Puppen-Telenovela.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ein Talktraum

Eine andere Frau für den Sonntagabend: Sat.1 schenkt uns Bettina Rust.

Für eine Frau, die gerade vor dem größten Karrieresprung ihres Lebens steht, ist Bettina Rust erfrischend morbide. Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn sie gleich beim Verlassen des Restaurants von einem Auto überfahren würde und die ganzen 183 Artikel, die über sie und ihren neuen „Talk der Woche“ erschienen sind (Stand letztes Wochenende), mit einem Mal für die Katz wären – „das ist so eine lustige virtuelle Welt“. Sie malt sich aus, daß sie heute abend in der Live-Sendung von einer spontanen Gesichtslähmung befallen wird, und überlegt sich, ob das die zu erwartenden Verrisse am Dienstag überhaupt noch negativ beeinflussen könnte. Und wenn man sie fragt, ob sie froh ist, daß in ihrer ersten Sendung neben den beiden Alpha-Männchen Harald Schmidt und Otto Schily auch der Frauenversteher Giovanni di Lorenzo zu Gast ist, antwortet sie: Ja, „weil der dann die Moderation übernehmen kann, wenn ich ohnmächtig werde. Mein Lieblingsszenario ist, daß ich ausrutsche, auf Schilys Schulter kippe und seine Personenschützer mich dann erschießen.“

Vielleicht ist Bettina Rust gleichzeitig der bestgelaunte und negativste Mensch der Welt. Fröhlich erzählt sie, wie sie das Angebot von Sat.1-Geschäftsführer Roger Schawinski, die neue Sonntags-Talkshow des Senders zu moderieren, immer wieder ablehnte, bis ihr Freunde sagten, „was läßt du dich denn so bitten, bist du bekloppt: Wenn man mit sie-ben-und-drei-ßig noch so ’ne Chance kriegt . . .“

Und obwohl sie das schon ein Dutzend Mal gefragt worden sein muß, hat sie immer noch keine richtige Antwort, warum sie dann doch ihre ganzen Bedenken über Bord geworfen hat (einmal abgesehen von dem Satz: „Ich hab‘ meine Anteile an einem Hundesalon verkauft und mich dann gefragt, wo kommt denn jetzt die Kohle her“). Aber auf die ernste Frage, worauf sie sich freut bei diesem Abenteuer, was das Tolle daran ist, folgt eine lange, lange Pause. „Ist doch klar“, sagt sie danach, und die Pause geht weiter. „Liegt doch auf der Hand.“ Pause. „Lustigerweise fällt mir nur ein, was andere sagen: Ist doch eine Chance! Ist doch eine Herausforderung! Wenn ich ein bißchen ehrgeiziger wäre, dann würde mir klar sein: Das ist der Job, den wollten ganz andere Leute haben, ganz tolle Journalisten.“

Und Ulrich Meyer. Man muß sich den „Akte“-Moderator vorstellen, der von neun getesteten Moderatoren der einzige war, der neben Rust in die engere Wahl kam, was er einem in diesem Moment alles erzählen würde: von seiner Kompetenz, seiner Erfahrung, davon, daß es für ihn Zeit war, diesen neuen Schritt zu gehen, den er sich zutraut, absolut. Und dann sitzt da statt dessen diese Frau, die in den vergangenen Jahren Texte für das Sat.1-Frühstücksfernsehen gesprochen und einmal die Woche eine Radiosendung moderiert hat, und sagt: „Das Leben war ganz gut so. Die Sprecherarbeit war in Kombination mit Radio Eins echt eine schöne Sache. Vorbei. — Jetzt bin ich Weltstar geworden.“

Nach dem letzten Satz hält sie dann inne und scheint die Sekunden zu zählen, bis ihre Gegenüber ihn begriffen haben. Auf die Frage, wie ihr Journalisten begegnen, antwortet sie: „Im Moment ist da eine gewisse Neugier. Die Leute glauben noch nicht hundertprozentig, daß ich es an die Wand fahre.“

Die selbstironischen Sprüche von Bettina Rust wirken auf eine merkwürdige Weise gar nicht kokett. Dazu scheint hinter ihnen zuviel ernsthafte Distanz zu liegen: zu sich selbst, ihrer Arbeit, der ganzen Branche. Sie traut dem Ganzen nicht. Es ist keine Unsicherheit, die sie ausstrahlt, ganz im Gegenteil: offensiv geht sie auf die Menschen zu. Aber die Gespräche mit ihr scheinen von einer elementaren Skepsis durchzogen: „Ich beneide Menschen, die ganz oft sagen: Ja, ist das toll! Die die totale Befriedigung und so einen Kick erleben. Den hatte ich noch nicht oft in meinem Leben. Ich war dankbar, als ich ihn in meinem Studium hatte, als ich einen Radioworkshop mitmachte und zum ersten Mal in meinem Leben dachte: Ja, Radio! Es könnte Radio sein! Ich wußte nie, was ich werden sollte. Andere wußten das schon mit zwölf.“

Seit ihrem 15. Lebensjahr hat sie in der Kneipe gearbeitet. Das kann man sich gut vorstellen, genau so ein Typ ist sie: auf eine burschikose Art attraktiv, ein bißchen taff, ein Profi im Spiel mit dem unbekannten Gegenüber, zwischen Frotzeln und Flirten.

Nun wird sie Talkmasterin. Sie war das schon einmal, vor zwölf Jahren, als sie auf Premiere die Sendung „0137 Night Talk“ moderierte und mit unbekannten Anrufern über Gott, Sex und die Welt plauderte. „Damals ist man mir mit viel Wohlwollen begegnet, wurde meine ,Authentizität‘ gelobt, wo ich schon dachte: Wie absurd ist das? Wo bin ich denn hier reingeraten? Das jetzt ist natürlich eine andere Liga. Manche sagen, das sei sogar erste Liga.“

Okay, das war jetzt kokett. Natürlich weiß sie, daß ihre Gesprächssendung eine der wichtigsten für Sat.1 in diesem Herbst ist, jedenfalls was das Image des Senders angeht, und daß sie ununterbrochen mit Sabine Christiansen verglichen werden wird, weil sich beide Sendungen ein bißchen überschneiden, auch wenn der „Talk der Woche“ ganz anders sein soll: schnell, unterhaltsam, eine Art gehobener Stammtisch, an dem drei Prominente über vier in weitestem Sinne gesellschaftspolitische Themen reden. Wenn alles gutgeht, wird sie bald das sein, was man „A-Promi“ nennt. Mit Folgen, die für jemanden wie sie vielleicht nicht nur angenehm sind. „Ich hoffe, daß ich von Anfang an gar nicht so reizvoll bin, daß man auf die Idee kommt, irgend so einen Paparazzo auf mich anzusetzen, der guckt, ob ich im Parkverbot stehe (ja, tue ich in der Regel!), ob ich bei H&M einkaufe (immer!), ob ich auf Flohmärkte gehe und damit gebrauchte Dinge in mein Leben lasse (ja!).“

An Fotoshootings hat sie sich noch nicht gewöhnt („der totale Horror. Ich pose nicht gut, und ich pose nicht gerne“). Und daran, sich im Fernsehen zu sehen. Vor der Kamera fühlt sie sich deshalb nicht unwohl, sagt sie, weil sie nicht sieht, was dabei herauskommt. „Ich möchte mir keine Sendung mit mir angucken“ – sonst würde sie nur jede Kleinigkeit an sich selbst und an ihrer Arbeit kritisieren. Viele Leute raten ihr in diesen Tagen, selbstbewußter aufzutreten, aber sie sagt: „Was ich tue, ist sehr selbstbewußt. Es ist vielleicht nicht einhundert Prozent selbstsicher. Mir ist sehr wohl bewußt, daß es auffliegt und daß ich mir keinen Gefallen tue, wenn ich mich verstelle und einen auf dicke Hose mache.“

Die Sendung „Hörbar Rust“ auf Radio Eins, die sie auch in Zukunft moderieren wird, nennt sie „ein Geschenk“. Zwei Stunden lang plaudert sie mit einem prominenten Gast und erfüllt seine Musikwünsche. Der Sendung fehlt alles Spektakuläre, außer daß sie – an guten Tagen – ganz außerordentlich entspannt und entspannend ist.

