Arabella Kiesbauer

Arabella wird abmoderiert. Die frühere Starmoderatorin muß zusehen, wie ihr Sender ohne sie plant.

Es ist ja nicht so, daß es an Kandidaten mangeln würde für den Titel des traurigsten Menschen des deutschen Fernsehens. Wolfgang Lippert, der sich kurz einmal die Moderation von „Wetten, daß . . .?“ von Thomas Gottschalk ausleihen durfte und dann selbst im Baumarkt eine Zange auslieh, ist sicher in den Top Ten. Peter Imhof, der einmal 24 Stunden am Stück talkte, um ins „Guinness-Buch der Rekorde“ zu kommen und heute im MDR die Sendung „Hier ab vier“ wegmoderiert, hätte Chancen. Ach, und Thomas Ohrner natürlich, der als „Thommi“ ein Talent war, dann die abgelegten Formate „Dingsda“ und „Glücksrad“ bis zur Einstellung moderierte und heute vom ZDF regelmäßig an die Abgründe der volkstümlichen Fernsehmusik geschickt wird.

Vielleicht muß man alles, was Arabella Kiesbauer in den vergangenen zwei Jahren gemacht hat, vor dem Hintergrund dieser Karrieren sehen. Als Versuch, nicht zur traurigsten Frau im deutschen Fernsehen zu werden, wobei ihr bewußt sein muß, wie nahe sie diesem Titel schon gekommen ist. Vielleicht merkt sie gerade, daß sie den Zeitpunkt verpaßt hat, an dem sie noch als unangefochtene „Talk Queen“ hätte abtreten können. Vielleicht versucht sie verzweifelt, sich ein bißchen Würde zu bewahren, bei dem Abstieg, auf dem sie sich gerade befindet. Das ist ja schon vielen nicht gelungen.

Seit zwei Jahren ist ihre tägliche Talkshow „Arabella“ auf Pro Sieben eine offene Baustelle. Nachdem die Zeit des großen Schmuddels, an dem auch sie mitwirkte, vorbei war, versuchte sie es mit ernsthafterem Talk, mit Ballermannvarianten und Kuppelshows, Service und IQ-Tests. Als sie sich öffentlich noch über die Konkurrenz mit ihren Laiendarstellern statt echten Gästen empörte, hatte sie selbst schon eine eigene, besonders dreiste Variante im Programm: Die „Abschlußklasse“, bei der Schüler sich selbst beim Leben filmten – ein Fake, leider erfolgreicher als ihr vermeintlich echter, ehrlicher Talk.

Zuletzt bestand eine Hälfte ihrer Sendung aus „Das Geständnis“, einer irren Variante der fiktiven, schlecht geschriebenen und schlecht gespielten Geschichten, die das deutsche Fernsehen gerade überfluten (siehe unten) und euphemistisch „scripted reality“ genannt werden. Ab dem Herbst wird Arabella nur noch dieses Format moderieren – oder genauer: die Moderatorin darin spielen -. Die letzte neue Ausgabe der Talkshow „Arabella“ läuft schon Anfang Juni, zum zehnjährigen Jubiläum.

Kiesbauer sagt, sie selbst habe am vergangenen Wochenende den Beschluß gefaßt, mit dem Herumgedoktere aufzuhören und sich nicht mehr gegen den Trend zur Fiktion zu stemmen: „Man kann eine Frisur nicht jahrelang gegen den Scheitel kämmen.“ Es soll so klingen, als hätte sie das Heft noch in der Hand, aber wie wenig freiwillig der Schritt ist, hört man aus jedem Satz: „Ob die Sendung ,Arabella – Das Geständnis‘ des Rätsels Lösung für meine Zukunft auf dem Bildschirm ist, wage ich im Moment nicht einzuschätzen. Ich habe da meine eigene Meinung dazu. Aber ich ergebe mich mal in den Lauf der Dinge und schaue, was dabei herauskommt. Ich habe lange gegen den Strom gekämpft. Jetzt schwimm‘ ich mal kurz mit, schau‘ mir das an und werde mir dann im Herbst ein Bild machen.“

So etwas hat vermutlich noch nie jemand gesagt, der seinen Zuschauern eigentlich voll Überzeugung seine neue Sendung ans Herz legen müßte. Vielleicht ist das eben Arabellas Versuch, sich einen Rest von Glaubwürdigkeit zu bewahren und nicht zu werden wie Thomas Ohrner, der – kaum hatte das ZDF ihn für seine Volksmusik-Sendungen engagiert – brav seine Liebe zu der Szene bekundete. Arabella dagegen trauert: „Ich hab‘ den Talk geliebt – da blüh‘ ich auf! Es wird sich zeigen, ob ich mit Mit ,Das Geständnis‘ warm werden kann. Früher habe ich Anteil genommen an den Geschichten und Gästen, dann nehme ich natürlich keinen Anteil mehr an den Gästen, weil sie ja nur Rollen spielen.“

Nun fragt man sich, warum sie sich das dann überhaupt antut, diese neue Sendung, wenn sie ihr so gegen den Strich geht. Die Antwort ist bitter: Weil sie darauf hofft, daß sie auch in Deutschland einmal erfolgreich den Sprung ins Abendprogramm schaffen könnte, wie es ihr in Österreich gelungen ist. Die bisherigen Versuche waren Flops, und neue Chancen gibt es garantiert nicht, wenn sie einmal nicht mehr auf dem Bildschirm ist. Im Grunde wird Arabella „Das Geständnis“ moderieren, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.

Ist das nicht traurig?

Gut, daß in solchen Zeiten wenigstens der Sender und die Produktionsfirma zu einem stehen. Oder? Die Geschäftsführer der Constantin Entertainment, die „Arabella“ und „Das Geständnis“ produziert, haben vergangene Woche dem Branchendienst „Kress“ ein Interview gegeben. Ulrich Brock und Otto Steiner hatten die Idee, einfach mal ungefragt zu erzählen, daß sie für Arabellas Sendeplatz „für 2005 etwas Neues“ entwickeln: „Da gibt’s einige Ideen.“ Auf die Frage „Ohne Arabella Kiesbauer?“ antwortete Steiner: „Arabella hat natürlich eine gewisse Tradition auf dem Sendeplatz. Daher überlegen wir uns auch Ideen, in denen Arabella eine Rolle spielt.“

Ah, „auch“. Na, da wird Arabella sich aber gefreut haben.

Zur Schadensbegrenzung schoben Brock und Steiner am Freitag eine lustige Erklärung nach, daß der Sender und sie „mit der Quotenentwicklung von ,Arabella‘ sehr zufrieden“ seien (was gelogen ist) und „keinen Anlaß sehen, an der erfolgreichen Zusammenarbeit zu zweifeln“ (was offensichtlich auch nicht stimmt). Arabella kontert, sie sei „nicht an die Constantin, sondern an Pro Sieben gebunden“, und der Vertrag laufe bis Ende des Jahres. Danach werde der Sender prüfen, ob und wie es weitergeht, nicht die Constantin.

Der Sender. Noch am Mittwoch wollte man in der dortigen Pressestelle nichts von dem längst beschlossenen Aus für den Talk wissen, am Freitag sah man sich auch dort veranlaßt, Selbstverständlichkeiten zu veröffentlichen. „In zehn Jahren hat Arabella Kiesbauer unseren Sender und die Fernsehlandschaft geprägt wie kaum ein anderer, was wir im Juni ausgiebig feiern“, erklärte Unterhaltungschef Jobst Benthues. Zu allem Unglück nannte ein Sprecher als Beispiel für den „neuen, hoffentlich ebenso erfolgreichen Weg“, den man mit „Das Geständnis“ gehen werde, das Thema: „Ich habe den Hund meiner Freundin verscharrt“. Arabellas Manager sagt, das Beispiel sei erst nach seiner Intervention widerrufen worden.

Vielleicht ist Arabella für ihren Sender längst eine Last geworden. Sie hat vieles mitgemacht, was von ihr erwartet wurde, aber nicht alles. Ohne sie ließen sich für den 14-Uhr-Sendeplatz sicher leichter Sendungen entwickeln, die noch billiger sind, noch trashiger, noch sinnloser. „Heute regieren Zicken und Deppen den Bildschirm mit programmlichen Inhalten, die eigentlich keine sind“, hatte Arabella vor drei Wochen in der „Abendzeitung“ gesagt. Vermutlich war das schon im Verteidigungskampf.

Alles zu spät. Wenn die Leute erst einmal Mitleid haben mit ihr, hat sie verloren. Wolfgang Lippert kennt das.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Anke Engelke

Sie wird uns enttäuschen. Auch Anke Engelkes Late-Night-Show wird Deutschland nicht retten. Aber vielleicht ein paar Fernsehabende.

„Was dürfen wir erwarten von der Show, Frau Engelke?“

„Ich werde Sie unterhalten.“

„Mehr nicht?“

„Ich finde das eine ganze Menge!“

Wie süß. Ja, nein, Frau Engelke, das reicht natürlich nicht. Es ist ein bißchen schwierig, in all den Veröffentlichungen vor dem Start von „Anke Late Night“, den Kommentaren und Essays, Warnungen und Ratschlägen den Überblick zu behalten, aber eines erwarten sie alle: Bedeutung. „Sie soll so witzig sein wie Harald Schmidt und zugleich so bedeutsam werden“, hat die Zeitschrift „Cicero“, jener neue selbsterklärte Hort der elitären Debatte, formuliert. (Und natürlich hinzugefügt, daß ihr das nicht gelingen wird, denn für Schmidts Strategie sei sie weder gebildet noch geistreich genug.) Das „Amt des Hofnarren“ sei seit Schmidts Abschied verwaist, jenes „unersetzliche Regulativ zum tauben Ernst der politischen Klasse“. Grundgütiger: Mit Deutschland geht es bergab, und nun ist auch noch ein unersetzliches Regulativ-Amt verwaist, und die einzige Kandidatin für die Nachfolge ist offensichtlich ungeeignet.

Der Kölner Medienprofi Lutz Hachmeister hat gesagt, „Engelke ist keine Leitfigur für Halb-Intellektuelle“, was zweifellos stimmt, von der Nachrichtenagentur dpa aber als Kritik an der Wahl der Entertainerin interpretiert und von Kollegen gleich abgeschrieben wurde. Wenn es etwas gibt, das wir wirklich ganz besonders dringend brauchen in diesem Land, ist es ja eine Leitfigur für Halb-Intellektuelle.

Sat.1 darf sich über die verquaste Debatte nicht beklagen: Der Sender beteiligt sich munter am Spiel und belastet die Show mit Gewicht. „Anke Late Night“ werde das Forum, in dem Angela Merkel ihre Kanzlerkandidatur bekanntgeben könnte, träumte der frisch gekürte Geschäftsführer Roger Schawinski. Seine Sprecherin beharrt auf Nachfrage darauf: Nein, es reiche eben nicht, viermal die Woche am späten Abend eine Sendung zu machen, die so unterhaltsam sei, wie es Engelkes Sketchshow „Ladykracher“ war. „Anke Late Night“ müsse – gerade in der ersten Zeit – Schlagzeilen machen, brisant sein, Agenturmeldungen produzieren.

Jawohl: Bedeutung haben.

Da ist es kein Wunder, daß am vergangenen Freitag zwei Stunden lang die Journalisten, denen Anke Engelke im Zehn-Minuten-Takt Telefoninterviews gibt, alle die gleichen Fragen stellen (bis auf den einen, der fragt, was sie gerade anhat): Ist sie nervös? Wie kommt sie mit dem Druck klar? Sind die Erwartungen nicht zu hoch, die Fußstapfen zu groß? Anke Engelke wird nicht müde, falsch: sie wird müde, zu wiederholen, sie sei überhaupt nicht nervös, wirklich nicht, sie spüre diesen Druck nicht, das sei nicht ihr Druck, sie freue sich einfach auf die Sendung. Politik? Bedeutung? Hallo? – „Es soll eine unterhaltsame Stunde werden.“

Seit Wochen planen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich, was für eine Sendung sie machen würden, wenn sie schon eine Sendung machen würden, auf dem Papier und am Telefon, weil die Engelke noch in Griechenland war, um mit Dietl einen Film zu drehen. Vergangene Woche haben sie dann drei Sendungen produziert, zur Probe, aber mit Publikum und prominenten Gästen, wie eine richtige Sendung, in den Studios der Firma Brainpool in Köln-Mühlheim, nicht weit von dem Ort, an dem auch Sie-wissen-schon-wer jeden Tag Sie-wissen-schon-was aufgenommen hat. Und was herrscht da? Atemlose Spannung? Fiebrige Ruhe? Nervöse Hektik? Nichts von alledem. Ausgerechnet dieser Ort, an dem diese wichtige Sendung entsteht, scheint der einzige zu sein in Deutschland, wo sich die Menschen nachts nicht schlaflos im Bett wälzen und grübeln: Ob das was wird?

Bei der dritten Probesendung sitzen Dutzende Fotografen und die gesamte Medienjournalistenmeute im Publikum, der Senderchef ist da und der Unterhaltungschef, aber das Gefühl, einem Event beizuwohnen, verliert sich, sobald man den Blick auf die eigentlichen Macher richtet. Wenn hier Geschichte geschrieben würde, müßte sich das anders anfühlen. Ja, Gott, das hat es noch nie gegeben, weltweit nicht, daß eine Frau eine Late-Night-Show moderiert, aber erstens kann „die Anke“ das, und zweitens ist das ja nicht die erste Late-Night-Show, die wir hier auf die Beine stellen (die Geschichte reicht zurück bis zur selig vergessenen „RTL Nachtshow“ mit Thomas Koschwitz vor zehn Jahren).

Das fast kuschelige Wohlgefühl hier ist der denkbar größte Gegensatz zu der Hysterie draußen, und interessanterweise trifft das auf den Inhalt der Show genauso zu. Zunächst einmal ist man überhaupt verblüfft, festzustellen, daß es sich nur um eine Fernsehsendung handelt und nicht die Weltrevolution und daß es sich bei der Moderatorin nicht um eine obskure Frau Engelke handelt, die gerade vom Himmel gefallen oder aus einem Offenen Kanal gekrabbelt ist und deshalb den Lesern in Dutzenden Portraits erst mal vorgestellt werden mußte, sondern tatsächlich um jene Frau Engelke, die einst im Kinderprogramm neben einem Hund und einem Vorstadtrocker als altkluges dickliches Mädchen (unangenehm) auffiel und auch in den 25 Jahren darauf dem ein oder anderen Zuschauer schon begegnet sein könnte.

