Falsche Freunde

Es ist, um das gleich zuzugeben und nicht koketter zu wirken als unvermeidlich, natürlich schmeichelhaft, bei der Geburtstagsfeier einer Journalisten-Akademie zu sein und gleich von zwei Rednern als positives Beispiel erwähnt zu werden. Und selbst wenn einer der beiden Bernd Neumann ist, freut man sich für einen Moment, dass man da wohl etwas richtig gemacht hat, bevor man sich fragt, was man da wohl falsch gemacht hat.

Aber vor allem fühle ich mich missbraucht. Weil hinter dem Lob in Wahrheit keine Anerkennung für meine Arbeit steckt, sondern die Absicht, viele andere zu diskreditieren.

Der Kulturstaatsminister Bernd Neumann sagte:

Wo Informationen endlos vervielfältigt und uneingeschränkt verfügbar sind, wird die Frage immer drängender, auf welche Informationen es ankommt und welches Wissen man für seine Lebensorientierung tatsächlich benötigt. Apologeten der reinen Netzwelt haben auf diese Frage eine systemimmanente Antwort. Unabhängige Blogger und kollektive Schwarmintelligenz sollen professionellen Journalismus zumindest zu weiten Teilen ersetzen. Daran dürften allerdings doch erhebliche Zweifel anzubringen sein.

Der altruistisch souveräne Blogger ist und bleibt – zumindest noch – eine singuläre Erscheinung. Ein Wassertropfen im Ozean des Netzes. Die Intelligenz der vielen mag zwar manches Interessante und Wichtige hervorbringen; ein stets verlässlicher Gradmesser für Relevanz und Validität von Informationen und Bewertungen ist sie aber nach den bisherigen Erkenntnissen zweifellos nicht. (…)

Im soeben veröffentlichten Gutachten von Christoph Neuberger und Frank Lobigs über „Die Bedeutung des Internets im Rahmen der Vielfaltssicherung“ heißt er hierzu kurz und bündig: „Trotz der positiven Selbsteinschätzung der Blogger dürfte die publizistische Leistungsfähigkeit partizipativer Angebote eher gering sein.“ Natürlich gibt es auch bemerkenswerte Ausnahmen. Der heute hier anwesende und mit vielen Auszeichnungen bedachte Stefan Niggemeier gehört dazu. Als profilierter Medienkritiker hat er es mit seinem Blog geschafft, nicht nur die Fachwelt, sondern auch eine Vielzahl von anderen Nutzern anzusprechen. Aber er ist ja auch gelernter Printmedienjournalist. Die Ausbildung zum Printjournalisten ist für mich immer noch so etwas wie die hohe Schule des Journalismus.

Neumann lobt mich als Ausnahme, um die Regel der fehlenden „Leistungsfähigkeit“ von Blogs zu bestätigen, und schafft es sogar, in dem Erfolg dieses Online-Angebotes einen Beweis für die Überlegenheit von Print-Journalismus zu sehen. Was für ein Unsinn, was für ein vergiftetes Lob. Ich habe nicht Print-Journalismus gelernt, sondern Journalismus. Was soll das überhaupt sein, „Print-Journalismus“? Und was würde eine Ausbildung zum „Onlinejournalisten“, falls es das gibt, minderwertig machen? Dass die Texte nicht auf Papier gedruckt werden? Dass der Autor in viel stärkerem Maße erfährt, welche Resonanz seine Texte haben? Oder doch nur, dass seine Artikel nicht von Kulturstaatsministern gelesen werden, weil für die, natürlich, nur zählt, was in der Zeitung steht?

Ich kann nicht glauben, dass man das im Jahr 2010 immer noch hinschreiben muss: Der Print-Journalismus ist dem Online-Journalismus nur insofern überlegen, als der Print-Journalismus jahrzehntelang ein lukratives Geschäftsmodell hatte, das dafür sorgte, dass Redaktionen gut ausgestattet wurden und sich relative hohe Standards entwickeln konnten. Dass auf sueddeutsche.de oder „Welt Online“ Artikel stehen, die es nie in die gedruckte „Süddeutsche Zeitung“ oder „Welt“ schaffen würden, hat nichts mit dem Medium an sich zu tun, sondern allein damit, wie es die Verlage behandeln. Online, glauben sie, muss es nicht so gut sein, weil online ja auch nicht so viel Geld verdient wird. Das „weil“ in diesem Satz ist sinnlos, aber Realität.

Der andere Redner, der mich am Montag bei der Feier zum 40. Geburtstag der „Akademie für Publizistik“ in Hamburg erwähnte, war der scheidende Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Hans Werner Kilz. Er sagte:

Mir geht die Verzagtheit der Journalisten, wenn sie über ihre eigene Zukunft reden, ziemlich auf den Geist. Journalisten reden sehr gerne über ihre eigene Befindlichkeit, sie teilen leichter aus, als sie einstecken, und obwohl sie ständig Ratschläge geben, wie in notleidenden Branchen umstrukturiert und dezentralisiert werden muss, fühlen sich Journalisten, wenn es um sie selber geht, von allem bedroht, was nach Veränderung aussieht, sei es das Internet, ein Newsroom, das iPad oder Free Content. (…)

Bei einigen Blogger-Auftritten – Stefan Niggemeier, ich meine natürlich nicht Sie, Sie schätze ich – aber bei einigen Blogger-Auftritten mitteilsamer Kollegen habe ich das Gefühl, dass es der Therapeut war, der empfohlen hat, via Bildschirm-Präsenz das verkümmerte Ego zu stärken, und was medizinisch geboten sein mag, muss uns journalistisch noch lange nicht weiterbringen. Nein, ich glaube, das Netz wird die klassische Zeitung nicht killen.

Auch Kilz benutzte mich, um umso ungenierter auf andere Blogger einzuprügeln – und wenn ich nicht da gewesen wäre, hätte er vermutlich den Einschub weggelassen und das Bloggen insgesamt als rein therapeutische Beschäftigung für Menschen mit gestörtem Selbstwertgefühl dargestellt, sicher unter dem zustimmenden Nicken von Herrn Neumann. Was für eine Anmaßung.

Ich hatte leider keine Gelegenheit, Kilz hinterher zu fragen, wie viele Blogs (außer angeblich meinem) er kennt, ob er, um nur die bekanntesten zu nennen, die klugen Einwürfe von Udo Vetter liest, die manchmal anstrengenden, gewollt gegen den Strich gebürsteten, aber oft lesenswerten politischen Analysen des „Spiegelfechters“, die beißenden Pharma-Kritiken von „Stationäre Aufnahme“, die Enthüllungen von „Carta“ oder „Netzpolitik“ oder auch nur eines der vielen Blogs, die sich mit den neuen Medien und wie sie unser Leben verändern beschäftigen.

