Google wusste schon im Januar: Lena siegt

Das ist schon toll, dieses Google. Traut sich aufgrund der Suchanfragen und Werweißwasfürwelcherdaten sogar eine tägliche Prognose zu, wer die meisten Stimmen vom Publikum beim Eurovision Song Contest gewinnen wird: unsere Lena!

Ungefähr alle deutschen Medien sind voll davon. Denn wenn es einer wissen muss, dann ja wohl Google. Toll an dem Eurovisions-Prognose-Tool ist, dass man die Grafik mit der Maus nach rechts schieben und auf diese Weise verfolgen kann, wie sich die Popularität der verschiedenen Kandidaten im Lauf der Zeit verändert hat. Anscheinend lag Lena schon vor einem Monat vorne:

Und schon am Tag, als sie den deutschen Vorentscheid zum Grand Prix gewonnen hatte:

Und bereits Anfang Februar, als die erste Sendung von „Unser Star für Oslo“ lief.

Ja, selbst Anfang Januar, als die deutschen Fernsehzuschauer Lena Meyer-Landrut bestenfalls aus zweifelhaften Serien von RTL kannten, konnte Google aus den damaligen Suchanfragen schon lesen, dass sie beste Chancen auf den Sieg beim Eurovision Song Contest hatte:

Erstaunlich.

Und woher wusste das Google damals schon? Klar: Weil deren Street-View-Wagen in Hannover versehentlich die Zukunft mit aufgenommen hatte.

(Entdeckt von „Oslog“-Leser Heiko — drüben, auf oslog.tv, habe ich auch noch was über den ganzen Wettfavoriten-Wahn geschrieben.)

Wahrheits-Schock! „Die Aktuelle“ weint!

Mit der Wahrheit hat’s Anne Hoffmann nicht so, aber das ist ihr Beruf: Sie ist Chefredakteurin der von der WAZ-Gruppe herausgegebenen Zeitschrift „Die Aktuelle“.

In der „Aktuellen“ stehen Woche für Woche Geschichten, die entweder unwahrscheinlich sind oder unaufregend (oder, im schlechtesten, aber häufigsten Fall: unwahrscheinlich und unaufregend). Deshalb gibt sich die Redaktion viel Mühe, auf dem Cover einen falschen Eindruck über den tatsächlichen Inhalt zu erwecken.

Dort heißt es zum Beispiel:

Es stellt sich dann heraus, dass der „Schock“ darin besteht, dass Heidi Klum neulich anscheinend mal ungeföhnt auf die Straße gegangen ist, was zwei kleine Fotos dokumentieren. Von einer „weinenden Seele“ ist nicht mehr die Rede, im Inneren fragt die „Aktuelle“ nur noch besorgt:

Hat sie keine Zeit mehr für ihre Haare?

Das „ehrliche Interview“ mit Veronica Ferres, das die „Aktuelle“ auf dem Cover verspricht, entpuppt sich als ein Text, den sich die Redaktion aus Versatzstücken eines aktuellen Gesprächs der Schauspielerin mit dem Kleinsender Tele 5 unter Verwendung mindestens zweieinhalb Jahre alter Zitate zusammengeschraubt hat. Den Zusammenhang der Aussagen zu irgendwelchen „schlimmen Gerüchten um ihre Beziehung“ hat die „Aktuelle“ hinzugedichtet; dass die Ferres „jetzt über ihre Tränen redet“, wie die Zeitschrift behauptet, ist frei erfunden.

Artikel in der „Aktuellen“ müssen nicht nur nicht stimmen, sie müssen nicht einmal in sich logisch sein. Vor fünf Jahren ist in La Paz ein Mann gestorben, den die „Aktuelle“ den „‚Bruder'“ von Verona Pooth nennt. Anscheinend kümmerte sich Veronas Mutter in Bolivien um den Jungen, musste ihn aber zurücklassen, als die Familie 1969 aus Bolivien nach Deutschland kam — so blieb Verona nur „die ewige Sehnsucht“ (sie war damals drei). Der ist jedenfalls „jetzt tot“ (vermutlich im Sinne von: immer noch). Und die „Aktuelle“ vermutet zwar, dass Verona von diesem „Drama“ noch gar nichts weiß, hat aber schon ein Beweisfoto gefunden, auf dem sie „traurig aussieht“.

Ich nehme nicht an, dass sich die meisten Menschen, die sich in der „Aktuellen“ wiederfinden, die Mühe machen, den Quatsch richtig zu stellen, der da über sie steht. Mario Barth hat immerhin in der Ausgabe dieser Woche eine Gegendarstellung untergebracht, in der er der Behauptung widerspricht, ein Foto der „Aktuellen“ aus dem November 2009 zeige ihn mit seiner Freundin, und die Redaktion musste hinzufügen: „Mario Barth hat Recht.“

Eine unendliche Ahnungslosigkeit durchströmt das Blatt, aber alle Energie, die bei der Produktion gespart wird, fließt in die kreative Titelgestaltung. (Ich habe leider kein vollständiges Archiv, wüsste aber so gern, worin Heinos Horror-Begegnung im Fahrstuhl (Heft 6/10) bestand und inwiefern Steffi Graf die Nachfolgerin von Jörg Kachelmann wird (Heft 18/10) — vielleicht kann mir ein Leser weiterhelfen?)

Man tut der „Aktuellen“ aus dem Haus WAZ also vermutlich nicht Unrecht, wenn man sie als olles Lügenblatt bezeichnet. Weshalb es einerseits so ironisch ist und andererseits so konsequent, dass Chefredakteurin Anne Hoffmann, die ihr Handwerk bei der Zeitschrift „das neue“ des berüchtigten Heinrich-Bauer-Verlages gelernt hat, vergangene Woche schrieb:

(…) uns von „die aktuelle“ ist es eine Herzensangelegenheit, die Wahrheit zu schreiben (…)

Natürlich musste „Die Aktuelle“ erst gerichtlich dazu gezwungen werden, dieser ihrer Herzensangelegenheit nachzugehen, und das kam so:

Anfang Februar berichtete die Zeitschrift über die „Arche“ in Potsdam-Drewitz, die der Moderator Günther Jauch unterstützt. Eine Reporterin der Zeitschrift hatte die christliche Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung „exklusiv besuchen dürfen“ („exklusiv“ hier im Sinne von: nach den ganzen anderen Medien) und kam aus dem Staunen nicht wieder heraus:

