„Unser Star für Oslo“: Der merkwürdig unbefriedigende Sieg der Lena Meyer-Landrut

Was für ein merkwürdiger Abend. Und am Ende hätte ich nicht mehr für die Frau abgestimmt, die mich – und offenbar so viele andere – von der ersten Sekunde an mit ihrem eigenwilligen Charme begeistert hatte.

Lena Meyer-Landrut vertritt Deutschland beim „Eurovision Song Contest“ Ende Mai in Oslo. Aber sie singt dort einen Titel, der ganz offenkundig nicht ihr Lieblingstitel war. Und der von allen, die sie im Laufe dieser Wochen des Vorentscheids gesungen hat – die ganzen Cover-Versionen eingeschlossen, die sie zu ihren Liedern gemacht hat -, am wenigsten lenaesk war.

Der Verlauf der Show wurde von einem merkwürdigen Auswahlmodus geprägt: Die beiden Finalistinnen sangen jeweils drei Titel, zwei gleiche und einen individuellen, und zunächst bestimmte das Publikum per Telefonabstimmung den jeweiligen Song zur Kandidatin.

Und der Abend begann mit einer großen Enttäuschung. Die ersten Lieder, die die beiden präsentierten, waren so unscheinbar und beliebig, dass der ganze Aufwand der wochenlangen Vorauswahl rückblickend wie Zeitverschwendung schien. „Satellite“ in der Version von Jennifer Braun schaffte sogar das Kunststück, gleichzeitig belanglos und nervig zu sein.

Aber dann kamen die jeweils dritten Titel, die eigens für jeweils eine der beiden Sängerinnen komponiert worden waren, und plötzlich schien es, als wären die anderen Stücke nur Zählkandidaten gewesen: Jennifer Braun zeigte mit „I Care For You“, einer Mischung aus den New Radicals und „September“ von Earth Wind & Fire, wie viel Kraft ihre Stimme hat. Und Lena Meyer-Landrut lachte und tanzte sich begeistert durch eine verspielte und unglaublich gut gelaunte Popnummer, die ihr Stefan Raab als Komponist selbst maßgeschneidert hatte. (Der Text ist von Lena Meyer-Landrut selbst.)

Und dann geschah das Erstaunliche: Das Publikum wählte für Lena knapp einen anderen Song, nämlich ihre (schnellere) Version des merkwürdigen „Satellite“. Man schien ihr ihre Enttäuschung ansehen zu können, als dieses Votum feststand, bevor sie sich fasste und auf professionell umschaltete – während Jennifer sich hemmungslos freute, dass in ihrem Fall ihr Lieblingstitel gewonnen hatte.

Nun schien alles offen. Jennifer, gerne als uncharismatische Straßenfestsängerin verspottet, legte in ihren letzten Auftritt noch einmal ihre unbändige Energie und ihr beeindruckendes sängerisches Können – damit hatte sie schon im Halbfinale überraschend die eigentlich favorisierten Kerstin Freking und Christian Durstewitz verdient abgehängt. Und Lena sah plötzlich vergleichsweise schlecht aus, müde und angestrengt, und es war schwer, sich noch an die unfassbare Unbeschwertheit ihrer früheren Präsentationen zu erinnern, mit der sie so viele Menschen für sich erobert hatte.

Vor der Sendung schien die Rollenverteilung klar: Jennifer ist gut. Aber Lena ist etwas Besonderes. Doch diese Nummer, die das Publikum gewählt hatte, nahm Lena das Besondere. Im Internet kamen gleich Verschwörungstheorien auf: Ob Jennifer-Fans wohl extra den schwächeren Lena-Titel gewählt hätten, um Jennifers Chancen in der letzten Abstimmung zu erhöhen. Dagegen spricht, dass sich auch das Saalpublikum hörbar für „Satellite“ begeisterte. Ehrlich gesagt: Ich kann mir das nicht erklären.