Sie hat eine klassische Late-Night-Show-Dekoration mit einer Skyline, die von Klinkern und Stahlträgern eingerahmt wird. Sie hat eine klassische Late-Night-Show-Band (mit ihrem Lebensgefährten als Bandleader und persönlichem Beistand, der aber, wie sie sagt, wenn es erst mal gut läuft, gegen einen richtigen Musiker ausgetauscht wird). Und sie hat einen nicht ganz so klassischen Schreibtisch, stylisch, „funky“, wie ihr Produzent sagt, geschwungen in weiß und orange, ein bißchen, als wäre er von Apple, und daneben ein hellgraues Sofa, das flauschig aussieht, aber nicht sehr gemütlich.

Sie tritt auf als Anke Engelke, was ganz schön ist im Vergleich zu Harald Schmidt, der erst als David Letterman auftrat und später als „Harald Schmidt“, sagt „Hallo zu Hause“ und muß sich dann leider als erstes in ein altes Korsett zwängen, das ihr nicht paßt, das zwickt und kratzt: Die obligatorische Stand-up-Nummer, mit naheliegenden Einzeilern zu dem, was heute so passiert ist, auch Politischem. Sat.1-Chef Schawinski ist darauf besonders stolz, schwärmt von der wichtigen „Tagesaktualität“ und hat das Wort „Bedeutung“ schon wieder groß auf der Stirn stehen, dabei kann man diesen Teil, zumindest in den ersten Wochen, bis sie eine eigene Haltung gefunden haben wird, getrost verpassen.

Einige Einspielfilme gibt es, mal mit Puppen, mal mit den Schwarz-Weiß-Frauen aus „Ladykracher“, mal mit mittellustigen Straßenumfragen, mal mit Engelke, die sich in Charlotte Roche verwandelt und dann Charlotte Roche interviewt, was so gut ist, daß es nicht nur für Charlotte Roche beunruhigend wirkt.

Aber das eigentliche Gefühl, daß diese Show eine werden könnte, auf die man sich freut, entwickelt sich, wenn man Anke Engelke im Talk sieht. Außer dem Talent, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, hat sie das Talent, mit Menschen zu reden. Sie ist aufmerksam, achtet auf Stimmungen, reagiert spontan auf das Publikum, läßt Situationen eskalieren und in ungeahnte Richtungen entwickeln und holt sie mit einem Witz, einem Themenwechsel oder auch einer Pause vom Abgrund zurück. Das Geheimnis dieser Gespräche ist es, gerade nicht bedeutungsvoll sein zu wollen. „Sabine Christiansen“ ist bedeutungsvoll, „Beckmann“ ist ein Bedeutungsvampir, der alles Gewichtige aus seinen Gästen heraussaugt, bei Johannes B. Kerner strotzen sogar die Präpositionen in den Sätzen, mit denen er seine Gäste vorstellt, vor Relevanz. Und was will Anke Engelke? Scheinbar fast nichts. Die Leute sollen sich wohl fühlen, nicht nervös sein. „Das Unverstellte will ich sehen. Es gibt in jeder Minute drei, vier Momente, die spontan sind und schön.“

Die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn etwa habe in der Pilotsendung nichts „bekanntgegeben“, sagt Engelke. „Die war am Anfang total verkrampft; dann haben wir erst mal ein paar Erdbeeren zusammen gegessen.“ Danach haben sie über ihre „Ex“-Männer gesprochen, den Wolfgang Clement und den Johannes Rau, und die Höhn hat erzählt, daß der Clement schon mal mit Aktenordnern geworfen hat.

Der Hockeyspieler Florian Kunz ist in einer Pilotsendung zu Gast, ein Mann, der nicht vor Witz sprüht, ein Thema, das keinen besonderen aktuellen Anlaß hat, ein Sport, den Frau Engelke zeitweise mit Eishockey verwechselt und auch danach noch vom „Puck“ spricht. Es ist, so gesehen, das bedeutungsloseste Gespräch der Welt, aber zuzusehen, wie sie ihn nach der „albernen“ Laufposition befragt, nach Rückenschmerzen und daß er dann ja wohl gut staubsaugen könne, und er allmählich auftaut und davon erzählt, daß er frisch gewonnene Pokale mit ins Bett nimmt, ist angenehm – weil man das Gefühl hat, daß das Gespräch offen ist, ohne Fragenkärtchen, die abgearbeitet werden, ohne Zwang, nachher was an die Agenturen geben zu können. (Roger Schawinski hat den Reiz leider nicht verstanden und hinterher erklärt, unter echten Bedingungen hätte man so einen Gast natürlich nur eingeladen, wenn er gerade die Goldmedaille gewonnen hätte.)

Wenn alles gutgeht, könnte „Anke Late Night“ diese kleinen Momente des Fernsehglücks zaubern, wie man sie gelegentlich bei ihren Kolleginnen Barbara Schöneberger, Christine Westermann oder Charlotte Roche und auch bei Wigald Boning erlebt. Momente, in denen es scheinbar um nichts geht, die aber auch kein sinnloses Geblubber sind, weil der Zuschauer für einen Augenblick das Gefühl bekommt, nicht einem Ritual beizuwohnen, sondern Menschen zuzusehen, zwischen denen etwas passiert. Die sich öffnen und selbst nicht wissen, wohin sich das entwickelt. Wenn dann wirklich die Merkel vorbeikäme, wüßte man zwar hinterher wahrscheinlich immer noch nicht, ob sie Kanzlerkandidatin wird, hätte aber vielleicht ein Gefühl dafür bekommen, ob sie Humor hat und wie sie reagiert, wenn ihr ihre eigene Parodie gegenübersteht.

Vielleicht sehnen sich ja die Zuschauer nach solchen Augenblicken: nach so was wie Ehrlichkeit oder auch nur Unberechenbarkeit in einem Fernsehprogramm, das so vollständig erstarrt ist, daß man selbst bei Live-Sendungen die Texte mitsprechen kann. Aber um dieses Bedürfnis befriedigen zu können, muß eine Sendung leise sein, fast unscheinbar und kuschelig wie „Blondes Gift“ oder „Zimmer frei“. „Anke Late Night“ könnte uns womöglich viermal die Woche für eine Stunde mit dem Fernsehen versöhnen. Aber dafür müßte die große Show klein sein dürfen.

Daß man sie läßt, ist kaum zu erwarten.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Eine Frage der Ehre

Vor dem Grand Prix wagt Stefan Raab den offenen Konflikt mit der „Bild“-Zeitung. Er ist nicht der einzige Prominente, der sich wehrt.

Irgendwann wird es klappen. Eines Tages wird beim Eurovision Song Contest eine junge Frau strahlend die Bühne betreten und nicht nur „für Deutschland“ singen, sondern auch für die „Bild“-Zeitung. Weil die sie ausgesucht und ihre Vorzüge so gründlich auf der ersten Seite ausgebreitet hat, daß das Volk gar nicht anders konnte, als sie zu wählen. Das wird passieren, ganz bestimmt. Vielleicht nicht die nächsten fünf, zehn Jahre, aber dann. Wäre doch gelacht.

An Versuchen hat es nicht gemangelt seit Guildo Horns Grand-Prix-Putsch 1998, der nicht denkbar gewesen wäre ohne die Schlagzeile: „Darf dieser Mann für Deutschland singen?“. Im Jahr darauf schickte „Bild“ die damals noch unbekannte Jeanette Biedermann ins Rennen, 2002 die heute noch unbekannte Isabel Soares, 2003 die „Gerd-Show“ – alles ohne Erfolg. Diesmal schaffte es die inoffizielle „Bild“-Kandidatin Masha nicht einmal, sich für den Vorentscheid zu qualifizieren.

Irgendwie kann man den verbissenen Ehrgeiz verstehen: Es ist doch zum Verrücktwerden, daß die vermeintlich mächtigste Zeitung Deutschlands es nicht schafft, einen eigenen Teilnehmer zu diesem lächerlichen Song Contest hinzuschreiben!

Eine gewisse Unentspanntheit darf man also schon voraussetzen; in diesem Jahr aber ist die Situation besonders verkorkst: Am Samstag wird Deutschland ausgerechnet von einem Mann vertreten, dessen Kür in Stefan Raabs „TV Total“ über Wochen von der „Bild“-Zeitung mit Mißachtung gestraft wurde – angeblich, weil die nötige Relevanz fehlte, möglicherweise aber auch nur, weil Thomas Anders in der Jury saß, der Intimfeind von Dieter Bohlen, dem besten Freund der „Bild“-Zeitung.

Als sich der erstaunliche Erfolg von Max nicht länger ignorieren ließ, brachte „Bild“ schließlich doch ein größeres Stück über den gerade noch unbekannten Schüler. Überschrift: „Grand-Prix-Max als Zechpreller überführt“. Der Sänger werde in Istanbul „von Geldeintreibern“ erwartet, hieß es. Ein türkischer Hotelier, bei dem er seine Rechnung trotz Mahnungen nicht bezahlt habe, erhebe „schwere Vorwürfe“.

Die erhob der Mann dann allerdings gegen „Bild“. Er ließ ausrichten, er habe sich nie so geäußert, sei stolz, einen plötzlich so berühmten Gast beherbergt zu haben, und hätte ihm das Geld bis zum nächsten Besuch gestundet. Der Internetableger von „Bild“ brachte kurz darauf eine Gegendarstellung von Max, die Zeitung aber weigerte sich. Raabs Managerin Gaby Allendorf bestätigt, daß „Bild“ einen Vergleich angeboten habe: 5000 Euro und freundliche Berichterstattung. Max lehnte ab. Raab sagte, es gehe ihm nicht um Geld, sondern darum, Max‘ Ehre wiederherzustellen. Vergangene Woche urteilte ein Richter: „Bild“ muß die Gegendarstellung bringen.

Klingt nach einem Standardfall im Boulevardzeitungsalltag, ist aber unerhört. Man lehnt ein Vergleichsangebot von „Bild“ nicht einfach so ab, und man legt sich nicht ungestraft mit „Bild“ an. Offen mit „Krieg“ habe die Zeitung gedroht, empört sich Jörg Grabosch, Chef der Firma Brainpool, die „TV Total“ produziert. Stefan Raab sagt: „Ich habe nichts gegen Boulevardjournalismus; ich sehe das sportlich. Aber Sportlichkeit ist nur so lange vertretbar, wie keiner foult oder unanständig wird, und das ist hier leider der Fall.“

Hinter der Eskalation steckt nicht nur Wut, sondern auch Kalkül: Daß Max trotz Quasi-Boykott durch „Bild“ zu einem Massenphänomen wurde, zeigt nach Ansicht der Brainpool-Leute, daß man das Blatt nicht mehr braucht, um junge Leute zu erreichen. Die Regel, daß sich ohne oder gar gegen die „Bild“-Zeitung der ganz große PR-Erfolg nicht erreichen läßt, sei widerlegt. Dafür spricht auch die hervorragende Quote, die der deutsche Grand-Prix-Vorentscheid in diesem Jahr bei jungen Zuschauern hatte, obwohl die „Bild“-Zentrale kurzfristig beschlossen hatte, keinen Reporter zu entsenden, und deshalb nicht wie sonst täglich öffentlichkeitswirksame Skandale hinter den Kulissen beschreiben konnte. Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer glaubt deshalb auch nicht, daß der Streit zwischen „Bild“ und Raab ihn um seine Quoten fürs Finale sorgen lassen müßte.

Anscheinend hatte sich die Zeitung vorübergehend sogar überlegt, niemanden nach Istanbul zu schicken, was angesichts des mangelnden Zugangs zu den deutschen Hauptakteuren konsequent, aber natürlich auch riskant gewesen wäre. Inzwischen heißt es aber, Europas größte Zeitung könne sich diesem Ereignis nicht entziehen. Weitere Auskünfte zu dem Thema Raab sind nicht zu bekommen; der „Bild“-Unterhaltungschef und stellvertretende Chefredakteur Martin Heidemanns will sich nicht zitieren lassen.

Jörg Grabosch wird um so deutlicher: „Es ist ,Bild‘ nicht gelungen, Stoiber zum Kanzler zu schreiben, und es wird ihr nicht gelingen, Max zum Zechpreller zu schreiben.“ Er könne gut auf die Berichterstattung einer Zeitung verzichten, die ohnehin nie über die Inhalte oder Produkte schreibe, sondern nur an privaten Skandalgeschichten interessiert sei.

Darin liegt ohnehin der eigentliche Konflikt zwischen Raab und „Bild“: So skrupellos der Entertainer in seiner Sendung mit Bildern anderer umgeht, so kompromißlos ist er beim Schutz der eigenen Privatsphäre. Radikaler als die meisten schirmt er seine Familie von der Öffentlichkeit ab, da versteht er keinen Spaß. Die „Bild“-Zeitung aber lebt davon, daß ihr Prominente wie Bohlen Zugang zu ihren intimsten Lebensbereichen verschaffen, und versteht ihrerseits keinen Spaß, wenn ihr der verweigert wird.

In der Branche weiß man Artikel entsprechend zu deuten. Etwa als vor einigen Wochen in „Bild“ ein Bericht über die sinkenden Zuschauerzahlen von „TV Total“ erschien. „Total ungewöhnlich, sogar mit Quotengrafik“, staunte man in der PR-Abteilung eines Fernsehsenders. „Wir haben uns das damit erklärt, daß Raab sich bestimmt gerade geweigert hatte, mit ,Bild‘ über sein neugeborenes Kind zu reden. Der Artikel war dann anscheinend die Strafe.“

Pop-Moderatorin Charlotte Roche beschreibt dieses Prinzip in der Musikzeitschrift „ulysses big“ so: „Die haben mich eisenhart erpreßt, als ich gerade meine drei Brüder verloren hatte. Bei vielen dieser Promi-Geschichten, die in der ,Bild‘-Zeitung stehen, kannst du davon ausgehen, daß die durch Erpressung oder aus Angst vor Erpressung entstanden sind. Die können sagen, wir möchten eine Geschichte mit dir machen, du arbeitest mit und gibst uns ein Interview, das wie freiwillig aussieht, oder du kriegst zehn negative Schlagzeilen. Und das heißt, du bist am Ende in Deutschland.“

Vielleicht ist das gar nicht mehr so, jedenfalls bei Stars aus der ersten Reihe. „Die Angst hört endlich auf“, sagt PR-Frau Gaby Allendorf. Medienanwalt Christian Schertz, der viele Stars vertritt, glaubt, daß bei bestimmten Prominenten seit einiger Zeit die Bereitschaft zunehme, sich von dem Blatt nicht einspannen und nicht alles gefallen zu lassen – auch um den Preis, ignoriert zu werden. Herbert Grönemeyer ist so ein Fall. Seine Kontakte zu „Bild“ beschränken sich heute fast ausschließlich auf Klagen; seiner Popularität und seinen Plattenverkäufen scheint das nicht zu schaden.