Was wir da über ihn hören, zeigt uns eine völlig unbekannte Seite des Moderators. Er zahlt nicht nur, er kennt auch die Kinder und deren Schicksale. Und die Kinder kennen ihn. „Er ist lustig und er hilft uns. Das ist schön“, erzählt die 8-jährige Lisa. Ganz begeistert von ihrem „Onkel Jauch“ rufen andere Kinder: „Er weiß ganz viel und er ist sehr lieb.“ „Der ist berühmt und gibt uns ganz viel Geld.“ „Der ist cool und ganz normal.“

Ich sag ja: So richtig aufregend sind die nicht, die „Aktuelle“-Geschichten. Aber mit ein bisschen viel Mut zur Täuschung des Lesers lässt sich dann doch eine sensationelle Titelgeschichte draus machen (und wer weiß, ob die Verantwortlichen genau die nicht schon vor Augen hatten, als sie die Reporterin losschickten):

Mit großer Perfidie erweckt „die Aktuelle“ den Eindruck, die Kinder des in Potsdam lebenden Moderators besucht und mit ihnen gesprochen zu haben (Jauch ist bekannt dafür, sein Privatleben und insbesondere die Kinder konsequent aus der medialen Öffentlichkeit zu halten). Fast muss man Anne Hoffmann und ihre Leute dafür bewundern, wie sie es schafften, alles so zu formulieren, dass es irgendwie zu der tatsächlichen (harmlosen) Geschichte passt, aber eine ganz andere suggeriert.

Die Enttäuschung muss groß gewesen sein, dass sie damit trotzdem nicht durchkamen. Über mehrere Instanzen wehrte sich „die Aktuelle“ (aus der, man kann es nicht oft genug sagen, sich womöglich für seriös haltenden WAZ-Gruppe) dagegen, eine Gegendarstellung Jauchs auf dem Titel abzudrucken. Nach Angaben Jauchs musste der Verlag sogar ein Zwangsgeld in deutlich fünfstelliger Höhe an die Staatskasse zahlen, weil er sich auch nach der Entscheidung des Gerichtes zunächst noch weigerte, die Gegendarstellung zu veröffentlichen.

Vergangene Woche kam sie dieser Pflicht endlich nach:

Vermutlich hatten die Journalisten Macher einfach so lange gebraucht, bis ihnen ein Trick eingefallen war, wie sie in angemessener „Aktuelle“-Manier mit der peinlichen und teuren Niederlage umgehen konnten: Sie strickten daraus eine neue Titelgeschichte — und Chefredakteurin Hoffmann musste sich noch dümmer stellen als sonst und noch ein bisschen mehr lügen. (Wobei die Überschrift „Das haben wir nicht gewollt!“ im Inneren natürlich stimmt — denn die „Aktuelle“ wollte sicher nur irreführen, aber nicht einen Widerruf drucken müssen.)

Hoffmann schreibt jedenfalls:

(…)“Jetzt sprechen die Kinder“ — so stand es damals auf dem Titel. Dazu haben wir ein Foto von den Kindern der „Arche“ veröffentlicht. (…) Wir haben das Foto der Kinder gezeigt, damit klar wird, dass es sich nicht um die Kinder von Günther Jauch handelt.

(Zweifeln Sie nicht an Ihrem Verstand, wenn Sie den Satz nicht verstehen, sondern an ihrem.)

Wir haben darunter geschrieben „Spielstunde in der Arche“, damit deutlich wird, dass wir hier Kinder aus dieser Einrichtung zeigen. Wir wollten kein Missverständnis aufkommen lassen — aber offenbar ist uns das nicht geglückt. Das ist gründlich schief gegangen. Wir hätten noch viel deutlicher machen müssen, dass die zwei süßen Mädchen nicht die Kinder von Günther Jauch sind. Dafür möchte ich mich aufrichtig entschuldigen! (…)

Wie konnte uns dieser Fehler passieren? Vermutlich im Überschwang. In der Begeisterung dafür, Ihnen liebe Leserinnen und Leser, jede Woche die spannendste „aktuelle“ zu schenken. Wir haben uns von der Geschichte mitreißen lassen — und in der Leidenschaft den kühlen Kopf verloren. Das haben wir nicht gewollt.

Vielleicht darf ich noch ein paar Worte an Sie direkt richten, sehr geehrter Herr Jauch. Sie sind ein großartiger Journalist. (…) Herr Jauch, ich entschuldige mich bei Ihnen. Ich entschuldige mich bei meinen Leserinnen und Lesern.

Dieses Heft, das Sie jetzt in Händen halten, soll zeigen, wie ernst es uns mit der Wahrheit ist. (…)

Das tut es tatsächlich. Es ist das Heft mit dem zusammengeklaubten und in einen falschen Kontext gestellten „ehrlichen Interview“ mit Veronica Ferres, mit den „Schock-Fotos“ von der weinenden Seele der Heidi Klum und dem ganzen Quatsch von der „Herzensangelegenheit“ und dem Willen, mit dem Titel kein Missverständnis aufkommen zu lassen. Es zeigt ganz gut, wie ernst es der „Aktuellen“ mit der Wahrheit ist.

(Aber das mit Heinos Horror-Begegnung im Fahrstuhl will ich jetzt wissen!)

Oslo – wir kommen!

Ich habe in meinem Leben schon ganz schön viel über den Eurovision Song Contest geschrieben ((„Unser Mann in Birmingham“, SZ, 28.02.1998)) ((„Gaga? Nur äußerlich!“, SZ, 18.2.2000)) ((„Die Welt versteht uns“, SZ, 21.2.2000)) ((„Der Mann, der nur Spaß vesteht“, SZ, 11.05.2000)) ((„Aufstand alter Männer“, SZ, 15.05.2000)) ((„Deutsche Leitmusik“, SZ, 10.01.2001)) ((„König der Zwerge“, SZ, 21.02.2001)) ((„Waterloo“, SZ, 05.03.2001)) ((„Lustig, lustig, tralalalalaaa“, SZ, 10.05.2001)) ((„Aber hallø!“, SZ, 12.05.2001)) ((„Europa wählt amerikanischen Funk“, SZ, 14.05.2001)) ((„Ein bisschen Soufflé“, FAS, 24.02.2002)) ((„Wie ‚Bild‘ Corinna May vor Männern schützt“, FAS, 19.05.2002)) ((„Bernd Meinunger: Höchstens ein bißchen Frieden“, FAZ, 23.05.2002)) ((„Ralph Siegel: He can’t live without music“, FAZ, 25.05.2002)) ((„Time to say goodbye“, FAZ, 27.05.2002)) ((„Sterne, die nicht gleich verglühen“, FAS, 31.01.2010)) ((u.v.a.m.)). Aber eines habe ich noch nie gemacht: ein Videoblog.