So unangestrengt muß sie auch im „Talk der Woche“ sein, wenn er gut werden soll. Gerade ihre unstrukturierte Art zu fragen, soll bei Schawinski angekommen sein, das Fehlen jeder wissenden Attitüde, das gut vorbereitete, aber dann einfach laufende Gespräch. Das wird vermutlich nicht auf Anhieb gelingen, drei, vier Sendungen brauche sie bestimmt, sagt Bettina Rust. Vorher sind da noch zu viele Erwartungen, zuviel Anspannung und, natürlich, zuviel Skepsis. „Ich muß da reinfinden. Ich muß das finden, was andere in mir sehen. Ich kann das nicht einfach aktivieren, sondern ich weiß, das kommt, wenn ich entspannt bin. Und ich hoffe, daß es dazu kommt.“

Und dann sagt sie noch den Satz: „Aber wenn die Sendung ,Talk der Woche‘ und Bettina Rust richtig gute Freunde werden, dann werde ich glühen wie eine Lampe.“

Das würde man gerne erleben. So eine wie sie hat dem Fernsehen gefehlt. Jetzt muß nur noch die Sendung gut werden, und wenn nicht die erste, vielleicht die dritte oder vierte. Einige Monate Durchhaltevermögen hat Schawinski versprochen. In die Testsendungen und Proben durfte man nicht reinschauen — die Nervosität beim Sender ist groß. Aber wenn er auf Nummer Sicher gehen wollte, hätte er gleich Ulrich Meyer nehmen können.

Wieso Keas Motorräder fressen

Die Welt

Wir waren gewarnt. Schon im Motorradverleih in Christchurch haben sie uns nicht eher mit einer Honda Transalp und einer BMW F650 GS vom Hof rollen lassen, ehe sie mit dickem Filzstift in einer Karte die Orte eingezeichnet hatten, an denen sich der Kea gerne herumtreibt. Wir bekamen Faltblätter, und an den Wänden hingen Steckbriefe, die zeigten, wie der Feind aussieht, vor dem wir uns in Acht zu nehmen hatten: ein grüngefiederter Bergpapagei. Ein bißchen stämmig vielleicht und mit beeindruckendem Schnabel, aber ein Vogel.

Ich habe in den vier Jahren, die ich Motorrad fahre, Respekt vor vielem gelernt: vor Öl und Schotter, vor Kurven und Ausfahrten, vor Autofahrern sowieso und in diesem vierwöchigen Motorradurlaub in Neuseeland ganz speziell vor deren Verkehrsregeln, die entgegenkommenden, abbiegenden Fahrzeugen, die die eigene Spur kreuzen, in bestimmten Fällen Vorfahrt einräumen, was für einen mitteleuropäischen Motorradfahrer ebenso unverständlich wie lebensgefährlich ist. Aber ein Vogel? Welcher Motorradfahrer hat Angst vor einem Vogel?

Unsere Überheblichkeit schwand, als wir uns den südlichen Alpen Neuseelands näherten und immer häufiger Leute trafen, die den Kea kannten. Die nicht nur um seine beunruhigende Leidenschaft für Gummi wußten und um seine Fähigkeit, Scheibenwischer von Autos in kürzester Zeit auf ein trauriges Metallgestänge zu reduzieren und komplette Sitzbänke von Motorrädern zu entfernen, sondern die ihn bei der Arbeit beobachtet hatten.

Effizient organisierte Arbeit, wie sie versicherten. In Gruppen lauere er auf den Parkplätzen den Touristen auf. Einmal, erzählte uns ein Neuseeländer, habe er beobachtet, wie drei, vier Keas mit ihren drolligen Hüpfbewegungen die Besitzer eines Autos abgelenkt hätten, während hintenrum ein einzelner sich unbemerkt am Wagen zu schaffen machte. Das klang beunruhigender als die Horrorgeschichten von neapolitanischen Taschendieben. Zum ersten Mal spielten wir mit dem Gedanken, den Besuch des grandiosen Franz-Josef-Gletschers abzusagen und die ganze Gegend weiträumig zu umfahren.

Natürlich sind wir doch hingefahren. Ich weiß nicht mehr, was wir zuerst gesehen haben, als wir den Parkplatz erreichten: Die Vögel, die Menschen, die sie fütterten, oder die großen Schilder, die die Menschen davor warnten, die Vögel zu füttern.

Schlagartig war uns klar, daß diese wohlgenährten Tiere auf das Gummi unserer Maschinen nicht aus Not aus waren, sondern aus reiner Bösartigkeit. Möglicherweise aus Langeweile. Wie eine Jugendgang, die auf dem Dorfplatz herumlungert und die Fremden vergrault, weil sie nichts besseres zu tun hat, und einfach: weil sie es kann.

Der Parkplatz war voll von intelligent aussehenden Flauschtieren, die mit den Autobesitzern Tänze veranstalteten: Du einen Schritt vor, ich einen Schritt zurück. Theoretisch waren sie niedlich. Aber wir sahen in ihnen nur noch die Hooligans, die unsere Motorräder fressen wollten.

Wir haben dann den Franz-Josef-Gletscher nicht richtig angeschaut. Wir waren nur zu zweit, und einer mußte ja immer bei den Maschinen bleiben.

ZDF.reporter

Tatütata, das ZDF ist da. Die “ZDF.reporter”, die nächste Woche ihre 150. Sendung feiern, kämpfen unermüdlich für Recht und Ordnung

Zu den wirklich drängenden Problemen unserer Zeit gehört der Mittelspurschleicher. Tag für Tag blockieren sie die Autobahn: junge Frauen, die Angst haben, die Spur zu wechseln; alte Männer, die glauben, die rechte Spur sei nur für Laster; blöde Mercedesfahrer, die meinen, sie hätten es nicht nötig. Egal, wie dicht wir auffahren oder wie knapp vor ihnen wir demonstrativ auf die rechte Spur ziehen, sie werden nicht weniger: die Mittelspurschleicher.

Im Mai nahm sich „ZDF.reporter“ des heiklen Themas an. Ein Reporter fuhr mit zwei Polizisten auf der A5 und war erschüttert: „Schon nach kurzer Zeit haben sie einen Kleintransporter im Visier, der partout nicht wieder auf die rechte Spur einscheren will. Ein typischer Mittelspurschleicher.“ Wenig später: „Ein Mercedesfahrer blockiert seit sechs Kilometern die Mittelspur.“ Und dann: „Ein Golf bleibt stur in der Mitte, und das schon seit mehr als acht Kilometern. Ein notorischer Mittelspurschleicher.“ Alles doppelt auf Video festgehalten: von der Polizei und vom ZDF. Junge Frauen, alte Männer, blöde Mercedesfahrer. Neun Minuten Mittelspurschleicher pur.

