Vorsicht, Wissen!

Süddeutsche Zeitung

Das Magazin „Galileo“ soll intelligent sein, aber nur ein bißchen.

Was kommt dabei heraus, wenn man „Die Sendung mit der Maus“ mit Barbara Eligmann kreuzt? Ein Satz wie dieser: „Wissen ist Macht, und mein Name ist Aiman Abdallah.“ Von heute an präsentiert er täglich eine Sendung, die wie ein Boulevardmagazin daherkommt, sich aber nicht mit Sex und Gewalt, sondern Magenknurren und Regenbogen beschäftigt. „Galileo“ heißt sie und will beweisen, daß sich die Erde doch um die Sonne dreht und daß um kurz vor acht im Fernsehen doch nicht nur Peinliches funktioniert.

Sichtlich stolz ist das Team auf sein neues Wissensmagazin, das nicht nur schön sein soll, sondern auch lehrreich und intelligent. Gleichzeitig ist seine größte Sorge, daß die Sendung als lehrreich und intelligent gelten könnte – was die Zuschauer möglicherweise vom Einschalten abhielte. „Wir wollen nicht altmeisterlich erklären, sondern unterhalten“, sagt Rainer Laux, bei Pro Sieben für Information und Dokumentation verantwortlich. „Galileo ist kein Intelligenz-Fernsehen und darf nicht viel Allgemeinwissen voraussetzen.“ Manchmal sind die Wissensfragen auch nur Vorwand, um einfach schöne Bilder zu zeigen. Zur Frage „Wie kommt die Farbe ins Fernsehen“ sehen wir ausführlich große, bunte Naturaufnahmen und denken uns: Egal, wie die Farbe reinkommt – aber schön, daß sie drin ist.

Theoretisch ist Galileo genau das richtige Programm zu dieser Zeit auf diesem Sender: Das Magazin fängt den Zuschauer mit dessen Interesse ein, zu einer aktuellen Meldung mehr erfahren zu wollen. Der Nachrichtenmoderator weist auf Galileo hin, und Galileo soll, so oft es geht, direkt mit einem aktuellen Stück andocken. Wüten auf der Welt gerade Hurricanes, soll es sich etwa der Frage widmen: „Warum gibt es in Deutschland keine Wirbelstürme?“ Das alles verpackt in die Pro-Sieben-Hochglanz-Optik, die der Sender im Lauf der Jahre perfektioniert hat und die den Übergang zu den internationalen Serien und Spielfilmen fließend macht, bei denen der „Galileo“-Zuschauer nach knapp 30 Minuten abgeliefert wird.

Soweit die Idee. In der Praxis weiß Pro Sieben, wie gewagt es ist, ein teures tägliches Wissensmagazin in der Hauptsendezeit etablieren zu wollen. „Wir wollen fünf bis sieben Prozent Marktanteil, das ist unsere große Hoffnung“, sagt Pro Sieben-Programmchef Borris Brandt. „Von diesem Niveau aus wollen wir uns dann Schritt für Schritt hocharbeiten.“

Pro Sieben hat sich nicht gerade den Ruf erworben, bei neuen Formaten sehr geduldig zu warten, bis sich der Erfolg einstellt. Die entscheidende Frage, die das Wissensmagazin beantworten muß, lautet daher: Wie lang ist der Atem bei „Galileo“? Die Pro Sieben-Leute antworten mit Indizien: daß man extra ein Team mit der beachtliche Zahl von rund 25 Redakteuren aufgebaut und sechs Monate lang hart gearbeitet habe. Und daß „Galileo“ nicht, wie sonst bei Pro Sieben üblich, von einer fremden Produktionsfirma, sondern im eigenen Haus hergestellt werde. „Wir wollen langfristig eine Marke aufbauen“, sagt Brandt. Und wer gutes Geld verdiene, solle auch gutes Geld ausgeben.

Hete Petete

Süddeutsche Zeitung

Nun ist er die Titelstory. Wenn sich ein Prominenter gegen den Satz wehrt, er sei schwul.

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Wie geschäftsschädigend ist es für einen Nachrichtensprecher, wenn er in der Öffentlichkeit als homosexuell gilt? Wie viele Schlagerfestivals wird er weniger moderieren dürfen? Auf wieviele Einladungen zu Firmenfesten und PR-Terminen wird er verzichten müssen? Konkrete Antworten konnte auch der Hamburger Nachrichtensprecher nicht geben, der in einem Buch über 500 berühmte Lesben, Schwule und Bisexuelle erwähnt wurde. Aber er verklagte den Berliner Quer-Verlag auf Schadensersatz. Diesen Anspruch wird er vorm Hamburger Landgericht wohl nicht durchsetzen können – mehr als ein Jahr nach der Veröffentlichung hätte man davon „etwas gemerkt haben“ müssen, der Betroffene aber sei anscheinend „gut im Geschäft“, so der Richter.

Für den Verlag bedeutet der Prozeß dennoch eine Bedrohung seiner Existenz. Der TV-Sprecher fordert nämlich 50 000 Mark Schmerzensgeld für die Verletzung seiner Intimsphäre. Der Anwalt des Verlags, Helmuth Jipp, rechnet damit, daß das Gericht ihm etwa die Hälfte zusprechen wird. Das könne ihr kleiner Verlag unmöglich aufbringen, sagte Geschäftsführerin Ilona Bubeck. Es bedeute den Konkurs. Deshalb kam auch ein Vergleich über 5000 Mark Schmerzensgeld nicht zustande — mitsamt den Gerichtskosten wären 14 000 Mark zusammengekommen. Der Berliner Förster-Verlag, der die Behauptung übernommen hatte, einigte sich mit dem Sprecher, ihm 15 000 Mark zu zahlen. Außerdem werden die — zumeist schwulen — Leser der Förster-Zeitschrift Adam in einer kommenden Ausgabe mit dem Hinweis überrascht, der Sprecher sei nicht wie dargestellt schwul, sondern, im Gegenteil: nicht schwul. Ob das stimmt oder nicht, spielte im Prozeß gegen den Quer-Verlag allerdings keine Rolle. Um eine schwere Verletzung des Persönlichkeitsrechts handele es sich in jedem Fall, sagte der Vorsitzende Richter. Daß die Behauptung „offenbar falsch“ sei, mache es nur schlimmer. Die Beklagten konnten nur Indizien vortragen, die vom Kläger als „Geschwätz von Kollegen“ abgetan wurden.