Kilz sagte:

Die Zeitung bleibt die Zeitung, und die Zeitung im Netz ist keine Ergänzung, kein Abfallprodukt und kein Resteverwerter. Es ist ein separates Geschäft und eine völlig eigene Form von Nachrichtenjournalismus. Die Zeitungen haben sich über Jahrzehnte ihre Authentizität erworben, ihren Ruf und ihre Attraktivität. (…)

Die Zeitungen im Netz müssen erst noch lernen, auf eigenen Füßen zustehen, sich die Marke und dazu das Geld verdienen. Die Websites leben bis jetzt weitgehend von den Zeitungsredaktionen, von Auslandsreportern, von unseren Autoren aus der Wissenschaft und aus dem Feuilleton und von investigativ arbeitenden Reportern. 85 Prozent aller Nachrichten, die ins Netz kommen, gehen auf Recherchen von Zeitungsjournalisten zurück. Man muss sich also nicht also als Nostalgiker verhöhnen lassen, wenn man versucht, wie ich hier, die klassische Tageszeitung zu verteidigen. Selbst wenn die Online-Angebote genug Geld einbringen würden, um alles allein produzieren und auch senden zu können, ist doch eines klar: Der Nachrichtenjournalismus im Netz wird nie so in die Tiefe gehen oder den investigativen Journalismus gar ersetzen zu können.

Und Äpfel werden nie Birnen sein.

Man möchte über solche Beiträge ja schon gar nicht mehr diskutieren, aber da ist tatsächlich ein hoch angesehener, führender Journalist dieses Landes, der auch im Jahr 2010 nicht merkt, dass ihm in seinem Vergleich die Kategorien verrutscht sind. Hätte Kilz gesagt: „Comics im Netz werden nie Romane in Buchform ersetzen können“, wäre er ausgelacht worden. Aber wenn es ums Internet geht, lässt man den Leuten das durchgehen, dass sie das Medium mit dem Genre verwechseln.

Eines ist, um die Formulierung von Kilz aufzugreifen, eben nicht klar: Warum Journalismus in digitaler Form nicht genauso, nein: viel mehr in die Tiefe gehen können soll wie auf Papier gedruckt. Und warum investigative Recherchen eine Domäne des Print-Journalismus bleiben soll. Richtig ist: Bislang ermöglicht das Geschäftsmodell der Zeitungen lange, gründliche Recherchen. Richtig ist aber auch: Dieses Geschäftsmodell ist akut bedroht, weil die Menschen und die Werbung ins Internet gehen.

Und wir können doch nach all den Jahren der fruchtlosen Diskussion nicht immer noch suggerieren, dass Qualitätsjournalismus und Onlinejournalismus Gegensätze sind oder wenigstens – jenseits der real existierenden Angebote wie sueddeutsche.de – sein müssten. Ich fürchte, Kilz hat keine Ahnung, wie sehr er mit seiner Rede junge Leute frustiert, die sagen: Ich will gar keinen Print-Journalismus machen oder Online-Journalismus. Ich will guten Journalismus machen, egal in welcher Mediengattung oder genau in der, die für ein Thema, eine bestimmte Aufbereitung besonders geeignet ist.

Noch einmal Kilz:

Der Qualitätsjournalismus ist nicht nur im Niedergang begriffen, sagt der britische Reporter und Buchautor Nick Davies, er liegt bereits in den letzten Zügen. Das mag in England, auch in Amerika so sein. Es wäre schlimm, wenn es in Deutschland auch so wäre. Ist es aber nicht.

Ich kann jedem nur dringend Nick Davies‘ Buch „Flat Earth News“ empfehlen. Anders als Kilz hatte beim Lesen ich nicht das Gefühl: Zum Glück ist das bei uns noch nicht so weit, mit dem Churnalism, mit dem Abbau von Kompetenzen in den Redaktionen, mit dem blinden Vertrauen auf Nachrichtenagenturen, mit Boulevardmedien als Leitmedien, mit dem zunehmenden Ungleichgewicht zwischen PR, Lobbyisten und gezielten Manipulatoren auf der einen Seite und Journalisten auf der anderen. Ich hatte beim Lesen im Gegenteil das Gefühl: Bei uns ist es ganz genauso. Und einen winzigen Teil der Abgründe dokumentieren wir jeden Tag auf BILDblog.

Ich habe eine Bitte, liebe Kulturstaatsminister, Chefredakteure und Apologeten der reinen Print-Welt. Wenn Ihr die neuen Publikationsformen im Internet verächtlich macht, die Qualität von Journalismus an dem Medium messt, in dem er stattfindet und die ewige Überlegenheit von Papier beschwört, könntet Ihr darauf verzichten, mich zu erwähnen und zu einer Ausnahme der Regel und damit einer Art paradoxem Kronzeugen für Eure Thesen zu stilisieren? Vielen Dank!

Mit Googles Riesenfröschen durch Raum & Zeit

Kann es sein, dass es einen heimlichen Journalistenwettbewerb um den abwegigsten Zeitungsartikel über Google Street View gibt? Falls ja, ist die „Welt“ am vergangenen Samstag uneinholbar in Führung gegangen.

Feuilletonkorrespondent Paul Jandl hat etwas entdeckt, das Google Street View noch kaputt macht (außer allem anderen): die Literatur. Nämlich dadurch, dass man sich jetzt die realen Schauplätze großer Romane einfach im Internet angucken kann und dabei feststellt, dass es sich in Wirklichkeit um schnöde Orte handelt.

Montauk, zum Beispiel, ist auf Street View nur ein Ort, „Montauk“ bei Max Frisch hingegen ein Sehnsuchtsort. Jandl schreibt:

Die autobiografische Erzählung ist Literatur mit Schauplatz. Google ist bloßer Schauplatz. Ohne Aura, reine Plattheit! Will man rufen und Datenschutz fordern.

Ich will rufen: Was haben Sie denn gedacht? Das eine ist ein realer Ort, das andere seine literarische Überhöhung. Wäre beides dasselbe, würden die Menschen Ansichtskarten sammeln statt Bücher zu lesen. Und wenn Sie das nicht sehen wollen, will ich weiter rufen, wenn Sie sich das Bild von Montauk bewahren wollen, das Max Frisch in Ihnen geweckt hat, dann gehen Sie doch einfach nicht auf Google Street View, statt es gleich verbieten zu wollen.