So was sieht man ja sonst nicht im Fernsehen. Auch nicht bei „ZDF.reporter“. Sonst jagen die mit der Polizei Raser und Drängler, Motorradfahrer, böse Laster und betrunkene Jugendliche, wieder Raser und Drängler, noch mal Motorradfahrer und sicherheitshalber ein weiteres Mal Raser und Drängler. Kaum eine Ausgabe, in der die Reporter nicht mit der Polizei auf Streife gehen: im Videowagen oder zu Fuß, in Uniform oder in Zivil. Und wenn es keine Polizisten sind, die begleitet werden, dann andere Kontrolleure.

„ZDF.reporter“ ist das mit Abstand monotonste Magazin im deutschen Fernsehen. Es nimmt die Welt fast ausschließlich aus der Perspektive von Ordnungshütern wahr. Andere Menschen kommen nur als reuige Sünder oder uneinsichtige Missetäter vor, bestenfalls als Zeugen oder zu Unrecht Verdächtige. Es sind oft Bagatelldelikte, die im Mittelpunkt stehen, aber bei „ZDF.reporter“ ist klar, daß es keine Bagatelldelikte gibt: Es geht um Recht und Ordnung, im Kleinen wie im Großen, und wenn man genug Sendungen gesehen hat, beginnt man selbst zu glauben, daß der Unterschied zwischen einem Menschen, der achtlos eine Bananenschale wegwirft, und einem Terroristen möglicherweise nur in Nuancen besteht.

Die Reportage „Sommer, Sonne, Sittenwächter: Ordnung muß sein – auch beim Sommerspaß“ beginnt am Isarufer. „Grillen ist hier nur in ausgewiesenen Bereichen erlaubt, Lagerfeuer grundsätzlich verboten“, erklärt der Reporter. Er begleitet zwei Wachleute: „Ihnen entgeht nichts. Die Sicherheitsleute nähern sich vorsichtig. Pirschen sich im Schutze der Bäume an die illegalen Griller heran.“ Natürlich werden sie gestellt. Der Bericht endet mit den Worten: „Die Grill-Sheriffs aus München haben das Isarufer im Griff. Hier wird diesen Sommer wohl niemand ein illegales Feuer entfachen.“ Es gibt keinen Hauch von Distanz oder Ironie in den Kommentaren, auch nicht am Ende einer Reportage über Schwarze Nordsee-Sheriffs: „Die Leute vom Wachdienst übernehmen wieder. Ihr Strand soll schließlich sauber bleiben.“

Die Off-Texte klingen wie Sätze aus dreißig Jahre alten „Aktenzeichen XY“-Sendungen oder frühen „Derrick“-Folgen: In der Wohnung eines jungen Kriminellen riecht es „wie in einer Marihuana-Höhle“ (was immer das sein mag). Ein „Sozialschmarotzer“ schläft bis mittags und würde nie putzen, „nicht mal bei sich zu Hause“. Zwei Sechzehnjährige nachts um zwei weit von ihren Wohnungen, klarer Fall: Die müssen Böses im Schilde führen. „Lautes Hundegebell in der Wohnung, nicht gerade ein Zeichen für gute Erziehung.“ Immer heißt es: „Für die Beamten ist er kein Unbekannter“, „die Dunkelziffer ist hoch“ oder: „Frank ist kein Einzelfall“. Und wenn ein Ertappter sprachlos ist, reicht es den Reportern nicht, seine Sprachlosigkeit zu zeigen. Sie müssen sagen: „Er ist sprachlos.“

Die Reportagen übernehmen konsequent die Perspektive der Ordnungshüter. Wie zweifelhaft ihre Entscheidungen sein mögen, wie problematisch die Vorschriften, daran verschwendet „ZDF.reporter“ keinen Gedanken. Hintergründe oder Zusammenhänge gibt es nicht, nur das Hier und Jetzt.

Gejagt werden die Kleinen. Notfalls wird der ZDF-Reporter selbst zum Ordnungshüter: In einem Bericht über eine Gruppe polnischer Fliesenleger genügt es ihm nicht, durch eine Indizienkette zu belegen, daß sie wohl illegal arbeiten, nein, er muß sie auch noch persönlich befragen („Wir haben eigens eine eigene Dolmetscherin mitgebracht!“), was, wie zu erwarten, nichts bringt, außer die Polen noch einmal gründlich bloßzustellen. Das persönliche Elend eines Mannes, der im Supermarkt vier Gänsekeulen geklaut hat, weil er seine Familie kaum zu ernähren weiß, wird von „ZDF.reporter“ gnadenlos ausgestellt. Ein Familienvater und Hartz-IV-Empfänger, an dem es ausnahmsweise nichts zu kontrollieren gibt, putzt für einen Euro die Stunde im Zoo, und der Reporter behauptet, er sei für viele Besucher damit selbst eine merkwürdige Spezies, die man begafft, und filmt ihn in einer Art, daß ihn auch die Fernsehzuschauer so erleben müssen: als ganz armes Schwein.

Daß die Reportage einmal eine journalistische Form war, die den Menschen zeigte, was sie nicht kannten, die Neues erzählte, Überraschendes, Wichtiges, läßt sich bei „ZDF.reporter“ nicht mehr erahnen. Hier passiert nichts, was man nicht erwartet: Motorradfahrer rasen, österreichische Polizisten zocken deutsche Urlauber ab, in Kreuzberg lauert an jeder Ecke die Gefahr, Haschischraucher sind Verbrecher, Verbrecher rauchen Haschisch. Jeder zweite Satz aus dem Off ist wohlfeile Empörung und Verurteilung.

„ZDF.reporter“ ist eine öffentlich-rechtliche Kapitulation. Die Sendung fragt nicht mehr: „Welches Thema hatten wir noch nicht?“, sondern: „Welches Thema sollten wir noch einmal machen, weil es gute Quote brachte?“ Norbert Lehmann, der Redaktionsleiter und Moderator, nennt sein Magazin eine „Nahaufnahme Deutschland“ mit Reportagen „aus dem deutschen Alltag, aus der deutschen Lebenswirklichkeit“. Irgendwie hat er recht: „ZDF.reporter“ ist auf eine sehr kleinkarierte Art das deutscheste Fernsehmagazin. Vielleicht stimmt auch deshalb die Quote einigermaßen: Weil sich die Zuschauer in diesen ungewissen Zeiten zurücklehnen können in dem guten Gefühl, daß wenigstens noch Fahrkarten und Mittelspurschleicher kontrolliert werden.

Ein Thema der Jubiläumssendung am Mittwoch ist der angeblich massive Mißbrauch bei Hartz IV. Es fehle vor allem an: Kontrollen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Merkels Aschenputtel-Strategie

„Es geht um fiktionale Glaubwürdigkeit“: Kommunikationsberater Klaus Kocks über Inszenierungen im Wahlkampf.

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Herr Kocks, wäre es nicht das Beste, die nächsten zwei Monate Wahlkampf einfach zu überspringen? Was soll da schon Spannendes passieren?

Das glaube ich nicht. Solche Wahlprozesse haben zunehmend zwei verschiedene Ebenen. Die eine ist die politisch-programmatische, auf der wir eine gewisse Beliebigkeit erleben. Zum Beispiel beim Thema Mehrwertsteuer. Klassischerweise hätte man gesagt, die SPD ist die tax-and-spend-Partei: Wir heben die Steuern und geben sie schön aus. Wir erleben perplex, daß das jetzt das Konzept der Union ist. Ich finde aber eine andere Ebene des Wahlkampfes viel entscheidender: die fiktionale. Wo Politiker nicht programmatisch wahrgenommen werden, sondern wie Schauspieler als Rollenfiguren. Für diese fiktionale Wahrnehmung, die Hollywood-Ebene der Geschichte, brauche ich wie in einem guten Spielfilm Zeit, weil die Charaktere sich ausdifferenzieren müssen.