Das Experiment „Unser Star für Oslo“ war ein Erfolg. Für die ARD, für ProSieben, für Raab, für die jungen Kandidaten, die mit ihren Talenten glänzen durften, für das Publikum, das darüber staunen durfte, wo diese ganzen jungen Leute plötzlich herkommen, die sich einfach auf so eine Bühne stellen und – teilweise mit ihren eigenen Liedern – wie selbstverständlich den Saal rockten, und für das Fernsehen an sich. Weil nebenbei der Beweis erbracht wurde, dass eine Casting-Show, die nicht auf die niedersten Instinkte der Zuschauer setzt, zwar auf Quotenrekorde verzichten muss, aber nicht auf ein treues Publikum.

Aber falls die Zusammenarbeit im nächsten Jahr eine Fortsetzung findet, werden sich die Verantwortlichen etwas ausdenken müssen, wie sie der öffentlichen Suche nach den besten Kandidaten eine angemessene Suche nach dem besten Titel entgegensetzt. Wenn es möglich ist, eine junge Frau zu finden, die innerhalb von Sekunden die Zuschauer bezaubert, muss es doch auch möglich sein, einen Song zu finden, dem das gelingt!

Bei mir jedenfalls blieb ein womöglich kindisches und ungerechtes Gefühl der Enttäuschung zurück, dass die außergewöhnliche Lena sich nun mit einem so durchschnittlichen Song nach Oslo schleppen muss. Kurz vor Schluss hatte ich dann doch auf Jennifer gehofft, deren Song vielleicht konventionell, aber unmittelbar eingängig war und ihr wie angegossen passte.

(Aber allen, die jetzt schon zu wissen glauben, dass „wir“ mit dieser Nummer eh nichts gewinnen werden in Oslo, sei gesagt, dass, erstens, die Konkurrenz in diesem Jahr ganz außerordentlich gruselig ist und, zweitens, der Reiz dieses Spektakels gerade darin besteht, dass solche Prognosen erwiesenermaßen fast unmöglich sind.)

Und am Ende, als Lena fast verzweifelt war, weil sie den Titel noch einmal singen musste und es sie zwischendurch kaum noch auf den Beinen hielt und sie schrie und ihren ganzen verwirrten Gefühlen schreiend und fluchend freien Lauf ließ, auf diese bezaubernde Lena-Art, da war ich dann doch wieder fast versöhnt mit diesem merkwürdigen Abend.

Wo man swingt, da lass dich ruhig nieder

Doch, es gibt sie: Beispiele für Online-Journalismus, der aus dem alltäglichen Einerlei herausragt. Der sich nicht mit dem üblichen Mittelmaß begnügt. Der von einem Ehrgeiz getrieben ist.

Andere hätten sich vermutlich damit zufrieden gegeben, eine Schleichwerbegeschichte für einen Swingerclub in Form einer 96-teiligen Klickstrecke aufzubereiten. Nicht die Münchner Boulevardzeitung „tz“. Sie hat nicht eher geruht, bis ihre 96-teilige Schleichwerbesexbildergeschichte auch auf sprachlicher, typographischer, fotografischer, interpunktioneller, logischer und inhaltlicher Ebene Maßstäbe setzte — bis hin zur Art, die Gesichter unkenntlich zu machen.

Hier ein winziger Ausschnitt aus dem Werk:

















Ja. Und ich weiß nicht einmal, ob dieser Klickstrecke gewordene Unfall nicht womöglich in perfekter Weise die Kultur der Szene widerspiegelt, für die er wirbt: Deren Mitglieder bei aller Bereitschaft, ihre Frauen auf Sesseln mit waschbaren Bezügen von fünf bis zehn Männern gleichzeitig penetrieren zu lassen, doch eine klare Grenze dort ziehen, wo es um das Ausschreiben des Wortes „ficken“ geht.

(Das hat hier schon seit ein paar Wochen darauf gewartet, gebloggt zu werden, während ich nach einer besonders lustigen Idee suchte, dieses Stück zu würdigen, die aber nie vorbeikam. Womöglich entzieht es sich in seiner umfassenden Schrecklichkeit jedem komödiantischen Zugang. Immerhin gibt es dank der zeitweise daneben platzierten Werbung eine Bonuspointe:)

Hoffentlich verfrühter Nachruf: „Altpapier“

Verdammt: Jetzt habe ich so lange damit gewartet, eine Eloge auf das „Altpapier“ zu schreiben, dass es ein Nachruf wird. Heute erscheint die Medienkolumne — zumindest vorläufig — zum letzten Mal. Und das ist ein Verlust.