Vielleicht ist Paul Jandl jemand, der abends verzweifelt zu seiner Frau sagt: „Verdammt, Schatz, Bauer hat einen neuen Fruchtjoghurt mit Kirsch-Kiwi-Geschmack rausgebracht, jetzt muss ich den auch noch essen.“ Vielleicht macht er den Kurzschluss aber auch nur im Internet, dass er jedes neue Angebot nicht als Angebot, sondern als Pflicht wahrnimmt.

Jandl meint ernsthaft, dass Google Street View nicht nur den Literaturgenuss von ihm, den Zwangs-Google-Street-View-Nutzer, bedroht, sondern die Literatur an sich. Er schreibt: „Solange der Streit um Street View dauert, ist die Literatur noch halbwegs aus dem Schneider.“ Und dann formuliert er diesen Satz:

(…) die topografische Wahrheit des Unternehmens Google Street View ist auch ein Eingriff in die Privatsphäre der Literatur.

Das ist in einem Maße prätentiöser Unsinn, in sprachlicher wie in logischer Hinsicht, dass es schwer fällt, sich damit überhaupt auseinanderzusetzen, weshalb ich einfach darauf verzichte.

Jandl fährt fort:

Will der Leser denn wirklich wissen, wie die Froschperspektive der Google-Kameras Joyces Dublin sieht?

Gute Frage, deren Antwort vermutlich seine ganze Kolumne überflüssig machen würde. Andere Frage: Wo fände der Leser, der Joyces Dublin sehen wollte, auf Google Street View Aufnahmen der irischen Stadt von der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts? Und was ist das für ein drei Meter großer Frosch?

Am Ende kommt Marcel Proust zu Wort:

„Hätten meine Eltern mir erlaubt, den Schauplatz eines Buches, das ich las, selber aufzusuchen, so hätte das meiner Meinung nach einen unschätzbaren Fortschritt in der Eroberung der Wahrheit bedeutet.“

Warum Jandl diesen Satz zitiert, ist unklar, denn dem „Welt“-Journalisten geht es ja nicht um die Eroberung der Wahrheit, sondern die Bewahrung der Fiktion. Aber Proust war, wenn ich Jandl richtig verstehe, ein glücklicher Mensch, weil er in einer Zeit lebte, als es das noch nicht gab, was er sich wünschte. Er wusste nicht, „was auf die Welt noch zukommt“.

Und aus der „Welt“, möchte ich hinzufügen.

Peter Hahne ist gegen Kinderpornographie und lästige Details

Peter Hahne ist nicht unbedingt der Mann, den man sich in der ersten Reihe eines Mobs vorstellt, wie er mit der Mistgabel droht. Ich sehe ihn eher so am Ende der Menge, wie er wütend die Faust schüttelt, die aufgebrachten Menschen mit seiner Forke anstachelt und dabei mit schriller Stimme Sätze ruft wie: „Denkt denn keiner an die Kinder?“, „Wo kämen wir da hin!“, „Das lassen wir uns nicht mehr bieten!“ oder: „Warum tut denn keiner was?!“

Irgendjemand muss zum Beispiel jetzt endlich mal irgendwas gegen diese ganze Kinderpornographie im Internet tun. Peter Hahne findet, sowas müsste verboten sein. Gut, es ist verboten, aber das ist ja nicht der Punkt. Es soll weg sein. Sofort.

Peter Hahne ist für Netzsperren, wie sie die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen im vergangenen Jahr durchsetzen wollte, die aber aufgrund erheblicher Bedenken, was ihre Wirksamkeit und ihre Verfassungsmäßigkeit angeht, vorerst nicht verwirklicht wurden. Aber schon das Wort „Netzsperren“ geht dem ZDF-Mann Peter Hahne nicht über die Lippen. Er sagt stattdessen:

Und der Staat muss auch handeln, kann auch handeln in Sachen Eingriff in das Internet. Also Verbot. Ursula von der Leyen hat das ja versucht, im letzten Jahr, 2009, hat gesagt, wir verbieten das einfach im Internet. Das hat sich irgendwie nicht so verwirklichen lassen. Und jetzt hat man so einen typisch faulen Kompromiss gemacht. Wir schauen uns das erstmal ein Jahr an, ob das auch freiwillig geht und dann müssen wir vielleicht eingreifen.

So spricht ein Mann, der bis vor kurzem in leitender Position beim ZDF war und jetzt eine eigene Talkshow hat.

Ich glaube nicht, dass es ein Versehen war, Ausdruck bloßer Unkonzentriertheit, die Hahne jede konkrete Formulierung vermeiden und sich in Sätze wie „Das hat sich irgendwie nicht so verwirklichen lassen“ flüchten ließ. Die ganze Sendung zum Thema Kindesmissbrauch, die er am heutigen Sonntag ausstrahlte, war geprägt von dem Versuch, jede auf Argumente oder Tatsachen gestützte Auseinandersetzung zu vermeiden und allein an das Gefühl der Zuschauer zu appellieren, dass da Kinder missbraucht werden, und keiner tut was.

Von der ersten Sekunde an sprach er die Zuschauer allein auf dieser Ebene an. Mühsam unterdrückte er sein übliches Grinsen, während er in die Kamera fragte:

Geht es Ihnen auch so, dass Sie erschüttert sind, wenn Kinder tot aufgefunden und missbraucht worden sind?

Nein, rufen wir da natürlich alle im Chor, uns lässt das völlig kalt.

Der Satz ist scheinbar sinnlos und unnötig, in Wahrheit aber setzte Hahne mit ihm schon die Grundlage für die Logik der ganzen Sendung: Wer auch erschüttert ist, muss seine bildliche Mistgabel aus dem Schuppen holen und fäusteschüttelnd die Politik auffordern, irgendetwas, nein: alles Mögliche, nein: alles zu tun.

Peter Hahne hatte in seiner Sonntags-Talkshow „Peter Hahne“ Stephanie zu Guttenberg zu Gast, die Präsidentin des Vereins „Innocence in Danger“, der gegen Kinderpornographie kämpft, und Ehefrau des Verteidigungsministers, die gerade ein Buch zum Thema Kindesmissbrauch geschrieben hat. Kindesmissbrauch ist laut „Peter Hahne“ ein Tabuthema:

– vermutlich in dem aus der Sarrazin-Diskussion bekannten Sinne, dass ununterbrochen darüber geredet wird. Die Zahlen, die Frau Guttenberg zum Thema Kinderpornographie im Internet nannte, waren jedenfalls dieselben, die die frühere Familienministerin von der Leyen schon genannt hatte, als sie das Thema publikumswirksam für sich entdeckte.