Diese Zeit ist jetzt vorgegeben: vermutlich bis 18. September.

Und sie wird unterschiedlich wahrgenommen. Von Schröder mit dem Mut der Verzweiflung mit einer gewissen Lust, weil er glaubt, auf dieser Ebene Punkte machen zu können. Das ist das, was wir halb kritisch und halb vernünftig mal „Medienkanzler“ genannt haben: seine Rollenfigur, sein Rollenkonzept. Da glaubt er, seine Stärken zu haben. Und Merkel glaubt, dort ihre Schwächen zu haben. Beide Annahmen sind richtig. Schröder ist ein Schauspielgenie, Merkel steht vor ihrer Bewährungsprobe. Die Nation hat diese Bewerberin in diesem Rollentest noch nicht gesehen. Merkel ist groß geworden in einer „Heckenschützenrolle“, das heißt, sie hat immer aus der dritten Reihe agieren können. Das ist das Konzept, das sie bei Kohl gelernt hat. Sie hat nie das machen müssen, was man „Rampensau“ nennt. Sie hat sehr geschickt aus dem Hintergrund – oder Hinterhalt, je nach politischer Betrachtung – agieren können. Sie muß jetzt nach vorn. Schröder ist der Meinung – deshalb seine Aufforderung zum Fernsehduell -, daß er seine größeren darstellerischen Fähigkeiten ihr gegenüber zum Vorteil nutzen kann. Auf politisch-programmatischer Ebene ist die Situation klar: 50 Prozent für die Union, 25 für die SPD. Die Zeit, die wir bis zur Wahl haben, wird mit der Ausdifferenzierung der Rollenkonzepte verbunden. Merkel wird versuchen, sich bedeckt zu halten, und Schröder wird versuchen, den Vorhang hochzuheben und ins Staatsschauspiel einzusteigen.

Das heißt, diese Inszenierungen sind auch dann wichtig, wenn scheinbar das Rennen gelaufen ist?

Ja, aus mehreren Gründen. Erstens begründen sie die Reputation der Betroffenen – das ist persönlich wichtig. Zweitens können sie in speziellen Situationen entscheidend sein. Schröder hat seine zweite Bundestagswahl gewonnen, weil dort ein bayerischer Provinzschauspieler und ein niedersächsischer Staatsschauspieler einander gegenüberstanden. Schröder gab zwei große Rollen: den Friedensfürst und den Retter vor der Sintflut, einmal Christophorus, einmal Moses. Wir sehen ihn ja auch immer noch im grünen Bundesgrenzschutzparka vor uns – zu einem Zeitpunkt, als Herr Stoiber, wie ich gehört habe, auf Norderney Urlaub gemacht hat und sich nach stundenlangen Überredungen durch Herrn Spreng entschlossen hat, nach Passau zu fliegen. Der hat gar nichts verstanden. Ein zweites Beispiel für die Rolleninszenierung: Als Schröder über weltpolitische Fragen, über Krieg und Frieden gesprochen hat, hat Stoiber die Arbeitslosenzahlen des Arbeitsamtes Freising referiert. Das ist die zweite Wahrnehmungsebene von Politik.

Und es lohnt sich auch in so aussichtslosen Situationen, daran zu arbeiten, weil Situationen eintreten können, die diese Ebene entscheidend werden lassen?

Um ein negatives Beispiel zu nennen: Der von manchen geschätzte Guido Westerwelle findet aus seiner Rolle des Kaspers nicht zurück. Der Mann hat sich durch ein Inszenierungskonzept ruiniert: Weil er nicht wußte, was heterosexuelle Männer denken, wenn sie Wohnmobile am Straßenrand sehen. Die denken dann nicht an Graf Lambsdorff. Das ist fatal. Westerwelle versucht verzweifelt, in eine seriöse Rolle zurückzukommen, und alle fragen sich, welche Nummer er heute unter dem Schühchen hat.

Im Moment ist er unsichtbar.

Weil er den Weg zurück nicht findet. Er ist ja seinen eigenen Wählern peinlich. Wohlgemerkt: Ich halte diesen kommunikativen Prozeß für einen ungerechten Prozeß, aber für den eigentlich wirksamen.

Schröder und Merkel schlüpfen gerade scheinbar naturgemäß in ihre Rollen hinein, die Sie beschreiben. Wieviel müssen da noch Berater im Hintergrund arbeiten, wieviel passiert von ganz alleine?

Naturgemäß haben Sie als Berater den Ton vorgegeben, den Sie modellieren müssen. Ob Sie daraus eine vernünftige Statue zusammenbringen oder nicht, hängt von einem verborgenen Zusammenspiel von Politik und Medien ab. Gute Politikberatung besteht darin, ein Konzept anzubieten, das die Medien wollen und dann multiplizieren. Ich beschreibe das mal am Aussehen Merkel: Nehmen wir arbeitshypothetisch an, ihr Aussehen hätte sich nicht wirklich geändert (und ich denke, das ist so) – in dem Moment, in dem sie als Kandidatin nominiert war, hat sich das Selektionsverhalten von Bildredakteuren gegenüber den tausend Fotos verändert, die ihnen von Frau Merkel angeboten werden. Früher haben sie unbewußt Bilder genommen, die sie unvorteilhaft zeigten, dann wählten sie Bilder, die an Margaret Thatcher erinnern lassen.

Wo ist dabei das Zutun von Medienberatern oder Spin-Doctors?

In der Biologie heißt das Appetenzverhalten: Man muß einen Reiz für die Medien schaffen, darauf einzugehen. Wenn die Medien Merkel als künftige deutsche Maggie Thatcher wahrnehmen und nicht länger als Pressesprecherin von Lothar de Maizière, muß diese Wahrnehmung vorbereitet werden. Und das darf nicht zu plump geschehen. Wenn der Westerwelle sich einen neuen Anzug kauft, ist er sein Problem damit nicht los.

Das heißt: Ich muß den Gedanken an Thatcher in die Welt setzen, damit die Journalisten scheinbar von selbst darauf kommen.

Richtig. Schönheit liegt in den Augen des Betrachters – also richtet sich PR auf die Augen des Betrachters.

Auffallend oft trat Merkel in den vergangenen Wochen als Enkelin Ludwig Erhards auf.

Gute Politiker-Rollenbilder sind wie Eisberge: Da guckt oben was raus, aber er muß auch unten breit und groß sein, wenn es funktionieren soll. Es sind vor allem die großen mythischen Rollen, die funktionieren. John F. Kennedy hat sich als König Arthus inszeniert. Ludwig Erhard gilt als Sinnbild der Marktwirtschaft und soll hier als Resonanzboden genutzt werden.

Bei Merkel sprechen Sie von einer „Aschenputtel-Strategie“.

Die Wahrnehmung von Politik orientiert sich an den kulturellen Handlungsabläufen, die wir aus Shakespeare-Dramen oder Fernsehfilmen gelernt haben. „The higher they stand – the harder they fall“ oder: „What goes up must come down“. Das klassische Drama. Geschult an Hollywood, nimmt das Publikum auch Politik wahr. Wenn da nun jemand ist, der nicht wie eine Bombe aussieht – und ich meine das nicht despektierlich -, dann kann das Publikum an den Mythos vom Aschenputtel anknüpfen, denn da geht es ja um eine Frau, die schafft, was keiner ihr zugetraut hätte.

Das heißt, wenn Angela Merkel jetzt als durchsetzungsstarke Person rüberkommt, nimmt das Publikum sie nicht als jemanden wahr, der gewaltsam eine Macht durchsetzt, sondern als jemanden, dem das längst zugestanden hätte.

