Ist Merkel noch zu retten?

Gerade zufällig auf der „Spiegel Online“-Startseite den Link ins Archiv zu einer alten „Spiegel“-Ausgabe entdeckt:

Helmut Kohls Kanzlerschaft steht zur Disposition.

(…) Beklagt werden Kohls mangelnde Entscheidungskraft und Verläßlichkeit, das Fehlen einer Konzeption, Mißmanagement in der Regierungszentrale. Die Diskussion spitzt sich, nach dem CDU-Wahldebakel an Rhein und Ruhr, bei Christ- und Freidemokraten auf die Frage zu: Ist mit Kohl 1987 die Bundestagswahl noch zu gewinnen? Ist die Koalition aus CDU und den sich bekriegenden kleinen Partnern CSU und FDP überhaupt noch regierungsfähig? (…)

Das Deutsche Fernsehen verbreitete letzten Freitag neueste Zahlen des Infas-Instituts, wonach nur noch 38 Prozent Kohl als Kanzler sehen wollen – ein Prozent weniger als den letzten SPD-Bewerber Hans-Jochen Vogel. Und die CDU/CSU würden heute nur noch 43 Prozent wählen – 5,8 Prozent weniger als am letzten Wahltag und ebensoviel wie jetzt die SPD (1983: 38,2 Prozent). (…)

Weizsäcker könnte Kanzler werden. Der Schwenk der „Bild“-Zeitung von der Kohl-Wahlhilfe zur Anti-Kohl-Kampagne.

(…) Entsetzt sichteten Kohl-Helfer harte Kritik von der „FAZ“ bis hin zu Springer-Blättern wie der „Welt“ und dem „Hamburger Abendblatt“, das am Mittwoch mit der Schlagzeile erschien: „Kohl hat die Erwartungen nicht erfüllt“. Der „Abendblatt“-Kommentar begann mit dem vernichtenden Satz: „Des Kanzlers betuliche, oft selbstgefällige Art kommt nicht mehr an.“

Als geradezu katastrophal werten Parteistrategen die radikale Wende, die Axel Springers „Bild“ vollzog. Das Boulevard-Blatt, mit zwölf Millionen täglichen Lesern bislang wichtigste publizistische Stütze Kohls, verfolgt den Oggersheimer neuerdings ähnlich gnadenlos wie einst den SPD-Kanzler Brandt. (…)

Dem Wahlschock in der Westregion folgte Dienstag letzter Woche die „schreckliche Umfrage“ („Bild“): Fast 60 Prozent der Bevölkerung seien, so Emnid, mit Kohls Leistung unzufrieden. „Bild“-Schlagzeile: „Kohl – der Riese wankt“.

Zugleich machte sich „Bild“-Kolumnist Mainhardt Graf Nayhauß über Kohls Entschlußlosigkeit lustig. Kohl habe zwar begriffen, „daß er etwas gegen seinen rapiden Ansehens-Verlust tun“ müsse, sei aber nicht in der Lage, „etwa ruckzuck“ zu handeln: „Er sitzt die bisher schwerste Krise seiner Kanzlerschaft wieder aus.“

Das Heft ist von 1985. Helmut Kohl regierte danach noch 13 Jahre.

Eine Umverpackungsindustrie

Am vergangenen Samstag veröffentlichte die „Berliner Morgenpost“ einen Text von Julien Wolff über Fabio Capello, den italienischen Trainer der englischen Nationalmannschaft. Derselbe Artikel erschien am selben Tag leicht gekürzt in der Schwesterzeitung „Welt“.

Auf den Online-Seiten der „Berliner Morgenpost“ kann man denselben Artikel zweimal lesen, einmal kostenpflichtig unter der Überschrift „Für mehr italienische Momente im Leben“, einmal kostenlos und mit Foto unter der Überschrift „Capello verpasst seinem Star Rooney einen Maulkorb“.

Auch auf den Online-Seiten der „Welt“ ist derselbe Artikel ebenfalls zweimal veröffentlicht, einmal für das Internet aufbereitet mit Foto, einer 33-teiligen und einer 32-teiligen Bildergalerie sowie einer siebenteiliger Textklickstrecke („Capello verpasst seinem Star Rooney einen Maulkorb“), und einmal als Text pur („Für mehr italienische Momente im Leben“).

Auf den Online-Seiten des „Hamburger Abendblattes“ hat die Axel Springer AG den Artikel ein weiteres Mal veröffentlicht, hier unter Überschrift „Ein Trainer als Hoffnungsträger“.

Und vermutlich weil es schade wäre, wenn ein solcher Artikel nur fünfmal fast wortgleich im Netz stünde, hat den Text auch der Online-Ableger des „Stern“ auf seinen Seiten veröffentlicht, hier unter der Überschrift „Capello verpasst Rooney Maulkorb“. Der „Stern“ erscheint nicht im Springer-Verlag, sondern bei Gruner+Jahr. Die vermeintlichen Konkurrenten „Welt Online“ und stern.de haben aber vereinbart, zur Feier der Fußball-Weltmeisterschaft Artikel „auszutauschen“.

Vielleicht steckt dahinter eine große Qualitätsoffensive, mit der die Verlage all denen, die im Internet nur Inhalte kopieren, mal zeigen, was Vielfalt bedeutet.

Zwischenfrage für Schriftnerds

Vermutlich hat es jeder niemand bemerkt, aber seit ein paar Tagen sehen die Überschriften hier im Blog anders aus. Die Schrift ist eine andere, nicht mehr die „Tagesschrift“ von Yanone, sondern die „IM FELL DW Pica“.

Vor allem aber hat sich die Methode hinter der Darstellung geändert. Bislang generierte ein WordPress-Plug-in aus dem Text eine Grafik — das war die eher mittelelegante Notlösung, um nicht nur Standardschriften benutzen zu können, die auf fast allen Computern installiert sind. Inzwischen ist das nicht mehr nötig: Die meisten modernen Browser beherrschen die Möglichkeit, eingebettete Schriftarten anzuzeigen. Dadurch ist der Text tatsächlich Text und keine Grafik (und lässt sich zum Beispiel kopieren), und es gibt eigentlich keine Ausrede mehr für die große typographische Monotonie im Netz.