Man darf sicher nicht zuviel in den begrenzt variablen Gesichtsausdruck von Peter Hahne interpretieren, aber es schien doch, als sitze Frau Guttenberg ein glühender Fan gegenüber, ein Verehrer. Er hatte aus seiner Sendung eine Werbesendung für ihr Buch, ihr Anliegen, sie selbst gemacht, nickte eifrig und, nun ja, grinste. Er hatte keine kritischen Nachfragen, als sie behauptete, dass das Geschäft mit Kinderpornographie ein „lukratives Geschäft“ sei, obwohl viel dagegen spricht. Und er schaffte es, auf ganz eigene Art das Internet als Wurzel allen Übels auszumachen. Dass sich Pädophile zum Beispiel so leicht an Kinder ranmachen können, liegt daran, dass die „keine Briefe und Postkarten mehr schreiben; es geht alles über Chat“. Postkarten! Und ein anscheinend gefährliches Vorbild wie Lady Gaga beschrieb Hahne als „eine Frau, die von vielen Kindern und Jugendlichen angeklickt wird im Internet“. (Sie bei „Wetten dass“ zu sehen, ist offenbar ungefährlich.)

Doch zurück zu den Netzsperren. Hahnes wirrer Dialog mit Guttenberg muss für Laien komplett unverständlich gewesen sein, und enthielt doch eine klare Botschaft. „Sie waren ja für die harte Lösung“, rief er Guttenberg zu und ergänzte selbst: „Die wäre ja auch konsequenter.“ (Die „harte Lösung“ ist, nur zur Erinnerung, das Aufstellen von Stopp-Schildern vor kinderpornographischen Seiten, die selbst aber erhalten und mit Tricks zugänglich bleiben. Stattdessen versucht man nun, sie zu löschen.)

Nun ist Hahne beim „Man muss aber doch was tun“, was konkret bei ihm lautet „Aber ohnmächtig geschlagen geben möchte man sich ja nicht“. Und weil ihn Argumente ohnehin nicht interessieren, begibt er sich in die Rolle des kleinen Peterchens, der zu der berühmten Tante sagt, dass sie doch supereinflussreich ist und diesen tollen Mann habe, der noch superereinflussreich ist, und da doch mehr machen kann als, sagen wir, Peter Hahne, dem nur das Fäusteschütteln bleibt:

Ihr Mann hat ja auch mal gesagt: Also meine Frau mischt sich da ganz schön auch mal ein. Sie haben ja viel mit Politikern zu tun, nicht nur zu hause mit ihrem Mann. Sagen Sie da auch mal, “Mensch, ihr müsst euch darum kümmern!”, auch was die Gesetze angeht? (…) Aber Frau Schröder, da müssen Sie doch jetzt – Sie haben doch schon ’n bisschen Einfluss – sagen: „Ich stehe hier gerade als Frau eines prominenten Politikers, die auch sehr engagiert ist in diesem Thema. Ich setze das jetzt auf die Schiene. Frau von der Leyen, machen Sie das. Frau Schröder jetzt.“

Er hat, wie gesagt, das Wort Netzsperren nie erwähnt, und zu diesem Zeitpunkt ist längst nicht mehr klar, was Frau Guttenberg denn genau zu Frau Schröder sagen soll. Hahne würde es reichen, wenn irgendetwas geschähe, das den Eindruck erweckte, dass irgendetwas geschehe. Dass es vielleicht gar nicht an fehlendem Druck von Frau Guttenberg liegt oder an fehlendem Willen von Frau Schröder, sondern an etwas, das sich „Koalitionspartner“ nennt und in diesem Fall FDP heißt und sich zum Beispiel in Gestalt einer Justizministerin mit guten Gründen gegen Sperren sperrt… das ist kein Bestandteil des Edelkitsches, den Hahne anstelle eines politischen Gesprächs produziert.

Ganz abgesehen davon, dass es keine gute Voraussetzung für ein Fernsehgespräch ist, wenn der Moderator in der Rolle eines Jubelpersers auftritt (lustigerweise nicht nur bei Guttenberg: Günter Schabowski kündigte er für die nächste Sendung zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung als „den Mann, der das alles möglich gemacht hat“): Hahne hat in der Sendung systematisch fast jede Gelegenheit gemieden, die Zuschauer aufzuklären, klüger zu machen. Er hat sie nur in ihren Gefühlen bestärkt. Dass ein Mann wie Peter Hahne mit seiner Ratiophobie vom ZDF als Journalist eingesetzt wird, ist ein fortdauerndes Ärgernis.

(via netzpolitik.org; Screenshots: ZDF)

Observationen am offenen Herzen

Manches ethische Dilemma löst sich in der praktischen journalistischen Arbeit wie von selbst. Als der „Stern“ im Juni vergangenen Jahres die über 200 Opfer des abgestürzten Airbus 447 im Bild zeigte, konnte das Blatt nach den Worten von Chefredakteur Andreas Petzold schon deshalb nicht die Genehmigung von Angehörigen oder Urhebern einholen, weil die Zeit dafür bis zum Redaktionsschluss viel zu knapp war. Und zeigen musste der „Stern“ die ganzen Opfer im Bild, weil er seinen Lesern laut Petzold nur so das ganze Ausmaß der Tragödie deutlich machen konnte.

Es ist vermutlich ein Fortschritt, dass der „Stern“-Chefredakteur sich überhaupt zu solchen Themen äußert. Im Zusammenhang mit dem Amoklauf von Winnenden hatte das Magazin Fragen nach der Herkunft der gezeigten Opferbilder und dem Einverständnis der Angehörigen noch mit dem Hinweis abgebügelt: „Zu Redaktions-Interna erteilen wir keine Auskunft.“

Aber seit der „Stern“ im Frühjahr berichtet hat, mit welchen Methoden eine Agentur für die „Bunte“ das Privatleben von Politikern ausgespäht hat, ist das Magazin in der unwahrscheinlichen Rolle des Verteidigers journalistischer Standards. Und so ritt Petzold auf einem sehr hohen Ross in eine Diskussion über „Grenzen der Recherche im People-Journalismus — Anforderungen an eine ‚lautere‘ Recherche“, zu der der Deutsche Presserat am Mittwoch in Berlin geladen hatte.

Es war ein Gipfel der Heuchler.