Vermutlich darf man sich nicht grämen. Es ist ein kleines Wunder, dass sie überhaupt neuneinhalb Jahre überlebt hat (und Onlinejahre sind bestimmt Hundejahre), wenn man bedenkt, wie überschaubar ihre Zielgruppe war: Medienjournalisten und Menschen, die sich für Medienjournalismus interessierten. Das „Altpapier“ sichtete täglich die Medienseiten des Tages und flocht daraus einen kommentierenden Überblick.

Nun könnte man sagen, dass der Bedarf daran heute mehr als gedeckt wird. Durch Angebote wie „turi2“, wo zweimal täglich längere Linklisten zu Medienartikeln veröffentlicht werden, oder „Meedia“, wo interessante Medienartikel anderer Seiten abgeschrieben und mit eigenen Fehlern angereichert werden.

Aber das „Altpapier“ war anders, speziell. Es funktionierte zwar als Service-Rubrik, aber es war im besten Sinne feuilletonistisch. Es lebte vor allem davon, Zusammenhänge herzustellen. Es verknüpfte Themen, die scheinbar (und oft auch tatsächlich) nichts miteinander zu tun hatten. Und es fand auch Verbindungen, die einer aktuellen Nachrichten einen klugen, überraschenden oder schlicht essentiellen Kontext gaben. An guten Tagen zeichnete das „Altpapier“ zweierlei aus: Die Lust am Schnörkel, am überraschenden gedanklichen oder sprachlichen Umweg. Und eine große Aufmerksamkeit in Verbindung mit einem guten Gedächtnis.

Als der „Spiegel“ gestern vermeldete, dass die Schweinegrippe doch nicht so schlimm war wie gedacht, und mit einer „Chronik einer Hysterie“ auch einen Rückzieher in eigener Sache machte, da zollte ihm „Altpapier“-Sortierer Klaus Raab zwar Respekt für diesen Rückzieher, aber nicht ohne mit gerechtem Zorn auf das Ausmaß der Desinformation durch das „Nachrichtenmagazin“ hinzuweisen:

Trotzdem ist der panne Aufmacher, der 2009 auf dem Höhepunkt der Panik an die Kioske kam, jeden Rückzieher wert. „Die neue Grippe aus Übersee scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein“, hieß es damals. Dann waberte eine böse Vorahnung durch den Artikel, um nach zehn Seiten (!) zu enden: „die normale Grippe erscheint bis auf weiteres noch als das größere Gesundheitsproblem“ (siehe auch Altpapier von damals). Was bedeutet: Die Redaktion wusste auch damals schon, dass sie übertreibt. Das wiederum steht in der aktuellen Chronik nicht.

Da steht nur ein Absatz zur Maßlosigkeit der Medien: „Auch die Medien befördern die Angst.“ Wachgehalten habe diese Angst aber vor allem die Pharmaindustrie. Wäre es, nur mal so ne Frage, nicht die Aufgabe von Journalisten gewesen, nicht eins zu eins darauf hereinzufallen? Wenn jedenfalls mal wieder jemand ein Beispiel für virales Marketing sucht: Der Fall Schweinegrippe ist ideal, die Pharmaindustrie hat ganze Arbeit geleistet.

Trotzdem: Danke für die Korrektur, Spiegel. Und bis zum nächsten Panik-Titel!

Manchmal waren es nur Kleinigkeiten, wie nach der ersten „Kerner“-Sendung auf Sat.1, als der diensthabende „Altpapier“-Schreiber Christian Bartels über folgende Formulierung von Medienredakteur Christopher Keil in der gedruckten „Süddeutschen Zeitung“ stolperte:

„Dass er jemals ’schlaksig‘ gewesen sein soll, wie nun geschrieben wurde nach seiner ersten Sendung als erster Journalist bei Sat.1 am Montagabend dieser Woche, ist wirklich falsch. Das würde selbst Kerner niemals behaupten, der in Hamburg beim Joggen um die Alster oft genug am mobilen Telefon erreichbar ist. Auch in besserer körperlicher Verfassung ist er eher das Gegenteil von schlaksig…“

Bartels fügte hinzu:

Und wo zum Teufel stand, dass Kerner einmal „schlaksig“ gewesen sei? In der gestern um 7.34 Uhr veröffentlichten sueddeutsche.de-Kritik war es.