Daß die Nennung des Mannes eine Verletzung seines Persönlichkeitsrechts darstellt, räumte Verlagsanwalt Jipp ein. In der Geldforderung sieht er aber ein Beispiel für die zunehmende Kommerzialisierung dieses Rechts. In einer Zeit, in der sich schwule und lesbische Paare in Hamburg registrieren lassen können und die künftige Regierung Anti-Diskriminierungs-Gesetze plane, könne von einem entstandenen seelischen Schaden nicht die Rede sein. Homosexualität sei kein Makel mehr. Gesellschaftliche Vorurteile, unter denen der Sprecher leiden könnte, würden durch solche Urteile gerade noch verstärkt, sagte Jipp.

Ein meßbarer Imageschaden könnte dem TV-Sprecher allerdings durch die Klage selbst entstanden sein. Bis Freitag hatten nur 3000 Käufer des Buches und ein paar tausend Adam-Leser von der Behauptung gewußt. Am Wochenende stand dies überall, die Hamburger Morgenpost brachte sein Photo auf den Titel.

Der Zufall muss genau geplant sein

Süddeutsche Zeitung

Warum es so schwierig ist, eine Lottoshow zu entwickeln, für die sich auch die Zuschauer interessieren.

Auf 18 Seiten erklärten die Juristen der West-Lotto-Gesellschaft, was geht, was nicht geht, und auf welcher Seite des Ziehungsgerätes der Notar stehen muß. Spätestens da zweifelten die Fernsehleute von der Produktionsfirma GAT, ob die Lotto-Geschichte wirklich eine so gute Idee war. Fast alles, was Bestandteil einer klassischen Samstagabendshow wäre, fiel in die Kategorie Geht nicht: Geschicklichkeit und Wissen, um den Sieger zu küren, oder Spiele, bei denen einer wie Gottschalk unter Beifall des Publikums sagt: Ok, das lassen wir noch gelten.

Spätestens, als sie die Zufallsmaschinen sahen, zweifelten die Lotto-Leute, ob die Fernseh-Geschichte wirklich eine so gute Idee war. Die Kreativen von der GAT hatten einen Aufruf in einer Fachzeitschrift für Erfinder gestartet. Gesucht war eine witzige Konstruktion, mit deren Hilfe und Glück ein Gewinner gefunden werden sollte. Allein, daß die Fernsehleute sich vorstellen konnten, einen Millionär aufgrund einer von einem obskuren Menschen entworfenen obskuren Maschine zu bestimmen, ließ die Lotto-Leute frösteln.

Die Regularien von Lotto und die Regeln für eine gute Show gehen eigentlich überhaupt nicht zusammen, sagt WDR-Unterhaltungschef Hugo Göke. Deshalb ist es den Beteiligten nicht peinlich, daß die Lotto-Show schon vor Monaten hätte auf Sendung gehen sollen. Statt dessen überwiegt die Überraschung, daß es überhaupt geklappt hat. Für beide Seiten geht es um viel: Für die ARD ist die zweimonatliche Sendung einer der wichtigsten Bausteine in der proklamierten „Offensive“, die künftig an jedem Samstagabend eine Show vorsieht. Der Deutsche Lottoblock will neue Zielgruppen erschließen, weg vom Image der „anonymen Gelderzeugungsmaschine“, wie Winfried Wortmann, Geschäftsführer der federführenden Westdeutschen Lotterie in Münster, sagt. Das makellose Image darf darunter nicht leiden. Die Regeln, nach denen Lotto Millionäre macht, sind so ausgefeilt, daß die übliche Preisausschreibenfloskel fehlt, daß Mitarbeiter ausgeschlossen sind. Selbst der Lottochef darf Lotto spielen.

Der Lottoblock hat für die Show viel Geld freigeschlagen: eine Hälfte des Topfes, der für Sonderauslosungen bestimmt ist; das Geld stammt aus nicht abgeholten Lottogewinnen. Vor zwei Jahren beauftragte die Gesellschaft zehn Agenturen damit, Konzepte zu entwickeln, wie das Geld unter die Leute gebracht werden kann. Am Ende bekam die Münchner GAT, eine 49-Prozent-Tochter des Unterhaltungsriesen Endemol, den Zuschlag.

Als erstes mußte sie ein Grundproblem lösen: Über den Gewinn von Lottogeld darf nur der Zufall entscheiden. Das fängt beim Finden der Kandidaten an. Sie wurden aus dem Kreis der Spiel-77-Teilnehmer gelost. Weiter: Ob jemand sieben Tabletts balancieren kann oder die Hauptstadt von Marokko weiß, darf keine Rolle spielen. Ein reines Glücksspiel aber würde die Leute nicht 90 Minuten am Fernseher halten: „Es war schnell klar, daß wir aus dramaturgischer Sicht ein Problem kriegen“, sagt GAT-Producerin Nina Glattfelder. „Roulette ist nur spannend, wenn ich selbst 100 Mark auf Rot setze, nicht, wenn ich jemandem dabei zuschaue.“ Hunderttausendmal hätten die Showexperten in ihrem Konferenzraum neue Versionen an die Tafel gemalt, wie man aus 49 Kandidaten, die selber nichts tun dürfen, einen Gewinner zieht.

Die Lösung ist ein Umweg. Den potentiellen Millionären werden Kandidaten zugelost, die gut in ihrem Beruf sind. Stellvertretend spielen die in sechs ‚TopJob‘-Spielen gegeneinander. Ihre Partner kommen ins Finale und spielen um die Million. Im Grunde waren alle Beteiligten damit glücklich, und das war schon eine Menge. Schließlich steht hinter der Produktion nicht eine Lotto-Show-Firma, sondern elf ARD-Anstalten und 16 Landes-Lottogesellschaften.

Eine richtige „Abstimmungsmaschine“ sei entstanden, sagt GAT-Chefredakteur Andreas Lebert, wöchentlich der neueste Stand der Entwicklung protokolliert und durch die Republik gefaxt worden, mit Durchschlag für Moderatorin Ulla Kock am Brink auf Mallorca. Jede Spielidee, die die GAT-Leute im 5. Stock eines Bürogebäudes im Münchner Vorort Unterföhring entwickelten, wurde von den Lotto-Revisoren überprüft. Das sind Menschen, die sonst ihr Geld damit verdienen, Teilnahmebedingungen zu schreiben, und zwar so klein und engmaschig, daß nichts durchrutscht. „Ich werde nie die Blicke der Kreativen vergessen, als sie unseren Entwurf für eine Ziehungsordnung für die Sendung gesehen haben“, sagt West-Lotto-Prokurist Hans-Joachim Rotermund. Dabei war das als Hilfe gemeint: Wenn man wisse, wie eng das Korsett sei, könne man sich schließlich viel freier darin bewegen.