Bis jetzt. Zusammen mit Lukas berichte ich aus Oslo über die diesjährige Ausgabe der wahrscheinlich größten unwichtigen Veranstaltung der Welt. Markus „Herm“ Herrmann hat uns ein bezauberndes Heim eingerichtet für unser… Oslog!

Wir wollen versuchen, uns dem Ereignis in angemessener Form zu nähern: gut gelaunt und unverkrampft, neugierig, mit ein bisschen Distanz, aber Lust am Quatsch: dem der Veranstaltung und unserem eigenem. Die Pilotfolge, „Auf dem Lena-Meyer-Landweg zum Grand Prix“, soll davon schon einen Vorgeschmack geben.

(Bitte beachten Sie unbedingt, wie wir bei 2:31 mit fast beunruhigender Synchronizität „Nicole“ sagen.)

Alles weitere ab sofort unter oslog.tv.

Wie ich in den „Spiegel“ kam

Ich stand am Donnerstag voriger Woche gerade im Nieselregen in der Hamburger Fußgängerzone, als mich Martin U. Müller vom „Spiegel“ auf dem Handy erreichte. Nach ein bisschen Small Talk wechselte er den Tonfall und klang plötzlich, als müsse er etwas sehr Unangenehmes mit mir besprechen. Ihm sei da nämlich eine Information zugespielt worden.

Es stellte sich heraus, dass es nicht um die Sache mit den Schafen im Keller und den missglückten Sex-Experimenten ging, sondern bloß um einen Beitrag, den ich für das Online-Magazin screen.tv geschrieben habe, das die Sendergruppe ProSiebenSat.1 herausgibt. Müller konfrontierte mich mit der Beobachtung, dass ich da sogar im Impressum stünde und wollte wissen: Ob ich kein Problem damit hätte, für ein Unternehmen zu arbeiten, das sonst Gegenstand meiner Berichterstattung sei. Ob ich in Zukunft regelmäßig für die arbeiten würde. Ob die Bezahlung im üblichen Rahmen gewesen sei oder es sich um einen dieser sagenumwobenen Aufträge handele, für die man ein halbes Reihenhaus bekomme. Ob mir bekannt sei, dass der Berufsverband Freischreiber, bei dem ich ja Mitglied sei, eine strikte Trennung von Journalismus und PR-Arbeit fordere.

Ich versuchte, dem „Spiegel“-Redakteur zu erklären, dass es sich nicht um PR handelt, sondern einen journalistischen Artikel, den ich ohne jede Einflussnahme oder inhaltliche Vorgabe geschrieben habe. Bei screen.tv handelt es sich nicht um eine Werbebroschüre, sondern ein journalistisches Magazin, das nur insofern möglicherweise PR für ProSiebenSat.1 darstellt, als damit vielleicht die Hoffnung auf einen Imagegewinn verbunden ist: Dass ein solches Unternehmen es sich in solchen Zeiten leistet, Geld für ein solches Magazin auszugeben.

Ich versuchte den Verdacht, dass ich hier PR für ProSiebenSat.1 betreibe, noch dadurch zu entkräften, dass ich ihn darauf hinwies, dass deren Töchter in meinem Stück keineswegs gut wegkommen, woraufhin er fragte, ob ich das extra gemacht hätte, quasi als Demonstration der Unabhängigkeit, und ich erwiderte: Nein, einfach weil die Streaming-Angebote der Gruppe so schlecht sind. Es war ein anstrengendes Gespräch, was sicher auch daran lag, dass ich nicht verstand, was er mir eigentlich vorwarf, und noch weniger, was daran ein Thema für den „Spiegel“ sein könnte.

Medienjournalismus. Schon das Wort belustigt Begriffsstutze wie Henryk M. Broder, weil sie so tun, als wäre es analog zu Zeitungs-, Fernseh- und Onlinejournalismus gebildet und stelle also eigentlich einen Pleonasmus dar. Dabei steht es in einer Reihe mit Sport-, Politik- oder Wirtschaftsjournalismus; der erste Wortteil bezeichnet nicht das Medium, sondern seinen Gegenstand.

Doch die scheinbare Doppeldeutigkeit des Wortes zeigt auch das Spezielle an der Arbeit als Medienjournalist, das Dilemma beim Schreiben in den Medien über die Medien. Fast jeder Text ist zwangsläufig ein Text über ehemalige oder potentielle zukünftige Auftrag- oder Arbeitgeber, über direkte Kollegen oder Konkurrenten. Fast jeder medienjournalistische Text steht somit unter dem Generalverdacht einer Interessenskollision, eines Kalküls jenseits journalistischer Kriterien.

Ich nehme an, dass diese Situation auch den Medienjournalisten beim „Spiegel“ nicht fremd ist. Was ihnen aber offenbar fremd ist: Dass ein journalistisches Leben außerhalb der „Spiegel“-Redaktion existiert. Dass es Journalisten gibt, sogar Medienjournalisten, die nicht angestellte Redakteure sind, mit festem Gehalt und Einbindung in eine Hierarchie, sondern frei arbeiten, und das sogar freiwillig, nicht aus Not. Und dass diese Freiheit auch eine Form von Unabhängigkeit ist.

Als freier Journalist arbeite ich für verschiedene Auftraggeber. Die Auftraggeber sind Medienunternehmen. Medienunternehmen sind Gegenstand meiner Berichterstattung. Fast jeder Text ist insofern angreifbar, und dagegen hilft nur eines: der Beweis der Unabhängigkeit in der täglichen Arbeit.

Und damit sind wir wieder beim „Spiegel“, der tatsächlich Platz fand in seiner Ausgabe vom vergangenen Montag für ein Stück über mich und meinen Artikel im von ihm anonymisierten „Online-Magazin der ProSiebenSat.1 AG“. Der „Spiegel“ wirft mir nicht vor, einen bestellten PR-Text für ProSiebenSat.1 geschrieben zu haben. Er findet ausdrücklich, dass mein Text sich „nicht wie eine Eloge auf die Sendergruppe“ lese. Warum es sonst verwerflich ist, als Medienjournalist für ein journalistisches Magazin zu schreiben, wenn es nicht von einem Verlag, sondern einem Fernsehsender herausgegeben wird, lässt der „Spiegel“ offen. Martin U. Müller raunt nur, ich nähme es „offenbar nicht ganz so genau, was die Distanz zum Gegenstand [meiner] Berichterstattung betrifft“.