Nun kann man daraus vielleicht Rückschlüsse ziehen auf das Klima zwischen Print- und Online-Medien-Redaktion bei der „SZ“, man kann es auch lassen: Aber diese Lust, Verbindungen aufzuzeigen, allein aufgrund des veröffentlichten Materials und ganz ohne per Anruf auf „mobilen Telefonen“ gewonnene Insider-Kenntnisse, die hat das „Altpapier“ ausgezeichnet. Und die fehlt bei den Online-Aggregatoren, die im Zweifel nicht einmal merken, dass eine scheinbare Neuigkeit alt ist und denen die Fachkenntnis oft so sehr fehlt wie die Lust am Formulieren. Das „Altpapier“ war bissig und klug, böse und subtil, entspannt und überlegen.

Erfunden wurde die bis heute im wesentlichen unveränderte Form des „Altpapiers“ zum Start der „Netzeitung“ von einem gewissen Christoph Schultheis. Ich glaube, dass wir uns darüber auch kennen gelernt haben: Ich habe ihm irgendwann eine empörte Mail über eine total ungerechte Formulierung im „Altpapier“ geschrieben. (Der klassische Beginn einer wunderbaren Freundschaft.) Die Überschneidungen mit BILDblog sind noch größer: Auch Peer Schader und Heiko Dilk waren „Altpapier“-Autoren.

Die Deppen von DuMont Schauberg, denen die „Netzeitung“ vor kurzem in die Hände fiel, haben es geschafft, bei deren Abwicklung weite Teile des „Altpapier“-Archivs, das ein einzigartiges medienjournalistisches Dokument dargestellt hätte, zu löschen oder unbrauchbar zu machen. Immerhin lässt sich im Google-Cache noch eines der ersten „Altpapiere“ finden. (Und ein Rudiment des „Geschenkpapiers“ ist noch da, das ich in einer Reihe mit anderen Medienjournalisten zum ersten Geburtstag der Kolumne schreiben durfte.)

Vor einem Jahr fand die Kolumne ein neues Zuhause auf der niederländischen Nachrichtenseite dnews.de. Die Autoren Katrin Schuster, Christian Bartels, Matthias Dell und Klaus Raab brachten die Rubrik in dieser etwas unwirklichen Umgebung immer wieder zum Glänzen. Doch dass sich das in Klicks auszahlen würde, damit war nie zu rechnen, und ein eventueller Imagegewinn wäre vermutlich auch nicht messbar: Jedenfalls ist das heutige „Altpapier“ das letzte, das auf dnews.de erscheint. Die Zukunft ist ungewiss, aber immerhin scheint nicht ganz ausgeschlossen, dass diese schöne Medienkolumne, die jeden „Perlentaucher“ alt aussehen lässt, noch einmal eine neue Heimat findet.

Interessierte Investoren und Verleger können sich unter [email protected] melden. Mein Dank wäre ihnen gewiss.

A Commentary Lapse of Reason

Ein Gastkommentar von Alberto Green

(Für alle, die in diesem Blog nur die Beiträge und nicht das darunter lesen: Alberto Green ist einer der ausdauerndsten und sympathischsten Kommentierer hier. In den vergangenen gut zweieinhalb Jahren hat er 735 Kommentare abgegeben. Ich fand, es war Zeit, ihn mal nach hier oben zu holen. Dies ist sein Bericht über das Leben in der Kommentarspalte.)

Als Stefan im Dezember sagte: „Mensch Grüni, du bist doch auch so ein lustigen Typen. Schreib doch mal was über dein Leben als lustigen Typen“, sagte ich: „Ach? OK.“ Ich rieb mir die Hände vor Vorfreude, schnappte mein MacBook und legte sofort los.