Kellner, die durch Massen tanzender Menschen balancieren sollen? Oh nein, sagten die Juristen, da könnten sich die Paare ja vor einem einzelnen Kellner ballen — abgelehnt. Ein Wissensquiz für Geographielehrer? Nette Idee, aber was, wenn alle auf keine Frage eine Antwort wissen? Und überhaupt: Wer gibt das Startkommando? Von wo? Hören das alle gleich gut? Im übrigen stehen in der Ziehungsordnung klassische Lotto-Sätze: „Vor Beginn der Lotto-Show vergewissern sich Ziehungsleiter und Notar/Aufsichtsbeamter von der Funktionstüchtigkeit und Vollständigkeit aller Ziehungsmittel.“ Dazu: Vorschriften, was zu tun ist, wenn der Strom ausfällt, wenn ein Kandidat ausfällt, wenn ein Vertreter eines Kandidaten ausfällt…

Heute heißt es aus München und Münster, daß alle Einsprüche und Was-wärewenn-Fragen die Spiele erst richtig gut gemacht hätten. Doch vieles spricht dafür, daß in München zwischenzeitlich Mordpläne geschmiedet wurden. Einmal beschlossen die Kreativen, in den einzelnen Top-Job-Spielen unterschiedlich viele Kandidaten gegeneinander antreten zu lassen. Geht nicht, sagten die LottoLeute, da sind die Gewinnchancen der zugelosten Lotto-Gewinner unterschiedlich. Geht wohl, sagten die Fernsehleute und ließen sich von einem Gutachten der Technischen Universität München bestätigen, daß mathematisch die Chancen gleich sind. Moment mal, sagten wieder die Lotto-Leute und machten eine eigene Umfrage, ob die Zuschauer das akzeptieren, bevor sie zustimmten. „Es reicht nicht, daß mathematisch alles genau ist“, sagt Rotermund. „Es muß auch vom Empfinden der Leute her gerecht sein.“

Immerhin seien die Lotto-Leute bis an ihre Grenzen gegangen, sagt Producerin Glattfelder. Geld, das Nicht-Lottospieler heute abend gewinnen können, stammt aus dem Werbe-Etat von Lotto. Da ließen sich die Beamten auch auf ein Telephonspiel ein, bei dem sie sich letztlich auf die Aussage der Telekom verlassen müssen, daß alles mit rechten Dingen zugeht. Bei den Preisen, die aus Lotto-Einzahlungen stammen, gab es dagegen nichts zu rütteln. Die Kugeln etwa, mit denen ganz am Schluß der Millionär bestimmt wird, bekommt kein Requisiteur in die Hände. Die legt ein Ziehungsbeamter ins Gerät.

Überhaupt, das Ziehungsgerät: Einerseits muß es durchsichtig sein, damit jeder Zuschauer sieht, daß bei den Kugeln nichts manipuliert ist. Andererseits muß es undurchsichtig sein, damit kein Verdacht entsteht, daß irgendjemand sehen kann, welche Kugel er zieht. Aktueller Stand: Die beschrifteten Kugeln stecken in unbeschrifteten Kugeln in durchsichtigem Gerät. Langsam ahnt man, wie es kommt, daß 3 Lotto-Angestellte und 20 GAT’ler sich seit Anfang des Jahres mit nichts als dieser Show beschäftigt haben.

Großes kleines Fernsehen

Süddeutsche Zeitung

Sendungskritik: „Gute Nacht, Gottschalk“

Angenommen, jemand kriegt kurz nach seinem 48. Geburtstag eine sentimentale Phase und beschließt, sich eine Freude zu machen. Er lädt ein paar Idole seiner Jugend ein, Rockgitarristen, Models, sowas. Er zeigt ihnen, daß er ihre alten Platten noch hat, legt sie auf, summt mit. Ein paar der Gäste haben neue Platten mitgebracht, gemeinsam lauscht man, klimpert auf der Gitarre, erzählt sich, was an den guten alten Zeiten so gut war und ißt ein paar Käsehäppchen, weil der Pizza-Service schon zu hat. Gelegentlich klingelt das Telephon, Bekannte sind dran und Wildfremde, die auch gerade 48 geworden sind oder erst 22 oder schon 63. Drei Stunden dauert das Ganze, die ersten Besucher verabschieden sich immer wieder, neue sagen Hallo, ein paar haben ihre Frauen mitgebracht. Käme irgendwer auf die Idee, das ungefiltert im Fernsehen zu zeigen? Ok, der sentimentale alternde Typ ist nicht irgendwer, sondern Thomas Gottschalk. Aber will das ein Schwein sehen? Drei Stunden lang? Ohne Publikum, TED und Gewinnspiel?

Möglich wär’s, schön wär’s auch. „Gute Nacht Gottschalk“ sei „kleines Fernsehen“, sagt der Moderator am Anfang: „Es passiert nix.“ Doch die 190 Minuten kleines Fernsehen sind spannender als die meisten 90 Minuten großes, da sie völlig ohne die Rituale der Fernsehunterhaltung auskommen. Ringo Starr sieht ein wenig irritiert auf den CD-Spieler, in dem sein neuestes Werk läuft, ohne daß er mitsingen müßte. Rick Partiff von Status Quo und Brian May von Queen sträuben sich, ihre Plätze für Paola und Kurt Felix zu räumen. Assistentin Anke Engelke macht sich über Gottschalks Fragetechnik lustig und macht muffelig den Tisch sauber, weil außer Paola und Kurt keiner sein Glas selbst weggeräumt hat. Und Gottschalk kann sich bis zum Schluß nicht merken, daß der Sender „WDR Fernsehen“ heißt. Es ist egal, daß es in Köln keine Pizza mehr zu bestellen gibt und daß unbekannte Menschen fröhlich durchs Bild wuseln, um technische Probleme zu lösen. Die einzige wirkliche Panne ist der Versuch, das englisch-deutsche Sprachchaos zu übersetzen — und Dieter Thomas Heck durchzustellen, der anruft, um den „lieben Kurti“ zu grüßen.

WDR-Redakteur Michael Au hat nach „Feuersteins längster Nacht“ ein weiteres Fernsehexperiment gewagt. Passiert ist nichts. Aber die Art, wie nichts passierte, war spannend.

Einer wird gewinnen

Süddeutsche Zeitung

Tomate Leandros. Fernsehkritik: Einer wird gewinnen (ARD).