„Kritiker in der Kritik“ steht übrigens als Überschrift über der „Spiegel“-Meldung, und das ist einerseits natürlich ein alter Journalisten-Trick, sich quasi unsichtbar zu machen, aber die Wirkung des eigenen Tuns vorwegzunehmen. Der Kommentator dot tilde dot beschreibt den Effekt so:

interessant an dieser kritik ist, dass sie nur „ist“ und gar nicht stattfindet – außer im spiegel-artikel, der über die kritik berichtet. die aber gar nicht stattfindet, außer im spiegel-artikel, der über sie berichtet. obwohl sie nicht stattfindet.

(mir wird schwindelig. ich habe das gefühl, abschweifen zu müssen, um beim thema zu bleiben.)

Andererseits gab es die „Kritik“ aber tatsächlich schon vor dem Artikel, und das ist womöglich die interessantere Geschichte als die Frage, warum der „Spiegel“ mich kritisiert. Martin U. Müller ist nämlich nicht über die offizielle Pressemitteilung auf meine Mitwirkung an dem Magazin aufmerksam geworden, oder über Google oder Turi2, sondern über eine anonyme Mail. Der Absender hat sie in ähnlicher Form auch als Kommentar an verschiedenen Orten abgegeben, unter anderem hier im Blog unter dem Namen „finanzbeamter“:

Seit Februar2009 gab es für Herrn Niggemeier im Bereich Call TV nichts mehr über 9live zu berichten.Dafür engagiert er sich aber gerne für die Unternehmenskommunikation der Gesellschafterin, zusammen mit seinem Spezi Peer Schader. Wenn das mal kein Gschmäckle hat.

Ich kenne den Absender nicht, der allem Anschein nach auch schon unter anderem Namen hier kommentiert hat; offenkundig ist aber, dass er aus dem Umfeld der Call-TV-Branche und ihrer besonders schwarzen Schafe kommt. Dieselbe E-Mail-Adresse wurde auch schon benutzt, um als Drohungen zu verstehende Nachrichten an Kritiker des dubiosen Treibens von Call-TV-Firmen wie Primavera.TV verschickt.

Dieser Unbekannte hatte also Lust, mir ein bisschen Ärger zu machen – und fand ausgerechnet beim „Spiegel“ tatsächlich ein offenes Ohr. Die lustige Verschwörungstheorie, wonach ich (wenn ich das richtig verstehe) von ProSiebenSat.1 gekauft worden sei und deshalb nicht mehr kritisch über 9live berichte, hat zwar explizit dann doch keinen Weg in den „Spiegel“ gefunden. Aber Martin U. Müller konfrontierte mich im Telefongespräch tatsächlich auch mit diesem Vorwurf.

Und das, obwohl der nicht einmal einer schlichten Überprüfung der Fakten standhält: Ich habe noch im August 2009 über 9live berichtet. (Kann natürlich sein, dass ich erst danach gekauft wurde.)

Das ist das einzig wirklich Ärgerliche an meinem unfreiwilligen Gastauftritt im „Spiegel“: Dass das Nachrichtenmagazin sich beim Versuch, mich ein bisschen zu ärgern, zum Erfüllungsgehilfen irgendeines dubiosen Dunkelmanns gemacht hat, der gerade versucht, Call-TV-Kritiker einzuschüchtern.

Der „Stern“ färbt ab

Ich les den „Stern“ ohnehin eigentlich nur im Urlaub, kann aber auch das insbesondere bei schweißtreibenden Flugreisen nur sehr bedingt empfehlen.

Diözese Regensburg ./. Niggemeier

Wo war ich? Ach ja.

Die Diözese Regensburg hat nun auch mich abgemahnt. Sie geht also nicht mehr nur gegen Artikel über ihr Verhalten im Zusammenhang mit dem Kindesmissbrauch eines Pfarrers vor elf Jahren vor. Sie geht auch gegen Artikel vor, die darüber berichten, wie sie gegen diese Artikel vorgeht.

Am Mittwoch vergangener Woche hat mich der Anwalt der Diözese aufgefordert, eine Unterlassungserklärung abzugeben und nicht mehr den Eindruck zu erwecken, die Kirche habe sich das Schweigen der Opfer eines Pfarrer erkauft. Dies habe ich nach Ansicht des Anwaltes dadurch getan, dass ich in diesem Eintrag drei Passagen aus der Berichterstattung des „Spiegel“ und dem Internetangebot regensburg-digital.de über den Vorfall damals zitiert habe, gegen die die Diözese beim Landgericht Hamburg einstweilige Verfügungen erwirkt hat.

Die von mir zitierten Passagen seien „falsch und darüber hinaus ehrenrührig“, was die Kirche nicht bereit sei hinzunehmen. Weil ich die „Verbotsbehauptungen“ in meinem Eintrag „ohne Distanzierung“ veröffentlicht hätte, würde ich gegenüber dem Bistum Regensburg auf Unterlassung haften, heißt es in der kostenpflichigen Abmahnung.

Ich habe die geforderte „Unterlassungs-/Verpflichtungserklärung“ nicht abgegeben und halte meine Berichterstattung für rechtmäßig. Anders als behauptet, habe ich mir die Äußerungen, die das Bistum Regensburg dem „Spiegel“ und regensburg-digital.de einstweilig verboten hat, nicht zu eigen gemacht. Was den damit verbundenen Vorwurf betrifft, enthalte ich mich jedes eigenen Urteils.

Thema meines Eintrages ist nicht das Verhalten der Kirche damals, sondern ihr Umgang mit Kritikern und Berichterstattern heute. Wenn es stets unzulässig wäre, in neutraler Form über eine öffentlich relevante Streitfrage zu berichten, deren Wahrheitsgehalt ungewiss ist, wäre jede Gerichtsberichterstattung über äußerungsrechtliche Zivilprozesse unzulässig, was mit der Meinugsfreiheit des Artikel 5 Grundgesetz nicht vereinbar wäre. (Stets unzulässig ist es nur dann, wenn es um die Intim- oder Privatsphäre geht oder die Tatsachenbehauptungen erwiesenermaßen unwahr sind.)

Darüber hinaus habe ich aber auch die Bedingungen erfüllt, die Voraussetzung für eine sogenannte „Verdachtsberichterstattung“ über den Fall wären. Dazu gehört, dass ich der Diözese Gelegenheit gegeben habe, zu den Vorwürfen gegen sie Stellung zu nehmen, wovon sie bewusst keinen Gebrauch gemacht hat.

So umfassend ist also das Schweigen, das das Bistum Regenburg gerichtlich erzwingen will. Es geht ihr offenkundig nicht nur um eine (richtige oder falsche) Aufbereitung der Ereignisse von 1999. Es geht ihr offenkundig darum, das Thema insgesamt aus der Öffentlichkeit herauszuklagen.