Für andere ist es schwieriger, auf Distanz zu dem großen Boulevardblatt zu gehen. Die Abneigung von Anke Engelke gegen „Bild“ ist bekannt, aber vor dem Start ihrer Late-Night-Show ausgerechnet auf Sat.1, an dem der Springer-Verlag beteiligt ist, wird sie zur Gratwanderung. Zumindest mit großen Interviews im Werktagsblatt (die „Bild am Sonntag“ ist ein anderer Fall) ist nicht zu rechnen – was man ihr in der Redaktion, wenn man will, schon als unfreundlichen Akt auslegen kann.

Aber was ist dran an dem Gefühl, das verschiedene Medienleute und PR-Experten artikulieren, daß „Bild“ bei jungen Leuten ohnehin kaum Themen setzt? An den Leserzahlen kann es nicht liegen: Laut Media-Analyse steigt die Zahl junger „Bild“-Leser seit einigen Jahren an. Fast 17 Prozent aller 14- bis 29jährigen werden aktuell von dem Blatt erreicht.

Es sei, sagt ein ehemaliger „Bild“-Redakteur, ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die Zeitung sei unbestrittener Meister darin, frühzeitig zu erkennen, was das Volk bewege, was die Leute interessieren und aufregen könne. In den vergangenen Jahren sei die Themensetzung aber zunehmend nicht von diesen Leser-, sondern von anderen Interessen bestimmt. Das Ausblenden des Hypes um Max ist ein Beispiel dafür, aber auch das Werben für Sendungen von ProSieben-Sat.1: Die weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindende Sat.1-Castingshow „Star Search 2“ wird von „Bild“ unermüdlich Ausgabe für Ausgabe angepriesen. Solche abweichenden Tagesordnungen, so der Kollege weiter, schadeten langfristig der Glaubwürdigkeit der Zeitung.

Dann kann „Bild“ zwar immer noch verstärkende Wirkung haben – Fernsehsender verzeichnen bei Sendungen wie „Wer wird Millionär“ nach einem „Bild“-Bericht steigende Quoten. Die Zeitung demonstriert aber auch regelmäßig ihre Ohnmacht. Trotz größter „Bild“-Schlagzeilen wollten die Menschen partout nicht „Star Search“ oder „Fear Factor“ einschalten – oder eben die „Bild“-Kandidaten zum Grand Prix wählen.

Ein Problem wird für die Zeitung dann daraus, wenn gerade die großen, etablierten Stars wie Raab, Engelke oder Grönemeyer (oder von ihnen geförderte Newcomer wie Max) „Bild“ die Zusammenarbeit verweigern. Dann bleiben ihr für ihre Titelgeschichten nämlich nur die Caroline Beils dieser Welt.

Und was macht die „Bild“-Zeitung nun zum Grand Prix? Beim Finale vor vier Jahren in Stockholm veröffentlichte sie ein Interview mit Raab, von dem der Moderator sagt, es sei frei erfunden gewesen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Aller Tage Vorabend

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Es wird nie mehr aufhören: Wie „Big Brother“ vom Auslaufmodell zum Fernsehformat der Zukunft wurde.

Es gab neulich — Sie haben das sicher verpaßt — eine total bewegende Geschichte bei „Big Brother“. Mark hatte geklagt, daß er schon viel zu lange Single sei, und die Produktionsfirma beschloß, ihm zu helfen. Sie rief die Zuschauerinnen dazu auf, sich für ein Date mit Mark zu bewerben. Zwei davon durfte er treffen und mit ihnen ein paar Minuten plaudern, danach sollte er sich entscheiden, mit welcher von ihnen er einen Tag verbringen wollte — bei Kerzenlicht und Champagner, nur er und sie. Und wir Zuschauer natürlich.

Was machte Mark? Schüchtern gestand er den Kandidatinnen, daß er sich für keine entscheiden könne, das hätte nichts mit ihnen zu tun, er könne das einfach nicht, jetzt, so spontan und überhaupt. Und die Mädchen verließen das Containerdorf, und Mark ging zurück in die Gemeinschaftsräume, und die Mitarbeiter konnten das ganze Schäferstündchen-Arrangement abräumen und mußten nicht einmal die Bettwäsche reinigen lassen, und es war ganz merkwürdig traurig und aufregend. Oder hat es das bei „Herzblatt“ schon einmal gegeben, daß ein Kandidat sagt, nö, die drei waren mir jetzt alle zu blöd, dann bleib‘ ich lieber Single?

Bei „Big Brother“ passieren Sachen, mit denen niemand rechnet, nicht einmal die Macher, und nicht alles ist so, daß man sich dafür schämt. Aus einer Sendung, die die große Fernsehrevolution versprach und vor allem entsetzliche Langeweile verbreitete, ist eine geworden, die tatsächlich regelmäßig die Gesetze des Fernsehens auf den Kopf stellt.

Das fängt damit an, daß es sie überhaupt noch gibt und daß sie ein Erfolg ist. Die tägliche Show um 19 Uhr schafft bei jungen Zuschauern im Schnitt 13,5 Prozent Marktanteil — RTL 2 hat sonst 7,8 Prozent. Das Publikum wird des Zusehens nicht müde; die Quoten sind ziemlich konstant. „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ und „Explosiv“, jahrelang die RTL-Vorabend-Bastion, leiden heftig und mußten die Werbepreise senken.

Der kommende Mittwoch ist der einhundertste Tag der fünften Staffel. Wäre alles wie früher, würden dann die letzten den Container verlassen und für ein paar hektische Wochen durch „TV Total“ tingeln, Singles aufnehmen und sich bei Neun Live bewerben, bevor sie in Vergessenheit geraten. Doch diesmal geht die Strecke über ein ganzes Jahr, und die Frage, ob das ein Mensch aushält, selbst einer dieser tätowierten, gepiercten Arbeitslosen, die überwiegend das Haus bewohnen, ist offen. Fünfzehn Kandidaten sind bis heute ausgeschieden, viele freiwillig, das sind mehr, als überhaupt aktuell im Spiel sind. Doch die gewaltige Fluktuation scheint niemanden zu stören. Nur ein paar zentrale Charaktere, die lange dabei sind, brauchen die Produzenten, um ihre Soap zu modellieren.

Denn anstatt wie früher die Fremden einfach einzusperren und zu sehen, was passiert, funktioniert „Big Brother“ heute mehr denn je wie eine „richtige“ Seifenoper, bei der die einzelnen Rollen in maßgeschneiderte Situationen gebracht werden. „Wir gehen offener und direkter mit den einzelnen Charakteren der Kandidaten um“, sagt Produzent Rainer Laux. „Wir manipulieren nicht, aber wir lösen Reaktionen aus.“ Nun ja, die Fäden, an denen die Kandidaten geführt werden, sind noch sichtbarer als früher, vor allem „Bestrafungen“ sind ein praktisches Regulativ: Als unter der Zahl der Glatzenträger im Haus die Übersichtlichkeit litt, bestand die Strafe für einen Regelverstoß für einen darin, sich nicht den Kopf rasieren zu dürfen.

Auch die Erzählweise hat sich längst aus der Strenge des dokumentarischen „Real Life“ verabschiedet. Wenn sich im Gespräch einer auf Vergangenes bezieht, zeigt „Big Brother“, wovon er redet, schwarzweiß, als Rückblende. Und wenn zwei mal wieder so endlos voreinander hinreden, nimmt der Regisseur regelmäßig den Impuls des Zuschauers vorweg und spult vor, mit lustigem Micky-Mouse-Stimmeffekt. Obwohl die Endlosdialoge nach den Worten von Laux immer noch das sind, was die Zuschauer am meisten fesselt, mehr noch als der Geschlechtsakt unter der Bettdecke. „Wenn es Sex gibt, ist das natürlich super, aber das ist nur ein kurzer Moment.“

„Big Brother“ ist trotz der Monotonie des Containerlebens zu einem der flexibelsten und vielfältigsten Fernsehformate geworden. Die „taz“ hat dafür den Ausdruck „Platzhalterfernsehen“ gefunden, was Laux gefällt. Mal wird aus der Soap ein Quiz, in dem die Bewohner gegeneinander oder sogar gegen einzelne Zuschauer antreten, mal eine Action-Show, mal eine Langzeitdoku, in der ein Bewohner auf den Marathon vorbereitet wird, mal eine Sitcom, in der die Zusammenfassungen mit Lachspur unterlegt sind. Wenn RTL ein „Promiboxen“ veranstaltet, läßt „Big Brother“ einen Bewohner schon ein paar Tage vorher gegen einen abgehalfterten Boxer antreten; zur Europawahl kommt der Bruder vom Kanzler, und alle plaudern über Politik. Die Sendung tauge auch als Labor für neue Programme, die man erst einmal günstig im festen Rahmen von „Big Brother“ teste, meint Laux.

Einmal hat „Big Brother“ den Bewohnern ein Auto in den Hof gestellt und „Touch the car“ gespielt: Alle müssen den Wagen anfassen, wer zuletzt die Hand vom Blech nimmt, gewinnt ihn. Das ist unendlich stumpf und hat doch eine merkwürdige Anziehungskraft, weil es selbst den Rahmen einer Außenwette von „Wetten daß?“ sprengt: Hier ist völlig offen, ob der letzte nach neunzig Minuten die Lust verliert oder nach dreieinhalb Tagen vor Erschöpfung unter dem Kotflügel zusammenbricht und wie groß die Opfer sind, die man dafür zu bringen bereit ist (Mark hat sich sogar in die Hosen gemacht; er hat trotzdem nicht gewonnen). Nein, das ist nicht immer schön anzusehen, meistens sogar nicht, und Produzent Laux sagt auch, daß es mit harmloser Spielroutine auf Dauer nicht getan ist: „Die Reizschwelle der Zuschauer hat sich gesteigert, da müssen wir natürlich kreativ bleiben und neue Trends setzen. Natürlich werden wir immer wieder an die Grenzen gehen. Wir verlegen mit dem Format die Schienen immer ein Stück weiter.“ Das heißt zum Beispiel, daß vor der für den Herbst angekündigten Welle von Dokusoaps über Schönheitsoperationen im deutschen Fernsehen mit Sicherheit ein Chirurg im Container auftauchen und einem Bewohner ein Angebot machen wird. Laux sagt, daß das durchaus pädagogisch sein könnte, der jungen Zielgruppe so zu zeigen, mit wieviel Unwägbarkeiten und Belastungen etwa eine Brustvergrößerung verbunden ist — der erste Aufbau eines Operationstisches im Haus ist aber dankenswerterweise vorerst abgeblasen worden.

Nicht weniger als 250 Mitarbeiter arbeiten in drei Schichten rund um den Container, und doch ist die Sendung ganz außerordentlich lukrativ. Jeden Montag rufen hunderttausend Zuschauer kostenpflichtig an, um jemanden rauszuwählen, es gibt teure Hotlines, Spiele, Logos und Klingeltöne. 50 000 Menschen geben 15 Euro im Monat allein dafür aus, bei Premiere rund um die Uhr in den Container schauen zu dürfen, macht allein schon einen Umsatz von 750 000 Euro. Den Werbekunden kann RTL 2 dann mit einiger Plausibilität erzählen, daß „Big Brother“-Zuschauer gute Konsumenten sind, die nicht zweimal überlegen, bevor sie etwas kaufen.

Bei der Produktionsfirma Endemol plant man schon für die Zeit nach dem Ende dieser Staffel im Mai 2005. Die naheliegendste Lösung liegt auf der Hand: „Big Brother 6“ könnte nicht hundert Tage dauern, nicht ein Jahr, sondern so lange, wie es sich rechnet. Also womöglich für immer.

Wie sie wurden, was sie nicht mehr sind

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der Musiksender Viva ist heute erst zehn Jahre alt, hat aber fast schon einen Nachruf verdient – Eine Geschichte in acht Gesichtern.

Ohne Viva wären DJ Bobo, Scooter und das Comeback von „Modern Talking“ nicht denkbar gewesen. Das mag ein zweifelhafter Erfolg sein, aber es ist ein Nachruhm, den dem Musiksender niemand nehmen kann, egal was kommt. Durch Viva, das Kind der Plattenindustrie mit Mindestanteil an Videos aus deutschen Landen, hat die deutsche Musikszene einen Schub bekommen, der kaum überschätzt werden kann. Welche Bedeutung der Sender heute, zehn Jahre nach dem Sendestart, noch hat, ist dagegen weniger gewiß.

Er ist gegenüber MTV in die Defensive geraten und leidet massiv unter der Werbeflaute. Musik ist im laufenden Programm von Viva nur noch ein Element unter vielen, die Beliebigkeit und die Austauschbarkeit des Senders wächst. Der Ableger Viva Plus betrachtet Musikfernsehen konsequent als Hintergrundmedium und Dudelfunk mit Grußmöglichkeit per teurer SMS. Er kommt ganz ohne Moderatoren aus, die bis vor kurzem noch als unentbehrlich galten, um einem Sender die nötige Unverwechselbarkeit zu verschaffen, und hat trotzdem schon fast so viele Zuschauer wie die große Schwester.

Vielleicht ist der zehnte Geburtstag von Viva die letzte Gelegenheit, eine Gattung zu würdigen, an die man sich bald nicht mehr erinnern wird: den Viva-Moderator. Er oder sie ist inzwischen verschwunden oder bei einem anderen Sender zu dem Typus mutiert, der dort gepflegt wir. Dies ist der Versuch einer kleinen Typologie der Gesichter eines Musiksenders.

Charlotte Roche.
Die Alibifrau.

Seit kurzem sieht man sie wieder häufiger im Viva-Programm oder wenigstens ihren Namen oder wenigstens den ihrer Sendung. Denn seit kurzem blendet Viva tagsüber oben eine Zeile ein, in der auch Sendungen angekündigt werden, die erst nach Mitternacht laufen. Das hat sich insofern schon gelohnt, daß man sich nicht mehr fragen muß, ob Charlotte Roche da überhaupt noch ist. Doch, ist sie. Aber vorher müssen halt noch diverse Wiederholungen von traurigen alten Pro-Sieben-Sendungen gezeigt werden, die kann man ja schlecht tief in der Nacht versenden. Man müßte Charlotte Roche mit ihrer Rotzigkeit und ihrem Interesse an Musik die „Vorzeigefrau“ von Viva nennen, aber natürlich ist sie die „Versteckfrau“: Es reicht völlig, daß sie da ist, man muß sich mit ihrer kleinen Sendung „Fast Forward“ ja nicht auch noch die Quoten versauen. Das eigentlich Traurige ist, daß ihr etwas verunglückter Ausflug zu Pro Sieben zeigte, daß sie bei einem kleinen Sender richtig gut und viel besser aufgehoben ist. Wenn dieser nur wüßte, was er an ihr hat.