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Als es 21.04 Uhr wurde am Samstagabend, lehnten sich einige Manager des Privatfernsehens entspannt zurück, schalteten das Erste aus und wußten, daß sie die Show-Offensive der ARD in aller Ruhe auf sich zukommen lassen konnten. Um diese Zeit rief ein Regie-Assistent in der Meirotels-Halle in Rotenburg an der Fulda Moderator Jörg Kachelmann live zu, die Zuschauer hätten das gerade gespielte Spiel nicht verstanden. Das war nicht weiter verwunderlich, denn auch den beiden Kandidatinnen konnte Kachelmann die Regeln nur erklären, indem er sie ihnen direkt ins Ohr brüllte. Hinter ihnen stand nämlich als Teil des Spiels ein tobender, singender, trötender Mob von Fußballfans aus 21 Ländern. Das hätte eigentlich auch schon während der Proben so gewesen sein müssen – falls der Hessische Rundfunk sich nicht einfach auf seine jahrzehntelange Erfahrung mit dem Blauen Bock verlassen und darauf komplett verzichtet hatte.

Dabei produziert die Neuauflage von Einer wird gewinnen kein Geringerer als Wolfgang Penk, Ex-Unterhaltungschef des ZDF. Er und sein Team haben sich von den erfolgreichen Shows der Privaten einiges abgeguckt: zum Beispiel, daß das Saalpublikum nett angeleuchtet werden sollte. Wie man das so macht, daß es nicht nach drei rotierenden 60-Watt-Lämpchen im Partykeller aussieht, haben sie leider nicht in Erfahrung bringen können. Nette Computertricks bastelten sie um die Vorstellung der einzelnen Kandidaten und dachten sich: Eine Version davon wird wohl reichen, die kann man ja achtmal zeigen. Und irgendwann werden sie vielleicht lernen, wie man Vicky Leandros in wabernden roten Nebel einhüllen kann, ohne daß sie aussieht wie eine Tomate.

Dabei ist das alte EWG-Konzept durchaus 90er-Jahre-tauglich. Interessanten Leuten zuzusehen, wie sie raten, wofür ein ausländischer Werbespot wirbt oder aus welchem Land eine Wetterfee kommt, kann durchaus für nette anderthalb Stunden vor dem Fernseher mit Familie und Chips sorgen. Doch dann müssen das Timing stimmen und diese ganzen Kleinigkeiten, die aus einem blöden Ratespiel eine „große“ Samstagabendshow machen.

An Kachelmann lag’s am wenigsten. Der arme Kerl war nicht nur furchtbar nervös (und überzog eine halbe Stunde), er hatte sich auch noch erkältet. Richtig glücklich wirkte er in seiner neuen Show („ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer Sprung für mich“) nicht, er redete wiederholt von den Zeitungen, die er am Montag lieber nicht lesen wolle, und vom „Generalanschiß“ nach der Sendung. In guten Momenten aber schaffte er die Balance zwischen den Ritualen öffentlich-rechtlicher Unterhaltung und ironischer Distanz. Als der deutsche Kandidat, den seine Freundin gerade verlassen hat, mit null Punkten ausschied, sagte Kachelmann: „Jetzt verstehe ich, warum sie gegangen ist.“

Guildo Horn

Süddeutsche Zeitung

Unser Mann in Birmingham. Wie der Schlagersänger Guildo Horn mit Hilfe der Medien unschlagbar wurde.

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Der neue Meister des Grand Prix ist klein, hat seine Haare auf Millimeterlänge rasiert, trägt graue Anzüge und heißt Johannes Kram. Ein paarmal ist er dem alten Meister des Grand Prix, Ralph Siegel, vor der Veranstaltung in die Arme gelaufen. Der hat ihn an sich herangezogen und den Journalisten vorgestellt als den Mann, der eigentlich den Preis verdient hätte: für die geniale PR-Kampagne. Kram hat leicht gequält gegrinst, etwas gemurmelt von ‚Möge der Bessere gewinnen‘ und sich entschuldigt.

Johannes Kram ist der Manager, der die Nußecke in die deutsche Medienwelt gebracht hat. Regelmäßig zelebriert sein Schützling Guildo Horn seine Liebe zu diesem Gebäck der Mutter — eines von vielen Ritualen, die den Rummel um den Künstler ausmachen, der am Donnerstag die deutsche Vorausscheidung zum europäischen Schlagerwettbewerb gewonnen hat. Am 9. Mai vertritt er Deutschland in Birmingham. Horn ist 35 und zieht seit sieben Jahren mit seiner Band Die orthopädischen Strümpfe durch Dörfer und Städte. Zum Geheimtip wurde er nicht nur dadurch, daß er als einer der ersten das Potential entdeckte, das der deutsche Schlager der 70er und 80er als Popkultur für die Jugend der 90er hat. Sein Auftreten mit wirrem Haar, nacktem, speckigem Oberkörper und Kostümen, die jede Geschmacksgrenze sprengen, ist zu skurril, um ernstgenommen zu werden. Und seine Musik und Show sind zu gut, um ihn als bloße Comedy abzutun, die den Schlager lächerlich macht.

Was skeptische Beobachter ins Grübeln bringt, läßt die Fans rasen. Seine Fans nennen ihn „Meister“ und unterstützten ihn bei der Vorentscheidung in Bremen mit „Guildo für Deutschland“-Rufen, Spruchbändern und T-Shirts. Horn weiß, was er tut: Er hat Pädagogik studiert, Musik- und Theaterarbeit mit Behinderten gemacht und seine Diplomarbeit über „Die Befreiung von der Vernunft“ geschrieben.

Seit drei Wochen spaltet Guildo Horn angeblich die Nation und eint die Medien. Damals titelte die Bild-Zeitung „Darf dieser Mann für Deutschland singen“ und befragte ein paar ausrangierte Schlagersänger, die mit einem empörten „Oh mein Gott, wo kämen wir denn da hin?“ antworteten. Der Artikel sorgte dafür, daß außer der überschaubaren Masse ursprünglicher Guildo-Anhäger auch Gegner von Bild und des klassischen Schlagers aktiv wurden, und erfüllte damit genau seinen Zweck. Johannes Kram und sein Team hatten ihn selbst geplant. Exklusiv arbeiten sie mit dem Blatt zusammen, dessen Reporterin ihm sogar die Haare föhnen darf.

Am Tag der Entscheidung legte Bild noch mal nach: „Dramatischer Zwischenfall: Guildo Horn — Notarzt! Klinik!“ Der Sänger hatte sich mit einem Handtuch die Augen gerieben, auf dem ausgerechnet der Siegel-Klan Rheumasalbe zurückgelassen haben soll. Daß das rechtzeitig zur Endphase der Proben und vor der Abreise zur Harald-Schmidt-Show ein Unfall gewesen sein könnte, glaubt in Bremen zwar niemand — spielt aber auch keine Rolle: Horn hatte die erste und die letzte Schlagzeile vor der Grand-Prix-Wahl. Er gewann die Abstimmung mit 62 Prozent der TED-Anrufe.