Um ihre Forderung durchzusetzen, muss die Diözese nun versuchen, eine einstweilige Verfügung gegen mich und diesen Blogeintrag zu erwirken, zum Beispiel beim Hamburger Landgericht.

PS:

Auch das Medienmagazin „Journalist“, das vom Deutschen Journalistenverband herausgegeben wird, berichtet in seiner aktuellen Ausgabe über die Auseinandersetzung. Die sonst nicht zimperliche Redaktion hat allerdings in einem erstaunlichen Akt von Selbstzensur Wörter im Artikel geschwärzt:



Zur Erklärung schreibt der „Journalist“ unter dem Text:

* Die Redaktion hat sich aus freien Stücken entschlossen, den beanstandeten Begriff zu schwärzen, um der Diözese Regensburg keinen Anlass für ein juristisches Scharmützel zu geben. Ihre Rechtsauffassung teilen wir nicht.

Wie bizarr. Natürlich kann man sich als Berichterstatter dafür entscheiden, angesichts der schwebenden Verfahren und der ungeklärten Umstände damals den umstrittenen Ausdruck nicht zu verwenden. Aber in einem Akt vorauseilenden Gehorsams plakativ eine Forderung des Bistums Regensburg zu erfüllen, die man angeblich für ungerechtfertigt hält, ist nicht nur feige, sondern sendet ein verheerendes Signal an Abmahner und Abgemahnte gleichermaßen — insbesondere wenn sich das Organ eines journalistischen Berufsverbandes so verhält.

Vielleicht geht es Ihnen auch so

Ich möchte die ARD mögen.

Ich bin ein großer Freund der Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die ARD hat mir einen tollen Preis verliehen. Ich verdanke ihr die „Sesamstraße“, Loriot, Eberhard Fechners „Prozess“, „ZAK“, Wiwaldi und Jörg Thadeusz.

Aber manchmal, wenn ich Pech habe und gefragt werde, was an der ARD eigentlich so toll ist, fällt mir nichts ein, weil mir nur Reinhold Beckmann, Alois Theisen, „In aller Freundschaft“ und Hansi Hinterseer einfallen.

Anscheinend bin ich nicht der einzige, dem es so geht. Anscheinend haben auch und gerade ARD-Mitarbeiter dieses Problem. Deshalb hat der SWR an seine Leute jetzt Spickzettel verschickt mit „10 guten Gründen für die ARD“.

SWR-Intendant Boudgoust schreibt ihnen:

Liebe Mitarbeiterin, lieber Mitarbeiter,

„Ach, du arbeitest beim SWR?“ — diesen Satz kennen Sie sicher, und vielleicht geht es Ihnen auch so, dass Sie zunehmend darauf angesprochen werden, warum es den öffentlich-rechtlichen Rundfunk überhaupt noch braucht.

Dass die GEZ keinen guten Ruf hat, ist klar. Wer zahlt schon gerne Gebühren? Dass sich das negative Image aber auch auf die Sender überträgt, ist relativ neu. Und auch wenn Sie sicher davon überzeugt sind, dass der SWR und der öffentlich-rechtliche Rundfunk wichtig sind, fällt es Ihnen vielleicht nicht immer leicht, dies auch konkret zu begründen.

Da möchte ich Ihnen gerne helfen, denn schließlich gehört es zu meinem Job, jeden Tag vielen Leuten zu erklären, dass wir uns in Deutschland auch in Zukunft den öffentlich-rechtlichen Rundfunk leisten sollten, weil wir es uns nicht leisten können, darauf zu verzichten.

„9 von 10 guten Gründen für die ARD“ haben wir auf dem kleinen Kärtchen, das diesem Brief anhängt, für Sie aufgeschrieben. Kurz und knackig formuliert, vom Kinderprogramm bis zur Kulturarbeit. Manches davon soll provozieren und bewusst zum Nachdenken anregen. Es handelt sich hier nicht um in Stein gemeißelte „10 Gebote“, sondern um einen Anstoß für die Diskussion in unserem Haus. Denn die Gründe gelten natürlich nicht nur für die ARD insgesamt, sondern auch für den SWR im Besonderen. Zusätzliche Infos, Zahlen und Beispiele zu den einzelnen Punkten finden Sie im SWR-Intranet unter >Der SWR>Gebühren. Dort können Sie auch weitere Gründe selbst beisteuern, die Ihnen besonders wichtig sind.

Und vielleicht möchten Sie ja das kleine Kärtchen in Ihren Geldbeutel stecken, damit Sie ganz schnell noch einen Blick darauf werfen können, wenn Sie das nächste Mal jemand auf Ihren Arbeitgeber anspricht. Denn Sie und Ihre gute Arbeit sind der zehnte und beste Grund, warum es uns geben muss! Seien Sie Fürsprecherin und Fürsprecher für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er hat es verdient.

Viele Grüße,
Ihr
Peter Boudgoust

Hach. Wird einem da nicht warm ums Herz?

Freundlicherweise hat mir ein SWR-Mitarbeiter sein Kärtchen zur Verfügung gestellt. Das leg ich mir jetzt neben den Fernseher, für wenn die Zweifel wieder kommen.

Dann schauen wir mal:


Ooo-kay.

Das ist ja nicht alles falsch, und vermutlich muss man schon froh sein, dass sich nur der letzte Punkt reimt. Und Boudgousts Worte in der Gebrauchsanweisung, dass „manches davon provozieren und bewusst zum Nachdenken anregen soll“, sind vermutlich auch als eine Art Warnung gemeint, nicht jedes Wort beim Wort zu nehmen, oder eine Entschuldigung, dass die Verfasser selbst es mit dem Nachdenken nicht übertrieben haben.

Aber das wüsste ich dann doch gerne: Inwiefern die Tatsache, dass die öffentlich-rechtlichen Programme nur 60 Cent am Tag kosten, die ARD „unverzichtbar“ macht. Wäre sie verzichtbarer, wenn es mehr wären? Weniger?

Und die ARD hat „die meisten Zuschauer und Hörer“? Die Rechnung würde ich dann doch gern mal im Detail sehen. Vermutlich muss man dazu beim Fernsehen das Erste und die diversen Dritten zusammenzählen, darf aber andererseits nicht die Sender der RTL-Gruppe addieren.

Inwiefern sind die Fußballübertragungen, für deren Rechte die ARD absurd viel Geld ausgibt, „for free“, wenn der Zuschauer doch Rundfunkgebühren zahlt? Und kommt die „Pisa-Versicherung“, die Deutschland braucht, auch dafür auf, wenn dieser schiefgestapelte Argumententurm einstürzt?