So der Stand Mitte Januar. Mir fiel nichts ein. Ich wollte unbedingt den Parmesan erfinden und dabei witzig sein. Aber niemand mag witzige Erfinder von Käsesorten, die es schon längst gibt. Also ließ ich den Parmesan weg und beschloss, nichts von den unglaublichen Vorteilen des Internets zu schreiben. Auch die Chancen der gesellschaftlichen Kommunikation und Meinungsbildung ließ ich weg; hat Stefan ja alles schon gemacht.

Also witzig sein. OK.



Einige Tumbleweeds und zirpende Grillen später musste ich mich wohl oder übel von meiner (hustet) Kernkompetenz verabschieden.

Ich wurde auf Stefans Blog aufmerksam, wie man eben auf Blogs aufmerksam wird: Ein Kumpel rief mich an und sagte im Verlauf des Telefonats: „Der Bildblog-Typ hat jetzt einen eigenen Blog.“ Und ich so: „Aha. Heißt das nicht DAS Blog?“

Ich las und fand Stefans Schreibe toll: Man lernte etwas und wurde trotzdem gut unterhalten. Aber im Gegensatz zum Bildblog konnte man hier selbst klug und lustig sein und was drunter schreiben und dem Hausherrn so den Grimme-Preis verschaffen. Also genau mein Ding (zwinkert)! Nach ein paar Artikeln traute ich mich auch mal etwas zu sagen und begab mich auf die Suche nach einem Pseudonym. Tagelang irrte ich umher, um ein passendes oder zumindest lustiges zu finden. Als ich in den Kofferraum meines Autos schaute, sprang es mich förmlich an: „Karl-Heinz Kummerbund, Kofferraummessi 919 eV.“ — Zum Glück fand ich noch in derselben Minute die Spraydose Autolack der Farbe Alberto Grün. Die Geburt eines Blogkommentators! (Hier bitte nicht Richard Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“-Gedröhne, sondern den „Sonnenaufgang“ aus seiner Alpensinfonie mitsingen).

„Was ist denn das, ein Blogkommentator? Das klingt wie ein Beruf.“ — Selbstverständlich ist es eine Berufung, die man nur mit viel Hingabe und Fleiß erfüllen kann. Soziale Kontakte sind tabu, eiserne Disziplin dringend erforderlich. Ich habe erwachsene Männer weinen sehen, als sie an der Aufgabe, einen vernünftigen Kommentar zu posten, zerbrochen sind. Wir reden hier nicht über die amerikanischen „First!“, „You look gay!“, „Fake!“-Würstchen. Wir reden von einer Spezialeinheit von echten Typen. Schrot und Korn.



Mitte/Ende Februar: Nach meinem Aufenthalt in der Klinik bin ich so weit, dass ich (wieder) über meinen Alltag sprechen kann: Ich stehe morgens auf, gehe zur Arbeit und dann gucke ich, wer so alles kommentiert hat (Per Hand, das Emailabo treibt mich in den Wahnsinn!). Kommentare lese und schreibe ich nicht überall. Manchmal hinterlasse ich was beim Felix Schwenzel, coffeeandtv oder auf Spreeblick. Aber so richtig wichtig ist mir die Kommentarspalte nur bei Stefan. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nicht, warum so viele hier kommentieren. Ist diese nach unten offene Kommentarspalte eine Art frisch gestrichener Uniklowand? Vermutlich ja, denn auf manchen Klos sitze ich sehr gerne, sehr lange und lese … Ach, ich höre, gerade das interessiert gerade nicht. Gut.