Dazwischen lagen drei Wochen, in denen die meisten Medien in eine kollektive Hysterie verfielen. „Es war eine Entscheidung der Menschen auf der Straße“, sagte Guildo Horn nach seinem Sieg, den er als „Perestrojka“ des deutschen Schlagers sieht. Das ist bei 420 000 Fans, die für ihn stimmten, unbestreitbar. Wäre dies ein Umsturz nach osteuropäischem Vorbild, hätte das Volk allerdings mit tatkräftiger Unterstützung durch Prawda und fast allen anderen Medien des Landes gekämpft. Viele Fernsehsender und Zeitungen brachten die Bild-Geschichte in Variationen. 40 Interviews habe er in den vergangenen Tagen gegeben, sagte Peter Plate von der Gruppe Rosenstolz, die den zweiten Platz belegte, in 20 sei es nur um Horn gegangen. Die meisten Jugendradios riefen ihr Publikum dazu auf, massenhaft für Guildo zu stimmen. Sie bejubelten, daß da endlich jemand aufgetaucht ist, der die für sie immer größere Unerträglichkeit des deutschen Grand Prix gleichzeitig personifiziert und persifliert. Und Viva-Moderator Stefan Raab, der besonders heftig für Horn warb, verriet erst zum Schluß, daß er selbst als Komponist und Produzent von Horns Titel Guildo hat euch lieb hinter dem Pseudonym Alf Igel steckt.

Die Wucht der Medienmaschinerie, die er selbst mit in Bewegung gesetzt hatte, überrollte schließlich auch Johannes Kram. Daß die Medien Guildo, und zwar nur Guildo wollten, überfordete nicht nur sein Team, sondern gefährdete auch das Image von Horn als nettem Irren unter lieben Schlagerkollegen. Am Ende zog Kram ein überraschendes Fazit: „Beschämt“ habe ihn die Unfähigkeit der Medien, noch andere Themen zu behandeln. Dasselbe Wort wählte NDR-Organisator Jürgen Meier-Beer. Er freute sich über das Interesse und die doppelt so hohen Quoten wie üblich (knapp acht Millionen). Die Bedeutung, die dem Ereignis beigemessen wurde, treibt ihn aber zur Aussage: „Das hier hat größere Dimensionen als die Niedersachsenwahl.“

Selbst seinen Sender NDR 2 konnte er nicht davon abhalten, längere Auszüge aus Horns Stück zu spielen — obwohl das Reglement das untersagt. Fast alle Fernsehsender zeigten Horns Auftritt vorab. Die „Wettbewerbsverzerrung“, die Ralph Siegel beklagte, interessierte im allgemeinen Horn-Fieber niemanden.

Manager Kram versuchte, gegen die schlechte Stimmung hinter den Kulissen zu kämpfen und sagte den Konkurrenten, sie hätten sich ja auch eine nette PR-Strategie überlegen können. Er erntete ein müdes Lächeln: Ein solches Produkt, mit dem das möglich gewesen wäre, hatte keiner zu bieten. „Der Grand Prix hat den skurrilen Reiz, Popmusik und so was wie nationale Ehre miteinander zu verbinden“, versucht Meier-Beer eine Erklärung. „Das Thema Horn funktioniert hervorragend, weil es eine Provokation auf beiden Ebenen darstellt.“ Ein Reporter der Berliner B.Z., die als eines der wenigen Blätter Front gegen Horn machte, meinte, der Medienrummel beruhe schlicht auf Faulheit, sich die Mühe zu machen, andere Themen zu recherchieren. Denn nicht nur Horn brachte neue Ideen und bereitete den Siegelschen Produkten ein Debakel. Fokker sang: „Sie trat mir in die Hoden, in mein Leben trat sie nicht.“ Auch Die drei jungen Tenöre und der Punk-Pop von Maria Perzil sprengten die Grenzen der bis dahin bekannten Grand-Prix-Kunst. Gegen die Medienmacht für Horn hatten sie keine Chance. „Ich hätte mich schon gefreut, wenn wir gewonnen hätten“, sagte Rosenstolz-Mann Plate. Vor der Abstimmung.

Weniger Englisch

Jedem Land sein eigenes MTV – die Pläne des Musiksenders.

Brent Hansen ist in diesen Tagen auf großer Europa-Tournee. Allein am Donnerstag vergangener Woche reiste der MTV-Europa-Chef von London nach Hamburg, Mailand, Stockholm und wieder zurück, um seinen Mitarbeitern und der Presse überall die gleiche Botschaft zu verkünden: Der Musiksender wird vom kommenden Jahr an deutscher, italienischer, schwedischer – und weniger englisch. Aus der starken Londoner Zentrale mit ein paar Außenposten soll ein wahres Netzwerk von MTV-Sendern in den meisten europäischen Staaten werden, die Programme für sich und einander produzieren, verspricht Hansen.

Im SZ-Gespräch nennt er erstmals Zahlen: 35 Millionen Pfund (rund 100 Millionen Mark) will er bis zum Jahr 2000 investieren, vor allem in das Programm, aber auch in die Technik. Erst die digitale Verbreitung nämlich hat die Ausstrahlung von verschiedenen MTV-Versionen in verschiedenen Ländern möglich gemacht: ‚Früher hätte jeder neue Kanal die Kosten vervielfacht – das wäre nicht finanzierbar gewesen‘, sagt Hansen. Doch es waren nicht nur die Möglichkeiten der Technik, sondern auch die Notwendigkeiten des Wettbewerbs, die zu der Entscheidung führten. MTV ist immer noch einer der wenigen Sender, die Geld verdienen. Der Erfolg aber war nur so lange ungefährdet, als es keine nationalen Konkurrenten gab. In Deutschland eroberte Viva in kürzester Zeit die Herzen der Mehrheit der Teenager und damit einen Platz in den Werbeetats der Industrie.

‚Keine kleinen Schritte mehr‘

In den vergangenen zwei Jahren hatte MTV mit kleinen Schritten auf die Entwicklung reagiert, in Deutschland und anderswo eigene Werbefenster und Programme in der Landessprache eingeführt. Jetzt will Hansen keine ‚kleinen, defensiven Schritte‘ mehr gehen, sondern gibt wirkliche Entscheidungsmacht über Marketing, Personal und Produktion in die Hände derjenigen Leute, die ihren Markt am besten kennen. Vor allem in London regte sich daher offenbar Widerstand. Hier baut MTV 80 Stellen ab, dafür sollen 150 Mitarbeiter in den anderen Ländern neu eingestellt werden – vermutlich ein paar Dutzend am deutschen Standort Hamburg. In Skandinavien, Holland und Osteuropa will MTV noch im nächsten Jahr eigene Kanäle aufbauen.