Das liest sich beim besten Willen (und der steckt sicher dahinter) sehr angestrengt. Gibt es nicht eine psychologische Regel, dass es schwer ist, jemanden zu mögen, der sich selbst nicht mag?

Ich mache mir jetzt noch ein bisschen mehr Sorgen um die ARD.

Über Abmahnungen

Ich warte auf den Tag, an dem mich jemand verklagt, weil ich ihn klagefreudig genannt habe.

· · ·

Der bekannte Berliner Medienanwalt Christian Schertz möchte nicht mit dem verstorbenen Münchner Rechtsanwalt Günter Werner Freiherr von Gravenreuth verglichen werden. Er meint, dass der Vergleich mit dem als Betrüger verurteilten und für seine umstrittenen Abmahnungen berüchtigten Gravenreuth abwegig ist — das finde ich auch. Und er meint, dass dieser Vergleich deshalb unzulässig ist — das finde ich nicht.

Woher kommt der Gedanke, dass man Dinge, die einem nicht gefallen, mit der Hilfe von Anwälten und Gerichten aus der Welt schaffen lassen kann? Wenn das nicht mit Meinungsfreiheit gemeint ist: dass Leute frei finden und sagen können, an wen ich sie erinnere, egal wie ungerecht mir das erscheinen oder wie unvorteilhaft das für mich sein mag — was denn dann?

Schertz, der sich gerne als Kämpfer für das Gute stilisiert und als Rechtsberater unter anderem die Freiheit der ARD verteidigt hat, einen plumpen Anti-Scientology-Film auszustrahlen, hat in eigener Sache eine besondere Vorstellung von den Grenzen der Meinungsfreiheit. Er hat seinen Dauerfeind, den Gerichtsreporter Rolf Schälike, wegen verschiedener Kommentare hier im Blog abmahnen lassen. Es geht dabei nicht nur um (möglicherweise falsche) Tatsachenbehauptungen. Schälike hatte u.a. kommentiert:

Beide Anwälte [Schertz und Gravenreuth]- der eine post mortal, der andere heute noch – haben einen nachvollziehbaren Grund von der Rechtsprechung enttäuscht zu sein.

Schertz‘ Anwalt forderte deshalb eine Unterlassungserklärung von Schälike:

In diesem Beitrag setzen Sie unseren Mandanten und sein rechtliches Vorgehen mit den Methoden und dem Vorgehen des verstorbenen Rechtsanwalts von Gravenreuth dar [sic]. Dies muss mein Mandant nicht hinnehmen.

Schälike hat mich aufgrund des rechtlichen Vorgehens von Schertz gegen ihn gebeten, alle seine Kommentare unter den entsprechenden Einträgen zu löschen. Doch das ist nicht nur eine Privatfehde. Schertz meint es auch von anderen nicht hinnehmen zu können oder zu müssen, mit Gravenreuth verglichen zu werden.

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Ich hatte in den vergangenen Wochen mehrfach wieder Kontakt zu dem Anwalt von Stephan Mayerbacher, einem Geschäftsmann aus der Call-TV-Branche, der bereits mehrfach juristisch gegen mich vorgegangen ist. Diesmal bekam ich keine Abmahnungen, sondern wurde „im Guten“ auf Kommentare in diesem Blog hingewiesen, die Herr Mayerbacher für unzulässig hält.

Unter anderem wurde ich aufgefordert, den von einem Kommentator geäußerten Verdacht zu löschen, „Herr Mayerbacher durchsuche Internetforen und -blogs nach abmahnfähigen Beiträgen“, denn das sei unwahr.

Man kann das für eine Form von Ironie halten, wenn jemand seinen Anwalt damit beauftragt, den Betreiber eines Blogs darauf hinzuweisen, dass die Behauptung, er durchsuche Blogs nach abmahnfähigen Beiträgen, abmahnfähig ist. Es ist nur nicht so witzig, so lange man davon ausgehen muss, dass das Hamburger Landgericht darüber nicht lachen kann, sondern im Zweifel einen Beweis dafür will, dass Herr Mayerbacher tatsächlich Blogs und Foren durchsucht und sie nicht vielleicht durchsuchen lässt oder, ganz ohne Suche, zufällig immer wieder auf diese abmahnfähigen Beiträge stößt. Weil ich tatsächlich nicht weiß, was Herr Mayerbacher so in seiner Freizeit macht (aktuell weiß ich nicht einmal, was er beruflich macht), habe ich den entsprechenden Kommentar gelöscht.

Der Anwalt hatte mich auch gebeten, einen Kommentar zu löschen, in dem jemand schreibt, dass Mayerbacher seinen Sitz im Verwaltungsrat des Schweizer Fernsehsenders Star TV „abgegeben hat bzw. abgeben durfte“. Die Formulierung suggeriere, Mayerbacher habe seine Verwaltungsratstätigkeit unfreiwillig aufgegeben, was unwahr sei. Das tut sie meiner Meinung nach nicht, weshalb ich den Kommentar nicht gelöscht habe. Wenn selbst eine solche Formulierung nicht erlaubt wäre, eine bloße Umschreibung des „keine Ahnung, warum der gegangen ist, ob’s freiwillig war?“ schon unzulässig wäre, könnten wir’s wirklich gleich lassen mit der Meinungsfreiheit.

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Mayerbachers Anwalt sieht in ein paar kryptischen Beiträgen tief in den Kommentarspalten dieses Blogs ein „Kesseltreiben“ gegen seinen Mandanten, das der sich nicht gefallen lassen müsse. Und er fügte den bemerkenswerten Satz hinzu: „Ich sehe auch nicht, worin der Wert für Ihren Blog liegen soll.“

Diese Leute — nicht nur dieser Anwalt oder sein Mandant, sondern viele andere — haben das elementare Prinzip der Meinungsfreiheit nicht verstanden. Sie haben nicht verstanden, dass sie ein Wert an sich ist. Dass sie auch Beiträge schützt, die nach irgendwelchen subjektiven oder objektiven Maßstäben wertlos sind. Artikel 5, Absatz 1, Satz 1 des Grundgesetzes lautet nicht: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, solange es sich um ein wichtiges Thema handelt und ein Interesse der Öffentlichkeit an dieser Meinung besteht.“

Man kann diesen Leuten das Missverständnis nicht einmal verübeln, denn die Hamburger und Berliner Gerichte, vor die sie in einer langen Karawane ziehen, um ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Ansprüche durchzusetzen, sind dem gleichen Missverständnis erlegen. Seit einigen Wochen haben sie das sogar schwarz auf weiß, formuliert vom Bundesverfassungsgericht. Es erklärte den Berliner Richtern, dass das Persönlichkeitsrecht eines Menschen

seinem Träger keinen Anspruch darauf vermittelt, öffentlich nur so dargestellt zu werden, wie es ihm selbst genehm ist (…).