Ich habe allerdings ein Problem: Die Schriften sehen auf dem Mac anders aus als auf dem PC. Das hier ist die Darstellung auf meinem MacBook:

Auf meinem PC im Büro (Windows 7) aber sehen dieselben Buchstaben unabhängig vom verwendeten Browser furchtbar abgemagert aus:

Im Oslog, wo die Überschriftentype „Clarendon Text Pro Bold“ auf dieselbe Art dargestellt wird, fand ich die PC-Ansicht mit ihrer fehlenden Glättung so unansehnlich, dass ich versucht habe, mit einem Schatten für Linderung zu sorgen. Aber das kann doch auf Dauer auch keine Lösung sein.

Weiß ein typophiler Leser vielleicht Abhilfe?

Farbe!

[für SvenR]

Um zwischendurch das Karma-Konto dieses Blogs wieder ein bisschen aufzuladen, ein herzerwärmendes Video (auch wenn es nur Werbung ist):

Der Regisseur des Filmes ist Adam Berg, die Musik „Go Do“ von Jónsi, und angeblich ist all das, was da zu sehen ist, echt: Mit dem „Let’s Colour Project“ hat Dulux Menschen in Rio de Janeiro, Paris, London und Jodhpur ihre Straßen und Häuser farbig anstreichen lassen.

Was für eine einfache, schöne Werbeidee.

Unter Nazi-Content-Produzenten

Auf „Welt Online“ ist in der Zwischenzeit ein gutes halbes Dutzend Artikel über die ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein und ihre Formulierung vom „inneren Reichsparteitag“ produziert worden, routiniert angereichert mit einer 53-sekündigen Videodokumentation „So begann der zweite Weltkrieg“, einer 22-teiligen Bildergalerie über Leni Riefenstahl und einer 52-teiligen Klickstrecke „Etappen des Krieges in Europa“.

An einer anderen Stelle musste „Welt Online“ seine Nazi-Content-Produktionsmaschine allerdings stoppen. Aus dem Artikel „Müller-Hohenstein spricht von ‚Reichsparteitag'“ wurde klammheimlich ein ganzer Absatz entfernt, nämlich dieser:

Die Löschung ist nicht überraschend, denn so, wie das da steht, hat sich Eva Herman nicht geäußert. Die frühere Fernsehmoderatorin hat dem Springer-Verlag bereits früher eine ähnliche Formulierung gerichtlich untersagen lassen und Schmerzensgeld erwirkt.

(Das würde mich an der Stelle von Katrin Müller-Hohenstein am meisten wurmen: Dass sie sich ausgerechnet von solchen Leuten einen gedankenlosen Umgang mit Sprache und dem Dritten Reich vorwerfen lassen muss.)

Das Schwesterangebot morgenpost.de hatte den Artikel von „Welt Online“ wie üblich übernommen — dort erscheint jetzt nur noch eine Fehlermeldung.

Erstaunlicherweise hatte auch das Online-Angebot des „Stern“ den „Welt Online“-Artikel auf seinen Seiten republiziert — und irgendwann noch der außerordentlich dämlichen und irreführenden Formulierung aufgepeppt: „Selbst die BundesRegierung schaltete sich ein.“ (In Wahrheit hatte ein Sprecher auf Nachfrage gesagt, dass man sich nicht einschalten werde.)

Müller-Hohenstein und Kloses "Reichsparteitag" Im Alltag hat sich die unselige Sprachwendung gehalten, nun ist ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein darüber gestolpert. Einen "inneren Reichsparteitag" habe Miroslav Klose nach seinem Tor gegen Austalien gefeiert. Mit dem Spruch brachte sie die Internet-Gemeinde in Rage. Selbst die Regierung schaltete sich ein.

Jedenfalls ließ auch stern.de den Absatz über Eva Herman ohne ein Wort der Erklärung oder Entschuldigung unauffällig verschwinden. Meine Fragen, warum das korrigiert wurde und warum stern.de solche Korrekturen nicht transparent macht, ließ die Redaktionsleitung trotz einer ausführlichen Antwortmail offen — ebenso meine Erkundigungen, was stern.de dazu bewogen hat, diesen „Welt Online“-Artikel wiederzuverwerten und ob es nicht möglich gewesen wäre, ihn vorher zu redigieren oder zumindest die Fehler zu korrigieren. Redaktionsleiter Frank Thomsen teilt mir allerdings mit, stern.de habe „für die Dauer der WM auch mit Welt Online verabredet, gegenseitig einzelne Stücke auszutauschen, wenn es passt und die jeweiligen Leser etwas davon haben.“

stern.de hat die Zahl seiner festen Mitarbeiter kürzlich reduziert. Ein Beispiel für einen Text, den „Welt Online“ im Rahmen dieses „Austausches“ von stern.de übernommen hat, hat mir Thomsen bislang nicht genannt.

Übrigens ist auch im Online-Ableger der „Süddeutschen Zeitung“ ein Absatz über Eva Herman verschwunden. Ursprünglich stand dort in einem Artikel über das bizarre Comeback Hermans als Internet-Nachrichtensprecherin für Verschwörungstheoretiker auf den Seiten des Kopp-Verlages:

Zum anderen, viel schlimmer, werden bei Kopp auch die Bücher von rechtsextrem-esoterischen Verschwörern wie Jan Udo Holey verlegt. Holey gilt dem Verfassungsschutz als Rechtsextremist, er wurde wegen Volksverhetzung vor Gericht gestellt. Bei diesen Autoren hat Herman ihren Platz gefunden…

In Wahrheit bewirbt Kopp die Bücher Holeys zwar und hat sie in sein Vertriebssortiment aufgenommen — sie erscheinen aber nicht bei Kopp, sondern in Holeys eigenem Verlag. In der gedruckten Ausgabe musste die „Süddeutsche Zeitung“ eine Korrektur drucken. Auf sueddeutsche.de wurden einfach, ohne jeden Hinweis auf die falsche Berichterstattung, die entsprechenden Sätze entfernt.