Patricia Riekel erklärte noch einmal, warum es ein öffentliches Interesse daran gegeben habe, Franz Müntefering auszuspionieren. (Das Wort „ausspionieren“, das Petzold benutzt hatte, verbat sich Riekel empört. Sie hätten „recherchiert“.) Dass der SPD-Politiker mit einer vierzig Jahre jüngeren Frau zusammen sei, mache „veränderte Akzeptanzen über Partnerschaften deutlich“, das seien Fragen, die „gesellschaftspolitisch relevant“ seien. Außerdem erinnerte sie daran, dass Müntefering sich zuvor aus der Politik zurückgezogen hatte, um seine schwer kranke Frau zu pflegen. „Wenn ein Spitzenpolitiker mit einer so emotionalen Entscheidung an die Öffentlichkeit geht, öffnet er auch sein Herz, und das Publikum schaut hinein“, sagte Riekel. „Und dieses Interesse bleibt bestehen.“

Riekel forderte zu unterscheiden zwischen dem, was man recherchieren darf, und dem, was man veröffentlich darf. Sie betonte, dass die „Bunte“ die bereits vorher ausgekundschaftete Beziehung von Müntefering erst öffentlich gemacht habe, als er selbst mit der Frau öffentlich aufgetreten sei. „Es darf keine Vorzensur geben, wenn einer Redaktion ein Verdacht oder ein Gerücht bekannt wird.“

Die Richtlinien zur Ziffer 4 des Pressekodex, auf die sich Riekel berief, erlaubt die „verdeckte Recherche“ nur im Einzelfall, „wenn damit Informationen von besonderem öffentlichen Interesse beschafft werden, die auf andere Weise nicht zugänglich sind“. Aber was sind Informationen von besonderem öffentlichen Interesse? Hans Leyendecker von der „Süddeutschen Zeitung“ nannte als Beispiel das Thema Tiertransporte, bei dem anders als durch Undercover-Recherche die wichtigen Informationen nicht beschafft werden könnten. Riekel erwiderte, sie persönlich interessiere sich auch sehr für Tiertransporte, „aber es gibt Menschen, die interessieren sich nun mal für andere Menschen. Das sei eine Frage des Standpunktes.“

Sie blieb dabei: Eine „Vorrecherche“ bei Gerüchten müsse in jedem Fall möglich sein. (Auf spätere Nachfrage stellte sich heraus, dass sich eine „Vorrecherche“ von einer „Recherche“ dadurch unterscheidet, dass sie bei der „Bunten“ so genannt wird.)

Nicolaus Fest aus der „Bild“-Chefredaktion überraschte Riekel und Publikum mit der Aussage, sein Blatt wäre Müntefering nicht wegen seiner neuen Liebe nachgestiegen. „Ich weiß nicht, was die politische Dimension dieser Geschichte sein soll. Es gab keine Protektion, es ist reine Privatsache.“ Die Rede kam auch auf den Fall des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer: Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass es erlaubt war, seine Verhältnis zu einer Freundin, die auch ein Kind von ihm erwartete, öffentlich zu machen, weil Seehofer mit seinem intakten Familienleben Wahlkampf gemacht hatte und der Lebenswandel den Ansprüchen einer christlichen Partei widersprach. „Würden wir das auch bei einem Politiker machen, der freie Liebe propagiert“, fragte Fest und antwortete mit Nein.

Ein besonders bizarrer Nebenstrang der Diskussion beschäftigte sich mit freien Mitarbeitern. Die Diskussion um die Frage, welche Grenzen bei der Recherche des Privatlebens von Politikern im Auftrag von „Bunte“ überschritten wurden, wird nämlich dadurch erschwert, dass die Illustrierte die Recherche (oder, wie sie sagen würde: „Vorrecherche“) an eine dubiose Agentur outgesourct hatte. Deshalb ist umstritten: Was die „Bunte“ genau gewusst hat über das Vorgehen der Agenturleute, inwieweit sie dafür verantwortlich ist, aber auch, inwiefern schon die Auslagerung der Recherche ein Problem ist.

Riekel betonte, auf Outsourcing könne heute generell nicht verzichtet werden, aber die Freien müssten sorgfältig ausgesucht und kontrolliert werden. Die „Bunte“ erarbeite gerade eine Art Verhaltenskodex, in dem sich die Freien zu „korrekten Recherchemethoden“ verpflichten. Riekel hielt schon in ihrem Einführungsstatement ein ebenso flammendes wie rätselhaftes Plädoyer für die „30.000 Freelancer“, die „nicht besser oder schlechter“ arbeiteten als festangestellte Journalisten. „Der Status entscheidet nicht über die Qualität eines Journalisten“.

Beim „Stern“ sieht man das anders. „Das Kerngeschäft darf man nicht outsourcen“, forderte Petzold. In Bezug auf investigative Recherchen sagte er: „Jeder freie Mitarbeiter, den ich beschäftige, erhöht das Risiko.“

Nicolaus Fest hatte in der Diskussion neben Riekel und Petzold lange Zeit fast vernünftig und seriös gewirkt (er wies Petzold darauf hin, dass Freie vor allem bei Spezialthemen oft über Kontakte verfügten, die die Redaktion nicht habe, und formulierte in Bezug auf Recherchemethoden: „Der Zweck heiligt das Mittel, aber der Zweck muss stimmen“). Sein seinem Wesen eher entsprechende Einsatz kam erst, als es um Nicht-Prominente ging, um Menschen, deren Fotos Medien veröffentlichen, weil sie Opfer von Unglücken oder Verbrechen geworden sind. Zur „Love Parade“ sagte er: „Die Leute, die dahin gingen, sind zu einem hohen Teil von Exhibitionismus oder Voyeurismus getrieben.“ Er verstehe nicht das „merkwürdige Missverhältnis“, dass Menschen, die kein Problem haben, fotografiert zu werden, wenn sie dort ihre Brüste entblößen, andererseits nicht gezeigt werden wollen, wenn der Anlass ein „journalistischer“ ist, weil sie nämlich zum Opfer des Unglücks wurden. Er beklagte hier eine „Instrumentalisierung des Persönlichkeitsrechtes wie bei Prominenten“: Man sei mit der Veröffentlichung von Fotos einverstanden, „solange es schöne Fotos sind“.

Den Leitfaden, den der Presserat gerade zur Berichterstattung über Amokläufe vorgelegt hat [pdf], nannte Fest „außerordentlich problematisch“. Er stößt sich schon am ersten Satz in der ersten Empfehlung, wonach die Redaktion „sorgfältig zwischen dem öffentlichen Interesse an dem Geschehen und den Persönlichkeitsrechten des Täters abwägen“ müsse. Fest hält eine solche Abwägung für absurd: Der Amoklauf bringe ein öffentliches Interesse mit sich wie kein anderes Verbrechen. Über den Täter soll man teilweise nur anonymisiert berichten dürfen, auf die Nennung von persönlichen Details über die Opfer soll ganz verzichtet werden: „Das ist ein massiver Eingriff in das Berichterstattungsrecht“, sagte Fest.

Bei allen Meinungsunteschieden — die Argumentationsmuster von Riekel, Fest und Petzold ähnelten sich frappierend: Wenn ihre spezielle Form der Sensationsberichterstattung nicht erlaubt sei, könne man gar nicht berichten und der Journalismus sei insgesamt bedroht. Natürlich konnte sich auch keiner von ihnen zu einem klaren Bekenntnis dazu durchringen, auf die ungenehmigte Verwendung von Privatfotos aus sozialen Netzwerken zu verzichten. Nach zwei Stunden Diskussion blieb der Eindruck: Journalistische Ethik ist für sie nicht mehr als der nachträgliche Versuch, Entscheidungen zu rechtfertigen, die man unter dem Druck von Zeit und Konkurrenz und nach dem Kalkül der Steigerung von Auflage und Aufmerksamkeit trifft.

Zum Glück war dann da aber noch Jürgen Christ, ein freier Fotograf aus Köln und ein Mann, dem Sonntagsreden fremd zu sein scheinen. Er achte „peinlich genau“ darauf, die Gesetze einzuhalten — „aber nur aus praktischen Gründen“, um keinen Ärger mit der Justiz zu bekommen. „Jemandem mit dem Auto zu verfolgen, ist doch nichts verwerfliches“, sagte er, und auch am Anmieten einer gegenüberliegenden Wohnung zur Observation konnte er nichts verwerfliches finden — ob der Pressekodex solche „verdeckte Recherche“ nun in der Regel untersagt oder nicht. Dass die Beschatter von Müntefering einen Bewegungsmelder in die Fußmatte einbauen wollten, fände er hingegen „nicht gut“: Es gebe doch praktische Kameras mit Bewegungsmelder!

Fröhlich erzählte er, wie er versucht hatte, ein Foto von dem Chefs eines Spendenvereins mit dessen Luxuswagen zu bekommen. Als tagelanges Observieren nicht half, bat er einen Taxifahrer, ganz dicht am Wagen vorbeizufahren, dann an der Tür zu klingeln und zu sagen, er habe da vielleicht eine Schramme verursacht. Der Mann hat zwar nur seinen Assistenten nach unten geschickt. Aber er hat aus dem Fenster geguckt, und Christ hatte sein Foto.

„Für wen arbeiten Sie so“, fragte Patricia Riekel ihn und kannte die Antwort natürlich. „‚Spiegel‘, ‚Focus‘, ‚Stern‘, ‚Bunte’…“

Die Medien trifft keine Schuld

Dirk Kurbjuweit, der Leiter des Hauptstadtbüros des „Spiegels“, wirft Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, dass sie sich bei ihrer Politik in extremem Maß von Stimmungen in der Bevölkerung leiten lässt. Dabei wäre es seiner Meinung nach für Politiker möglich, die ununterbrochen veröffentlichten Umfragen einfach zu ignorieren. Die spiegelten ohnehin nicht wirklich den Volkswillen, weil die Leute oft lögen oder Tagesstimmungen folgten. Er erwarte von Politikern, dass sie zwischen den Wahlen, unbeeindruckt von Stimmungen, das tun, was sie für richtig halten. Wegen der ganzen Umfragen würden die Poliker stattdessen zaudern.

Johann Schilling und Julia Schwarz, die Kurbjuweit interviewt haben ((für das Buch „Die Casting-Gesellschaft“, das in diesem Monat erscheint)), wiesen den Journalisten an dieser Stelle des Gesprächs auf ein kleines Detail hin:

Der Spiegel macht aber auch selbst Umfragen, mit der Popularitätstreppe sogar eine besonders oberflächliche, die Politiker nach ihrer Beliebtheit bewertet.

Das sind nicht meine Lieblingsseiten im Spiegel.

Aber Sie sind Leiter des Hauptstadtbüros.

Und dafür nicht zuständig.

Wenn es nach Ihnen ginge, würden Sie diese Seiten also abschaffen?

Nein, denn ich finde nicht die Umfragen schlecht, sondern die Politiker feige, die sich danach richten. Auf die Popularitätstreppe schauen viele Menschen, um sich zu informieren, wer ist gerade in, wer ist out. Aber von den Politikern erwarte ich die Souveränität zu sagen: „Das ist mir jetzt egal, ich mache es trotzdem so weiter.“

Kurbjuweits Antwort ist bemerkenswert. Nicht nur, weil sie so windelweich ist, dass jeder „Spiegel“-Journalist sie jedem Politiker um die Ohren gehauen hätte. Sondern vor allem, weil sie einen typischen Journalistendefekt zeigt: Wir leugnen, dass unsere Arbeit Folgen hat. Wir tun so, als wäre das, über das wir berichten, unbeeinflusst davon, dass wir darüber berichten. Und wir lehnen eine Verantwortung für die Folgen unserer Berichterstattung ab.

Kurbjuweit sagt, dass Umfragen die Politik schlechter machen. Aber Schuld daran seien nur die Politiker, die auf sie hören. Nicht die Medien, die sie in Auftrag geben und durch ihre Berichterstattung darüber es Politikern fast unmöglich machen, nicht auf sie zu hören.

Kurbjuweit sagt: „Eine Umfrage ist keine Wahl. Man kann sie getrost ignorieren.“ Das „man“ im zweiten Satz bezieht sich aber offenbar ausschließlich auf die Politik, nicht auf die Medien. Dabei sind sie es — und weit vorne natürlich das dauerhyperventilierende Leitmedium „Spiegel Online“ –, die sich auf jedes vorübergehende Ausreißerergebnis stürzen und es zur Nachricht machen, Konsequenzen daraus fordern oder ihr Ausbleiben skandalisieren, und mit Formulierungen wie „Schwarz-gelb verliert Mehrheit“ Umfragen als Wahlergebnisse behandeln.

Diese Umfragen und die Art der Berichterstattung verändern Politik. Es hat Folgen, dass die Medien Popularitätswettbewerbe für wichtig halten und dass zum Beispiel Karl-Theodor zu Guttenberg — offenbar losgelöst von irgendeinem fundierten Urteil über seine Amtsführung als Verteidigungsminister — in diesen Popularitätswettbewerben weit vorne liegt. Es beeinflusst seine Wahrnehmung, seine Möglichkeiten, und es beeinflusst natürlich auch zukünftige Meinungsumfragen.

Ich nehme nicht an, dass Dirk Kurbjuweit unter mangelndem Selbstbewusstsein leidet oder seine Artikel für wirkungslos hält. Gerade der überaus selbstbewusst auftretende Journalismus macht sich an entscheidender Stelle unsichtbar, lehnt Verantwortung für die Folgen von Berichterstattung ab und tut so, als sei man nur ein nicht-teilnehmender Beobachter.

Manchmal ist die Lächerlichkeit dieser Illusion offenkundig (das heißt: für jeden Beobachter offenkundig; für die verantwortlichen Journalisten anscheinend nicht). Das prominenteste Beispiel der jüngsten Zeit ist sicher die Doppelrolle des „Spiegel“, sich Thilo Sarrazin als redaktionelle Werbeplattform zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig (oder genauer: ein bis zwei Wochen später) seine Fehler und die negativen Folgen der Veröffentlichung zu kritisieren.

So ein Spagat gelingt nicht ohne Schmerzen, und in diesem Fall tat schon die Titel-Schlagzeile weh: „Warum so viele Deutsche einem Provokateur verfallen.“ Menschen „verfallen“ eigentlich keinem „Provokateur“. Sie verfallen einem Demagogen oder Rattenfänger. Das sind aber Begriffe, die der „Spiegel“ schon deshalb nicht benutzen konnte, weil er damit gesagt hätte, einem solchen willenlos eine publizistische Plattform geboten zu haben.

Der „Spiegel“ selbst ist dem Mann natürlich nicht „verfallen“, dazu sind „Spiegel“-Redakteure viel zu klug. Sie haben dem Mann ja nur eine Woche lang eine Bühne geboten, unwidersprochen seine Thesen auszubreiten. Deshalb nennt das Magazin Sarrazin auch nur „Volksheld“ und nicht „‚Spiegel‘-Held“, was mindestens so treffend gewesen wäre. Nein, die Rolle des „Spiegels“ selbst in der Sarrazin-Affaire kam im „Spiegel“ der vergangenen Woche nicht vor. Man selbst ist, wie üblich, als Akteur unsichtbar. Irgendwie, auf obskuren Wegen, scheinen Sarrazins Thesen an die breite Öffentlichkeit geraten zu sein, man weiß es nicht genau. Und die hätte sie ja nicht wichtig nehmen müssen, ähnlich wie die Politiker die Umfragen.

Ich bin überzeugt, dass dieses journalistische Selbstverständnis keine Zukunft hat. Dass auch ein Medium wie der „Spiegel“ irgendwann anfangen muss, seine Leser ernst zu nehmen, und das heißt: mit ihnen zu kommunizieren, Abwägungen, die zu redaktionellen Entscheidungen geführt haben, transparent zu machen, Widersprüche offenzulegen, nicht mehr so zu tun, als wäre man kein politischer Akteur, endlich anzufangen, die eigene Rolle und Verantwortung öffentlich zu reflektieren.

Aber der „Spiegel“ ist mit seiner Heuchelei nur ein besonders krasser Fall. Medien verschweigen systematisch ihre eigene Rolle beim Herstellen der Nachrichten, über die sie dann berichten. Angeblich ist die Aufregung um Sarrazins die größte jemals um so ein Buch. Ich würde das grundsätzlich bezweifeln, aber selbst wenn: Zu welchem Teil liegt das an der Reaktion in der Bevölkerung? Und zu welchem an der Erregung der Medien? Schreiben die Medien so viel, weil das Volk so stark reagiert, oder umgekehrt? Ich weiß die Antwort nicht, aber müsste nicht gerade das Bewusstsein um die eigene Möglichkeit, solche Debatten groß zu machen, die Medien vor solchen Superlativen zurückschrecken lassen?

Das ZDF ermittelte in seinem aktuellen „Politbarometer“, dass 57 Prozent der Befragten meinen, das Zusammenleben von Deutschen und Zuwanderern funktioniere nicht gut. Ich selbst hätte (trotz oder wegen Berlin-Kreuzberg als Arbeitsort) Schwierigkeiten, eine Antwort auf eine solch pauschale Frage geben, und ich bezweifle, dass viele andere Menschen eine gute Grundlage haben, sie zu beantworten. Das Ergebnis ist sicher nachhaltig geprägt durch die Sarrazin-Diskussion der vergangenen Wochen. Immer wieder hieß es, dass man über die Form und die rassistischen Argumentationsmuster streiten könne. Aber dass die Integrationspolitik in Deutschland gescheitert sei, das sei natürlich eine Tatsache. Heribert Prantl war einer von wenigen, die diesen Befund, der irgendwie gegeben schien, in Frage stellten.

Die Art, wie über Integration in Deutschland in den Medien berichtet wurde, hat den Eindruck geweckt oder bestärkt, dass es große Probleme gibt — und das weitgehend ohne dass dafür Fakten vorgelegt werden mussten. Dass die deutschen Medien von dpa bis „Spiegel Online“ in erschreckender Breite und bis heute unkorrigiert die Falschmeldung verbreiten, eine Sarrazin-Partei käme auf 18 Prozent der Stimmen, tut ein übriges: Ich vermute, dass angesichts solcher Zahlen noch mehr Menschen eine solche obskure fiktive Partei für wählbar halten.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht darum, nicht mehr zu berichten. Es geht darum, sich bewusst zu werden, dass das, was Journalisten zu Nachrichten machen, Folgen hat, und dass das, was Journalisten zu Nachrichten machen, oft die Folge von Berichterstattung ist. Medien sind nicht nur Chronisten, die festhalten, was passiert, ohne es zu beeinflussen. Ihre Entscheidungen, was sie zur Nachricht machen und wie, haben Konsequenzen.

Das ist so banal und scheint doch im Alltag so oft keine Rolle zu spielen. Ein harmloses Beispiel dafür sind die „Spiegel Online“-Artikel, die irgendwelchen unbekannten „Prominenten“ Aufmerksamkeit verschaffen, indem sie sich darüber lustig machen, wie irgendwelche unbekannten „Prominenten“ um Aufmerksamkeit kämpfen. Ein klassisches Beispiel sind die Berichte über Amokläufe und Suizide, bei denen viele Medien in Kauf nehmen, dass sie die Zahl der Amokläufe und Suizide erhöhen.

Und dann ist da auch der Fall des amerikanischen Pfarrers Terry Jones mit seiner Ankündigung, am 11. September 200 Ausgaben des Koran vor dem Gemeindehaus in Gainesville, Florida, verbrennen zu wollen, was prompt von islamischen Fanatikern zum Anlass für blutige Ausschreitungen genommen wurde. Mal abgesehen davon, dass eine solche Reaktion durch nichts zu rechtfertigen ist: Ist der Auslöser dafür die Ankündigung des Pastors? Oder die Berichterstattung darüber durch die Medien?

Anders gefragt: Warum ist die Provokation irgendeines obskuren amerikanischen Extremisten eine weltweite Nachricht? Die Antwort ist so einfach wie paradox: Weil sie, wenn sie weltweit verbreitet wird, das Potential hat, blutige Ausschreitungen von islamischen Extremisten auszulösen. Die Meldung fungiert als self-fulfilling prophecy. Und auch wenn es den bekloppten Pfarrer in den USA sowie die menschenverachtenden Islamisten in Afghanistan in keiner Weise aus ihrer Verantwortung nimmt, sind die Medien in diesem gefährlichen Spiel mindestens ein Katalysator.

Bevor jetzt alle „Selbstzensur!“ rufen und meinen, dass man damit vor den Gegnern von Meinungs- und Bücherverbrennungsfreiheit kapituliere: Journalisten treffen jeden Tag die Entscheidung, welche Dinge, die auf der Welt passieren, sie zu Nachrichten machen und welche nicht. Das ist ein entscheidender Teil ihres Berufs. Es gibt wenige Argumente dafür, Terry Jones jenseits der Lokalberichterstattung in seinem Ort zur Kenntnis zu nehmen und ihm den Gefallen zu tun, die anmaßende Ankündigung vom „International Burn A Koran Day“ auf dieser Weise fast noch wahr klingen zu lassen.

Terry Jones war eine weltweite Nachricht, weil er in knappster Form die zunehmende Feindschaft vieler Amerikaner zum Islam symbolisierte. Aber er war es auch wegen des Nervenkitzels, dass die Berichterstattung dramatische Folgen haben könnte. Und aus dem schlichten Grund, dass andere Medien darüber berichtet haben. Journalisten halten für eine Nachricht, was andere Journalisten für eine Nachricht halten.

Natürlich ist es, wie Medienblogger Roy Greenslade beim „Guardian“ dokumentiert, ein komplexes Zusammenspiel, in dem auch Politiker und das Internet Rollen haben. Aber wir sollten nicht so tun, als sei die Unterscheidung, was eine Nachricht ist und was nicht, ein objektives, einer Sache schon innewohnendes Kriterium und nicht eine Folge von subjektiven Entscheidungen.

Dies ist kein Plädoyer für irgendeine Form von Selbstzensur. Dies ist ein Plädoyer dafür, sich der Folgen einer Berichterstattung bewusst zu werden und die eigene Rolle zu thematisieren.

Übrigens: 2008 hat ein Pastor der durch ihren Slogan „God Hates Fags“ und ihre Demonstrationen bei Beerdigungen von Soldaten und schwulen Gewaltopfern berüchtitgten Westboro Baptist Church, an einer Straßenecke einen Koran angezündet und das gefilmt. Es hat damals kaum jemand darüber berichtet. Es war keine Nachricht. War das falsch?

3000 Euro für die beste Web-Reportage

Geld verdienen mit Qualitätsjournalismus im Internet? Nichts leichter als das. Das „Reporter-Forum“ bietet 3000 Euro für eine einzige Reportage. Sie muss nur herausragend sein.

Das habe ich vergangenes Jahr schon geschrieben, als der „Reporterpreis“ zum ersten Mal verliehen wurde. (Nur dass es damals noch 5000 Euro waren, aber diesmal gibt es insgesamt acht statt vier Kategorien, und die beste StrickWeb-Reportage ist nur eine davon.) Anscheinend ist die Zahl der Einreichungen in der Online-Kategorie bisher sehr überschaubar, was natürlich umgekehrt bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, Geld und Ruhm abzustauben, besonders groß ist.

Aber noch sind zwei Wochen Zeit, gelungene Reportagen vorzuschlagen. In der Jury sitzen u.a. Katrin Passig und ich. Alle weiteren Details stehen hier.

Sarrazin bei Stuckrad-Barre

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Zum Sinn von Parteiausschlussverfahren sagt Thilo Sarrazin dies: „Jeder Verein hat ja Ziele. Wenn jemand in einem Verein Handball spielen will, und es ist ein Fußballverein, und er will den Ball immer mit der Hand anfassen, dann gehört er nicht in einen Fußballverein, dann soll er in einen Handballverein gehen.“ Was für ein schöner, treffender Vergleich. Was für ein angenehmer Kontrast zu all den Hysterikern und Demagogen, die behaupten, die Meinungsfreiheit sei bedroht, wenn Worte Konsequenzen haben, und damit in Wahrheit gegen das Recht kämpfen, Sarrazin zu widersprechen.

Als Sarrazin den Vergleich machte, hatte er gerade das erste und, wie er damals noch glaubte, einzige Ausschlussverfahren aus der SPD hinter sich. Es war Juni, und er war Gast in der Versuchssendung einer Late-Night-Show mit Benjamin von Stuckrad-Barre, die vom nächsten Jahr an auf ZDFneo laufen soll. Ein kurzer Ausschnitt, in dem beide „Wer bin ich?“ spielen und Sarrazin Stuckrad die Rolle des Joseph Goebbels zugedacht hatte („der Mann war sehr gut mit Worten, ein Menschenverführer“), war bei YouTube aufgetaucht. Das ZDF ließ ihn löschen und veröffentlichte stattdessen dankenswerterweise die ganze Sendung. Es ist ein erstaunliches Dokument – auch dafür, wie unterhaltsam und erkenntnisstiftend eine solche Show mit dem ununterbrochen zwischen sinnloser Albernheit und genialer Wachheit flackernden Stuckrad-Barre sein kann.

Die beiden Protagonisten wirken einander auf merkwürdige Weise ähnlich: ungelenk, faszinierend unberechenbar, süchtig nach Aufmerksamkeit. Stuckrad angriffslustig, hyperaktiv, der mitten im Small-Talk einfach mal die Frage verschießt: „Sind Sie ein Rassist“ (und nach dem kurzen Knalleffekt natürlich sofort wieder vergisst), Sarrazin bedächtig, vorsichtig um die aufgestellten Fallen herumtänzelnd (obwohl die größte schon die war, überhaupt in eine solche Show zu gehen). Und obwohl Stuckrad an den Inhalten am wenigsten interessiert ist, entlockt er Sarrazin kluge Sätze – wie den, auf den ironisch-naiven Vorhalt, dass er seine ausländerkritischen Thesen doch einfach auch „netter“ formulieren könnte: „Sage ich es anders, sage ich auch etwas anderes.“ Das ist auf so selbstblinde Weise hellsichtig und treffend, das es beim Angucken wehtut.