Mola Adebisi.
Der Übriggebliebene.

In einem Interview hat Mola Adebisi einmal gesagt: „Von all meinen Aktivitäten, die ich seit meiner Jugend betrieben habe, ist Moderator mehr oder weniger ein Abfallprodukt gewesen.“ Und: „Ich bin zum Moderieren gekommen wie die Jungfrau zum Kind.“ Dem ist wenig hinzuzufügen. Als Mola Adebisi zu Viva kam, war er zwanzig und moderierte Kinderquatsch, im Februar wird er 31 und moderiert immer noch Kinderquatsch. Jeder andere wäre vermutlich nicht nur längst gegangen (okay, Mola hat zwischendurch „Die dümmsten Urlauber der Welt“ bei RTL 2 moderiert, das zählt aber kaum als Karriereschritt), sondern hätte sich wenigstens ein neues, gar reiferes Format bei seinem Sender erkämpft. Nicht einmal die Jubiläumssendung durfte er moderieren, wahrscheinlich ist er aber für das Clip-Special „25 Jahre Viva“ im Jahr 2018 schon gebucht. Andererseits: Für wen ist es trauriger, sich nicht zu verändern, für Mola oder einen trendigen Musiksender? Womöglich ist Molas Erstarren in Wahrheit eine große Erfolgsgeschichte. Was macht eigentlich Kristiane Backer?

Heike Makatsch.
Der Star.

Dutzendfach ist er gelaufen, der Clip von den ersten Minuten im Leben von Viva, in denen sie sagt: „Wir sind mehr als nur ein Fernsehsender, denn wir sind euer Sprachrohr und euer Freund, und ab heute bleiben wir für immer zusammen, okay?“ und sich zur Kamera beugt und ungelenk mit den Händen ein Sprachrohr formt. Immer noch hat er eine schräge Magie, weil Heike Makatsch so entschieden unprofessionell dasteht und doch so anders unprofessionell als all die anderen, die dachten, es reicht, nichts zu können, um Viva-Moderator zu werden. Sie steht da wirklich als neue Freundin und ist die einzige, die diesen Satz sagen kann, ohne daß er peinlich ist. Natürlich war sie klug genug, nicht für immer mit uns und Viva zusammenzubleiben, sie hat die wohl erstaunlichste Karriere gemacht und dreht heute Weihnachtskomödien mit Hugh Grant. Sie wirkt dabei so wenig wie eine richtige Schauspielerin wie damals wie eine richtige Moderatorin, und trotzdem möchte man sagen, daß sich das ganze Projekt Viva schon gelohnt hat, nur um der Welt Heike Makatsch zu schenken.

Stefan Raab.
Der Nervige.

„Du weißt auch nie, wann Schluß ist“, wirft man Kindern vor, wenn sie einen „Scherz“ zu weit getrieben haben. Dabei ist das exakt das Erfolgsgeheimnis von Stefan Raab. Alle Viva-Moderatoren profilierten sich über Penetranz, die meisten beließen es dabei, sich dafür eine möglichst affige, immer gleiche Begrüßungs- und Abschiedsfloskel auszudenken. Raab war konsequenter: Er verfolgte seine Opfer mit Mikrofon und Dauergrinsen, bis sie ihm eine reinhauten. Schon „Vivasion“ funktionierte durch die Wiederholung der immer gleichen Witze, so wie er später bei „TV Total“ geschätzte drei Millionen Mal das Geländer herunterrutschte, um den „Weltrekord“ zu brechen, und vermutlich noch öfter mit den Worten „Wir haben doch keine Zeit“ auf seine Armbanduhr tippte. Jahrelang hatte er erzählt, das mit dem Fernsehen nicht ewig machen zu wollen, sondern nach ein paar Jahren aufzuhören, um die Welt zu umsegeln. Gerade hat er dieses Versprechen gebrochen. Stefan Raab weiß, wann Schluß ist, nämlich genau dann, wenn der Spaß aufhört: nie.

Enie van de Meiklokjes.
Das eigentliche Nichts.

Es ist schwer zu sagen, was Enie van de Meiklokjes richtig gut kann. Sie moderiert, aber man weiß eigentlich nicht, warum. Sie ist bekannt, aber man weiß eigentlich nicht, woher. Sie redet, aber man weiß eigentlich nicht, worüber. Sie hat sich irgendwann diesen lustigen Künstlernamen anstelle von Doreen Grochowski ausgedacht, das hilft, und darüber kann man in jeder Talkshow ein bißchen plaudern. Und sie hat sich irgendwann diese lustige rote Frisur ausgedacht, das hilft auch, und als die Telekom sie als Modell für die Werbung verpflichtete, wurden die Haare magentarosa, warum nicht, besser, als wenn die Hausfarbe des Unternehmens Schlammbraun oder Giftgrün gewesen wäre. Ihre offensichtliche Talentlosigkeit ist Teil ihres Erfolges, schließlich können die meisten Zuschauer zu Hause auch nicht besser Englisch, ist doch nett, daß man trotzdem ins Fernsehen kommt, nicht nur diese arroganten Alleskönner. Jetzt moderiert sie im ZDF eine Sendung über klassische Musik, die Menschen ansprechen soll, die nichts von klassischer Musik verstehen. Sie ist die perfekte Wahl.

Oliver Pocher.
Harald-Schmidt-Imitator.

Die selbstironische Brechung, die Harald Schmidt ins Fernsehen brachte, war eine erfrischende neue Haltung, bis jeder siebzehnjährige Nachwuchsmoderator dachte, es solle auch die seine sein. Bis eine ganze Generation entdeckte, daß es zwar geil ist, Viva-Moderator zu sein, aber cooler, nur einen Viva-Moderator zu spielen. Daß man jeden schlechten Auftritt dadurch auffangen kann, daß man so tut, als sei es ohnehin nicht ernst gemeint gewesen, zwinker, wir verstehen uns, hey. Wenn Schmidt es schafft, jedem PR-Auftritt irgendeines Viva-Sternchens einen doppelten Boden zu geben, der ihn glänzen läßt, kann man es als cleverer Bursche sicher auch überleben, auf dem Interaktiv-Sofa zu sitzen und peinliche Fanpost von Teenagern vorzulesen – so die Logik von Oliver Pocher. Immerhin brachte er es zu einer Art Late-Night-Show bei Pro Sieben namens „Rent a Pocher“, in der nicht einmal das Saalpublikum über die Witze lacht. Sein eigenes „Höhö“ ist das einzige, was man hört. Aber in irgendeiner postmodernen Fernsehlogik ist das sicher ein Qualitätsmerkmal.

Sarah Kuttner.
Die Distanzierte.

Was für ein Glücksfall. Vor zwei Jahren kam Sarah Kuttner zu Viva und rettete den Sender – soweit eine Moderatorin das kann – vor kompletter Bedeutungslosigkeit. In kürzester Zeit stieg sie zum neuen Star des Senders auf, brachte ihn in die Schlagzeilen (bevor sie sich für den „Playboy“ auszog) und bewies, daß es einen dritten Musikfernseh-Moderationsweg gibt zwischen zynischer Dauerironie und dem völligen Einssein mit dem Teenageruniversum. Sarah Kuttner wirkt, als sei sie nur zu Gast in dieser Viva-Welt, als hätte sich selbst nie ein Poster von Alexander oder Westlife ins Kinderzimmer gehängt, und wenn doch, wäre es nicht sehr wichtig gewesen. Aber zugleich schaut sie nicht herab auf die „Bravo“-Leser, die sich ihre Sendungen anschauen. Sie ist unangepaßt in ihrem merkwürdig konservativen Auftreten und wirkt viel älter als die vierundzwanzig Jahre, die sie ist, wohl weil sie so wunderbar gelassen ist bei dem, was sie tut und was passiert. Auf ihrer Homepage steht: „Und ich frage mich gelegentlich: Bin das ich, oder bin ich schon so wie die im Fernsehen?“ Keine Sorge.

Dieter Gorny.
Der Philosoph.

Er hat noch keine eigene Sendung, aber wenn es mal soweit ist, müßte sie „Solo“ heißen oder „Astro-TV“, ein Format, in dem Viva-Chef Dieter Gorny ohne große Unterbrechung erzählen könnte, was die Zukunft bringt. Das wäre eine Neunzig-Minuten-Show, darunter ist es kaum zu machen. Wenn Gorny in Fahrt ist, mäandert er fröhlich durch Musikwissenschaft, Trendforschung, PR-Analyse und eigene Erfahrungen als Vater. Es wäre eine unterhaltsame Sendung, bei der man am Ende kurzzeitig das Gefühl hätte, jetzt hätte einem endlich jemand erklärt, was die Zukunft bringt. Später würde einem auffallen, daß richtig viel Handfestes nicht dabei war und das wenige genau das Gegenteil dessen, was er in der vorigen Ausgabe gesagt hatte. Es kämen Sätze darin vor wie der, den Gorny gerade dem „Musikmarkt“ zur Zukunft der Branche sagte: „Musikfernsehen als Brücke zwischen digitaler Distribution, sprich Downloading, und normalem Fernsehkonsum“, und: „Wir stehen hier am Anfang der digitalen Revolution.“ Wer wollte dem widersprechen, was immer es bedeuten mag?

Wie lebensmüde ist das Erste?

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

ARD-Programmdirektor Günter Struve über Schleichwerbung, Boulevardfernsehen und erboste Chefredakteure.

Herr Struve, wie geht es Ihnen im Jammertal?

Ich komme aus einem Gebiet, das unterhalb des Meeresspiegels liegt. Von daher befinde ich mich irgendwie immer relativ weit unten. Jammern ist aber eine der wenigen negativen Eigenschaften, die ich bei mir persönlich noch nicht kennengelernt habe. Es geht mir also den Umständen entsprechend gut.

Dabei ist das Jammertal, wie ich der ARD-Sendung „Wellness TV“ entnahm, doch ein höchst empfehlenswertes, wunderbares, entzückendes, traumhaftes Hotel.

Ja, das war in der ersten Sendung vergangene Woche. Die Ausgabe gestern sah schon ganz anders aus.

Inwiefern?

Sie geht deutlich sensibler mit den Dingen des Lebens und den diversen Angeboten um. Wobei „Wellness TV“ die Ungerechtigkeit angetan wurde, daß man es für einen Ratgeber hielt. Es war nie die Absicht, einen Ratgeber zu machen. Dann wäre die Präsentation in der Tat inakzeptabel gewesen.

Was ist es sonst?

Eine Unterhaltungssendung mit einigen unterhaltenden Hinweisen. Es ist eine — völlig außerhalb der Verantwortung der Chefredakteure liegende — Nachmittagssendung, hergestellt vom Familienprogramm. Mehr ist es nicht, weniger auch nicht. Und natürlich müssen auch da Grenzen beachtet werden.

Die waren wohl nicht klar genug.

Ja. Ich glaube, die letzte Sendung ging sehr unbefangen damit um. Es gab keine Rechtsverletzungen, aber sicher Fragen von Zweideutigkeit, das sieht auch der produzierende Saarländische Rundfunk so. Aber es ist natürlich ein Problem: Die kleineren ARD-Anstalten, denen es finanziell nicht sonderlich gut geht, möchten auch Angebote ins Gemeinschaftsprogramm einbringen und greifen eher auf Finanzierungsquellen zurück, die am Markte zu haben sind, die auch keine Schande sind, die aber natürlich das Profil des Ersten nicht verwischen dürfen. Und da gab es beim ersten „Wellness TV“ schon Nachbesserungsbedarf.

Sind Sie plötzlich sensibilisiert?

Wir sind natürlich stark sensibilisiert: Eine Vermischung mit werblichen Botschaften darf es bei uns nicht geben, und es gibt sie nicht, schon gar nicht in der Nähe von Ratgebersendungen, die neben den Nachrichten als besonders profilprägend für die ARD gelten. Deshalb muß man dort den Laden besenrein halten. Wenn Zweifel aufkommen, muß man handeln. Wir werden rechtlich mögliche Kooperationen mit Firmen nicht mehr bis an den Rand des Erlaubten, nicht mal mehr bis an die Nähe des Randes austesten.

Sie reden von den Werbegewinnspielen in Sendungstrailern für „Bunte TV“ und Bambi?

Das können Sie mit einbeziehen. Aber es ist kein Zufall, daß „Wellness TV“ und „Bunte TV“ von kleineren ARD-Anstalten kommen, die besonders findungsreich sein müssen im Aufspüren von Mitfinanzierungspartnern. Wir werden jedoch nicht ganz auf Gewinnspiele verzichten, damit würde man das Kind mit dem Bade ausschütten. Bei der Bundesliga ermöglichen sie uns, die Refinanzierung zu schaffen. Beim Sport sind sie auch redaktionell unschädlich. Aber bei Gewinnspielvarianten in Programmtrailern, da werden wir uns extrem zurückhalten. Die werden Sie im neuen Jahr nicht mehr sehen.

Es gab nach der verheerenden Presse einen Beschluß der Fernsehdirektoren, das sofort zu stoppen, aber Sie kommen so schnell nicht aus den Verträgen heraus.

Stimmt. Der Bambi ist vorbei, jetzt läuft noch der Werbetrailer für „Bunte TV“, aber auch da wird in Zukunft Zurückhaltung die Mutter der Porzellankiste sein.

Wieviel Werbung außerhalb der Werbeblöcke, wieviel Schleichwerbung, werbliche Beiträge sind gut für die ARD?

Schleichwerbung ist Gift und Galle. Wenn man sie findet, muß man sie bekämpfen. Einige Sonderwerbeformen sind dagegen völlig problemlos. Wenn man zum Beispiel den ganzen Tag die Tour de France überträgt und dann zwei oder drei Gewinnspiele zeigt, ist das sicher kein Problem. Es ist überall dort ein Problem, wo unser Informationsprofil in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Da sind wir wieder bei „Wellness TV“: Unsere Auffassung war, daß wir hier eine nachmittägliche Unterhaltungssendung machen, das ist aber beim unbefangenen Zuschauer völlig anders angekommen. Der sieht Bilder irgendeines Heilbades und empfindet das als einen Rat. Deshalb müssen wir an diese Dinge strenger herangehen: Könnte der Zuschauer glauben, ein Wellness-Format ist ein Teil des Informationsangebotes oder nicht? Die Bambi-Verleihung sieht kein unbefangener Zuschauer als eine Darbietung der ARD-Information.

Wie ist das bei „Bunte TV“?

Es gibt Kritiker, die sagen: Eigentlich ist das Wirtschaftswerbung für den Burda-Verlag, das sehe ich nicht so. Das zweite, was die Sendung auffällig gemacht hat, sind die Gewinnspieltrailer, von denen werden wir uns verabschieden.