Kommt halt alles nicht so drauf an. Außer, was eine unbeliebte Sportmoderatorin unbedacht im Fernsehen sagt, natürlich.

Nachtrag, 20.25 Uhr. Der Ursprungsartikel von „Welt Online“, „Müller-Hohenstein spricht von ‚Reichsparteitag'“, scheint jetzt ganz gelöscht worden zu sein.

Ein innerer Reichsparteitag

Das ist jetzt nicht wahr, oder? Dass es eine mittelgroße Empörungswelle gibt, weil ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein in der Halbzeitpause eines Fußballspiels, das offenbar gerade stattgefunden hat, gesagt hat, für Miroslav Klose müsse sein Treffer doch „ein innerer Reichsparteitag“ sein?

Für mich ist das eine alltägliche Redewendung, um einen besonderen Triumph zu beschreiben, ein Gefühl von Schadenfreude oder die Genugtuung, es allen gezeigt zu haben. Von mir aus können wir gerne darüber diskutieren, ob das eine besonders passende oder geschmackvolle Redewendung ist — aber doch nicht ernsthaft darüber, dass der öffentliche Gebrauch der Formulierung einen Nazi-Skandal darstellt?

Oh doch. Die immer um billige Aufmerksamkeit heischenden Klickstreckenproduzenten von „Welt Online“ begannen sofort zu hyperventilieren:

Der Artikel wurde offenbar hektisch auf- und umgeschrieben. Anfangs hieß es in sicher irgendwie bedeutungsvoller Ausführlichkeit:

Diese Redewendung bezieht sich auf die Reichsparteitage der NSDAP in den 1930er Jahren, die mit ihren Aufmärschen, Paraden, Appellen, Totengedenken und Wehrmachtsvorführungen in ihrem Repräsentationsgebaren den Charakter einer offiziellen Staatsfeier trugen. Sie dienten der Demonstration des absoluten Machtanspruches der NSDAP und der Ideologie des NS-Staates: Disziplin und Ordnung, die Unterwerfung des Individuums unter einen gemeinsamen Willen.

(Den wesentlichen Teil davon hat der diensthabende Content-Produzent sicherheitshalber von den Seiten des Deutschen Historischen Museums kopiert.)

Später verunglückte ein neuer Formulierungs- und Skandalisierungsversuch so:

Reichsparteitage beziehen sich auf die Veranstaltungen, bei denen Adolf Hitlers NSDAP besonders ab 1933 ihre verhängnisvolle, menschenverachtende Propaganda im großen Stil ausbreitete.

Offenbar ist der Gebrauch der Redewendung für die „Welt“ ein schlimmer Tabubruch, wobei… nö:

„Welch innerer Reichsparteitag muss es jenem englischen Journalisten gewesen sein, dem damals die Bezeichnung „Bum-Bum-Boris“ einfiel (…).“
(„Welt“, 15. Dezember 2000)

„Dort überall kreuzt nämlich die ganze Julian-Clique auf (…) – bis sie dann alle Mann hoch ihren inneren Reichsparteitag in Gorleben, als Gegner der Castor-Transporte natürlich, erleben. “
(„Welt“, 19. Februar 2005)

„Tja, der vergangene Sonntag war den ehemaligen SED-Politikern, die sich heute in der Linken versammeln, ein innerer Reichsparteitag.“
(„Welt“, 30. Januar 2008)

Schlimm scheint es vor allem zu sein, wenn Frauen eine solche Formulierung gebrauchen. Denn Frauen machen beim Fußball, wie „Welt Online“-Autor Jörg Winterfeldt weiß, immer Fehler:

Traditionell haben Frauen es im medialen Fußball-Umfeld schwer. Das haben gerade im ZDF immer wieder leidvoll Frontfrauen erfahren müssen von Carmen Thomas, die bis heute noch gelegentlich auf ihren Fauxpas „Schalke 05“ aus dem Juli 1973 reduziert wird, bis zu Christine Reinhart, die ab 1993 zwei Jahre lang im Sportstudio moderieren durfte.

Doch Müller-Hohenstein hatte sich vor der WM sehr aggressiv zu vermarkten versucht und nun gleich bei ihrem ersten großen Auftritt schwer gepatzt (…)

Die „sehr aggressive“ Vermarktung muss mir irgendwie entgangen sein, was bei meinem Desinteresse an Fußball natürlich nicht ausgeschlossen ist — aber ist es nicht interessant, dass vermeintliche „Patzer“, die Frauen machen, von Quatschmedien wie „Welt Online“ immer mit ihrem Geschlecht in Verbindung gebracht werden? Wo bleibt, wenn Johannes B. Kerner wieder einmal Unsinn verzapft hat, die Bildergalerie zum Thema „peinliche Fehltritte von Männern“?

Besonders niedlich ist der Nazifizierungsversuch von „Welt Online“ aber auch in seiner Ahnungslosigkeit über das Kommunikationsverhalten der Menschen bei „Twitter“:

Der Fehltritt geriet so folgenschwer, dass viele Fans sich in der zweiten Halbzeit schon vor den Computer setzten, statt sich ganz der zweiten Halbzeit von Deutschlands erstem WM-Auftritt in Südafrika zu widmen.

Man sieht sie förmlich, die Massen, die sich vor dem geistigen Auge des Autors mit den Armen in den Hüften vom Platz vor dem Fernseher erhoben oder empört von der Public-Viewing-Party nach Hause stapften, um dort erst einmal vor lauter Ärger den Computer hochzufahren — als hätten die Leute, von denen da „gewettert, getwittert und in sozialen Netzwerken online diskutiert“ wurde, nicht ohnehin vor dem Computer gesessen.

Und dann holt „Welt Online“ auch noch Eva Herman aus der Kiste:

Besonders erstaunlich scheint Müller-Hohensteins Entgleisung vor dem Hintergrund, dass erst unlängst eine Moderatorinnenkollegin mit Vergleichen zu Hitlers Herrschaft für einen Skandal und in der Folge ihre Entlassung gesorgt hatte: Die frühere Nachrichtensprecherin Eva Herman hatte den Umgang der Nationalsozialisten mit Werten wie Kinder, Mütter, Familien und Zusammenhalt, „als das, was gut war“ charakterisiert.