Ja, in unserer kulturellen Erfahrung ist der plausible Verlauf dieser Geschichte, daß ihr das Amt schon gehört. Und darin liegt das Geniale solcher Konzepte.

Wer entwickelt die? Vor drei Jahren waren die Strategen hinter den Kulissen ständig sichtbar: Ex-„BamS“-Chef Spreng als Berater von Stoiber, die Kampa der SPD. Diesmal läuft das unsichtbar.

Die Selbstthematisierung von PR bringt PR sofort um. Es war damals ein Fehler, Stoiber so offensichtlich einen Berater zur Seite zu stellen: Die Leute denken dann, wenn der Berater so gut ist, warum tauschen die beiden dann nicht die Rollen? Sie haben ja im Theater auch nicht neben dem Schauspieler, der den Hamlet spielt, auch noch den Regisseur auf der Bühne.

Die Tatsache, daß neben Angela Merkel nicht erkennbar ein Berater steht, heißt nicht, daß es keinen gibt?

Ganz im Gegenteil. Das spricht für hohe Professionalität. Ich kann mir Merkel als Kanzlerin nicht vorstellen, aber die macht das gut.

Können Merkel und ihre Berater in der jetzigen Situation überhaupt etwas falsch machen?

Jede Menge. Wir alle haben, wie bei jedem Schauspiel, den schwelenden Verdacht, daß das, was wir auf der Bühne sehen, nicht die Wahrheit ist. Wir wollen die Helden immer auch straucheln sehen. Das ist die Spannung bei einem Fernsehduell, bei öffentlichen Auftritten. Frau Merkel zeigt als „gesamtdeutsche Kanzlerin der sozialen Marktwirtschaft“ eine Rolle, die sie in ihrem Leben relativ spät gelernt hat. Das ist eine fragile Geschichte. In dem Moment, wo wir in ihr wieder die Pfarrerstochter aus MeckPomm sehen, würden große Teile der westdeutschen Wählerschaft fremdeln. Ein Fehler ist heute schnell passiert – wie leicht ist bei Christiansen ein dummer Satz gesagt, den man nicht mehr los wird. Deswegen sind alle gerade so furchtbar nervös. Das Wählerverhalten hat sich durch den Einfluß der Medien verändert. Einen Strauß hätte es nicht ruiniert, wenn der mal besoffen die Treppe runterfiel. Aber einen Stoiber würde das ruinieren.

Erstaunlich in diesem Wahlkampf ist, daß es scheinbar nicht um die größeren Versprechen geht, sondern die CDU sich dadurch zu profilieren sucht, daß sie gleich sagt, daß alles noch viel schlimmer wird. Eine Art Ehrlichkeitswettrennen. Ist das eine inhaltliche Auseinandersetzung? Oder Inszenierung?

Es gibt keine Politik ohne Inszenierung. Die einzige Frage ist, ob man sie charismatisch betreibt oder planmäßig. Und Ehrlichkeit ist kein relevantes Kriterium für Politik. Wenn Sie die Menschen fragen, ob sie glauben, daß Politiker die Wahrheit sagen, sagen weit über siebzig Prozent nein. Die eigentliche Frage ist: Wird das Rollenkonzept der Politik und des Werbens um die Gunst des Wählers stringent durchgeführt – oder ist es so brüchig, daß ich als Zuschauer dieses Schauspiels das Gefühl habe, ich werde verschaukelt. Es ist also vielmehr eine Frage der Glaubwürdigkeit der Rolle, nicht des Politikers selbst. Beispiel Schröder und die Cohiba: Für Schröder und sein damaliges Umfeld ging von einer kubanischen Zigarre eine leichte sozialistische Romantik aus, Che-Guevara-Assoziation, es schien zur Rolle zu passen. In dem Moment aber, in dem eine Zigarre als kapitalistisch wahrgenommen wird, paßt sie gar nicht, und ein Bruch entsteht.

Das heißt, die Erwartung der Wähler ist im Grunde nur: Wenn die mich schon verschaukeln, dann bitte so, daß ich es nicht merke?

Richtig. Sie dürfen erstens nicht langweilen. Und dürfen zweitens nicht ein brüchiges Konzept anbieten, das die Leute nicht verstehen. Ich behaupte, die Fiktionalität ist umfassend. Was beurteilt wird, ist die Plausibilität oder Brüchigkeit einer Rolle. Es geht um fiktionale Glaubwürdigkeit.

Die Journalisten werden bei alldem zu Komplizen der PR. Haben Journalisten überhaupt eine Möglichkeit, sich solchen Inszenierungen zu entziehen?

Ich frage mich immer, woher eigentlich diese Wut über Spin-Doctors oder den „Medienkanzler“ kommt. Ist das die Wut der alten Interpretationsmonopolisten, nämlich der Journalisten, darüber, daß sie das Monopol verloren haben? Aber: Wenn die Medienmeinung abweicht von dem, was an PR-Angebot da ist, ist PR ohne jede Aussicht. Unter uns: das ist der Normalfall, das andere die Ausnahme.

Spricht das gegen die PR oder für die Journalisten?

Das spricht dafür, daß wir ein demokratisches Gemeinwesen haben. PR kann nicht alles, und das ist auch gut so.

Der Aschenputtel-Mythos von Merkel aber hat funktioniert. Da stand überall groß: Schaut nur, wie gut sie jetzt aussieht! Und nur ganz am Rande wurde vielleicht der Mechanismus offengelegt.

Unsere Wahrnehmung wird für uns selbst sofort zur Realität. Wir finden, die sieht jetzt richtig gut aus. Wir fanden auch Schröder richtig klasse, als er noch Hans im Glück war. Aber es kann auch schnell ein Entzauberungsprozeß einsetzen. Fischer zum Beispiel, der war der beliebteste Politiker, den wir je hatten – er war in drei, vier Wochen entzaubert. Große Fallhöhe, Shakespeare. Jetzt läuft er wieder, er nimmt ab. Er versucht, den Prozeß wieder umzukehren.

Wird Angela Merkel Ihrer Meinung nach in einem Fernsehduell gegen Schröder antreten?

Sie wird müssen. Wenn sie dazu nicht den Schneid hat, wird die Nation ihr das nicht verzeihen. Ich glaube, dem kann überhaupt gar kein Kandidat mehr entgehen. Und es ist nicht sicher, daß Schröder es gewinnt. Denn es ist ein schmaler Grat zwischen Souveränität und Arroganz. Ich glaube nicht, daß Schröder durchkommen wird mit der Haltung: Schickt mir das Mädchen mal vorbei.

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Klaus Kocks ist selbständiger PR-Berater. Der promovierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und Germanist besitzt und führt die „Sozietät für Kommunikationsberatung“ CATO und das Meinungsforschungsinstitut Vox Populi und ist Professor für Kommunikationsmanagement. Bis Ende 2001 war er mächtiger Kommunikationschef bei Volkswagen und galt dabei selbst als besonders schillernder und polarisierender Kommunikator: Einerseits half er, das Image des damaligen Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch vom erratischen Finsterling zum weisen Patriarchen zu drehen; andererseits galt er als prätentiös und unberechenbar.

Kocks hat in fünf Wahlkämpfen fünf Kandidaten beraten, einen aus der FDP, einen von den Grünen und drei aus der SPD – darunter Sigmar Gabriel, was angesichts von dessen aktuellem Karriereverlauf wohl auch die Grenzen der Kommunikationsberatung demonstriert.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

BILDblog

Vom Glück, BILDblog zu machen.