Noch eine Auffälligkeit ist, daß das ein Boulevardformat ist, das für die ARD-Informationskompetenz nicht vorbildlich sein kann.

Nein, „Bunte TV“ ist ja nun eine ausgesprochene Unterhaltungssendung — wie Loriot, der vorher auf dem Sendeplatz lief. Das hat mit Information nicht das geringste zu tun, hat auch nicht den Anspruch. Abgesehen davon: Ist es wirklich so boulevardesk, Frau Merkel als ersten Gast zu haben?

Kommt darauf an, worüber und wie man da mit ihr redet.

Was das Format soll, ist klar: einen Einblick in die Welt von Prominenten ermöglichen, den wir ohne die Hilfe von Frau Riekel nicht haben könnten. Das halte ich auch für sehr legitim. Ob die Sendung dieses Ziel schon erreicht, muß jeder Zuschauer selbst entscheiden.

Gerade tobt eine Diskussion über den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, und Sie starten ausgerechnet „Bunte TV“, „Wellness TV“, nachmittags „Speck“, bald Schreinemakers…

Speck und Schreinemakers würde ich da völlig rausnehmen. Speck macht eine Lebensberatung, die weder gesponsert ist noch sonstwas.

Sie wird von der Firma von Vera Int-Veen produziert, und er sitzt da Alzheimer-Angehörigen gegenüber, die vor Publikum heulen — das ist schon ein Format, das man in der ARD so nicht kannte.

Ich kenne das Vorbild in den USA, Dr. Phil. Das ist ein common sense Lebensrat-Magazin, das durchaus auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sein kann. Frau Schreinemakers wird ebenfalls nicht darüber sprechen, wie siamesische Zwillinge Sex haben, das wird ein sehr journalistisches Format. Und bei „Bunte TV“ dürfen Sie nicht vergessen: Das kommt, wenn es einschlägt, nur einmal im Monat. Es läuft nur zu Beginn wöchentlich, um ihm eine Chance zu geben.

Groß ist das Interesse der Öffentlichkeit noch nicht.

Die Klassiker von Loriot hatten vorher die gleiche Quote. Der Sendeplatz ist verteufelt schwer.

Man kann auch anders rechnen: Die neuen Versuche, mit „Bunte“, „Wellness“, „Speck“ Privatfernsehen zu machen, sind dramatisch erfolglos. Die Zuschauer erwarten diese Farben nicht von der ARD.

„Speck“ ist, wie die anderen, kein kommerzielles Format, die Privaten hätten es abgelehnt, weil sie es für zu weich hielten. Und Sie müssen auch sehen: Was hat Herr Speck verdrängt? Dritt-Wiederholungen von Serien, die wir im Programm hatten, weil der Nachmittag bei uns so unterfinanziert ist.

Das ZDF sendet parallel Naturdokumentationen und freut sich über steigende Quoten.

Die ARD ist das einzige Programm, in dem Sie heute mehr Information am Hauptabend finden als vor zehn Jahren, weil wir Unterhaltungsplätze geschleift und beispielsweise der Dokumentation zugeführt haben. Ich teile Ihren Ansatz nicht, daß das alles kommerzielle Formate sind. Und: Wir korrigieren rasch. Wenn Speck keinen Erfolg hat, ist er nach 32 Folgen weg. Und ein „Bunte TV“, das keinen Erfolg hat, wird auch schnell korrigiert werden, und zwar auch im Wissen und Wollen der Protagonistin und der Produzentin. Ich halte Konvergenz im dualen System für die gefährlichste Bedrohung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, denn wenn wir nicht mehr unterscheidbar sind, sind wir entbehrlich. Aber bei diesen Formaten sehe ich es nicht. Schauen Sie es sich mal an, was Frau Schäfer früher für Formate gemacht hat. Dagegen ist sie jetzt bei „Wellness TV“ wie die Nonne Gretl aus einem Musterkloster. Bei einer Befragung im „Stern“ kam heraus, daß 73 Prozent der Menschen überhaupt keine Probleme haben, ARD und ZDF von den Kommerziellen zu unterscheiden. Die Trennungsschärfe ist stärker als 1995, weil völlig eindeutig ist, was wir für Programme anbieten und was die anderen.

Dafür haben Sie gerade die Kulturmagazine am Sonntag noch später in den Abend geschoben.

Das halte ich nachweislich für eine Verbesserung. Der Ablauf „Christiansen“, Kultur, „Tagesthemen“ war für eine Regelsendung wie die „Tagesthemen“ nicht bekömmlich, und die Kulturmagazine sind keine Regel-, sondern eine Feinschmeckersendung. Jetzt haben „Tagesthemen“ und Kulturmagazine zusammengerechnet viel bessere Quoten.

Trotzdem: Haben Sie es den Kritikern in den vergangenen Wochen nicht sehr leicht gemacht? Es muß Ihnen doch zu denken geben, daß Sie von wirklich allen Seiten Prügel beziehen.

Es ist wie immer ein Bandwaggon-Effekt, mal sind es die Flugmeilen, dann der öffentlich-rechtliche Rundfunk, jetzt Herr Gerster. Aber wer 24 Stunden am Tag Fernsehen macht, macht Fehler. In einigen Zeiten werden die kaum wahrgenommen, in anderen Zeiten — und in solchen sind wir jetzt — wird gesucht und jedes mittlere Fehlverhalten, jede Unbedachtheit gefunden und aufgebauscht. Dieser Kritik müssen wir uns stellen, aber mir liegt schon daran, festzuhalten, daß sich an unserer Grundtendenz, am Gesamtauftritt des Ersten überhaupt nichts und schon gar nichts negativ verändert hat.

Davon müssen Sie noch Ihre eigenen Chefredakteure überzeugen.

Wir haben mehr Chefredakteure als jedes andere Medienunternehmen. Die werden von mir hoch geschätzt. Die wissen, daß ihre eigenen Auftritte immer gut sind (das stimmt auch), und es ist legitim, anderes, was außerhalb des eigenen Einflußkreises liegt, zu kritisieren.

Die Lancierung der Kritik aus der Chefredakteurskonferenz richtete sich persönlich gegen Sie.

Natürlich, aber gegen mich wird ja alles mögliche lanciert. Selbst bei Planungen, die seit einem halben Jahr in den Häusern lagen und von allen abgenickt wurden, wie die gelegentliche Verschiebung der politischen Magazine am Donnerstagabend auf 21.45 Uhr, über die es vor einem halben Jahr so eine Aufregung gab. Dabei ist das „Panorama“, „Monitor“ und „Kontraste“ fast immer ausgesprochen gut bekommen. Dann schweigen die und sagen nicht: Hei, der große Struve, der wunderbare, hat uns einen Vorlauf geschaffen, der uns mit höherem Marktanteil ausstattet. Natürlich reden sich die Chefredakteure, vor allem, wenn ich nicht dabei bin, sehr in Rage. Das sollen sie tun, das ist gesund für die Seele.

Und Sie werden ihnen weiter Anlaß dazu geben.

Immer und gern. Ich sehe einen Teil meines Gehaltes dadurch gerechtfertigt, daß man jemanden hat, auf den man was abladen kann.

Machen Sie sich bitte mal nackt

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Die Fortsetzung der „Bild“-Zeitung mit anderen Mitteln: ARD und ZDF erobern den Boulevard.

Am Dienstag morgen ist in Hamburg eine ehemalige Angestellte in ein Reisebüro gelaufen und hat die Chefin mit einem Küchenmesser getötet. Schlimm. Nicht schlimm genug fürs ZDF. Dessen Nachmittagsmagazin „Hallo Deutschland“ machte mit dieser Meldung auf, und Moderator Marco Schreyl formulierte: „Ein blutiger Rachefeldzug mitten in Hamburg! Noch sind’s nur vage Spekulationen, die kursieren. Der Fall allein aber hat eine ganze Stadt in Aufregung versetzt.“ Die Mörderin wurde am Tatort überwältigt und vor laufender ZDF-Kamera abgeführt, aber eine ganze Stadt ist in Aufregung. Die Stadt heißt Mainz und ist der Sitz der ZDF-Boulevardredaktion.

Am nächsten Tag ist bei „Hallo Deutschland“ gleich ein komplettes Land in Aufruhr: „Dieser Prozeß bewegt die ganze Nation“, sagt Schreyl. „Zwei Kinder müssen sterben, weil zwei erwachsene Männer ihre sexuellen perfiden Phantasien ausleben wollen. Zwei Männer stehen für diesen gemeinsamen Mord seit heute vor Gericht, und halb Deutschland wünscht sich die beiden vor Wut und Zorn lieber tot als lebendig.“ Und das ZDF läßt halb Deutschland reden, und halb Deutschland sagt, was halb Deutschland immer sagt: daß Gefängnis nicht schlimm genug ist für solchen „Dreck“, der kein Mensch mehr sei.

Woher kennen wir diese Sprache? Richtig: Aus der „Bild“-Zeitung. Das paßt ja. In der „Bild“- Zeitung stehen auch die intimen Details aus dem Leben von Prominenten, die abends bei „Kerner“ noch einmal besprochen werden, und umgekehrt. Manchmal gibt es eine gewisse Zeitverschiebung, wie bei Boris Beckers Autobiographie, die diese Woche bei „Bild“ durchgenommen wurde und erst nächste Woche bei „Kerner“. Bis es soweit ist, wird das, was Becker macht, übrigens auch im ZDF und bei „Hallo Deutschland“ als „öffentlicher Seelenstrip“ bezeichnet. Wenn er sich später im eigenen Programm auszieht, wird man dafür sicher einen anderen Namen finden.

Thomas Bellut, Programmdirektor des ZDF, bezeichnet Johannes B. Kerner im Gespräch als „Boulevardjournalisten“. Das ist sicher nicht böse gemeint, auch wenn es Kerner nicht gefallen wird. Aber vielleicht könnte man das einmal festhalten: Das Gesicht, das das Programm und das Image des ZDF mehr prägt als jedes andere, ist das eines Boulevardjournalisten. Das ist ja nichts Unehrenhaftes, würde Kerner jetzt erwidern, aber interessant ist es doch. Und obwohl Hartmann von der Tann, stellvertretender Programmdirektor des Ersten, bei Reinhold Beckmann das Wort „Boulevard“ sorgfältig vermeidet und von einer „People-Show“ spricht, gilt für die ARD ähnliches.

ARD und ZDF sind auf dem Boulevard zu Hause, in einem Maße, wie es vor ein paar Jahren nicht vorstellbar gewesen wäre. Manche Straßenzüge haben sie allein gepachtet. In den Talk-Redaktionen wird geklagt, wie unfaßbar hart und unfair der Kampf um Talkgäste geworden sei, was die Moderatoren alles bieten müssen – und dabei findet dieser Kampf exklusiv zwischen ARD und ZDF statt. Kein Privatsender, der die Sitten verroht oder die Preise versaut: Die „People-Show“ am Abend, in der Prominente und weniger Prominente wie in einer Peep-Show möglichst viel von sich preisgeben sollen, läuft so nur im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Grund dafür ist natürlich nicht, daß es den Privaten zu intim, geschmacklos, schmuddelig wäre, Menschen beim „öffentlichen Seelenstrip“ zuzusehen. Sie haben sich aus diesem Geschäft zurückgezogen, weil sich damit nur wenige junge Menschen anlocken lassen. Die Öffentlich-Rechtlichen dagegen nehmen jeden und sind so um 23 Uhr zur Fortsetzung von „Bild“ mit anderen Mitteln geworden.

Ist das schlimm? Das ist Unterhaltung, sagen ARD und ZDF. „Der Erfolg von Unterhaltung mißt sich allein an der Zahl derer, die sich dafür interessieren“, sagt von der Tann. „Das ZDF ist ein Informationssender mit starker Unterhaltung, und an diesem Auftrag wirke ich mit“, sagt Kerner. Thomas Bellut fragt: „Hat der Zuschauer, der sich bei uns den ganzen Tag seriös informiert hat, nicht auch mal das Recht, sich mit Bobbeles Besenkammer zu beschäftigen?“

„Auch mal“ ist gut: Boris Becker sitzt innerhalb von acht Tagen insgesamt sechs Mal in drei verschiedenen ZDF-Sendungen, um seine Memoiren zu verkaufen. Es ist eine Werbefläche, wie sie bislang allenfalls RTL für Bohlen und seine (immerhin in der eigenen Sendung gekürten) Superstars freigeräumt hat, aber in dieser Penetranz noch nie ein öffentlich-rechtlicher Sender. Bellut bestreitet, daß es einen Masterplan gegeben habe: Der Auftritt Beckers bei „Unsere Besten“ falle zufällig in die gleiche Zeit; zu „Wetten daß“ kämen Leute wie er ohnehin nur, wenn sie für ein Produkt werben dürften, und das einwöchige „Kerner“-Special sei Kerners Idee gewesen. Bislang stehe fest, daß Becker in je einer Folge auf Familie, Sportler und Show-Freunde treffen werde. Wenn Kerner ihm kein journalistisch überzeugendes Gast-Konzept für die vierte Becker-Show vorlege, werde es keine geben.

Na, es wird schon eine geben.

„Wir haben uns gefragt: Wie kann man dem Phänomen Becker gerecht werden“, sagt Kerner. „Ich mache mir die Marketing-Überlegungen der Verlage nicht zu eigen.“ Vielleicht, philosophiert man beim ZDF, werde Becker sogar weniger Bücher verkaufen, weil nach dem Overkill viele Zuschauer das Gefühl hätten, es sei schon alles gesagt.

Das wäre tatsächlich eine langfristig hoffnungsvolle Strategie: Wir quatschen so lange und so viel, bis es keiner mehr hören mag. Dieser Zeitpunkt ist allerdings noch fern, der feste Platz für den Boulevard im Programm steht nicht zur Debatte. „Ich stehe voll und ganz hinter dieser Programmstruktur“, sagt Programmchef Bellut. „Sonst kann sich das ZDF nicht unter den Top 4 der Fernsehsender halten.“ Das ist das Dilemma: In der Gebührendebatte hätten die Öffentlich-Rechtlichen es kurzfristig leichter, wenn sie auf den Boulevard und seine Auswüchse verzichten würden. Wenn dadurch aber die Quoten sinken, würde langfristig die Gebührenfinanzierung wegen mangelnder Zuschauerresonanz in Frage gestellt.