Sehen wir einmal von den falschen Anführungszeichen und dem angestrengten Versuch ab, eine nicht vorhandene Parallele zu konstruieren und dem Wörtchen „unlängst“ auch noch eine mehrjährige Zeitspanne aufzubürden — dass Eva Herman mit ihrem inzwischen berüchtigten Worthaufen den „Umgang der Nationalsozialisten“ mit diesen Werten als positiv einstufte, ist mindestens umstritten, und das Oberlandesgericht Köln hat dem Axel-Springer-Verlag untersagt, Herman so zu zitieren, als habe sie den Nationalsozialismus in Teilen gutgeheißen.

Und die ganze Aufregung, das ganze schlimme „Welt Online“-Gemurkse, weil Katrin Müller-Hohenstein von einem „inneren Reichsparteitag“ gesprochen hat? Weiß jemand, ob die in Südafrika Autobahnen haben?

PS: Leider haben sich auch die Freunde von „11 Freunde“ in für mich unfassbare Rage geschrieben („Katrin Müller-Hohenstein bettelt um ihre Entlassung“), aber mein Empörungsempörungspotential ist nun erschöpft.

Angela Merkel findet keine Worte mehr

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Man müsste die Menschen inzwischen davon abhalten, versehentlich Sender wie Phoenix einzuschalten. Nicht auszudenken, welchen Einfluss es auf die Politikverdrossenheit im Land hat, wenn eine größere Zahl von Bürgern häufiger die Bundeskanzlerin im ungekürzten Original reden hören würde – wie neulich nach der Sparklausur der Bundesregierung vor der Bundespressekonferenz: „Wir haben ganz klar gesagt, wir müssen jetzt zeigen, 2011, 2012, 2013, 2014, die gesamte mittelfristige Finanzplanung muss überschaubar sein, und damit kommt Stabilität und Verlässlichkeit auch in diese Dinge hinein. Trotz aller schwieriger Entscheidungen sage ich: Dieses ist notwendig. Notwendig für die Zukunft unseres Landes. Auch wenn, das will ich ganz deutlich sagen, es ernste Stunden waren und ich es auch für eine durchaus ernste Situation für unser Land halte, aber ich bin optimistisch, dass wir das schaffen können, wenn wir das jetzt auch so umsetzen, und das ist uns in harter Arbeit gelungen.“

Man sehnt sich fast nach abgegriffenen Bildern wie einem enger zu schnallenden Gürtel, nach irgendeinem Appell, nach etwas Scheinkonkretem, einem Substantiv, an dem man sich festhalten könnte anstelle der ganzen dürren „das“ und „dieses“ und „diese Dinge“. Selbst ihr vermeintliches „Machtwort“, das sie Tage später sprechen wird, mündet in die hilflose Formulierung, es gehe jetzt darum, „dass wir das jetzt Realität werden lassen“.

Das einzig Konkrete, auf das sich Merkel einlässt, ist die Dauer der Verhandlungen. Die siebzehn Stunden müssen den Ernst der Lage symbolisieren und die Ernsthaftigkeit des Lösungsversuches beweisen. Sie dienen als Scheinbeleg dafür, dass es unvernünftig wäre, jetzt noch über den Inhalt des beschlossenen Paketes zu streiten.

Merkel sagt: „Wir haben uns vorgenommen, Deutschland zu einer Bildungsrepublik zu entwickeln. Wir wissen, dass wir auf einem guten Niveau aufbauen können. Aber wir wissen auch, dass noch eine lange Strecke zurückzulegen ist, bevor wir unser Ziel erreichen können.“ Merkel sagt: „Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen.“ Merkel sagt: „Wir haben im Rahmen der Neujustierung von Sozialgesetzen vor allem darauf geachtet, wie wir die Arbeitsmarktpolitik auch effizienter gestalten.“ Merkel will „die Arbeitsvermittlung zielgerichteter ausrichten können, und wir veranschlagen auch durch diese zielgerichtetere Arbeitsmarktpolitik ausgerichtet auf bestimmte Gruppen dann, dass wir in den Jahren 2013 und 2014 dann auch sichtbare Erfolge sehen in Form von geringeren Leistungen für Hartz-IV-Empfänger“. Merkel will „nach der Bewältigung der Krise in die Exit-Strategie einsteigen“. Und Merkel will „die Bundeswehr zukunftsfähig machen. (. . .) Hier werden wir natürlich auch in den nächsten Monaten sehr intensiv darüber sprechen müssen, was das bedeutet und welche notwendigen Strukturänderungen hier vorgesehen sind.“

Das ist das Äußerste, das man von dieser Bundeskanzlerin erwarten kann: dass man „sehr intensiv“ über etwas spricht. Es ist auch ihr Trick, wenn sie selbst zu ahnen scheint, dass ihre Sätze so abgemagert und blutleer sind, dass womöglich selbst die abgestumpftesten professionellen Beobachter sie nicht mehr als berichtenswert oder nachrichtentauglich akzeptieren würden: Sie streut Wörter wie „wirklich“ oder „konkret“ oder gar „sehr praktisch“ über ihre Sätze. Dann schaffen es selbst ihre Sprachhülsen wie die über ihre Gespräche mit Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew in die „Tagesschau“: „Deshalb ist die Zeit gekommen, hier wirklich in eine Phase einzutreten, wo wir sehr konkret sagen, was müsste gemacht werden . . .“ Oder: „Ich hoffe, dass wir auf einem sehr praktischen Pfad dazu kämen, unsere Zusammenarbeit auf eine neue Stufe zu heben.“

Als die Regierungsparteien im Reichstag ihren Präsidentenkandidaten Christian Wulff vorstellten, erklärte die Bundeskanzlerin der Nation diese Wahl damit, dass er „in einer Zeit, in der es um die Zukunft Europas geht, Verantwortung für unser Land übernimmt und bereit ist, auch mit den Menschen einen Weg zu gehen, der sicherlich nicht immer auch in den nächsten Jahren einfach ist, aber auch ein Land zu repräsentieren, das ein wunderbares Land ist, und in dem wir natürlich auch eine gute Zukunft gestalten wollen“.