Das Bundesverfassungsgericht fürchtete,

dass die Gerichte den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG grundlegend verkannt haben. Zwar handelt es sich bei dem — hier als gering erachteten — öffentlichen Informationsinteresse um einen wesentlichen Abwägungsfaktor in Fällen einer Kollision der grundrechtlich geschützten Äußerungsinteressen einerseits und der Persönlichkeitsbelange des von der Äußerung Betroffenen andererseits. Dies bedeutet aber nicht, dass die Meinungsfreiheit nur unter dem Vorbehalt des öffentlichen Interesses geschützt wäre und von dem Grundrechtsträger nur gleichsam treuhänderisch für das demokratisch verfasste Gemeinwesen ausgeübt würde.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte schließlich,

dass die Äußerung wahrer Tatsachen, zumal solcher aus dem Bereich der Sozialsphäre, regelmäßig hingenommen werden muss.

Adressat dieser Grundrechts-Nachhilfe waren formal die Berliner Gerichte, de facto aber auch Christian Schertz, der ursprünglich geklagt und zunächst gewonnen hatte. Auf der langen Liste von Dingen, die er glaubt, trotz Meinungsfreiheit nicht hinnehmen zu müssen, steht nämlich auch das wahrheitsgemäße Zitieren aus einer E-Mail, die er als Antwort auf eine bissige Presseanfrage geschrieben hatte und in der er — wie es seine Art ist — gleich wieder mit juristischen Konsequenzen drohte.

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Nun ist es eine schöne Sache, dass die obersten deutschen Gerichte der systematischen Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit durch die Hamburger und Berliner Pressekammern zunehmend widersprechen. Aber der Weg zu diesen obersten Gerichten ist weit und teuer.

Ende vergangenen Jahres hat Stephan Mayerbacher beim Hamburger Landgericht eine einstweilige Verfügung gegen mich erwirkt, die mir praktisch untersagt, eine Verbindung herzustellen zwischen ihm und Vorwürfen, die gegen bestimmte Firmen erhoben werden, für die er in verschiedenen Formen gearbeitet hat. Es bestand aufgrund eines Urteils des Bundesgerichtshofes zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ich diese Auseinandersetzung in letzter Instanz gewinnen könnte. Aber in der ersten und zweiten Instanz in Hamburg waren meine Aussichten gleich null, so dass ich auf den langen, teuren Rechtsstreit (mit natürlich ungewissem Ausgang) verzichtet, den Blogeintrag gelöscht, die einstweilige Verfügung akzeptiert und die Anwalts- und Gerichtskosten von deutlich über 2000 Euro gezahlt habe.

Am ärgerlichsten daran ist, dass das jeden Kommentar zu dem Thema in meinem Blog oder jede künftige Berichterstattung von mir über Mayerbachers Geschäfte äußerst heikel macht. Nicht ohne Grund hängt sein Anwalt an die Mails, die er mir „im Guten“ schickt, immer mal wieder das PDF mit der einstweiligen Verfügung.

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Nun gibt es sicherlich schwerwiegendere Fälle als die hier genannten, in denen irgendwelche mächtigen oder jedenfalls finanzkräftigen Gruppen oder Unternehmen versuchen, Berichterstattung über sich zu verhindern. Aber gerade die Alltäglichkeit, die Abmahnungen und einstweilige Verfügungen geworden sind, finde ich beunruhigend.

Für erstaunlich viele Menschen, Gruppen und Unternehmen scheint es ganz normaler Bestandteil des Repertoires einer Auseinandersetzung zu sein, anderen ihre Äußerungen zu verbieten. Das ist nicht nur ein juristisches Problem, sondern auch ein gesellschaftliches und kulturelles.

Ein Beispiel.

Vor kurzem beklagte sich Alexander Görlach in seinem konservativen Online-Magazin „The European“, dass der neue Chefredakteur Michael Naumann das konservative Print-Magazin „Cicero“ nach links rücken wolle. Görlach war früher selbst bei „Cicero“ und schien sehr, sehr aufgeregt über das, was da bei seinem alten Blatt passierte, das offenbar — unbemerkt von der Öffentlichkeit — bislang eines der erfolgreichsten und wichtigsten Medien der Republik war. Die „Cicero“-Mitarbeiter flüchteten massenhaft vor Naumann und seinen linken Meinungsdiktaten, hyperventilierte Görlach: „Cicero ist erledigt.“ Außerdem habe Naumann einen Dienstwagen erwartet, aber keinen bekommen, was sicher irgendwas beweisen sollte.

Naumann antwortete, dass das „alles Quatsch“ sei, sponn, dass das ein „schlechtes Licht auf den Online-Journalismus“ werfe, und widersprach auch der Sache mit dem Dienstwagen. Aber er beließ es nicht dabei. Er schickte über seinen Anwalt auch eine teure Abmahnung. Der „Berliner Zeitung“ erklärte er: „Geht man gegen solche Artikel nicht juristisch vor, bleiben sie ewig an einem hängen.“

Was für ein Irrsinn. Der Artikel auf „The European“ ist zwar jetzt gelöscht. Aber die Zitate aus ihm in den Fachmedien wirken nun viel überzeugender als in ihrem ursprünglichen, von merkwürdiger persönlicher Gekränktheit durchweichten Gesamttext. Glaubt Naumann wirklich, dass die Menschen nun seiner Version der Dinge glauben, weil Görlach eine Unterlassungserklärung unterzeichnet hat? Hat Görlach das getan, weil er eingesehen hat, dass Fakten falsch waren, oder doch nur, weil er eine noch kostspieligere Auseinandersetzung vor Gericht vermeiden wollte?

Naumann glaubt womöglich, dass er den Anwalt einschalten musste, um zu beweisen, dass die Behauptungen wirklich falsch sind. Als würden Anwälte nicht gerade dann gerne eingeschaltet, wenn Behauptungen wahr sind.

Vielleicht wollte er aber auch nur das gute Gefühl haben, jemandem gezeigt zu haben, wo der Hammer hängt. Das ist als psychologisches Moment sicher nicht zu unterschätzen, diese Genugtuung, dass jemand einem schwarz auf weiß gibt, etwas nicht mehr behaupten zu wollen — und dafür sogar Geld zahlen muss.