Warum gibt es Sendungen wie „Beckmann“ in der ARD, Herr von der Tann? „Weil es ganz offensichtlich ein großes Interesse der Zuschauer an dieser Form der Unterhaltung gibt.“ Und warum muß da Susanne Juhnke am Rande des Nervenzusammenbruchs private Dinge über ihr Leben mit Harald Juhnke erzählen? „Eine People-Talkshow wie ,Beckmann‘ kommt an solchen Themen nicht vorbei.“ Es ist alles von großer Logik, aber erschreckender Konsequenz: Für Grenzüberschreitungen und das Bohren nach dem Intimsten sind am späten Abend ARD und ZDF zuständig. Natürlich weisen die Verantwortlichen das in großer Selbstzweifellosigkeit weit von sich. Interessanterweise fällt jedem aber ein, daß der Umgang der Konkurrenz etwa mit dem Thema Juhnke abscheulich gewesen sei.

„Unterhaltung gehört zu unserem Auftrag wie Bildung und Information“, sagt von der Tann, „Boulevardmagazine und People-Shows gehören dazu.“ Offensichtlich aber liegt es jenseits der Vorstellungskraft von ARD und ZDF, daß ein öffentlich-rechtliches Boulevardmagazin sich von einem privaten dadurch unterscheiden könnte, daß es bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Daß es aus einem Mord im Reisebüro keine Stadt in Angst machen muß. Daß es sich leisten könnte, Little Ali, den Jungen, der im Irak-Krieg beide Arme verlor, nicht in eine „People-Show“ einzuladen, Susanne Juhnke ihr Buch woanders verkaufen lassen könnte. Die Frage nach den Grenzen der Shows bleibt weitgehend unbeantwortet, ja: unverstanden. Hartmann von der Tann reicht die Verantwortung gleich mal weiter: „Natürlich gibt es Grenzbereiche, aber die muß die Redaktion selbst ausloten. Das ist eine Frage des Geschmacks, und da weiß Herr Beckmann schon selbst, was er tut.“ Und was wäre für die ARD nicht akzeptabel? „Alles, was die Würde der Menschen verletzte: gnadenloses Vorführen der Menschen, absolutes Abstellen auf Sex und Crime.“ (Man beachte die Adjektive. Einfaches Vorführen und relatives Abstellen auf Sex und Crime sind völlig okay. Beckmann wird es wissen.) Sein Kollege Kerner sagt: „Mich interessieren nicht Körperflüssigkeiten und Sexualpraktiken, bei mir hat es noch keine Vaterschaftstests gegeben. Den großen Unsinn machen nach wie vor die Privaten, zum Beispiel Talkshows, wo es um Vaterschaftstests geht. Das ist ein signifikanter Unterschied.“ Und: „Ich würde prinzipiell Leuten wie Schill kein Forum bieten.“

Öffentlich-rechtlich, das fällt allen dann noch ein, sei an diesen Sendungen, daß neben den Bohlens und Küblböcks da manchmal Politiker säßen, mit denen man manchmal auch über Politik rede, oder eine Runde aus Experten und Betroffenen, mit denen man über Kindesmißbrauch rede. „Wenn ich Kerner nicht als populäre Figur positionieren würde“, sagt Thomas Bellut, „würde ich die Zuschauer nicht für solche Themen bekommen.“ Immerhin räumt er ein, daß die „Bild“-Zeitung im Boulevard mehr als früher die Themen setze und überhaupt heute nur noch Mainstream die nötige Aufmerksamkeit erreiche und Kampagnen die nötige Lautstärke. „Wir müssen versuchen, auch mal dagegenzuhalten“, sagt er, „aber beim Unterhaltungsfernsehen muß man mitmachen, sonst liegt man daneben.“

Was, wenn bei ARD und ZDF jenseits von „heute“, „Tagesschau“ und einzelnen Nischen längst alles Unterhaltungsfernsehen geworden ist?

Kleines ABC des deutschen Fernsehens

Eine Handreichung für Investoren und solche, die es werden wollen.

Als Haim Saban, der neue amerikanische Besitzer von ProSiebenSat.1, am Mittwoch bei den Münchner Medientagen seinen ersten großen Auftritt in Deutschland hatte, hielt er stolz ein gelbes Büchlein in die Luft: „German for dummies“, ein Sprachkurs, den er zum Geburtstag bekommen hatte. Dann hielt er eine Rede, die „programmatisch“ hätte klingen sollen, aber eher zeigte, daß Saban noch mehr lernen muß als nur die deutsche Sprache. Wir schenken ihm daher exklusiv einen Auszug aus dem bislang unveröffentlichten Lehrbuch „German TV for dummies“. Können übrigens auch viele deutsche Teilnehmer der aktuellen Mediendebatten noch was draus lernen.

Beck, Kurt. a) Rheinland-pfälzischer Ministerpräsident und Vorsitzender des Verwaltungsrates des ZDF. b) Maßeinheit für das Erreichen des vorläufigen Tiefpunktes jeder Mediendebatte. Nicht zu verwechseln mit dem größten anzunehmenden Tiefpunkt jeder Mediendebatte (→ Söder, Markus).

Beckmann. Zentrales Auffanglager für Flüchtlinge, Kriegsversehrte, Alkoholikerfrauen, Depressive und ehemalige Tennisprofis, die von Reinhold B. so lange nach ihren intimsten und schlimmsten Traumata befragt werden, bis ihnen ihr ursprüngliches Leid vergleichsweise läppisch erscheint. Wichtig: Ist in der ARD nicht in der Abteilung „Information“, sondern „Unterhaltung“ angesiedelt, was allerdings offensichtlich niemand „Little Ali“ gesagt hat, dem zwölfjährigen Jungen, der bei einem Bombenangriff auf Bagdad beide Arme verlor und sich im Oktober 2003 nicht nur B., sondern auch Rosi Mittermaier und Norbert Blüm gegenübersah, die ihm ausdauernd ein „Wird schon wieder“ zutätschelten.

Boulevard. Euphemismus für die B-Welt von Bohlen, Busen, Ballermann. Früher exklusiv in „Bild“ und Privatfernsehen, heute vor allem in „Bild“ und ARD und ZDF (→ „Brisant“; → „Drehscheibe“; → „Hallo Deutschland“; → „Leute heute“; → „Beckmann“; → „Blond am Freitag“).

Dokumentation. Sendeform, die früher bei ARD und ZDF stattfand und heute bei Phoenix.

Duales System. a) Wiederverwertung gebrauchter Verpackungen durch Uwe Ochsenknecht. b) Nebeneinander von öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk in Deutschland. Taucht im → Gebührenpoker gerne als Warnung vor der „Schieflage des Dualen Systems“ auf. Privatsender wecken so den Eindruck, das Duale System sei eine Art Waage, und beide Formen des Rundfunks müßten annähernd gleich stark sein: Wenn es den Privaten schlechter ginge, müßten auch die Öffentlich-Rechtlichen weniger Geld bekommen (umgekehrt gilt die Regel nicht). Tatsächlich geht das Bundesverfassungsgericht nicht von einem anzustrebenden Gleichgewicht, sondern einem zwangsläufigen Ungleichgewicht aus: Man kann nicht davon ausgehen, daß Privatsender für die Gesellschaft das leisten, was öffentlich-rechtliche leisten können. Deshalb muß es die Öffentlich-Rechtlichen geben, damit es Private geben kann. Dank der Privatsender-Lobby ist das allerdings heute ohne Relevanz.

Feldbusch, Verona. Gelernte Prominente. Ensemble-Mitglied bei → Kerner. Regel: Ist Verona in einer Sendung zu Gast, steigen die Quoten. Macht Verona eine eigene Sendung, sieht niemand zu.

Ferch, Heino. Deutscher Schauspieler, durch dessen Casting Sat.1 aus einem → TV Movie ein monatelang beworbenes Event macht (→ „Es geschah am hellichten Tag“; → „Der Tunnel“; → „Das Wunder von Lengede“).

Film Film. Spielfilm auf Sat.1, der weniger als dreimal wiederholt wurde. Der erfahrene Sat.1-Zuschauer kauft sich vorher einen guten Wein Wein und greift glücklich zu den teuren Chips Chips.

Gebührenpoker. Alle vier Jahre veranstaltetes Spiel mit streng einzuhaltenden Rollen und Abläufen. Schematisch etwa wie folgt. Politiker: warnen ARD und ZDF, sie sollten sich bloß nicht einbilden, sie könnten eine Gebührenerhöhung bekommen. ARD und ZDF: hysterische Entrüstung, Untergangsszenarien, fordern deutliche Gebührenerhöhung. Politiker: trockenes Lachen. Private: völlige Empörung. KEF: schlägt vor, Gebühren halb so stark wie gewünscht zu erhöhen. Private: hysterische Entrüstung, Untergangsszenarien. Politiker: gemäßigtere Ablehnung, Verweis auf → Grundversorgung, Schieflage des → Dualen Systems, allgemeine → Krise. ARD und ZDF: hysterische Entrüstung, Drohung mit Bundesverfassungsgericht. Politiker: segnen KEF-Vorschlag ab, kündigen im Gegenzug Nachbesserungen bei → Rundfunkstaatsvertrag, → Dualem System, → Grundversorgung an. – Der Begriff „Poker“ ist insofern treffend, weil eigentlich immer alle bluffen.

Geissen, Oliver. Antwort auf die Senderfrage: Wen hätten wir gern als Moderator – Jauch kann nicht?

Grundversorgung. a) Reflexartige Mahnung von Privatsendern, Politikern und Medienforumsdiskussionsteilnehmern, wenn ARD oder ZDF so etwas wie „Verstehen Sie Spaß“ zeigen. Fester Bestandteil jedes → Gebührenpokers. Standardformulierung: „Das ist eine Luxusversorgung, keine Grundversorgung“ (Premiere-Chef → Kofler, Oktober 2003). Synonym für „Minimalversorgung“, also etwa „Tagesschau“ plus „Wort zum Sonntag“ plus dröge Dokumentationen, die den Öffentlich-Rechtlichen zugestanden wird. b) Begriff, den das Bundesverfassungsgericht 1986 erstmals gebrauchte, um den umfassenden Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen zu beschreiben. Meint die Versorgung der Bürger mit all dem, was sie klassischerweise vom Fernsehen erwarten dürfen: Bildung, Information, Unterhaltung; sehr spezielle Programme ebenso wie überaus Massentaugliches. Meint nicht, daß ARD und ZDF nur Salat, Obst und Vollkorn liefern dürfen, um ein Gegengewicht zur privaten Currywurst mit Pommes und Eis zu bilden. Also ziemlich genau das Gegenteil von a), im Alltagsgebrauch dank Privatsenderlobby aber inzwischen ohne Bedeutung.

Jauch, Günther. Antwort auf die Senderfrage: Wen hätten wir gerne als Moderator?

KEF. „Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten“. a) Unabhängige Behörde, durch die nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1994 sichergestellt wird, daß nicht die Politiker über die Festsetzung der Rundfunkgebühren Druck auf ARD und ZDF ausüben können. b) Unabhängige Behörde, deren Empfehlungen im Gebührenpoker für eine vorübergehende Versachlichung der Debatte sorgen, nach kürzester Zeit aber von allen Beteiligten und insbesondere den Politikern wieder ignoriert werden.

Kerner, Johannes B. Hochwertige ZDF-Talkshow mit interessanten Gästen.

Kluge, Alexander. Intellektueller, der es mit seinen Sendungen schafft, daß RTL- und Sat.1-Zuschauer auch mal abschalten und vielleicht wieder ein Buch lesen.

Landesmedienanstalt. Obskure Behörde, die einmal im Jahr darauf hinweist, daß ein Privatsender ein Programm gar nicht, nicht so oder nicht um diese Zeit hätte ausstrahlen dürfen, oder vollständig unbekannt bleibt. Die Landesmedienanstalt Saarland (LMS) etwa ist in fünf Abteilungen und eine Stabsabteilung samt angeschlossener Sachgebietsleiterin organisiert, hat einen Medienrat mit 32 Mitgliedern zuzüglich Stellvertretern (die Saarländische Natur- und Umweltschutzvereinigung ist zur Zeit nicht vertreten) und vier Fachausschüsse. Ihr Direktor meldete Mitte Oktober 2003 einen „wichtigen Schritt in Richtung auf verbesserte Rahmenbedingungen für den privaten Rundfunk im Saarland“. In einem „langwierigen und schwierigen Verfahren“ sei ein Kompromiß zwischen LMS, DeutschlandRadio und Saarländischem Rundfunk gefunden worden, was die Frequenzen in Saarbrücken, Sulzbach, St. Ingbert, Mettlach und Merzig angeht.

Lange, Frau. Bei ihr hat der kleine Michael immer seine Schokoladen-Riesen gekauft. Wie könnte sie ihn vergessen, er kam ja jede Woche.

Marktführer. Synonym für → RTL. Erstes Axiom des deutschen Fernsehens: RTL ist Marktführer. Aus Langeweile erfand RTL einst den „kumulierten Marktanteilsvorsprung“ und addierte fröhlich den Abstand zu Sat.1 und Pro Sieben, um mit noch größeren Zahlen werben zu können. Aktuell weist RTL darauf hin, daß sein Vorsprung zu Sat.1 und Pro Sieben jeweils größer ist als der von Pro Sieben plus Sat.1 zu RTL (→ Mathematik, höhere).

Menschenzoo. Vielzitierte abwertende Umschreibung von „Big Brother“ durch den SWR-Intendanten und damaligen ARD-Vorsitzenden Peter Voß: „Fernsehen aus dem Menschenzoo“. Wird ausschließlich für Privatfernsehsendungen verwendet.

Pay-TV. a) Inzwischen meist digitales Fernsehangebot, das gegen Extragebühren auf vielen Kanälen attraktive Programme anbietet, die man im kostenlosen Fernsehen niemals zu sehen bekäme, wie zum Beispiel „Alf“, „Bonanza“ oder die „Sissi“-Trilogie. Zeigt auch Sport, neuere Kinofilme und Erotik und demnächst bald bestimmt irgendwann möglicherweise endlich auch richtige Pornos. b) Abwertend gemeinter Ausdruck für ARD und ZDF im Gebührenpoker. c) Zunehmend alle Programme, da sie über den Umweg von → Telefongebühren den Zuschauer für das sogenannte „Free-TV“ zahlen lassen.

Qualität. Synonym für → Quote. RTL-2-Chef Josef Andorfer: „Qualität ist, was die Leute sehen wollen.“ (→ Deutscher Fernsehpreis).

Quote. → Gott.

Realität. a) Früher: vage Bezugsgröße für den Inhalt des Fernsehens (→ Versprechen, falsche). b) Heute: Paralleluniversum zur Fernsehwelt ohne direkte Verbindung. RTL-2-Chef Josef Andorfer: „Fernsehen ist ein Unterhaltungsmedium, das nicht für real genommen wird.“ (→ „RTL 2 News“; → Court-TV; → Doku-Soaps).