Man muss davon ausgehen, dass sie das genau so meint, in aller Formelhaftigkeit, die man trotz des Bildes vom gemeinsamen Wandern des Volkes mit dem Bundespräsidenten nicht einmal mehr blumig nennen mag.

Die Sprache der Angela Merkel wirkt längst nicht mehr so, als würde die Kanzlerin bloß, wie es Politiker immer schon getan haben, vage formulieren, um keine Angriffsflächen zu bieten. Es scheint, als habe sich diese hohle, technokratische, abstrakte, phantasielose Sprache, umgekehrt, längst des Denkens bemächtigt. Als sei sie kein Mittel zum Zweck mehr, sondern Ausdruck einer tatsächlichen Beschränktheit. Ohnehin sind die Zeiten vorbei, in denen die alten Verschleierungs- und Beschönigungstaktiken sinnvoll erscheinen könnten – und, wie Merkel, nicht vom Senken von Ausgaben zu sprechen, sondern vom „Verstetigen von Ansätzen“ und vom „Austarieren von Lücken“.

Das Beschreiten von Wegen und das Gestalten von Zukunft sind die beiden Metaphern, die Merkels Sprache dominieren. Vor allem letztere korrespondiert dabei mit einer echten Sorge der Menschen: Ob Politik heute und morgen überhaupt noch die Möglichkeit hat, die Lebensverhältnisse entscheidend zu bestimmen. Umso verheerender ist es, dass Merkel ausgerechnet daraus ihre Lieblingsleerformel geschnitzt hat – es aber natürlich dabei belässt, zu fordern, dass die Zukunft gestaltet können werden muss, ohne zu sagen, welche Gestalt sie denn nach ihren Vorstellungen haben soll.

Tragisch ist es allerdings, wenn der interessierte Bürger nicht einmal mehr in den Journalisten Verbündete hat im Kampf gegen die erschütternde Sprachlosigkeit der Mächtigen. Nach der traurigen Präsentation von Wulff als Präsidentenkandidaten, die weniger als vier Minuten dauerte, an deren Ende die routiniert vorgetragenen Leerformeln schon wieder vergessen waren, zeigte sich die Hauptstadtbüroleiterin des ZDF sehr angetan. „Dieses war, wie es sein sollte“, kommentierte Bettina Schausten direkt im Anschluss, „nämlich eine würdige Präsentation. Alle haben dies kurz und knapp, aber durchaus mit Freude im Gesicht absolviert.“ Als „würdig“ müsste man demnach ungefähr jeden öffentlichen Auftritt bewerten, der ohne Einsatz von Furzkissen auskommt.

Lena ist nicht die Ikone der Bürgerlichkeit

Das Nervige am Siegeszug der Lena Meyer-Landrut ist, dass er von diesen ganzen angestrengten und anstrengenden Versuchen der Medien begleitet wird, etwas Welt- oder mindestens die Nation Bewegendes in ihn hineinzuinterpretieren. Eine gute Antwort auf ein besonders beliebtes Erklärmuster — und einen der klügsten Texte zum Phänomen Lena — habe ich nicht in einer der großen Zeitungen gelesen, nicht im „Spiegel“ (der sich schon vor Wochen beim gewaltsamen Pressen von „Unser Star für Oslo“ in sein vorgegebenes Interpretationskorsett nicht von Fakten stören ließ) und schon gar nicht im „Stern“ (der vergangene Woche delirierte: „Aus Lenas schwarzen Siegerstrumpfhosen könnte der Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, einen Sparstrumpf nähen, dem jeder von Vilnius bis Lissabon sofort sein Gesamtvermögen anvertrauen würde.“) — sondern ausgerechnet in einem Internetforum, auf den Seiten eines Lena-Meyer-Landrut-Fanclubs.

Der Autor D. Lauer hat mir freundlicherweise erlaubt, den Text hier zu veröffentlichen, und ihn dafür leicht überarbeitet:

I.

Die Lenamania – der Aufstieg Lena Meyer-Landruts von der anonymen Abiturientin zum derzeit größten Popstar des Landes innerhalb von nur drei Monaten – verlangt nach Deutung. „Lenamania“ bezeichnet hier das Phänomen, dass LML bei einem Großteil der Bevölkerung offenbar reflexhaft den dringenden Wunsch auslöst, sie (je nach Alter) auf der Stelle als große Schwester, beste Freundin, Traumfrau oder Wunschtochter zu adoptieren. Auf der Suche nach einer Erklärung dieses Phänomens hat sich eine Erzählung etabliert, die LML als Projektionsfläche einer Sehnsucht des Publikums nach Normalität und Anstand im TV- und Musik-Business sieht: Lena als der „Popstar fürs Bürgertum“, wie der „Stern“ titelte. Diese Erzählung entstand mit einem „Spiegel“-Beitrag, in dem „Unser Star für Oslo“ als kultiviertes Musizieren für Abiturienten und Studenten vor einer seriösen Fachjury bespöttelt und zur Antithese der Trash-Konkurrenz von „Deutschland sucht den Superstar“ stilisiert wurde, wo gescheiterte Existenzen aller Art zu den vulgären Kommentaren eines Dieter Bohlen in Gladiatorenkämpfe gehetzt werden. Zum Sinnbild dieser Gegenüberstellung wurde der typisierte Vergleich zwischen den beiden jeweiligen Show-Favoriten: Hier der Freak Menowin Fröhlich, abschluss- und arbeitsloser, mehrfach vorbestrafter Ex-Sträfling, der drei Kinder mit der eigenen Cousine hat, schrill und bedrohlich – dort die Lichtgestalt Lena Meyer-Landrut, Abiturientin aus gutem Hause, Diplomaten-Enkelin, Taizé-Begeisterte, „Sophies Welt“-Leserin, wohlerzogen und eloquent.