Das Konzept, von London aus ein jugendverbindendes Musikprogramm für ganz Europa zu machen, sei lange ein Erfolgsgeheimnis von MTV gewesen – heute bezeichnet es Hansen aber auch als ’schwierigen Kompromiß‘, was die Auswahl der Musik, den Informationsfluß und die Beziehung zu den Zuschauern angeht. Geändert habe sich auch das Zuschauerverhalten: Lag vor ein paar Jahren noch alles im Trend, was international war, begeistern sich zum Beispiel Italiener und Deutsche heute zunehmend für ihre eigenen Pop-Kulturen. ‚Wir wußten seit geraumer Zeit, daß wir in Richtung Regionalisierung gehen mußten.‘ Den internationalen Charakter der Marke MTV will Hansen nicht aufgeben, aber Programme, die aus irgendeinem undefinierbaren europäischen ‚Cyberspace‘ stammen, soll es in Zukunft nicht mehr geben.

Technisch ist es dank der digitalen Übertragung möglich, Dutzende von Musikkanäle für wenig Geld zu verbreiten, wirtschaftlich sind wahrscheinlich schon die fünf zuviel, die es in Deutschland zur Zeit gibt. ‚Die Stärke einer Marke wird über den Erfolg bestimmen‘, meint Hansen. ‚Wir müssen daran arbeiten, daß MTV nicht als Marke der achtziger Jahre, sondern der neunziger wahrgenommen wird.‘ Dazu sei es nötig gewesen, klare Prioritäten zu setzen und jetzt Geld dort zu investieren, wo auch sofort Geld zu holen ist. Die Entscheidung, Millionen in die Marke MTV zu investieren, ging mit dem Beschluß einher, den Etat der Tochter VH-1 um Millionen zusammenzustreichen. VH-1 richtet sich an Zuschauer, die aus dem MTV-Alter herausgewachsen sind. Im Gegensatz zu dem älteren Musiksender sei MTV stärker ein Teil der Pop-Kultur, habe eine emotionalere Beziehung zu seinen Zuschauern, kurz: sei mittelfristig wettbewerbsfähiger, sagt Hansen. ‚Wir müssen die Größe der Sender der Größe des potentiellen Marktes anpassen.‘

Anstatt in Schönheit zu sterben, soll VH-1 lieber etwas weniger glanzvoll leben. ‚Ich werde kein Geld verschwenden, nur um anderen etwas zu beweisen.‘

Mission erfüllt

Süddeutsche Zeitung

Der Preis ist heiß (RTL).

Ein letztes Mal fährt der Damenfinger die Formen des DE323S nach, umschmiegt seinen Griff und tippt dem Bügeleisen auf den Dampfknopf. 89 Mark kostet er nur, nicht 100, wie Liane geschätzt hatte. Trotzdem wird sie am Ende letzte Gewinnerin in der Geschichte von „Der Preis ist heiß“. Am Freitag verabschiedete sie die Show nach 1874 Sendungen für immer in die ewigen Schnäppchenjagdgründe. Die meisten anderen Dauerwerbesendungen sind schon früher gestorben, und nur bei „Der Preis ist heiß“ waren die Produkte gleichzeitig Hauptdarsteller, roter Faden und Wissensgebiet.

Nach seinem Verschwinden wird das deutsche Fernsehen nie mehr sein wie früher. Die Sendung war stilbildend wie einst „Dalli-Dalli“, wo sich ein Kandidat, der in die Kamera gewunken hatte, einmal von Hans Rosenthal ermahnen lassen mußte: „Sie sind in einer Großstadt – das macht man nicht!“ Die Show-Revolution der Privaten bestand darin, die Leute aus den Kleinstädten in Busse zu verladen und ihnen wieder beizubringen, ihrem Drang zu winken, toben und den Showmaster zu knutschen, ungebremst nachzugeben.

Ihre Mission haben die Dauerwerbesendungen erfüllt. Zuschauer in Ekstase und Markennamen in Großaufnahme brauchen kein eigenes Genre mehr. Sie sind im ganzen Fernsehen zu Hause.

London läßt deutsche MTVler von der Leine

werben & verkaufen

Erstmals sendet MTV Programme in deutscher Sprache. Die Ansprache jüngerer Zuschauer und eine weit stärkere Präsenz vor Ort sollen jetzt verlorenen Boden gutmachen.

So richtig entscheiden kann sich MTV-Deutschland-Chef Michael Oplesch nicht. Soll er die Neuigkeit der Presse als Sensation oder als Kleinigkeit verkaufen? Einerseits ist der Start deutschsprachiger Programme auf MTV für ihn der Höhepunkt von anderthalb Jahren Arbeit, in denen er ein 120köpfiges deutsches Team aufgebaut hat: »Wir waren die Pitbulls, die immer schon an der Leine gerissen und gekläfft haben, und jetzt dürfen wir endlich auf die freie Wildbahn.« Andererseits sende MTV in aller Welt falls möglich in der Landessprache. Daß auf dem deutschen Kanal künftig weniger Englisch gesprochen werden wird, sei also ganz natürlich. Es habe überhaupt nichts mit irgendwelchen »lokalen Wettbewerbern«, sprich: Viva, zu tun.

Klar ist zumindest, wie die Neuerungen dem Publikum verkauft werden sollen: ganz groß. Die Woche, in der die neuen Programme starteten, begann fast ohne Programme: Seit Montag läuft auf MTV tags-über nur noch Video an Video, ohne Moderationen und Shows, getrennt nur von dem Hinweis »The future starts on MTV March 7th«. Begleitet wird der Countdown von einer TV-Kampagne der Münchener Agentur Start, die ein neues Programm »mit Liebe gemacht«, »nur für dich« verspricht.

Der Riesenwirbel dreht sich zunächst nur um wenige Stunden am Nachmittag. Diese Zeit will MTV in Deutschland zu seiner Primetime machen. Mit neuen Moderatoren, ein paar neuen Sendungen und neuer Sprache: Zwischen 14 Uhr und 19.30 Uhr spricht MTV seit heute deutsch.