Am 7. Januar erschien in „Bild“ eine kleine Meldung auf der letzten Seite. Eine portugiesische Familie habe bei einem Picknick in Pamplona Fleischspieße grillen wollen, stand darin. Die 93-jährige Oma sei, während die anderen Holz suchten, auf einem Klappstuhl zurückgelassen worden, ins Feuer gefallen und verbrannt. „Bild“ hatte eine vermutlich lustig gemeinte Überschrift darüber gesetzt: „Großmutter aus Versehen gegrillt“.

Die Geschichte war nicht nur eklig. Sie klang auch irgendwie unwahrscheinlich. Sie war sonst nirgends zu finden, jedenfalls nicht in deutsch- oder englischsprachigen Medien. Und mit unserem Spanisch ist es nicht so weit her. Wir konnten nicht beweisen, dass der Artikel falsch war. Aber wir wollten ihn auch nicht auf sich beruhen lassen. Dann hatten wir eine Idee, die uns revolutionär vorkam: Wir fragten in einem Eintrag unsere Leser, ob jemand vielleicht die Originalquelle für den „Bild“-Artikel ausfindig machen könnte. Innerhalb kürzester Zeit schrieben uns vier Leute und bestätigten mit Links und Übersetzungen unseren Verdacht: „Bild“ hatte die Familien-Picknick-Geschichte erfunden. Es gab keine Grillspieße und keine Holzsuche. Die „gegrillte Großmutter“ war eine obdachlose Frau, die schrecklich verbrannte, als sie sich an einem Feuer in einer Blechtonne wärmen wollte und sich die Decken entzündeten, in die sie sich gehüllt hatte.

Für langjährige Blogger mag das eine banale Anekdote sein; für einen klassischen Journalisten ist die Erkenntnis ein Kulturschock: Wir können ja unsere Leser fragen. Unter den vielen Tausend Unbekannten, die täglich auf BILDblog.de vorbeikommen, sind nicht nur Menschen, die spanisch sprechen, sondern auch Experten für Steuerrecht, für Astronomie und für die Feinheiten beim Rangieren von Eisenbahnen. Unsere Leser wissen alles. Wir müssen sie nur fragen. Und manchmal schreiben sie uns auch so.

Wir bekommen am Tag ungefähr zwanzig „sachdienliche Hinweise“. Manche davon sind Lappalien. Manche unbrauchbar, weil der Leser irgendetwas missverstanden hat. Manche genau richtig, aber zu speziell, als dass man daraus einen Eintrag machen könnte. Aber ohne die Mitarbeit unserer Leser könnten wir BILDblog nicht machen. Ein paar sind regelmäßige Lieferanten, so etwas wie Hilfs-BILDblogger, die mit großer Ausdauer und Energie „Bild“ nach Bedenklichem und Falschem durchforsten. Andere melden sich, wenn ein „Bild“-Bericht in ihr eigenes persönliches oder fachliches Umfeld berührt.

Diese Nähe, die Kommunikation löst bei einem Journalisten, der sonst, wenn es hoch kommt, in der Woche einen Leserbrief, aber siebzehn „sachdienliche Hinweise“ von PR-Agenturen bekommt, ein ungeahntes Glücksgefühl aus. Viele machen unser BILDblog zu ihrem BILDblog und zeigen uns das durch Beteiligung – und Kritik. Unsere Leser wissen nicht nur alles, sie wollen auch alles. Sie wollen einen RSS-Feed (selbstverständlich!), aber am liebsten auch einen Newsletter; sie wollen, dass die Seite auch im Ganzbildmodus von Opera 8.0 gut aussieht und dass sie auch als reine Feed-Leser informiert werden, wenn sich in der Link-Liste etwas tut; sie wollen, dass man einzelne Einträge auch ausdrucken kann (wörtlich: „Ich will ab morgen eine Funktion zum Ausdrucken implementiert haben aufstampf“), und wehe, man nimmt das Angebot wegen technischer Probleme wieder zurück.

Aber dafür schicken Sie uns auch hundertfach Entwürfe, wenn wir sie bitten, uns eine Gratis-Werbepostkarte zu gestalten. Als wir so unvorsichtig waren, sie um Erklärungen für eine besonders unerklärliche „Bild“-Formulierung zu bitten, hatten wir nach drei Minuten fünf E-Mail-Antworten und nach drei Stunden 170. Die meisten mit klugen Gedanken, und einige mit wunderbar abwegigen Theorien. Die Lust, mitzuwirken an BILDblog, scheint grenzenlos.

Und führt gelegentlich zu beunruhigenden Auswüchsen. Als wir einmal einen Beitrag über Hauke Brost brachten, einen „Bild“-Kolumnisten, der zu seinen Artikeln voller Klischees über Frauen und Ausländer nur stehen kann, indem er sie als Satire verstanden wissen will, war darin auch ein Link zu seiner Homepage enthalten. In kürzester Zeit hatten unsere Leser dem Mann sein Gästebuch, man kann es nicht anders sagen: vollgekotzt. Eine offenbar jahrelang aufgestaute Wut brach sich Bahn. Erschrocken verfolgten wir, wie sich – trotz unserer Bitten um Zurückhaltung – die Schreiber in immer groteskeren und abstoßenderen Beschimpfungen überboten. Ein Mitarbeiter von „Bild“ sagte später: Da sehe man mal, wir sollten von unserem hohen moralischen Ross runterkommen. Unter unseren Lesern sei genauso ein „Mob“ wie unter denen der Zeitung, für die er arbeitet. Wir hätten ihm den vermeintlichen Beweis für diese Illusion lieber nicht geliefert.

Als wir vor gut einem Jahr anfingen, ein paar Notizen über die „Bild“-Zeitung in einem Blog zu sammeln, hatten wir keinen Plan, wohin das einmal führen sollte. Wir hatten keine Vorstellung, wie viele Leute das lesen wollen würden, sondern nur das Bedürfnis, all das, was uns täglich in „Bild“ begegnete, festzuhalten. Für uns. Und jeden, den es interessiert. Wir haben bis heute keine Werbung gemacht, es gibt nach über einem Jahr immer noch kein offizielles BILDblog-Banner (weshalb viele Leser sich rührenderweise selbst welche basteln), und trotzdem schauen an Werktagen inzwischen deutlich über 20.000 verschiedene Menschen vorbei, ob es etwas Neues bei uns gibt. Fast jede Woche kommen neue hinzu, und erstaunlicherweise bleiben die meisten.

Fast vom ersten Tag an bekamen wir Mails mit der Frage, ob wir Unterstützung gebrauchen könnten, Spenden oder so. Als wir dann endlich eine Kontonummer eingerichtet hatten, gaben uns viele Geld. Es kam nicht ganz so viel zusammen, wie wir uns erhofft hatten. Denn die, die etwas spendeten, gaben meistens kleine und kleinste Beträge – gelegentlich mit dem Hinweis, mehr sei leider nicht drin. Wir hatten gehofft, dass sich noch mehr Menschen mit kleinen Beträgen beteiligen, dass sich vielleicht ein paar Großspender finden würden, und vor allem: dass das Geld regelmäßiger fließen würde. Nachdem die erste Welle vorbei war und die Einnahmen nur noch tröpfelten, waren wir etwas ernüchtert. Aber dass überhaupt so viele Leute es Wert fanden, uns Geld zu geben, bleibt eine wunderbare Erfahrung.