Merkwürdigerweise sind mir die Namen wichtig. Ich schaue nicht, was geschrieben wurde, sondern wer etwas geschrieben hat. Einige hier habe ich ins Herz geschlossen. Ich würde gerne alle mit Namen nennen, aber ich habe zu viel Angst jemanden zu vergessen (ok. SvenR, Ommelbommel, Sebastian S., Olly, Thomas L, nona, der großartige polyphem und äh … siehste, jetzt gehen mir schon die Namen aus. Verdammt.) Sehr oft gucke ich auch nach Namen, von denen ich weiß, dass sie etwas geschrieben haben, das mich auf die Palme bringt und das meistens in viel zu langen Beiträgen mit viel zu langen Sätzen tun, die nie ein Ende finden, weil sie viel zu viele Nebensätze, von denen sie nie genug zu bekommen scheinen, enthalten, was ihre Position natürlich schwächt, weil keiner nach „Palme“ weiterliest. Dummerweise führt das dazu, dass man meistens dasselbe nur in anders lange Sätze fasst. Mit der Ausnahme, dass man den Kommentar, den man nicht zu Ende gelesen hat, scharf dafür angreift, dasselbe gesagt zu haben.

Obwohl ich das Gefühl habe (und als mit dem Alter zu kokettieren beginnender Mittdreißiger hat man das Gefühl ständig), dass es nicht mehr wie früher ist, weil kein Dujardin und kein Metigel mehr getrunken, bzw. –gessen wird, glaube ich dennoch, dass diese Kommentarspalte hier etwas Besonderes ist. Natürlich geht mir täglich die Galle hoch und ich schreibe etwas Geiferndes über die Blöd-, Stur-, und Doofheit von Kommentatoren, die irgendwas blödes, stures oder doofes geschrieben haben. 98% meiner Kommentare lösche ich aber vorher, weil sie blöd, stur oder doof sind. Wie oft habe ich schon gebetet, dass Stefan endlich den Quatsch zumacht, weil nur noch Mist reingeschüttet wird! Wie oft habe ich mich über geärgert, als Mob bezeichnet zu werden und mit einem „ihr“ angeredet zu werden, zu dem es kein „wir“ gibt (Herr Gürtler, immer wenn Sie hier einen Kommentar posten, gehören Sie dazu! Ätsch!)!

Und trotzdem: Unabhängig von der Qualität von Stefans Beiträgen, die ich als Claqueur und niggi-Fanboy ja vertraglich hoch schätzen muss, beeinflusst diese nach unten offene Kommentarspalte mein Denken, weitet meinen Horizont, trainiert meine Nerven, baut Aggressionen auf und ab, ja: bereichert mich. Irgendwie. Vermutlich liegt es daran, dass es eben nicht DIE Kommentarspalte gibt (ja gut, rein technisch schon). Es gibt ihn nicht, den Blogkommentator. Es ist kein Beruf oder keine Berufung, wie der Blogger oder der Lastewagenfahrer. Er ist eher so was wie ein Nasebohrer, Broteinkäufer, Inhundescheißetreter: Es gibt nur einen Haufen Individuen, die sich hier auf ein und dieselbe Art verwirklichen wollen und daran eigentlich scheitern. Der einzige Gewinn ist ein: „@ Alberto Green, Full ACK!“ Oder ein „LOL“. Wirklich etwas zu einem Thema beitragen oder die eigene Meinung durchsetzen kann man nur selten. Aber dieses individuelle Scheitern bewirkt etwas, weil der Wert der Kommentarspalte nämlich erst in der Gesamtheit deutlich wird: 340 Deppen sagen etwas jeweils Bescheuertes und keifen sich an, aber am Ende ist man trotzdem klüger. Irgendwie. Und dafür danke ich euch allen!

 

Aufgabe:

1) Lies dir diesen Artikel aufmerksam durch und notiere kurz die Kernthesen.
2) Ordne diese Kernthesen in den dir bekannten Kontext „Die Gesellschaft im Internet“ ein. Mache Vorschläge, warum hier so viele so ausdauernd kommentieren.
3) Wie bewertet der Autor die Partizipationsmöglichkeiten, die durch das Internet und speziell durch das Blog von Stefan Niggemeier geschaffen wurden? Wie ist deine eigene Meinung? Formuliere dabei knapp und präzise, damit deine Mitkommentatoren ebenso knapp und präzise darauf antworten können.
4) Vergiss den Scheiß und reg dich über „MacBook“ und die Politik eines Konzerns auf, der nur doofe Modeprodukte hervorbringt.