Reality-TV. Gegenteil von → Realität. Reality-TV zeigt entweder authentische Personen in an den Haaren herbeigezogenen Situationen (→ „Big Brother“) oder echte Situationen, die vom Laienspiel herbeigezogene Darsteller aufführen (→ „Die Jugendberaterin“). Der Begriff wurde im vergangenen Jahrhundert für Sendungen wie „Notruf“ erfunden, die insofern real waren, als sie zum Beispiel Kinder, die von Lastwagen überfahren wurden, ohne daß eine Kamera dabei war, noch einmal unter die Lastwagen legten und filmten.

Regionalprogramm. a) Außerordentlich erfolgreiche Sendungen in den Dritten Programmen, die die Zuschauer über Wichtiges und Buntes in ihrer Region informieren. b) Außerordentlich erfolglose Sendungen bei Sat.1 und RTL, die die Zuschauer überregional auf neue Erotik-Kalender, die Wahl des Mister Universums aus Wolfsburg und das Fernsehprogramm hinweisen. Zur Ausstrahlung sind die großen Privatsender aus Lizenzgründen verpflichtet, nicht aber dazu, den Themen auch nur scheinbar einen regionalen Bezug zu geben. Trotzdem machen die „Regional“-Magazine angeblich Millionenverluste. Tip für Investoren: Weisen Sie melodramatisch (→ Feldbusch, Verona) darauf hin, daß Sie für nichts garantieren können, wenn Sie die Regionalprogramme nicht zentral produzieren können, und erwähnen Sie ein paar Mal die Wörter „Arbeitsplätze“ und „Überregulierung“.

Rendite. Sinn privater Fernsehsender, zunehmend auch: privater Fernsehsendungen. Erste Amtshandlung neuer Eigentümer: Rendite fordern. Zweite Amtshandlung: Von jedem einzelnen Sendeplatz die Erfüllung der Renditevorgabe (gerne: 15 Prozent) fordern. (→ ProSiebenSat.1).

Sabine Christiansen. Talkshow mit Sabine Christiansen, Hans Eichel und Gästen zum Thema: „Deutschland am Abgrund – ist die Rente / Wirtschaft / Zukunft noch zu retten?“

Schäfer, Bärbel. Moderatorin, die von der ARD stammt, dann aber für ein mehrjähriges Praktikum zu den Privaten geschickt wurde. Was sie dort übers Fernsehmachen gelernt hat (→ Schmuddel; → Talk), stellt sie nun wieder den Öffentlich-Rechtlichen zur Verfügung (→ Schreinemakers, Margarethe; → Kerner, Johannes B.; → Beckmann, Reinhold; → Pilawa, Jörg).

Schleichwerbung. Große Samstagabendshow mit → Gottschalk, Thomas.

Seifenoper. Auch: Soap. Man unterscheidet zwischen täglicher (Daily Soap) und wöchentlicher (Weekly Soap) Ausstrahlung. Die Daily Soap ist eine Endlosserie mit verwirrenden Verwicklungen, Intrigen und Liebesgeflechten zwischen gutaussehenden Menschen (→ „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, → „Verbotene Liebe“). Die Weekly Soap ist eine Endlosserie mit verwirrenden Verwicklungen, Intrigen und Liebesgeflechten zwischen häßlichen Menschen (→ „Lindenstraße“, → „Hinter Gittern“). Merke: Soaps funktionieren nur bei RTL und in der ARD, dort aber auch in der Prime-Time.

Spaßgesellschaft. Sammelbegriff für beliebte Unterhaltungsformate und ihr Publikum. Der frühere ZDF-Intendant Stolte sagte über die Spaßgesellschaft: „Ich glaube, daß die Programmformate, wie sie im kommerziellen Fernsehen laufen, voyeuristische Bedürfnisse, die immer in der Gesellschaft latent vorhanden sind, bedienen und daß so etwas in den Programmen des ZDF, aber auch der ARD keinen Platz hätte.“ ( → Kerner, Johannes B.; → Beckmann, Reinhold; → Juhnke, Susanne; -→ Ali, Little; → Erfurt, Geiseldrama von).

Sportrechte. „Sportrechte kaufen“ ist ein unregelmäßiges Verb: Ich kaufe zu einem fairen Preis / Du treibst die Preise in die Höhe / Er hat den Markt völlig versaut.

Standortpolitik. Quelle für zahlreiche materielle und immaterielle Vorteile für Fernsehsender, die sich durch einen Umzug oder die Drohung damit noch vervielfältigen lassen. Außer finanzieller Unterstützung ist besonders die Vertretung der eigenen Interessen durch die jeweilige Landesregierung interessant. Beispiel: „Wir haben Sie gerettet“ – der bayerische Ministerpräsident Stoiber im Oktober 2003 öffentlich zu Neun-Live-Chefin Christiane zu Salm. Gemeint ist der bayerische Widerstand gegen eine Gesetzesänderung, die das zweifelhafte Geschäftsmodell von Neun Live endgültig unzulässig gemacht hätte.

Superstar. a) Früher: Bezeichnung für Berühmtheiten mit enormem Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad (→ „Wetten, daß?“). b) Heute: Gegenteil von a) (→ Küblböck, Daniel; → Alexander).

Versprechen, falsche. „Wir versprechen Ihnen, uns zu bemühen, das neue geheimnisvolle Fenster in Ihrer Wohnung, das Fenster in die Welt, Ihren Fernsehempfänger, mit dem zu erfüllen, was Sie interessiert, Sie erfreut und Ihr Leben schöner macht. Wir sollten es dazu benutzen, das große Wunder des Lebens im Reichtum seiner Formen und Inhalte anzuschauen und zu erkennen.“ Werner Pleister, Intendant des NWDR, in seiner Eröffnungsrede 1952.

Werbung. Noch Haupterlösquelle für Privatsender (vergleiche aber auch → Telefongebühren). Je länger eine Sendung ist, desto häufiger darf sie von Werbung unterbrochen werden. Deshalb werden Sendungen verlängert, indem nach der Werbung einige Augenblicke zurückgespult und die letzte Szene wiederholt wird oder Filme einfach langsamer abgespielt werden. Viele Sendungen berücksichtigen die Werbepause bereits bei der Produktion, blenden am Ende einer Szene sanft aus und dann sanft ein. An dieser Stelle senden deutsche Privatsender die Werbung nie, sondern ausschließlich, wenn es gerade gar nicht paßt.

Wiederholung. Wird im Programm nicht Wiederholung genannt, sondern euphorisch als „Wieder da!“ angepriesen. Handelt es sich erst um die Zweitausstrahlung einer Serie, heißen Wiederholungen „noch nie wiederholte Folgen!“. Als Erlösmodell von RTL 2 perfektioniert. Beispiel: „King of Queens“. RTL 2 zeigt jeden Werktag vier Folgen hintereinander, also 20 Folgen pro Woche (die alle morgens noch einmal wiederholt werden). Bei insgesamt 125 Folgen beginnt die Dauerschleife alle sechs Wochen von vorn, am 16. Oktober 2003 begann der achte Durchlauf des Jahres. (→ „Eine schrecklich nette Familie“.)

Wurm. Beliebte Metapher für niveauloses, aber erfolgreiches Fernsehprogramm, geprägt von RTL-Gründer Helmut Thoma: „Der Wurm muß dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.“ Erstaunlicherweise hat ihm nie jemand erwidert, daß der kluge Fisch den Wurm verschmäht, weil er die Metapher sonst nicht überlebt. (→ Ertrinken, im Seichten kann man nicht).

Zwanziguhrfünfzehn. Anfangszeit des Hauptabendprogramms im deutschen Fernsehen. Ja, auf allen Kanälen. Ja, das ist international einzigartig. Ja, eine runde Anfangszeit wäre viel praktischer. Nein, das können Sie nicht ändern.

Mitarbeit: Michael Reufsteck

Heulen Sie beim Fernsehen, Herr Zeiler?

Ein Grundsatzgespräch mit dem RTL-Geschäftsführer, dem mächtigsten Mann im deutschen Fernsehen.

Herr Zeiler, ich möchte mit Ihnen übers Fernsehen reden.

Ich hätt‘ mit Ihnen auch nicht über Politik geredet.

Passiert Ihnen das oft? Reden Sie nicht sonst nur über Zahlen, Synergien, Formate . . .?

Über Synergien rede ich fast nie, weil ich das Wort schon nicht aushalte. Zahlen habe ich im Kopf, da brauch‘ ich gar nicht viel zu reden. Nein, ich rede eigentlich die meiste Zeit übers Fernsehen.

Aber in Ihrer Position doch sicher auf einer sehr abstrakten Ebene.

Wenn Sie sich vorstellen, der Chef von RTL ist jemand, der von früh bis spät über Zahlen nachdenkt oder sie präsentiert bekommt, muß ich Sie enttäuschen. Ich bin ein Zahlenmensch; ich hab‘ ein gutes Zahlengedächtnis. Aber Zahlen sind ja nichts, was man senden kann – Gott sei Dank. Fernsehen ist ein Produkt. Fernsehen sind die Programme. Ohne die Verbindung zu den Programmen wäre es nicht so spannend, diesen Job zu haben.

Viele Leute sagen: Der Zeiler guckt alles. Mit so einem Tonfall: Das ist sonst nicht üblich.

Ich lese auch noch immer Drehbücher. Von jeder amerikanischen Serie auf dem Markt habe ich zumindest drei Folgen gesehen. Jede deutsche Serie habe ich gesehen, nicht alle Episoden natürlich. Wenn wir eine neue Serie machen, wie „Krista“, schaue ich alle acht Folgen an. Punkt. Das ist zusammen irrsinnig viel, aber es macht Spaß.

Die Videos sehen Sie abends zu Hause auf dem Heimtrainer.

In meinem kleinen Fitneßcenter, das ich im Keller hab‘. Da habe ich ein Laufband und einen Hometrainer, jetzt kaufe ich mir noch so einen Stepper – und dann schau‘ ich. Ich bin dort in schlechten Wochen drei Stunden, in guten fünf Stunden. Natürlich schaue ich viel im Durchlauf. Aber die wesentlichen Fiction-Formate, da muß man sich hineinfallenlassen. Das muß man schon ganz spüren. Das kann man nicht im Schnellvorlauf machen. Ich liebe ja auch Fernsehen. Ich mag einfach dieses Produkt. Ich bin keiner, der sagt: Ich bin zwar RTL-Geschäftsführer, aber bei mir läuft abends nur Arte. Ich bin durchaus Mainstream. Mein Musikgeschmack ist Mainstream, mein Filmgeschmack ist Mainstream – das heißt nicht, daß mir künstlerische Filme nicht gefallen. Aber ich bin Mainstream. Ja!

Gibt es Sendungen, die Sie als hart rechnenden Geschäfts-Fernsehmenschen richtig gepackt, zum Lachen oder Weinen gebracht haben?

Ja, gibt es immer wieder. Ich muß sagen – das klingt wie aufgesetzt, aber es stimmt: Es gibt wenige Fernsehproduktionen, die mich so bewegt haben wie „Deutschland sucht den Superstar“.

Waren Sie im Publikum, als Gracia rausgewählt wurde?

Das war die einzige Folge, bei der ich nicht im Studio war, sondern die ich mir im Ski-Urlaub angeschaut habe. Meine Frau hat schon geschlafen und war sauer auf mich, daß ich meine Tochter, die sieben ist, nicht habe schlafen lassen.

Was ist in Ihnen da vorgegangen?

So eine Sch. . .

Scheiße.

Ja, das habe ich mir gedacht. Und das ist mehr, als je ein CEO der RTL-Group einer Zeitung anvertraut hat. Gracia war meine Favoritin und die meiner Tochter. Ich mußte immer für sie anrufen.

Als Daniel Küblböck zusammenbrach, ist mir mulmig geworden.

Mir nicht. Wir haben uns lange vor der Show intensiv über Vor- und Nachteile von Live-Shows unterhalten. Ich habe immer gefragt: Haben wir das im Griff? Wir haben’s immer im Griff gehabt. Das war ein emotionaler Moment, wo es einmal an der Kippe stand. Und wo interessanterweise der viel geschmähte Carsten Spengemann letztlich die Kurve gekriegt hat, daß es nicht von der Kippe fällt.

Aber es gibt heute kaum noch Momente im Fernsehen, wo man merkt: Hier passiert was!

Es gibt wenig Konzepte, die massenwirksam packend sind. Ich bin einer, der, wenn die Nationalhymne gesungen wird, eine Gänsehaut am Rücken hat. Ich weiß schon, das kann man nicht nur mißverstehen, sondern auch ausnutzen. Ich habe lange Psychologie studiert, die Kombination von Massenmedien und Massenhysterie ist mir schon klar. Trotzdem: Es gibt wenige Programme, über die man nicht nur redet, die uns nicht nur intellektuell beschäftigen, sondern die auch bewegen. „Superstar“ war so etwas.

Bei einigen Folgen von „Six Feet Under“ oder „Ally McBeal“ kann ich heulen. Sie auch?

Das kann mir schon passieren. Aber eher im Kino. Fernsehserien, die mich in letzter Zeit emotional sehr gepackt haben, fallen mir jetzt im Moment nicht ein.

RTL ist extrem erfolgreich – aber was packt mich da? Das ist alles Routine, Alltag, Füllstoff.

Gewisse Sportevents sind packend, die muß man aber dramaturgisch so hinkriegen. Eine andere Geschichte, die mich sehr gepackt hat, war die „70er Show“ mit Hape Kerkeling. Die letzte Sendung . . .

Comedians sangen die Schlümpfe und waren ganz gerührt.

. . . war Spitzenklasse. Oder unsere Sitcoms. Wir haben ein paar wie „Bernds Hexe“, wo ich von der ersten Sekunde dasitze und schmunzle und zwei Mal lache – und wenn es fertig ist, hab‘ ich es vergessen. Es ist nicht wirklich relevant, es ist leicht, aber das soll es auch sein. „Mein Leben und ich“ ist etwas anderes. Das ist auch tiefgehend. Oder auch Atze Schröder zu positionieren. Da haben alle am Anfang gesagt: Das wird ein schrecklicher Absturz. Wir haben lange gezögert und noch eine zweite Staffel gemacht. Aber Atze findet immer mehr seine richtige Positionierung. RTL ist Positionierung. Das ganze Leben ist Positionierung.

Aber Fernsehen, das relevant ist, Gesprächsstoff – daß man im Büro fragt: Habt ihr das gestern gesehen? -, gibt es immer weniger.

Weil die Fragmentierung zunimmt, das ist doch logisch. Aber das gibt es doch noch. Wie oft hat man gesagt: „Die Samstagabendunterhaltung ist tot!“? Und plötzlich haben wir mit „80er Show“, „Superstars“, „70er Show“ einen Hit nach dem anderen. Das sind auch Dinge, über die die Leute reden. Oder über „Wer wird Millionär“.