Die meisten Leser stellen uns (und anscheinend auch sich) nicht die Frage, ob das etwas bringt, was wir da machen. Ob man an „Bild“ etwas ändern kann, an ihrer Skrupellosigkeit, ihrer Fahrlässigkeit, ihrer Parteilichkeit, ihren Lügen– oder wenigstens an der Art, wie „Bild“ wahrgenommen wird. Wir haben BILDblog nicht gegründet in der festen Annahme, damit bei anderen etwas bewirken zu können. Wir hätten uns nicht erträumt, eines Tages zu erfahren, dass viele „Bild“-Redakteure morgens im Büro als erstes mit mulmigem Gefühl bei uns nachsehen, ob es sie heute „erwischt“ hat.

Nach einem Jahr BILDblog fühle ich mich gegenüber der größten und einflussreichsten deutschen Zeitung weniger ohnmächtig denn je. Es fängt damit an, dass ich mich früher nicht getraut hätte, der „Bild“- Zeitung „Lügen“ zu unterstellen – aus Furcht vor juristischen Konsequenzen und aus dem Gefühl, das möglicherweise nicht beweisen zu können: dass „Bild“ wissentlich Fakten falsch darstellt. Heute weiß ich: Mit dem Archiv, das BILDblog darstellt, kann ich es beweisen, wenn ich muss. Und jeder andere, der es will, kann es auch.

Viele Skeptiker nehmen an, dass wir mit unserem Projekt nur die Leute erreichen, die sich ohnehin keine Illusionen machen, was die Qualitäten von „Bild“ angeht. Ich glaube, das ist doppelt falsch: Erstens liefern wir denen, die immer schon das Gefühl hatten, dass „Bild“ häufig nicht die Wahrheit schreibt, erstmals aktuelle Argumente und Beweise. Und zweitens erreichen wir auch ganz andere Leute als die vielleicht anzunehmende Zielgruppe von Linken und Intellektuellen. Seit wir über ein paar grobe Schnitzer in der Fußballberichterstattung geschrieben haben, lesen uns zum Beispiel nachweislich viele Mitglieder von Fanclubs. Und zum Tollsten gehört es, in Internetforen zu beliebigen Themen die Kraft der Aufklärung am Werk zu sehen. Wenn irgendjemand eine „Tatsache“ gepostet hat und auf „Bild“ als Quelle verweist, findet sich oft schnell ein anderer, der mit einem dezenten Hinweis auf uns die Glaubwürdigkeit dieser Quelle in Frage stellt – und im Idealfall sogar auf einen Eintrag bei uns verlinken kann, der den Sachverhalt in ein anderes Licht rückt.

Auch das ist eine Form unmittelbarer Wirkung, von der ich als klassischer Journalist immer geträumt habe und als BILDblogger am Anfang nicht zu träumen gewagt hätte.

Harald Schmidt

Harald Schmidt? Welcher Harald Schmidt? Wie es passieren konnte, dass dem großen Satiriker Wichtigeres verlorenging als Erfolg: Bedeutung

Die Arbeiter waren Demoliseure; Niederreißen war ihr Beruf, für Aufbauen kamen sie niemals in Betracht. „Und das ist recht so”, sagten sie. „Jedem sein Beruf und jedem sein Verdienst! Dies ist der König der Demolierer”, sagte der jüngere. Der ältere lächelte. So heiteren Sinnes waren die Zerstörer; und ich mit ihnen. (Joseph Roth)

Diesen Mittwoch war da fünf Minuten vor Schluß wieder dieses Gefühl: Er ist durch. Am Ende des Stoffs, den er sich vorgenommen hatte, war noch etwas Sendung übrig. Natürlich ist er Profi genug, die Reste zu strecken, zu improvisieren, die Leere zu verplappern. Aber die Spannung war dahin.

Vor allem war die Gewißheit dahin, daß die ein, zwei Sendungen, die Harald Schmidt pro Woche noch macht, vor Ideen platzen müßten. Daß sich in der Woche so viel Material angestaut haben würde, das von ihm abgehandelt gehört, einsortiert, relativiert, lächerlich gemacht, ernst gemacht, daß man mit ihm nach einer halben Stunde sagen würde: Die Sendung kann jetzt einfach noch nicht vorbei sein. Harald Schmidt rettet sich über die Runden. Nicht mühsam, sondern routiniert, aber er rettet sich über die Runden. Das wollte ich eigentlich nicht sehen.

Es gab eine Zeit, da hatten viele Menschen das Gefühl: Die „Harald Schmidt Show” muß man sehen. Wer sie verpaßt, verpaßt etwas. Natürlich stimmte das nicht immer. Natürlich gab es Sendungen, die langweilig waren, uninspiriert, mißlungen. Aber oft genug stimmte es. Heute ist dieses Gefühl nicht mehr da. Wenn ich Schmidts ARD-Show sehe, zufällig, aus alter Gewohnheit, aus naiver Neugier, gehe ich hinterher nicht mit einem Grinsen ins Bett über eine grandiose Idee und wache morgens nicht mehr auf mit dem Gedanken, irgend etwas daraus nachher den Kollegen erzählen zu müssen.

Man kann sich Harald Schmidt immer noch angucken. Aber man muß nicht. Manchmal denke ich mir nach einer Sendung, daß sie vielleicht nicht fünf Minuten früher hätte zu Ende sein sollen, sondern eineinhalb Jahre.

Vielleicht gibt es einen psychologischen Effekt, wie bei einer Beziehung. Schmidt hat sich uns ein Jahr lang entzogen, und nach so einer Trennung ist nichts wie vorher. Man kann nicht einfach dort weitermachen, wo man die Beziehung unterbrochen hatte, die Natürlichkeit ist dahin. Selbst Schmidts größte Fans, die Redakteure des „Spiegels”, haben irgendwann gelernt, sich an das Undenkbare zu gewöhnen: Ein Leben ohne Schmidt. Jetzt ist er wieder da, aber das Beste daran scheint zu sein, daß der Phantomschmerz weg ist.

Würde man den Fehler machen, seinen Begriff von der „Kreativpause” wörtlich zu nehmen, welche Ideen hätte er aus dem Jahr mitgebracht? Nur eine: Schmidt genügt.

Alles, was nicht Schmidt ist, hat er abgeschafft: Natali, Suzana und Zerlett, Dr. Udo Brömme, Bernd Zeller und all die Ansprechpartner, Stichwortgeber und Nebenfiguren. Übriggeblieben ist nur der bräsige Jeansjackenträger Andrack. Auf Studiogäste glaubt Schmidt auch verzichten zu können. Klar: Viele der Gespräche mit den vorbeischauenden Viva-Moderatorinnen waren unwichtig. Aber sie zwangen ihn in interessante Konflikte zwischen den Pflichten eines Gastgebers und dem natürlichen Desinteresse des Satirikers. Und sie konfrontierten Schmidt mit etwas anderem als sich selbst.

Der Titel seiner ARD-Show nennt nicht nur den Namen des Moderators; er ist eine fast vollständige Inhaltsangabe. In „Harald Schmidt” redet Harald Schmidt über Harald Schmidt. Jede Geste ein Zitat. Wie zu Sat.1-Zeiten fährt die Kamera immer noch auf Schmidt zu, wenn er einen Schluck Wasser trinkt. Schmidt macht Anspielungen auf sein Gehalt, die früheren Werbepausen, die ehemaligen Gäste, die Diskussion um die geringe Zahl der Sendungen. Selbst der Begriff „Unterschichtenfernsehen”, den er in die Welt gebracht hat, war ein Verweis auf seine eigene Vergangenheit.