Nach dieser Erzählung – nennen wir sie die Höhere-Tochter-Erzählung (HTE) – ist LMLs Erfolg darauf zurückzuführen, dass sich die silent majority des bürgerlichen Mittelstandes mit ihr identifiziert und sie in erster Linie als Inkarnation des eigenen Idealbildes einer höheren Tochter liebt, als Gegenfigur zum skurrilen Comic-Proletariat, das die Nachmittagstalkshows bevölkert.

Die HTE ist seit ihrer Entstehung in medialer Dauerschleife wiederholt worden und hat sich im Diskurs über LML mehr oder weniger als die offizielle Deutung ihres Erfolgs durchgesetzt, selbst dort, wo sie (wie jüngst von Matthias Matussek) in leicht herablassendem Ton ironisiert oder kritisch gegen LML und deren angebliche Bürgerlichkeit (lies: Bravheit und Harmlosigkeit) gewendet wird.

II.

Meiner Auffassung nach ist die HTE zur Erklärung des Phänomens LML vollkommen untauglich. Darum geht es mir hier. Zunächst ist LML nicht die Figur, als die sie in der Erzählung auftaucht. Das hätte man von Anfang an wissen können, hätte man auf die Details geachtet, die sich schlecht mit ihr vertrugen. Höhere Töchter – auch exzentrische – haben keine Tattoos und keine Zahnpiercings. Sie tanzen Ballett, nicht Hip-Hop. Sie geben nicht fröhlich zu, mittelmäßige Schülerinnen zu sein, zu rauchen und sich gelegentlich zu besaufen, auch fahren sie TV-Urgesteinen nicht rotzfrech über den Mund und sagen nicht ständig „scheiße“ und „kotzen“ im Fernsehen.

Bis hierher könnte man natürlich noch argumentieren, dies sei doch bloß das Quäntchen Bohème und Unangepasstheit, das einem aufgeklärten, sozusagen post-bourgeoisen Bild der höheren Tochter erst den richtigen Schliff verleiht. Das mag sogar stimmen, taugt jedoch nicht mehr zum Kitten des fundamentalen Bruchs zwischen der HTE und der Realität, der sichtbar wurde, als durch das unappetitliche Wühlen der Boulevardmedien noch andere Details bekannt wurden, darunter ein so überhaupt nicht distinguierter untergetauchter Vater, vor allem aber natürlich LMLs Auftritte als Laiendarstellerin in genau jenen dubiosen Nachmittags-TV-Formaten, in die sie sich, ginge es nach der HTE, niemals hätte verirren dürfen. Schon gar nicht ganz und gar nackt.

Träfe die HTE zu, hätte sich zu diesem Zeitpunkt ein Großteil ihrer Bewunderer enttäuscht von LML abwenden müssen. Mit genau diesem Ziel wurden die entsprechenden Medienberichte natürlich auch lanciert. Tatsächlich aber haben all die rechten Haken gegen das Höhere-Tochter-Image der Lenamania keinen messbaren Abbruch getan. Was das bürgerliche Mittelschichtspublikum bei seinen eigenen Töchtern zweifellos stören würde, stört es bei LML offenbar kaum. Also basiert seine Liebe zu LML wohl doch nicht vorrangig auf deren „bürgerlichen“ Attributen, wie die HTE behauptet.

III.

Dabei beruht die HTE auf einer richtigen Beobachtung: LML ist eine Gegenfigur zu all den hunderten Kandidatinnen und Kandidaten, die wir im letzten Jahrzehnt in Dutzenden von Casting Shows im Fernsehen haben vorbeiziehen sehen. Das Phänomen LML ist zweifellos darin begründet, dass sie in dem Rahmen, in dem sie zur öffentlichen Person wurde, so vollständig aus dem Rahmen fiel. Aber es ist schlecht beobachtet und verkürzt gedacht, ihre Andersartigkeit schlicht darin zu sehen, dass sie, im (angeblichen) Gegensatz zum Personal einer Show wie DSDS, der bürgerlichen Mittelschicht entstammt. Dieser Unterschied hat, wenn überhaupt, mit dem eigentlichen Phänomen nur indirekt etwas zu tun. LMLs Andersartigkeit liegt vielmehr in dem, was Entdecker und Mentor Stefan Raab schon vom ersten Moment an als ihre „Haltung“ bezeichnete.

Worin besteht diese Haltung? Sie besteht darin, die Gehirnwäsche zu durchbrechen, die das Format der Casting Shows seit über einem Jahrzehnt betreibt und mit der es nicht nur unsere Wahrnehmung von Popmusik infiziert hat. Nicht umsonst spricht man inzwischen von einer Generation Casting, welche die in diesem Genre üblichen Prinzipien und Regeln längst fürs Leben akzeptiert und verinnerlicht habe. Welche Prinzipien? Das lässt sich in jeder beliebigen Casting Show – ob nun DSDS, „Popstars“ oder „Germany’s Next Topmodel“ – mühelos beobachten.

Regel Nr. 1: Der Weg zum Erfolg besteht darin, sich der Jury vollständig zu unterwerfen. Die Jury ist Gott. Sie agiert nach dem Prinzip, dass der Wille des Kandidaten zunächst gebrochen werden muss, damit er sich den Anweisungen der Experten vollständig ausliefert und sich von ihnen formen lässt. Du sollst nicht so sein, wie Du selbst Dich haben willst, sondern wie andere Dich haben wollen. Es gibt daher keinen sichereren Weg, im Casting-Universum den sozialen Tod zu erleiden, als an der Jury Kritik zu üben, ihre Anweisungen zu hinterfragen oder auf eigenen Vorstellungen zu beharren. Beleidigung, Erniedrigung und aufgezwungene Demuts-Rituale sind die unvermeidliche Folge.