Dabei geht es nicht nur darum, mit welchen Worten dieses oder jenes Musikvideo angekündigt wird; mit dem neuen Programm ist auch eine neue Positionierung von MTV in Deutschland verbunden. „Wir haben mit großem kreativen Potential eine Ansprache geschaffen, in der wir den Leuten die große weite Welt nach Hause gebracht haben“, sagt Programmchefin Mona Rübsamen. Das funktioniere, weil die Menschen neugierig seien, über den Tellerrand hinaus in andere Regionen hineinzuschauen. „Aber darüber hinaus wollen die Zuschauer Sachen sehen, die etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Und sie wollen selbst reflektiert werden.“

Diesen Spagat zwischen dem Glamour der Welt und den Sorgen der Jugendlichen in Buxtehude will MTV in Zukunft vollbringen. Für den Glamour sind die News und die etablierten internationalen Formate am Abend zuständig, für Buxtehude die neue Show In Touch. Beim Flaggschiff der deutschen Programmstrecke fährt der Moderator mit einem silbernen Bus durch deutsche Lande und besucht Jugendliche zu Hause. Die bekommen die Möglichkeit, über den Jugendklub zu sprechen, der geschlossen werden soll, einen selbstentwickelten Tanz aufzuführen, ihre Trennung vom Freund, von der Freundin darzustellen und, selbstredend, sich Videos zu wünschen.

Daß die Sendung um 14 Uhr beginnt, ist kein Zufall. Das ist die Zeit, in der pubertierende Schulpflichtige nach Hause kommen. Die haben um die Mittagsstunde sonst fast alles gemacht – nur nicht MTV eingeschaltet. Schon der Sprache wegen! „Ich versteh‘ nur die Hälfte“ oder: „Das ist mir zu anstrengend“ sind Klagen, die Mona Rübsamen und Team als Erklärung dafür hörten. Die Barriere, die das Englisch vor allem für junge Zuschauer darstellte, soll nun gesenkt werden. „Die Leute hören gerne Englisch, weil sie da was lernen können“, sagt die Programmchefin. „Aber wir müssen ihnen zwischendurch das Gefühl geben, sich entspannen zu können und das Programm einfach zu 100 Prozent zu verstehen.“

Ziel ist es, beide Sprachen auf möglichst natürliche Weise miteinander zu verweben. Zum Beispiel bei Select, einem Wunschkonzert, das in Zukunft eine Stunde lang von Kimsy auf deutsch und eine Stunde mit einem internationalen Co-Moderator auf englisch moderiert wird. „Es gibt auch unter den englischen Moderatoren solche, die von unseren deutschen Zuschauern gut verstanden worden sind“, erklärt MTV-Sprecher Stefan Vogel. „Und es gibt welche, die einen schottischen Dialekt haben – die werden in dieser Form in Deutschland nicht mehr stattfinden.“

Maßgeschneidert für den deutschen Geschmack ist ab sofort auch die Musikauswahl. Bislang stammte nur eine Hälfte der gespielten Titel von der deutschen Playlist, die andere Hälfte war europaweit festgelegt. Jetzt sollen zum Beispiel in Select nur noch Titel zur Auswahl stehen, auf die deutsche Zuschauer Lust haben. In paneuropäischen Sendungen wie Amour können jetzt national interessante Titel plaziert werden. Damit kehrt MTV einem Prinzip den Rücken, das Viva-Chef Dieter Gorny immer als „Kultur-Imperialismus“ der Londoner Zentrale bezeichnet hat. Mit dem „Euro-Pudding“, dessen Bestandteile den Jugendlichen in allen Ecken des Kontinents schmecken mußten, soll Schluß sein.

Statt dessen stellen die Hamburger MTVler ihr Menü aus einer Speisenkarte mit internationaler Küche und regionaler Hausmannskost zusammen: Bei der Klatsch-Show MTV Hot – ab sofort ebenfalls auf deutsch – heißt das: ein wenig „Pamela Anderson“ (Marke: schillernd und international), etwas „Fettes Brot“ (sympathisch von nebenan), dazu nationale Tourneedaten und Nachrichten.

Mit seiner neuen Programmstruktur will MTV auch den Kampf um Titelblätter und Starschnitte der Jugendzeitschriften gewinnen. Bisher hatte eine MTV-Kimsy in London wenig Chancen gegen einen Viva-Mola in Köln. Jetzt sollen deutsche MTV-Moderatoren häufiger vor Ort auf Veranstaltungen erscheinen, und im Programm sowieso: Die beiden bekannten VJs Kimsy und Christian bekommen Unterstützung von zwei neuen Gesichtern.

Das Ende der Entwicklung ist das jedoch noch nicht. In absehbarer Zeit sollen alle Sendungen in Hamburg produziert werden, die Zahl der Mitarbeiter in Deutschland auf 200 steigen. Bei der deutschen Nachmittagsschiene und bei Wochenend-Specials, die eigens für den hiesigen Markt produziert werden, muß es dann nicht bleiben. „Nach der Gründung von MTV Europe und dem Aufbau eines deutschen Büros ist das erst die dritte Stufe unserer Rakete“, sagt Michael Oplesch. „Ich glaube, daß wir 1998 und 1999 weitere Stufen zünden können.“

Jetzt wird getrennt, was zusammengehört

werben & verkaufen

Um die Zuschauer vom Umschalten abzuhalten, schaffen die Privatsender die Werbeblöcke zwischen den Sendungen ab. Mediaplaner sehen das mit gemischten Gefühlen.

Fünf Minuten vor Ende der Sendung deutet Günther Jauch mit dem Zeigefinger mahnend in Richtung Zuschauer auf der heimischen Wohnzimmer-Couch. „Sie bleiben doch dran?“, versichert er sich fragend, bevor er seinen Platz für die Werbung räumt. Der übliche Ausblick, welche Mordsbeiträge der Zuschauer verpassen würde, falls er fahrlässigerweise die Pause zu einem Senderwechsel nutzte, fehlt indes.

Das ist kein Wunder, denn ein solcher Werbeflüchter verpaßt nichts. Nach der Werbung und einigen Trailern erscheint Jauch gerade noch zum Abspann, sagt, daß Stern TV in der nächsten Woche wieder eingeschaltet werden möge, und wünscht einen schönen Abend. Sofort danach meldet sich Heiner Bremer und legt ohne weiteres Zögern mit dem RTL-Nachtjournal los.

Die Zeiten, in denen die Fernsehsender ihr Geld zwischen den Sendungen verdienten, sind so gut wie vorbei. Statt dessen verschieben sie die Werbung in die Programme und lassen die Sendungen direkt aneinanderstoßen. Der Zuschauer soll durch eine Pause nach Ende einer Sendung nicht unnötig ermuntert werden, umzuschalten und womöglich nicht zurückzukehren.