Harald Schmidt war nie Fernsehmoderator, er war Fernsehmoderatoren-Darsteller. Er hat Karriere gemacht, indem er bekannte Fernsehrollen gespielt und gebrochen hat, und das Revolutionäre daran war, daß er diese Parodien nicht in irgendeiner Kabarettsendung oder Comedyshow aufgeführt hat, sondern an der Stelle, an der eigentlich das Original erwartet wurde.

Als Moderator der kleinen Quizshow „Maz ab!” karikierte er 1988 die Gattung der Kleinen-Quizshow-Moderatoren, indem er das Gegenteil dessen tat, was von einem Kleinen-Quizshow-Moderator erwartet wurde. Wahllos warf er mit Punkten, ließ vorsagen, zerstörte lustvoll die Rituale des Genres. Mit den gleichen Mitteln gab er als Moderator von „Verstehen Sie Spaß?” ab 1992 die Travestie eines Moderators einer großen Samstagabendshow.

In der „Harald Schmidt Show” auf Sat.1 spielte er nacheinander einen schlechten deutschen Nachahmer von David Letterman, einen erfolglosen Moderator, der mit Tabubrüchen Quote oder wenigstens schlechte Presse bekommen will, einen intellektuellen Missionar, der gemeinsam mit dem deutschen Feuilleton gegen die allgemeine Unbildung kämpft. Schillernd wurden all diese Rollen dadurch, daß Schmidt sie abwechselnd spielte und brach. Wenn man wollte, konnte man in den Tabubrüchen von „Dirty Harry” ebenso eine Kritik an Tabubrüchen wie eine Lust an Tabubrüchen sehen.

Inzwischen hat er alle Rollen durch. Geblieben ist die des Harald Schmidt. Harald Schmidt spielt, parodiert, konterkariert Harald Schmidt. Er hat seine eigene Person so kunstvoll in immer neuen Varianten seiner „Schmidt”-Persönlichkeit verschachtelt, daß alles, was er sagt, immer auch das Gegenteil bedeuten kann. Oder das Gegenteil des Gegenteils, was möglicherweise nicht identisch ist mit der Ursprungsaussage.

Die „Welt am Sonntag” hat Schmidt in einem langen Interview scheinbar ernsthaft gefragt, warum er seiner ersten ARD-Sendung das Motto „Es geht aufwärts in Deutschland” gegeben habe. Schmidt antwortete: „Das ist das Motto, unter dem die ganzen zwei Jahre, die der Vertrag läuft, stehen werden. Jede Sendung! Es boomt, es brummt, es ist phantastisch. Willkommen im Jahr der Entschlossenheit. Aus dieser positiven Grundhaltung wird gejammert.” So. Und jetzt versuchen Sie mal, diesen Sätzen die ganzen Wollmäntel und Kostüme aus Pathos und Ironie auszuziehen, bis nur noch die nackten Worte dastehen, und zu erklären, was uns Herr Schmidt wirklich sagen wollte. Meine Vermutung: nichts.

Schmidt hat sich so oft gewendet, daß man sich die Mühe sparen kann, zu versuchen, ihn zu entziffern. Spricht da Harald Schmidt, „Harald Schmidt” oder gar „,Harald Schmidt’”? Für Schmidt sind die Vielschichtigkeit und die ironische Brechung kein satirisches Mittel mehr, die Dinge klarer zu sehen, sondern Selbstzweck. Es ist müßig, darüber nachzudenken, ob Schmidt den Satz „Willkommen im Jahr der Entschlossenheit” sagt, weil alle das sagen oder keiner das sagt oder niemand das sagen sollte oder alle es denken und keiner es sagt. Schmidt hätte auch sagen können: „Willkommen im Jahr der fliegenden Meerschweine”, es hätte den gleichen „Höhö”-Effekt ohne weitere Bedeutung – nur ohne den falschen Anschein von Relevanz.

Schmidt hat jegliche denkbare Haltung schon eingenommen. Er hat Satire aus der Position des Quotenkillers gemacht, den man eigentlich sofort aus dem Programm nehmen müßte, und aus der Position des schließlich doch Erfolgreichen, der seinem Sender Ansehen bringt wie nichts sonst. Heute in der ARD ist er dort angekommen, wo er hingehört, kein Feigenblatt im Privatfernsehen mehr, sondern ein überbezahlter Fernsehstar, „Grundversorgung” für die Öffentlich-Rechtlichen. Er ist, in jeder Hinsicht, etabliert. Subversiv ist an seinen Sendungen nichts mehr, kann es auch nicht sein. Selbst wenn er das gleiche macht wie vor zwei, drei Jahren bei Sat.1 – es ist nicht mehr dasselbe.

Und aus welcher Position macht er in der ARD Witze über „Maischberger”, „Scheibenwischer”, „Polylux”? Seine Quoten sind kaum besser als die von „Maischberger”, seine Witze kaum origineller als die vom „Scheibenwischer”, und bei allem, was man am Lifestylemagazin „Polylux” aussetzen kann – daß dort Menschen arbeiten, die offensichtlich Lust haben, so Fernsehen zu machen, wie sie es tun, wirkt wahnsinnig sympathisch und entspannt gegenüber einem Harald Schmidt, der sich ununterbrochen von seinem eigenen Tun, seinem Sender, sich selbst distanzieren muß.

Alles, was er tun kann, hat er getan. Man sieht, wie er mit einem blauen ARD-Schal hantiert, und weiß: Das wird jetzt wieder so ein Running Gag wie mit den BSE-Schleifen. Man sieht, wie er in einer Parodie auf den Visa-Untersuchungsausschuß endlos langsam in einem Ordner blättert, und erinnert sich: Ja, das war toll bei „Verstehen Sie Spaß”, als er ein Metronom aufgestellt und minutenlang für viel Geld nichts gemacht hat.

Und alles, alles steht in Anführungszeichen. Schmidt erzählt einen mittelschlechten Witz in Dialekt, weil er weiß, daß man mit Dialekt auch schlechte Witze retten kann, und dann sagt er, daß er das im Dialekt erzählt, weil man damit auch schlechte Witze erzählen kann. Schmidt weiß, daß man auch schlechte Sendungen damit retten kann, daß man damit kokettiert, wie schlecht sie sind. Aber vielleicht weiß er nicht, daß dieser Trick nur eine begrenzte Zeit lang funktioniert. Er hat schon bei der vierstündigen Rheinfahrt nicht mehr funktioniert, im Sommer 2003 auf Sat.1, eine unfaßbar langweilige Fernsehsendung, die kein Stück weniger langweilig dadurch wurde, daß Schmidt während der Sendung immer wieder sagte, wie langweilig sie doch sei.

Die Zuschauerzahlen der ARD-Show sinken, aber das ist nicht das entscheidende. Die Bedeutung von Harald Schmidt hat sich nie an Quoten bemessen, aber seine Bedeutung geht gegen null. Hilfsweise wird dies damit erklärt, daß Schmidt besser wäre, wenn er häufiger käme. Wie absurd: Als Stefan Raab nur einmal die Woche auf Sendung ging, war „TV Total” regelmäßig ein Feuerwerk guter Ideen. Schmidt aber macht seine ein bis zwei Sendungen pro Woche nicht aus dem Gefühl heraus, eine Art Best-of einer imaginären täglichen Sendung zu produzieren, sondern als liefe morgen und übermorgen und überübermorgen noch eine Show von ihm, da komme es ja nicht so drauf an, ob diese heute wirklich so gelungen sei.

Vielleicht ist die Antwort auf die Frage, warum Harald Schmidt so egal geworden ist, also eine ganz einfache. Die Leute haben so lange applaudiert, egal, was er gemacht hat, daß er denkt, er muß gar nichts machen. Er gibt sich einfach keine Mühe mehr.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung