Dirk Kurbjuweit, der Leiter des Hauptstadtbüros des „Spiegels“, wirft Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, dass sie sich bei ihrer Politik in extremem Maß von Stimmungen in der Bevölkerung leiten lässt. Dabei wäre es seiner Meinung nach für Politiker möglich, die ununterbrochen veröffentlichten Umfragen einfach zu ignorieren. Die spiegelten ohnehin nicht wirklich den Volkswillen, weil die Leute oft lögen oder Tagesstimmungen folgten. Er erwarte von Politikern, dass sie zwischen den Wahlen, unbeeindruckt von Stimmungen, das tun, was sie für richtig halten. Wegen der ganzen Umfragen würden die Poliker stattdessen zaudern. 
Johann Schilling und Julia Schwarz, die Kurbjuweit interviewt haben ((für das Buch „Die Casting-Gesellschaft“, das in diesem Monat erscheint)), wiesen den Journalisten an dieser Stelle des Gesprächs auf ein kleines Detail hin:
Der Spiegel macht aber auch selbst Umfragen, mit der Popularitätstreppe sogar eine besonders oberflächliche, die Politiker nach ihrer Beliebtheit bewertet.
Das sind nicht meine Lieblingsseiten im Spiegel.
Aber Sie sind Leiter des Hauptstadtbüros.
Und dafür nicht zuständig.
Wenn es nach Ihnen ginge, würden Sie diese Seiten also abschaffen?
Nein, denn ich finde nicht die Umfragen schlecht, sondern die Politiker feige, die sich danach richten. Auf die Popularitätstreppe schauen viele Menschen, um sich zu informieren, wer ist gerade in, wer ist out. Aber von den Politikern erwarte ich die Souveränität zu sagen: „Das ist mir jetzt egal, ich mache es trotzdem so weiter.“
Kurbjuweits Antwort ist bemerkenswert. Nicht nur, weil sie so windelweich ist, dass jeder „Spiegel“-Journalist sie jedem Politiker um die Ohren gehauen hätte. Sondern vor allem, weil sie einen typischen Journalistendefekt zeigt: Wir leugnen, dass unsere Arbeit Folgen hat. Wir tun so, als wäre das, über das wir berichten, unbeeinflusst davon, dass wir darüber berichten. Und wir lehnen eine Verantwortung für die Folgen unserer Berichterstattung ab.
Kurbjuweit sagt, dass Umfragen die Politik schlechter machen. Aber Schuld daran seien nur die Politiker, die auf sie hören. Nicht die Medien, die sie in Auftrag geben und durch ihre Berichterstattung darüber es Politikern fast unmöglich machen, nicht auf sie zu hören.
Kurbjuweit sagt: „Eine Umfrage ist keine Wahl. Man kann sie getrost ignorieren.“ Das „man“ im zweiten Satz bezieht sich aber offenbar ausschließlich auf die Politik, nicht auf die Medien. Dabei sind sie es — und weit vorne natürlich das dauerhyperventilierende Leitmedium „Spiegel Online“ –, die sich auf jedes vorübergehende Ausreißerergebnis stürzen und es zur Nachricht machen, Konsequenzen daraus fordern oder ihr Ausbleiben skandalisieren, und mit Formulierungen wie „Schwarz-gelb verliert Mehrheit“ Umfragen als Wahlergebnisse behandeln.
Diese Umfragen und die Art der Berichterstattung verändern Politik. Es hat Folgen, dass die Medien Popularitätswettbewerbe für wichtig halten und dass zum Beispiel Karl-Theodor zu Guttenberg — offenbar losgelöst von irgendeinem fundierten Urteil über seine Amtsführung als Verteidigungsminister — in diesen Popularitätswettbewerben weit vorne liegt. Es beeinflusst seine Wahrnehmung, seine Möglichkeiten, und es beeinflusst natürlich auch zukünftige Meinungsumfragen.
Ich nehme nicht an, dass Dirk Kurbjuweit unter mangelndem Selbstbewusstsein leidet oder seine Artikel für wirkungslos hält. Gerade der überaus selbstbewusst auftretende Journalismus macht sich an entscheidender Stelle unsichtbar, lehnt Verantwortung für die Folgen von Berichterstattung ab und tut so, als sei man nur ein nicht-teilnehmender Beobachter.
Manchmal ist die Lächerlichkeit dieser Illusion offenkundig (das heißt: für jeden Beobachter offenkundig; für die verantwortlichen Journalisten anscheinend nicht). Das prominenteste Beispiel der jüngsten Zeit ist sicher die Doppelrolle des „Spiegel“, sich Thilo Sarrazin als redaktionelle Werbeplattform zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig (oder genauer: ein bis zwei Wochen später) seine Fehler und die negativen Folgen der Veröffentlichung zu kritisieren.
So ein Spagat gelingt nicht ohne Schmerzen, und in diesem Fall tat schon die Titel-Schlagzeile weh: „Warum so viele Deutsche einem Provokateur verfallen.“ Menschen „verfallen“ eigentlich keinem „Provokateur“. Sie verfallen einem Demagogen oder Rattenfänger. Das sind aber Begriffe, die der „Spiegel“ schon deshalb nicht benutzen konnte, weil er damit gesagt hätte, einem solchen willenlos eine publizistische Plattform geboten zu haben.
Der „Spiegel“ selbst ist dem Mann natürlich nicht „verfallen“, dazu sind „Spiegel“-Redakteure viel zu klug. Sie haben dem Mann ja nur eine Woche lang eine Bühne geboten, unwidersprochen seine Thesen auszubreiten. Deshalb nennt das Magazin Sarrazin auch nur „Volksheld“ und nicht „‚Spiegel‘-Held“, was mindestens so treffend gewesen wäre. Nein, die Rolle des „Spiegels“ selbst in der Sarrazin-Affaire kam im „Spiegel“ der vergangenen Woche nicht vor. Man selbst ist, wie üblich, als Akteur unsichtbar. Irgendwie, auf obskuren Wegen, scheinen Sarrazins Thesen an die breite Öffentlichkeit geraten zu sein, man weiß es nicht genau. Und die hätte sie ja nicht wichtig nehmen müssen, ähnlich wie die Politiker die Umfragen.
Ich bin überzeugt, dass dieses journalistische Selbstverständnis keine Zukunft hat. Dass auch ein Medium wie der „Spiegel“ irgendwann anfangen muss, seine Leser ernst zu nehmen, und das heißt: mit ihnen zu kommunizieren, Abwägungen, die zu redaktionellen Entscheidungen geführt haben, transparent zu machen, Widersprüche offenzulegen, nicht mehr so zu tun, als wäre man kein politischer Akteur, endlich anzufangen, die eigene Rolle und Verantwortung öffentlich zu reflektieren.
Aber der „Spiegel“ ist mit seiner Heuchelei nur ein besonders krasser Fall. Medien verschweigen systematisch ihre eigene Rolle beim Herstellen der Nachrichten, über die sie dann berichten. Angeblich ist die Aufregung um Sarrazins die größte jemals um so ein Buch. Ich würde das grundsätzlich bezweifeln, aber selbst wenn: Zu welchem Teil liegt das an der Reaktion in der Bevölkerung? Und zu welchem an der Erregung der Medien? Schreiben die Medien so viel, weil das Volk so stark reagiert, oder umgekehrt? Ich weiß die Antwort nicht, aber müsste nicht gerade das Bewusstsein um die eigene Möglichkeit, solche Debatten groß zu machen, die Medien vor solchen Superlativen zurückschrecken lassen?
Das ZDF ermittelte in seinem aktuellen „Politbarometer“, dass 57 Prozent der Befragten meinen, das Zusammenleben von Deutschen und Zuwanderern funktioniere nicht gut. Ich selbst hätte (trotz oder wegen Berlin-Kreuzberg als Arbeitsort) Schwierigkeiten, eine Antwort auf eine solch pauschale Frage geben, und ich bezweifle, dass viele andere Menschen eine gute Grundlage haben, sie zu beantworten. Das Ergebnis ist sicher nachhaltig geprägt durch die Sarrazin-Diskussion der vergangenen Wochen. Immer wieder hieß es, dass man über die Form und die rassistischen Argumentationsmuster streiten könne. Aber dass die Integrationspolitik in Deutschland gescheitert sei, das sei natürlich eine Tatsache. Heribert Prantl war einer von wenigen, die diesen Befund, der irgendwie gegeben schien, in Frage stellten.
Die Art, wie über Integration in Deutschland in den Medien berichtet wurde, hat den Eindruck geweckt oder bestärkt, dass es große Probleme gibt — und das weitgehend ohne dass dafür Fakten vorgelegt werden mussten. Dass die deutschen Medien von dpa bis „Spiegel Online“ in erschreckender Breite und bis heute unkorrigiert die Falschmeldung verbreiten, eine Sarrazin-Partei käme auf 18 Prozent der Stimmen, tut ein übriges: Ich vermute, dass angesichts solcher Zahlen noch mehr Menschen eine solche obskure fiktive Partei für wählbar halten.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht darum, nicht mehr zu berichten. Es geht darum, sich bewusst zu werden, dass das, was Journalisten zu Nachrichten machen, Folgen hat, und dass das, was Journalisten zu Nachrichten machen, oft die Folge von Berichterstattung ist. Medien sind nicht nur Chronisten, die festhalten, was passiert, ohne es zu beeinflussen. Ihre Entscheidungen, was sie zur Nachricht machen und wie, haben Konsequenzen.
Das ist so banal und scheint doch im Alltag so oft keine Rolle zu spielen. Ein harmloses Beispiel dafür sind die „Spiegel Online“-Artikel, die irgendwelchen unbekannten „Prominenten“ Aufmerksamkeit verschaffen, indem sie sich darüber lustig machen, wie irgendwelche unbekannten „Prominenten“ um Aufmerksamkeit kämpfen. Ein klassisches Beispiel sind die Berichte über Amokläufe und Suizide, bei denen viele Medien in Kauf nehmen, dass sie die Zahl der Amokläufe und Suizide erhöhen.
Und dann ist da auch der Fall des amerikanischen Pfarrers Terry Jones mit seiner Ankündigung, am 11. September 200 Ausgaben des Koran vor dem Gemeindehaus in Gainesville, Florida, verbrennen zu wollen, was prompt von islamischen Fanatikern zum Anlass für blutige Ausschreitungen genommen wurde. Mal abgesehen davon, dass eine solche Reaktion durch nichts zu rechtfertigen ist: Ist der Auslöser dafür die Ankündigung des Pastors? Oder die Berichterstattung darüber durch die Medien?
Anders gefragt: Warum ist die Provokation irgendeines obskuren amerikanischen Extremisten eine weltweite Nachricht? Die Antwort ist so einfach wie paradox: Weil sie, wenn sie weltweit verbreitet wird, das Potential hat, blutige Ausschreitungen von islamischen Extremisten auszulösen. Die Meldung fungiert als self-fulfilling prophecy. Und auch wenn es den bekloppten Pfarrer in den USA sowie die menschenverachtenden Islamisten in Afghanistan in keiner Weise aus ihrer Verantwortung nimmt, sind die Medien in diesem gefährlichen Spiel mindestens ein Katalysator.
Bevor jetzt alle „Selbstzensur!“ rufen und meinen, dass man damit vor den Gegnern von Meinungs- und Bücherverbrennungsfreiheit kapituliere: Journalisten treffen jeden Tag die Entscheidung, welche Dinge, die auf der Welt passieren, sie zu Nachrichten machen und welche nicht. Das ist ein entscheidender Teil ihres Berufs. Es gibt wenige Argumente dafür, Terry Jones jenseits der Lokalberichterstattung in seinem Ort zur Kenntnis zu nehmen und ihm den Gefallen zu tun, die anmaßende Ankündigung vom „International Burn A Koran Day“ auf dieser Weise fast noch wahr klingen zu lassen.
Terry Jones war eine weltweite Nachricht, weil er in knappster Form die zunehmende Feindschaft vieler Amerikaner zum Islam symbolisierte. Aber er war es auch wegen des Nervenkitzels, dass die Berichterstattung dramatische Folgen haben könnte. Und aus dem schlichten Grund, dass andere Medien darüber berichtet haben. Journalisten halten für eine Nachricht, was andere Journalisten für eine Nachricht halten.
Natürlich ist es, wie Medienblogger Roy Greenslade beim „Guardian“ dokumentiert, ein komplexes Zusammenspiel, in dem auch Politiker und das Internet Rollen haben. Aber wir sollten nicht so tun, als sei die Unterscheidung, was eine Nachricht ist und was nicht, ein objektives, einer Sache schon innewohnendes Kriterium und nicht eine Folge von subjektiven Entscheidungen.
Dies ist kein Plädoyer für irgendeine Form von Selbstzensur. Dies ist ein Plädoyer dafür, sich der Folgen einer Berichterstattung bewusst zu werden und die eigene Rolle zu thematisieren.
Übrigens: 2008 hat ein Pastor der durch ihren Slogan „God Hates Fags“ und ihre Demonstrationen bei Beerdigungen von Soldaten und schwulen Gewaltopfern berüchtitgten Westboro Baptist Church, an einer Straßenecke einen Koran angezündet und das gefilmt. Es hat damals kaum jemand darüber berichtet. Es war keine Nachricht. War das falsch?