Aber spielt Leidenschaft noch eine Rolle beim Fernsehmachen, Kreativität, die Lust: Diese Idee will ich unbedingt ins Fernsehen bringen, das will ich sagen? An die „Superstars“ noch x Best-Ofs dranzuhängen oder jetzt eine Kinder-Version zu machen, sind doch rein betriebswirtschaftliche Entscheidungen.

Sie verwechseln zwei Dinge. Das eine heißt im Geschäftsleben: Ich versuche, meine Marken zu diversifizieren. Das gibt es überall: „Bild“ macht „Computerbild“. Deswegen gehen aber, wenn sie es richtig machen, nicht die Emotionen verloren. Deshalb ist nicht weniger Leidenschaft dabei. Die Frage ist, ob du das gut machst oder nicht gut machst. Wir haben leidenschaftlich darüber diskutiert, ob wir „Pop Idol“ Deutschland machen und wie wir das machen. Wenn wir so etwas entscheiden, dann volle Pulle. Dann sind wir Perfektionisten. Wir gehen den Produktionsfirmen schwer auf die Nerven. Wenn ich höre, daß eine Produktionsfirma unsere Redakteure lobt in dem Sinne: die lassen uns frei arbeiten, sage ich: Da läuft was schief.

Die Firmen sagen umgekehrt, daß der Sender ihnen mangels Mut alles Spannende aus ihren Konzepten wieder rausstreicht.

Das stimmt für RTL nicht. Wir sind mutig. Aber das muß nicht immer das sein, was Produktionsfirmen unter Mut verstehen. Und ich mache die Fehler lieber selber, als daß ich sie andere machen lasse.

Ist es, wenn man so erfolgreich ist wie RTL, schwerer, mutig zu sein?

Ja.

Und Ihre Konkurrenz sagt, sie könne es sich nicht leisten, weil sie zu klein ist. Na super.

Nein, bei einem kleinen Sender kannst und mußt du viel mutiger sein als bei einem großen. Wir sind ja nicht das Flugzeug, das erst 100 Meter vom Boden aufgestiegen ist, wir sind in 10 000 Metern Höhe.

Also bloß nix riskieren.

Nein, ich sage nur: Wir haben viel zu verlieren. Andererseits wissen wir: Wenn wir nicht jedes halbe Jahr zwei, drei neue Programme bringen und den Innovationsmotor einmal stottern lassen, ist das der Anfang vom Ende. Wir müssen ins Risiko. Wenn das Mißerfolgsvermeidungsdenken beginnt, ist es aus. Dann müssen Sie mich von dem Job wegnehmen.

Was war im vergangenen Jahr innovativ, riskant, außer vielleicht dem „Superstar“?

Die „70er“, die „80er Show“ . . .

Ist es innovativ, nach der „80er“ eine „70er Show“ zu machen, bald die „90er“ und die „DDR-Show“?

Also, die „80er Show“ war ganz bestimmt innovativ. Im fiktionalen Bereich waren wir in der Vergangenheit mit „Hinter Gittern“ innovativ. Den Sitcom-Boom haben wir ausgelöst. Wir haben uns auch getraut, „Wie war ich, Doris“ gegen den Schröder zu machen – leider nur eine schlechte Produktion.

Setzt RTL die gesellschaftlichen Trends in Deutschland?

Medien setzen keine Trends. Medien können Trends verstärken und abschwächen. Sie können als Medium nicht die Meinung der Leute umdrehen.

Auch nicht mit Ihrer Größe?

Nein. Und das ist auch gut so.

Aber Sie setzen Medientrends.

Ja, klar. Wenn ein Modehaus etwas Neues macht und das trifft auf Akzeptanz beim Konsumenten, dann setzt der erste, der’s macht, einen Trend. Ja. Aber davor muß man sich nicht fürchten; es verändert ja die Welt nicht.

Es verändert die Fernsehwelt.

Mich plagt beim Einschlafen nicht der Gedanke, ich hätte mit meinen täglichen Entscheidungen die Welt verändert und wüßte nur nicht, in welche Richtung.

Und wenn im Herbst auf jedem Sender eine „Superstar“-Kopie läuft, haben Sie da nicht manchmal das Gefühl: Oh Gott, was hab‘ ich da ausgelöst?

Ehrlich gesagt, wir schauen nicht so sehr auf die anderen Kanäle. Wirklich nicht. Das ist das Schöne an der Mannschaft, die ich da habe: Die Leidenschaft für das Produkt – das sind lauter Verrückte, inklusive meiner Person. Und die Identifikation mit der Marke RTL. Das ist ein Teil des Erfolges.

Wenn es bergauf geht mit den Werbeerlösen, gibt es einen Traum, den Sie sich dann erfüllen wollen?

Wir haben auch gespart, deutlich gespart. Aber wir haben uns unsere Träume eigentlich immer erfüllt. Wir haben sogar „Held der Gladiatoren“ gemacht, die teuerste deutsche Fiction-Produktion bis dato, weil ich gesagt habe: Das probieren wir aus. Das ist ein historisches Drama, eine Art Soap. Es gibt ein Projekt im Jahr, bei dem wir sagen, da trauen wir uns was ganz Besonderes. Wir haben nicht alle Wünsche erfüllt, keine Frage. Aber daß große Träume unerfüllt geblieben sind? Nee. Die Champions League hätte ich sowieso nicht genommen.

„Laßt die Anzeigenseiten weg, und verdoppelt den Preis!“

Wie überleben die Qualitätszeitungen? Axel Zerdick, Professor für Medienökonomie an der FU Berlin, hat ein paar radikale Ideen

Herr Zerdick, Sie haben schon vergangenes Jahr den überregionalen Zeitungen gesagt, sie sollten nicht hoffen, daß bei besserer Konjunktur die Stellenanzeigen zurückkehren, denen sie bislang einen Großteil ihrer Einnahmen verdankten. Zwei Drittel würden nie zurückkommen.

Ja, aber die Prognose war wohl falsch.

Ach?

Die Zeitungen sollten sich darauf einstellen, daß es eher einhundert Prozent werden. Wir haben alle Rubriken durchgearbeitet – nur für Todesanzeigen sehen wir keine Konstruktion, wie sie im Internet veröffentlicht ihre Funktion erfüllen könnten. Die bleiben den Zeitungen. Die anderen Rubrikenanzeigen aber sind mittelfristig nicht zu halten, und das sollte sich auch niemand wünschen.

Wie meinen Sie das?

Datenbankgestützte Internet-Angebote sind nicht nur bei Immobilien- und Stellenanzeigen in jeder Hinsicht überlegen. Nehmen Sie ein besonders klares Beispiel: Handelsregister-Eintragungen sind für Geschäftspartner zwar nur selten wichtig, dann aber dringend. Jeder andere Weg als der Zugriff auf eine vollständige und zuverlässige Datenbank wäre nicht nur ineffektiv, sondern auch riskant.

Aber die Stellenanzeigen werden doch zumindest so lange noch gebraucht, wie nicht alle Menschen „online“ sind?

Das wäre für die Zeitungen ein Trost, aber mit zeitlicher Begrenzung. Wir kennen aber die Perspektive der Unternehmen; für die ist Rekrutierung und Personalentwicklung sehr viel wichtiger, als die Zeitungen zu glauben scheinen. Meine – zugegeben zugespitzte – These lautet: Unternehmen werden Stellenangebote bald nur noch aus Dummheit, Faulheit oder Mitleid in Zeitungen veröffentlichen.

Oh.

Ja. Niemand ist daran interessiert, möglichst viele Bewerbungen zu bekommen. Es geht darum, diejenigen Menschen zu gewinnen, die für die jeweilige Aufgabe besonders geeignet und vielversprechend sind. Bei Ausschreibungen wünschen Sie sich eine Handvoll guter Leute und möglichst wenige Bewerbungen allgemeiner Art von Menschen, die zwar gerne arbeiten wollen, aber keine besondere Aufgabe faszinierend finden.

Was hat das mit dem Internet zu tun?

Für große Firmen sind Bewerber, die sich aktiv zum Beispiel auf der Bayer-Homepage informieren und nach dort veröffentlichten Angeboten suchen, viel interessanter, als jemand, der zufällig über eine Anzeige gestolpert ist. Daß jemand sich auf eine Annonce meldet und so demonstriert, daß er nur eher vage interessiert ist und nicht die überlegenen Recherchemethoden nutzt, spricht gegen ihn.

Bislang sind Stellenanzeigen in den überregionalen Blättern doch gerade wegen der exklusiven Leserschaft interessant.

Die Exklusivität gilt für die Leserschaft insgesamt, und sie wirkt sich positiv aus für Anzeigen, die möglichst viele in dieser Zielgruppe erreichen sollen. Weitaus die meisten Leser brauchen aber gerade weder einen neuen Job noch ein neues Haus, noch ein neues Auto – die Rubrikenanzeigen sind ohnehin überwiegend „Streuverlust“. Jetzt gibt es bessere Wege, die richtigen Menschen mit den richtigen Aufgaben in Verbindung zu bringen. Je rascher die Zeitungen das begreifen, desto besser.

Was bleibt den Zeitungen dann vom Anzeigengeschäft, das doch klassischerweise zwei Drittel der Umsätze darstellt?

Ach, das ist erfreulicherweise schon längst nicht mehr so. Still und leise haben die Verlage in den letzten Jahren den Anteil der Vertriebserlöse erhöht – vernünftigerweise übrigens – und liegen jetzt eher bei 45 als bei 33 Prozent. Von den Anzeigenerlösen werden vor allem die Imageanzeigen bleiben. Eine stabile Stärke von Printmedien gegenüber anderen Medien wird auch in Zukunft die größere Genauigkeit in der Ansprache von Zielgruppen sein. Das werbefinanzierte Fernsehen hat da größere Probleme.

Gibt es also wenigstens im Bereich der Anzeigen von Markenartiklern Hoffnung?

Ja, das Potential ist nach meiner Meinung sehr groß, aber man darf gerade nicht versuchen, sie durch Sonderwerbeformen und Sonderveröffentlichungen zu erreichen – die sind ein typisches Zeichen von sterbenden Segmenten. Jede Aufweichung der Grenzen zwischen Redaktion und Werbung ist kontraproduktiv: Der Wert der Zeitungen auch für den Anzeigenkunden besteht ja gerade in ihrer Glaubwürdigkeit bei den Lesern.

Nun brechen den Verlagen durch das Internet nicht nur Werbeerlöse weg, auch inhaltlich haben sie neue Konkurrenz. Das klingt, als ob die Zeitungen in jeder Hinsicht einpacken können.

Einige schon, und nicht jedem Blatt wird man lange nachweinen müssen.

Und die anderen?

Zuerst: Die Krise ist nicht ganz so schrecklich, wie die meisten Journalisten glauben. Was ihre Verlage ihnen nie sagen, ist, daß es ihnen in Krisenzeiten im Vergleich zu anderen Branchen immer relativ gut geht. Wenn die Anzeigenumfänge sinken, vermindern sie auch die redaktionellen Umfänge – das ist für den Kunden ungefähr so, als würde VW sagen: Der Golf verkauft sich im Moment leider schlecht, deshalb können wir leider nur noch drei Sitze einbauen. Die Verlage sparen dadurch erhebliche Papier-, Satz- und Druckkosten. Und im Unterschied zu anderen Unternehmen veröffentlichen Zeitungen fast nichts darüber, wie es ihnen wirtschaftlich wirklich geht. Deshalb können sie die Krise besser nutzen, ihre eigenen Leute von der Notwendigkeit von Entlassungen, Kostensenkungen und härterer Arbeit zu überzeugen, und senken so die Kosten doppelt.

Und wie können sie der wachsenden Konkurrenz begegnen?

Sie werden überrascht sein: Gerade die traditionellen Medienunternehmen, insbesondere die Tageszeitungen, haben im Vergleich zu ihren neuen Konkurrenten bisher nicht wahrgenommene Stärken. Zeitungen haben Erfahrungen mit der Bildung und Bindung von communities, in denen sie die Teilaspekte unserer Rollen als Bürger, Verbraucher und Produzenten verbinden. Sie haben Erfahrungen im Umgang mit der Kombination ganz unterschiedlicher Erlösquellen, und sie können eigentlich durch wichtige Veränderungen ihrer Rahmenbedingungen nicht so leicht überrascht werden wie Industrieunternehmen – sie müssen für solche Analysen nicht bezahlen, sie werden dafür bezahlt: dies ist Teil ihres ureigenen Geschäfts.

Die Frage bleibt, wie die Qualitätspresse bei rapide wegbrechenden Anzeigenerlösen überleben kann. Woher sollen die Einnahmen kommen?

Lassen Sie mich die Sache zuspitzen: Interessierte und engagierte Menschen legen keinen Wert darauf, daß ihre Zeitungen eine Ko-Finanzierung aus Quellen erfahren, denen sie möglicherweise mißtrauen. Die finanzielle Abhängigkeit von Werbung war immer Ausdruck einer strukturellen Schwäche der Zeitungen.

Und was folgt daraus?

In einem – zu kurzen – Satz: Laßt die Anzeigen weg und verdoppelt den Preis! Und liefert mir dafür in eurem Internet-Angebot Überblick und Vertiefung, „variable Tiefenschärfe“ durch kluge Verweise, laßt eure guten Leute Blogs schreiben, wie der „San Jose Mercury“ das macht, gebt mir die Chance zur Vervielfältigung meines Wissens dann, wenn es mir darauf ankommt, wie „The Economist“ das macht! An dem dazu passenden Preismodell arbeiten wir gerade.

Also wird es auch die Qualitätspresse in ein paar Jahren noch geben?

Nur die. Die besten Chancen haben die Zeitungen, die einen Anspruch nicht nur behaupten, sondern auch erfüllen. Sie müssen allerdings den Kulturwechsel offensiv angehen und sich entscheiden: Wollen sie die Qualität so weit herunterschrauben, bis sie den niedrigen Einnahmen entspricht? Oder wollen sie die Qualität beibehalten und die Einnahmen durch einen höheren Preis anpassen? Da ist eine klare Entscheidung nötig, eine graduelle Strategie ist gefährlich. Weil man sonst möglicherweise die Stärken, die man hat, aus falscher Vorsicht beschädigt und dann bei einem späteren Strategiewechsel nicht mehr auf sie aufbauen kann. Wenn Sie bisher die besten Pferde gezüchtet haben, können Sie auf die Erfindung des Automobils auch nicht graduell reagieren und statt Hufe Räder unter Ihre Pferde schrauben und später vielleicht noch einen Auspuff anhängen.