Bei Sat.1 trennt der Werbeblock, der früher das vorherige Programm von der Harald-Schmidt-Show trennte, jetzt Schmidts ersten Auftritt vom Rest der Show. Ganze drei Minuten erst läuft die Sendung, da wird sie schon zum ersten Mal unterbrochen. Der Moderator hat seine ersten Witze gemacht und die Gäste des Abends angekündigt, so daß das Interesse der Zuschauer größer ist als der Abschaltreiz durch die Reklame ± hofft jedenfalls Sat.1.

Zu den ersten, die diese Strategie in Deutschland umsetzten, gehörte die Ipa. RTL begann vor etwa zwei Jahren damit, die sogenannten Scharnierinseln durch Unterbrecher kurz davor oder danach zu ersetzen; zunächst allerdings nur bei den drei Talkshows am Nachmittag und zwischen den Krimis am Dienstagabend. Damals sah Ipa-Sprecher Andreas Kühner nur bei solchen Sendungen mit ganz ähnlichen Zielgruppen ein Potential für die Umstellung.

Inzwischen ist praktisch das ganze RTL-Programm entsprechend umgebaut. „Nur dort, wo es einen kompletten Bruch gibt, zum Beispiel vom Spielfilm auf Spiegel TV, behalten wir die Scharnierwerbung“, sagt Kühner heute. Von 1995 auf 1996 stieg der Anteil der Unterbrecherwerbung an der gesamten RTL-Werbezeit von 58 auf 76 Prozent. Doch mit Auskünften über die Umstellung und ihre Folgen, die die Ipa intern untersucht hat, hält sich der Vermarkter bedeckt. Weder gegenüber den Zuschauern noch gegenüber Kunden ließ er sich über das neue Konzept aus.

Geht’s nach der Ipa, gibt es dazu auch keinen Grund. Der Publikumsfluß von Sendung zu Sendung sei verbessert, die Reichweite der Werbeinseln erhöht worden: „Die Operation ist gelungen“, sagt Kühner. Daß eine 60-Minuten-Sendung jetzt praktisch drei- statt zweimal unterbrochen wird, sei kein Problem, meint der Ipa-Sprecher: „Die Zuschauer gehen gut damit um, sonst würden sie uns ja durch Zapping bestrafen.“

Sat.1 verabschiedete sich ebenso leise wie die Konkurrenz, aber erst zum 1. Januar 1997 von den meisten Scharnierinseln. 70 Prozent der Programmumfelder sind jetzt nach Angaben von Verkaufsschef Klaus-Peter Schulz scharnierfrei. Der Trend sei positiv: In den ersten drei Wochen nach der Umstellung habe zum Beispiel bei der Krimi-Serie Stockinger die Reichweite im Werbeblock 80 Prozent von der Sendung betragen ± im Vorjahr seien es im Schnitt nur 76 gewesen. Von 100 Zuschauern der Talkshow Kerner ließen 64 Sat.1 auch während der Werbung eingeschaltet, immerhin fünf mehr als vor der Umstellung. Genaue Zahlen zu Harald Schmidt, der sich schon seit einiger Zeit die Eingangsmoderation unterbrechen läßt, will Sat.1 nicht nennen. Bei seiner Show hänge die Zapping-Quote vor allem vom Angebot der Konkurrenz ab.

Die Umstellung ist für die Sender nicht zuletzt eine Möglichkeit, mehr Geld zu verdienen. Denn Werbung in Unterbrechern kostet traditionell mehr als in Scharnierinseln, da die Sender sich die größeren Reichweiten hoch bezahlen lassen. So kommen die Zuschauer inzwischen bei RTL 2 durch das komplette Vorabend- und Abendprogramm ohne eine einzige Scharnierinsel, und auch die MediaGruppe München hat nachgezogen: ProSieben führt sein Publikum am Sonntagabend nahtlos vom Spielfilm zu Focus TV und wieder zum Spielfilm.

Doch die Mediaplaner sind skeptisch. Grundsätzlich sei die Lösung nicht schlecht, sagt Mediapolis-Chefeinkäuferin Anette Kullmann, und bei einem jungen Publikum von Sendungen wie Beverly Hills 90210 vermutlich unproblematisch. Sie aber sei von den frühen und häufigen Unterbrechungen „entnervt“, weshalb sie vermutet, daß es anderen Zuschauern ähnlich geht: „Werbekunden, die besonderen Wert auf ein gutes Image legen, würde ich nicht empfehlen, in solche Blöcke zu gehen.“

Ihr Chef Manfred Krupp hält die Praxis der Sender, Werbung gleich nach zwei Minuten oder direkt vor den Abspann zu plazieren, für „Auswüchse“ des Prinzips: „Das ist eine Unverschämtheit.“ Mit dem Abschied von der Scharnierwerbung würden die einzelnen Blöcke allerdings „sauberer“, meint der Mediapolis-Geschäftsführer. Zum Beispiel bei Spots zwischen Glücksrad und ran: Die älteren Frauen, die die Gameshow anschauten, bräuchten eine Weile, bis sie sich für die nächste Schau entschieden hätten; die älteren Männer, die auf Fußball warteten, trudelten nach und nach ein. Wanderte der Werbeblock jedoch in die Sendungen selbst, sei die Zuordnung klarer, Zielgruppen ließen sich genauer erreichen.

Daß die Werbeblöcke damit enger ans Programm angebunden werden, begrüßt Bernd Deppermann, Vize-Chef von Zenith Media, Frankfurt/M. Auch er sieht ein Problem, wenn die erste Unterbrechung zu früh kommt. „Aus qualitativer Sicht ist das ein Ärgernis“, sagt er. „Ich würde es bei einer solchen Plazierung vom Gefühl her eher vermeiden, in den ersten und eventuell auch den letzten Block zu gehen.“ Auf sein Gefühl ist der Mediaplaner mehr noch als sonst angewiesen, denn Untersuchungen über die Akzeptanz der neuen Unterbrecher gibt es nicht. „Es besteht ein echter Informationsmangel“, so Deppermann, der Analysen von den Sendern einfordern will.

Im Nachtprogramm zeigt RTL schon, wie sich das Prinzip auf die Spitze treiben läßt: Bei den Serien am frühen Morgen kommen die Werbeblöcke konsequent vor dem Abspann der einen Sendung und nach dem Vorspann der nächsten. Mit dem Ergebnis, daß zwischen zwei Sendungen ein Block entsteht, der nur aus Vor- und Abspännen, zweimal Werbung und Trailern zusammengesetzt ist — mehr als zehn Minuten ohne Handlung.