Regel Nr. 2: Der Weg zum Erfolg besteht aus Blut, Schweiß und Tränen und dem bedingungslosen Willen, ihm alles andere unterzuordnen. Dies ist die wichtigste Botschaft der Casting Show. Deshalb gibt es in ihren Beurteilungsritualen keine vernichtenderen Abmahnungen als „Du arbeitest nicht hart genug an dir“ und „Wir können nicht erkennen, dass du das hier wirklich willst“. Die Kandidatin kann diesen Verurteilungen nur entkommen, indem sie sich so lange schindet, bis sie auf offener Bühne kollabiert oder wenigstens einen Weinkrampf erleidet, und außerdem in den immergleichen Floskeln gegenüber der Jury beteuert, dass sie bereit ist „alles zu geben“ für den Erfolg in der Show, dass sie „nichts anderes will als kämpfen und weiterkommen“ und überhaupt diese Sendung ihre „einzige und letzte Chance“ sei, etwas aus sich zu machen. In den Schauprozessen von DSDS und GNTM gibt es deshalb kein den Kandidaten häufiger abgepresstes Bekenntnis als dieses. Es gehört zwingend dazu. Mit selbstbewussten Kandidaten, die einfach lachend gehen, wenn sie genug davon haben, sich anpöbeln zu lassen, weil sie nämlich noch etwas anderes mit ihrem Leben anzufangen wissen, funktioniert das Konzept der Sendung nicht.

IV.

LMLs „Haltung“ ist die radikale Antithese zu den beiden genannten fundamentalen Grundregeln der Casting Show. Sie besteht in der Weigerung, sich von den Unterwerfungs-, Leistungs- und Wettkampf-Imperativen dieses Formats bestimmen zu lassen. Berühmtheit hat LML unter anderem damit erlangt, dass sie schon bei ihrem ersten Auftritt gegen Regel Nr. 1 verstieß und darauf bestand, lieber auszuscheiden statt nicht den von ihr selbst präferierten Song zu singen. Insbesondere aber verstößt LML in praktisch jedem ihrer Interviews konsequent gegen Regel Nr. 2. Unbedingter Siegeswille, so sagte sie schon zu USFO-Zeiten und wiederholte es anlässlich des Eurovision Song Contests immer wieder, sei ihr fremd, darauf habe sie keinen Bock. Jedes Ergebnis sei ihr recht, solange sie mit sich im Reinen sein. Konkurrenzdenken und Kampf um die Plätze auf dem Podest seien „nicht so ihr Ding“, ebenso wenig wie hartes Training und tägliches Üben. Sie habe, gab sie kichernd zu, keine Technik, keine Strategie und nicht die Absicht, sich eine andrehen zu lassen. Sie entwickele die Dinge lieber spontan: So tanz‘ ich.

Überhaupt habe sie nie ein Star werden wollen, und die Erfüllung ihres „großen Traums“ sei ihr überwältigender Erfolg als Sängerin schon gar nicht. Vielleicht mache sie bald etwas völlig anderes. An Ideen mangele es ihr nicht. Wichtig sei nur, dass ihr das Ganze momentan Spaß mache, eine tolle Erfahrung sei und sie als Mensch voranbringe. Jeder einzelne dieser Sätze wäre das Ende des TV-Lebens eines normalen Casting-Produktes.

V.

Ich behaupte, dass es einen Namen für diese Haltung gibt. Sie ist nämlich bei Licht betrachtet keinesfalls revolutionär oder neu. In Wahrheit ist sie bloß die fast triviale Erinnerung an die Haltung, die man noch nicht vor allzu langer Zeit grundsätzlich mit der Popmusik verbunden hat – bevor der Casting-Show-Diskurs die Kontrolle übernahm, und zwar so erfolgreich, dass man mit der bloßen Erinnerung an dieses Prinzip des Pop (dieses Wort hier im weitest denkbaren Sinne verstanden) inzwischen wie ein Wesen von einem anderen Stern erscheint.

Denn das war doch das Versprechen, das mit dieser Musik einmal einherging: Jung sein. Lässig sein. Feiern und Spaß haben. Und die Chuzpe zu sagen: Ich brauche eure Lehren nicht, weder Gesangsstudium, noch Musikschule, noch Tanzdrill. Ihr habt mir nichts beizubringen. Eine Gitarre und drei Akkorde, das reicht – sofern man jung ist, und schön, und talentiert, und ohne Angst. Und jenes Charisma besitzt, das die Zuhörer schon beim ersten Chorus auf die Knie fallen und mitsingen lässt: We learned more from a three-minute record baby than we ever learned in school.

Pop war mal das Gegenteil dessen, was die Casting-Show-Idee verkauft, nämlich das Versprechen vom Triumph der Leichtigkeit und der Mühelosigkeit. Und der entscheidende Punkt ist, dass dieses Glücksversprechen des Pop zutiefst antibürgerlich ist. „Bürgerlich“ ist nämlich nicht nur das, was sich die Vertreter der HTE gerne darunter vorstellen (etwas, das vage mit Thomas Mann, dunklen Bücherregalen, Klavierunterricht und gepflegtem Abendessen im Familienkreis zu tun hat). Die real existierende Bürgerlichkeit der Mittelschicht ist in erster Linie der praktizierte Glaube an ein ganz anderes Versprechen, nämlich jenes der disziplinierten Selbstzucht in Kombination mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Jeder ist seines Glückes Schmied, und diejenigen werden den Lohn davontragen, die sich am meisten anstrengen, am fleißigsten schuften und am eisernsten sparen – und schon ihre dreijährigen Kinder in Chinesischkurse schleifen, der späteren Chancen am Arbeitsmarkt wegen.

Das Glücksversprechen des Pop hingegen ist die Verweigerung dieses protestantischen Arbeitsethos. Pop scheißt auf Selbstdisziplin und Leistungsgerechtigkeit. Darin ist er zutiefst romantisch. Er belohnt nicht die Arbeitsbienen und die Klassensprecher, er verachtet die Philister. Er verschenkt sein Herz lieber an die arbeitsscheuen Spinner, genialen Dilettanten und verspielten Prinzessinnen. Pop kennt und will keine andere Rechtfertigung als die, dass eine wie LML schlicht ein Liebling der Götter ist, Punkt. „Du hast Star-Appeal. Menschen werden dich lieben.“ Das ist alles.