Zu einer gerichtlichen Entscheidung kam es in diesem Fall gar nicht mehr, weil Görlach die geforderte Unterlassungserklärung abgab. Aber auch die hätte vermutlich keine Klarheit in der Sache gebracht. Natürlich lässt sich so eine einstweilige Verfügung gut verkaufen. Und womöglich gibt es sogar noch zwei, drei Ahnungslose, die glauben, einer solchen Entscheidung läge eine Art Beweisaufnahme zugrunde, in der die Richter gründlich prüfen, womöglich noch Zeugen anhören und dann quasi ein fundiertes, offizielles Urteil darüber abgeben, welche Version der Wahrheit die richtige ist. (So ist es nicht.)

Es ist traurig, das einem alternden Publizisten wie Naumann erklären zu müssen, aber es gibt etwas, das viel überzeugender ist als die (Fehl-)Urteile komischer Richter: Argumente.

Mir will nicht in den Kopf, warum ausgerechnet Journalisten und Medien, die selbst beste Möglichkeiten haben, ihre Widersprüche zur Darstellung anderer zu veröffentlichen, falsche Tatsachenbehauptungen gerade zu rücken und ungerechtfertigte Unterstellungen zu entkräften, glauben, sie müssten zu einem Gericht rennen. Selbst ein Henryk M. Broder, der ein gewaltiges Arsenal sprachlicher Waffen und Knallkörper zur Verfügung hat und auf sein Recht pocht, davon ohne Rücksicht auf Verluste Gebrauch zu machen, hat keine Hemmungen, anderen mit Hilfe von Anwälten und Richtern den Mund verbieten zu wollen.

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Angenommen, jemand schreibt, „der Niggemeier ist schlimmer als Hitler“. Bestimmt müsste ich das nicht hinnehmen. Aber warum sollte ich dagegen vorgehen? Spricht angesichts eines solchen Vergleichs nicht alles dafür, darauf zu vertrauen, dass auch andere Leute ihn für abwegig halten — und der Vergleich nicht mir schadet, sondern demjenigen, der ihn macht?

Wenn es völlig abwegig ist, die Anwälte Schertz und Gravenreuth miteinander zu vergleichen, muss Schertz nicht dagegen vorgehen. Dadurch, dass er es doch tut, demonstriert er paradoxerweise nicht nur seine Macht, sondern auch fehlendes Selbstbewusstsein. Er könnte den Vergleich sonst einfach aushalten. Oder glaubt er ernsthaft, dass er, sobald er erfolgreich jeden dieser Vergleiche aus dem Internet geklagt hat, von niemandem mehr für so ähnlich wie Gravenreuth gehalten wird? Dass sich Meinungen genauso verbieten lassen wie Meinungsäußerungen? (Ganz abgesehen natürlich von dem schönen Paradoxon, dass er mit jeder dieser Klagen dem Mann ähnlicher scheint, dem er nicht ähnlich sein will.)

Was genau hat sich jemand wie der DFB-Chef Theo Zwanziger davon erhofft, Jens Weinreich zu verklagen, weil der ihn in einem konkreten Zusammenhang als „Demagogen“ bezeichnet hat? Glaubt er, dass seine Kritiker ihn nicht mehr für einen „Demagogen“ halten würden, wenn er ihnen verbietet, ihn öffentlich so zu nennen?

Natürlich schadet es einer Debatte, wenn sie Grenzen überschreitet, wenn Beleidigungen oder Verleumdungen überhand nehmen. Aber im Moment sehe ich unser Diskussionskultur nicht von den Auswüchsen falsch verstandener Meinungsfreiheit bedroht, sondern von den Exzessen einer ausartenden Abmahnunkultur. Im Zweifel ist mir eine Welt lieber, in der zuviel herumkrakeelt wird, als eine, in der jeder damit rechnen muss, dass ihn jedes falsche Wort (und viele wahre) viel Geld kostet.

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Natürlich gibt es Fälle, in denen es legitim ist oder sogar notwendig sein kann, Veröffentlichungen verbieten zu lassen (und es haben nicht einmal alle dieser Fälle mit der „Bild“-Zeitung zu tun). Aber müsste das in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht das letzte Mittel sein? Eine drastische Maßnahme für besonders drastische Fälle — anstatt ein Routinewerkzeug in jeder Auseinandersetzung? Es ist völlig das Bewusstsein dafür abhanden gekommen, was für ein einschneidender Schritt das ist: jemandem zu verbieten, etwas zu sagen.

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Vielleicht ist das bei Leuten wie Christian Schertz auch eine berufliche Deformation. Der Anwalt käme gar nicht mehr auf den Gedanken, dass er einer falschen oder irreführenden Aussage einfach widersprechen und damit Menschen überzeugen könnte. Er lässt sie löschen. Sie muss verschwinden, als hätte es sie nie gegeben.

Es geht diesen Leuten nicht mehr darum, sich Gehör zu verschaffen. Es geht ihnen darum, die anderen zum Schweigen zu bringen.

Das ist eine nachvollziehbare Vorgehensweise bei dubiosen Geschäftemachern, deren Abzockmodelle von jeder öffentlichen Debatte über ihre Hintergründe und Funktionsweisen bedroht sind. Für alle anderen müsste sie sich verbieten.

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Durch den Gang zum Anwalt und zum Gericht wird aus einer Auseinandersetzung um Wahrheit zu einer, in der regelmäßig nicht derjenige gewinnt, der Recht hat, sondern der sich die Auseinandersetzung leisten kann. Der Mächtige gewinnt.

Mich hätte sehr interessiert, wie Springer oder die „Welt“ ihre Abmahnung gegen BILDblog neulich öffentlich begründet hätten. Der Kampf um die Wahrheit oder das Recht auf eine korrekte Darstellung kann es ja nicht sein, dafür hätte es ein Anruf oder eine E-Mail getan. Natürlich war das eine reine Machtdemonstration.

Und so wunderbar es ist, dass unsere Leser uns in einem solchen Maß unterstützt haben, dass uns auch vor weiteren Machtdemonstrationen erst einmal nicht bange sein muss, und so sehr ich mich freue, dass auch Stefan Aigner von regensburg-digital.de für seinen Kampf gegen das Bistum Regensburg viele Tausend Euro bekommen hat — das kann es doch auf Dauer nicht sein, dass die Blogger und ihre Fans und Leser diesen Wahn auch noch selbst finanzieren.

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Dieser Text hat keinen Schluss. Das liegt daran, dass er in den nächsten Tagen weiter geht.