Kurz verlinkt (48)

(…) Ich bin der Sohn eines Griechen, der während der Militärdiktatur nach Deutschland emigriert ist, und nach dem Ende der Junta in den griechischen Staatsdienst gegangen ist, weil er gelernt hat, dass Demokratie etwas ist, das man sich jeden Tag erarbeiten muss. Und ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen getroffen, der auch nur annähernd so viel arbeitet wie mein Vater. Heute liest er offene Briefe in der Bild-Zeitung, im Stern und wo nicht noch alles, in denen Journalisten Deutschland zur reichen Tante fantasieren, die jetzt aber streng mit ihrem frechen Neffen sein muss, weil der so unverantwortlich mit ihrem Geld herumwirft. Ich bin selbst Journalist und ich schäme mich, wenn ich daran denke, dass mein Vater das liest. (…)

Ich kann die Verachtung nicht in Worte fassen, die ich für die Kollegen mit ihren offenen Briefen empfinde, die sich ohne jede Recherche einen demütigenden Witz nach dem anderen aus den Fingern gesaugt haben, die sehenden Auges Vorurteile bis hin zum rassistischen Hass geschürt haben und die dabei nichts erreicht haben als den Zockern in den entsprechenden Investmentbanken noch ein bisschen in die Hände zu spielen. (…)

Bitte lesen Sie diesen Text von Michalis Pantelouris.

Käßmann

Das Gute an der Sache war, dass man endlich einmal erfuhr, wie das eigentlich aussieht, was Frau Käßmann da überfahren hatte: eine „rote“ „Ampel“. Der Fernsehsender n-tv hatte Filmaufnahmen von mehreren Exemplaren aufgetan und zeigte sie viele Dutzend Mal in einer Dauerschleife, zusammen mit Archivbildern von Autos, Polizisten, anderen Autos, anderen Polizisten und einer Szene, bei der jemand der Bischöfin ein Glas Wasser eingießt. Aufgrund einer Panne konnte n-tv am Mittwoch nicht live die Rücktritts-Pressekonferenz übertragen. Also schaltete der Sender nach Berlin statt nach Hannover und ließ dort Heiner Bremer in seiner gewohnt rostigen Art spekulieren, was Käßman wohl „gleich in der Pressekonferenz“ tun wird, die längst auf N24 und Phoenix lief.

Nun erweckt der Rumpelsender schon an guten Tagen den Eindruck, man hätte vielleicht ein halbwegs ordentliches Nachrichtenprogramm machen können, wenn bloß nicht dauernd die Nachrichten dazwischen gekommen wäre. Dieses endlose Nichts aber hatte selbst für n-tv-Verhältnisse eine eigene Qualität. Bremer mutmaßte hinter dem Rücktritt einen Racheakt von Scheidungsgegnern in der Kirche und meinte, Käßmann hätte als Alkoholsünderin „glaubwürdiger vor Alkohol warnen können“. Moderatorin Petra Schwarzenberg analysierte ähnlich steil: „Der Schuss ist nach hinten losgegangen: Sie wollte Reue zeigen, und gleichzeitig bedauern jetzt alle den Verlust.“ Expertenimitator Jo Groebel erklärte, es sei „von außen ganz schwer zu beurteilen“, ob der Rücktritt notwendig war, aber „wir werden’s ja gleich hören“, und man könne gar nicht spekulieren, wer Käßmann jetzt folgen werde, aber: „Wahrscheinlich eine moderatere Persönlichkeit.“ Der n-tv-Internetreporter berichtete, dass es bei Twitter unterschiedliche Meinungen zum Thema gebe.

Nach zwanzig Minuten, in denen die Moderatorin um ebenso viele Jahre gealtert war, stand endlich die Leitung nach Hannover. Der Reporter berichtete live aus dem Raum, in dem Käßmann gerade ihren Rücktritt erläutert hatte, ihre Stimme sei „brüchig“ gewesen. Petra Schwarzenberger sagte dann zu ihm: „Sie haben ja sicher schon Reaktionen der Bürger in Hannover eingefangen, bevor die Mitteilung bekannt war.“ Und er erwiderte: „Die Reaktionen davor werden genau so sein wie sie jetzt auch sein werden: gespalten“. Es war wieder Alltag eingekehrt bei n-tv.







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