Weil man solche Gabe nicht erwerben, sondern nur geschenkt bekommen kann, können die, welche sie empfangen haben, es sich leisten, mit ihr nicht nach Art der guten Wirtschafterin sparsam zu haushalten, sondern sie in geradezu aristokratischer Verschwendung weiterzuverschenken. Und das zu ihrem bloßen Vergnügen, ohne dabei nach Tauschwerten, Regeln und Verdienst zu fragen, die eigenen Fähigkeiten nicht penibel dokumentierend, sondern mit ihnen ironisch herumspielend, scheinbar nichts ernst nehmend – während die Braven, die sich das alles eisern angeeignet haben und handwerklich viel besser sind, fassungslos über die Ungerechtigkeit der Welt daneben stehen. Bei manchen, das lässt sich im Fall LML im Netz gut beobachten, kippt diese Verständnislosigkeit in ungezügeltes Ressentiment und Hass auf das Glückskind, oder in wüste Verschwörungstheorien.

VI.

Darum komme ich zu der Schlussfolgerung: LML ist nicht die Ikone der Bürgerlichkeit. Sie ist die (sehn-)süchtig machende Erinnerung an das Glücksversprechen des Pop, verkörpert in dem Gesicht einer Caravaggio-Madonna mit ironischem Grinsen und frechem Mundwerk. Die Sehnsucht, die LML weckt, ist nicht die Sehnsucht nach Bürgerlichkeit, sondern das Versprechen, dass – wenigstens stellvertretend in ihrer Person – die Befreiung vom Korsett der Bürgerlichkeit möglich ist. Deshalb träumen so viele laut oder leise davon, so zu sein wie sie – und schon allein diesen Traum träumen zu können, indem man sie beobachtet, führt ein Stück des Glücks mit sich. Wenn das Mittelschichts-Bürgertum LML liebt, dann nicht deswegen, weil sie genauso ist, wie es selbst, sondern weil es sich heimlich danach sehnt, ganz anders zu sein, als es ist.

Allerdings kommt es noch schlimmer für die Anhänger der HTE, denn die ganze Überlegung zeigt noch ein Zweites: Wenn es überhaupt eine Verkörperung des Bürgerlichen im deutschen Fernsehen gibt, dann sind das ironischerweise eben die just von jenem Bürgertum so verachteten, proletigen Casting Shows. Als Dieter Bohlen verkündete, der von ihm nicht favorisierte Mehrzad Marashi habe DSDS dank „deutscher Tugenden“ (er meinte Fleiß und Disziplin) gewonnen, hätte er damit um ein Haar einmal etwas Wahres gesagt. Sicher, begriffen hat er es wahrscheinlich nicht. Das deutsche Feuilleton aber auch nicht.

[Mit Dank an Max D., der mich auf den Text aufmerksam gemacht hat.]

Flattr

Soviel lässt sich schon mal feststellen: Schöner wird die Blog-Landschaft dadurch nicht. Erst mussten ganzen blauen Facebook-„Ich mag das“-Buttons ins Layout gequetscht werden. Nun prangt unter, über, neben jedem Text im Netz plötzlich noch ein anderes Dings mit abgerundeten Ecken, diesmal in grün-orange (wobei ich mit meiner Schmuckfarbe grün hier im Blog noch Glück habe).

Flattr ist ein mit viel Sympathie und noch mehr Skepsis begleiteter Versuch, ein einfaches und faires Bezahlsystem für Online-Inhalte zu etablieren. Das Prinzip geht so: Man meldet sich bei Flattr an und legt einen Betrag fest, den man monatlich für Online-Inhalte ausgeben will. Dann klickt man immer dort, wo einem etwas gut gefällt, auf den Flattr-Button. Am Ende des Monats wird die vorher festgelegte Gesamtsumme auf die angeklickten Dinge verteilt. Wer 20 Euro ausgibt und zehnmal etwas geflattrt hat, spendet so je 2 Euro. Bei jemandem, der sich für 10 Euro im Monat entscheidet und hundertmal flattrt, ist jeder Klick auf den Knopf 10 Cent wert.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Es gibt kein lästiges Einloggen oder Kreditkarte heraussuchen, sondern nach der Anmeldung nur jeweils einen einfachen Klick. Der Ausdruck der Wertschätzung wird vom unmittelbaren Bezahlvorgang abgekoppelt. Man kann fröhlich durchs Netz ziehen und nach Herzenslust flattrn, ohne sich darum zu sorgen, sein Budget zu überschreiten.

Völlig offen ist aber die Frage, wie viele Leser überhaupt bereit sind, für Inhalte zu zahlen, für die sie nicht zahlen müssen. Ähnlich wie „Spreeblick“ haben wir bei BILDblog, als wir noch auf Spenden statt auf Werbung als Haupteinnahmequelle gesetzt haben, die Erfahrung gemacht, dass sich die Zahlbereitschaft nach anfänglichem Überschwang sehr schnell legt.

Da man mit Flattr nur Geld verdienen kann, wenn man selbst auch Geld ausgibt, besteht außerdem die Gefahr, dass ein Großteil derjenigen, die bei Flattr mitmachen, selbst Blogger oder Online-Produzenten sind und wir uns das Geld nur gegenseitig hin und herschieben. Ziel ist aber natürlich ein Geldfluss von Lesern oder Nutzern zu den Produzenten.

Trotzdem ist die Idee reizvoll und Flattr einen Versuch wert. Die ersten Erfahrungen, die zum Beispiel die „taz“ und „Spreeblick“ gemacht haben, sind ganz okay. Die niedrigen dreistelligen Beträge, die sie jeweils in rund zwei Wochen gesammelt haben, mögen auf Anhieb mickrig wirken. Aber dafür, dass der Dienst gerade erst gestartet ist und man sogar noch eine Einladung haben oder auf eine warten muss, sind das schon ermutigende Zahlen.

Also: Ab heute bin ich dabei. Ich freue mich, wenn Sie sich bei Flattr anmelden und dann Beiträge, die es Ihnen Wert sind, unterstützen — hier und anderswo. Für eine vielfältige Online-Welt, die nicht hinter Bezahlschranken verschwinden muss, um Qualität zu finanzieren.