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Verschwundene Maddie: Spekulieren, um Aufmerksamkeit zu bekommen

2007 verschwand die dreijährige Madeleine McCann aus einem Hotelzimmer in Portugal. Der Fall sorgte damals für großes Aufsehen. Medien berichteten weltweit darüber. Maddies britische Eltern nutzten die Öffentlichkeit, um nach ihrer Tochter zu suchen und wurden zwischenzeitlich auch selbst verdächtigt, etwas mit deren Verschwinden zu tun zu haben. Und Maddie – ist bis heute nicht aufgetaucht.

Journalisten stürzen sich deshalb gerne auf jeden Hinweis, wo Maddie sein könnte. Und wenn der Hinweis noch so abwegig ist. Die HNA meldet heute:

Screenshot HNA.de 28.7.2015

Wer das liest, könnte zunächst denken, dass es sich bei der Leiche im Koffer um Maddie handelt – und dann auf den Artikel klicken. In der dpa-Meldung unter der HNA-Überschrift erfahren die HNA-Leser dann:

Die Polizei in Australien geht der Nachrichtenagentur PA zufolge nicht davon aus, dass es die Leiche von Madeleine McCann sein könnte.

Sie geht nicht davon aus. Weil es höchst unwahrscheinlich ist. Maddie verschwand in Portugal; die Leiche wurde nun gut 17.000 Kilometer entfernt gefunden – in Australien. Weil das tote Mädchen zwischen zwei und vier Jahren alt gewesen sein soll, auch blond und weil es vermutlich 2007 starb, also im Jahr, in dem Maddie verschwand, hat sich die britische Polizei, die in dem Fall ermittelt, an die Kollegen in Australien gewendet. Ist ja klar. Die gehen jeder Spur nach, sicherheitshalber.

Aber mal abgesehen von der Frage, wie Maddie von Portugal nach Australien gekommen sein soll, sagt die Polizei, dass neben der Leiche andere Kleidung lag als jene, die Maddie zuletzt trug. Und weiter heißt es, wie der „Guardian“ schreibt:

Australian police commissioner Grant Stevens told a parliamentary committee hearing: „There is absolutely no evidence at this point in time that the child is Madeleine McCann … to suggest something like that at this point in time would purely be speculating to get attention.“

Spekulieren, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Oder eben: Klicks, Leser. An einem Punkt, an dem es eher unwahrscheinlich ist, dass es Maddies Leiche ist. Möglich, aber unwahrscheinlich. Doch eine Möglich-aber-unwahrscheinlich-Überschrift bringt nicht so viel Aufmerksamkeit. Die mit dem Alibi-Fragezeichen hingegen… Und dann noch ein Foto von der blonden Maddie drunter… Läuft.

Screenshot Bild.de 28.7.2015(Bild)

Screenshot Focus.de 28.7.2015(Focus Online)

Screenshot news.de 28.7.2015(news.de)

Screenshot krone.at 28.7.2015(krone.at)

Screenshot abendzeitung-muenchen.de 28.7.2015(Abendzeitung)

Die „Huffington Post“ zieht’s nach Kassel, Germany

Die nächste documenta ist ja erst im Jahr 2017, aber lassen Sie uns trotzdem kurz über Kassel sprechen. Vorigen Donnerstag, um 15:12 Uhr, vermeldete die „Hessische/Niedersächsische Allgemeine“ dies:

Screenshot HNA.de

Im Text dazu ist zu lesen, dass die Stadt Kassel (Hessen) die „magische Marke von 200.000 Einwohnern“ erst mal nicht knacken werde. Frühestens 2028 könnte sich die Stadt diesem Wert annähern, allerdings gebe es auch positivere Prognosen. Aber nun steht das erst mal so da, groß: Kassel wächst eher langsam.

20 Minuten später, um 15:32 Uhr, verkündet die deutsche „Huffington Post“:

Screenshot huffingtonpost.de

Und zwar: ausnahmslos alle!

Weshalb das so ist, dafür hat sich der Autor elf Punkte ausgedacht. Wobei es in zehn Punkten vor allem darum geht, weshalb Städte wie Berlin, München oder Hamburg bald abgemeldet sein werden. Am Rande wird noch erwähnt, dass auch Erfurt, Marburg, Fulda und Göttingen „Juwelen“ seien, ganz besonders aber dieses Kassel. Und wer darüber „immer noch“ lache, „hat nichts verstanden“.

Die Gründe, die laut „Huffington Post“ für Kassel sprechen: Es gibt Berge und Wälder, die Mieten sind günstig, und die Uni boomt. Zudem habe Kassel kulturell „einiges zu bieten“, was man vor allem an der documenta sehe, die alle fünf Jahre stattfindet. Und, wichtiger Punkt: Man kommt gut weg aus Kassel; „beinahe jede größere deutsche Stadt“ erreiche man „in etwas mehr als drei Stunden per Bahn“. Für den Fall, dass es einem mal zu schön oder zu spannend wird in Kassel.

Bei der „HNA“ haben sie den Text auch gelesen. Und weil sie dort nicht alleine die Köpfe schütteln wollten, haben sie den Text einem Professor für Stadtentwicklung gezeigt, der in Kassel arbeitet. Der Professor hat viel einzuwenden gegen die These, Kassel entwickle sich zum neuen Epizentrum der Republik. Gleich eingangs sagt er im Interview: „Das ist Quatsch.“ Und er schließt mit dem Fazit:

Kassel wird weiter in bescheidenem Maße wachsen – aber aus sich selbst heraus und weniger, weil jemand gezielt nach Kassel sucht.

Tjoah.

Aber was macht man jetzt als Regionalzeitung aus einem netten Trend, der gar keiner ist? Man kann den Kasselanern ja nicht vollends die Hoffnung rauben, nachher setzen sie sich noch alle in einen Zug nach Berlin (Fahrtzeit: etwas weniger als drei Stunden), und dann wäre Kassel leer. Also darf es wenigstens in der Überschrift so aussehen, als spräche die Welt über Kassel und nicht nur der Münchner Ableger einer amerikanischen Online-Postille.

HNA Ausriss 28.4.2015

„US-Zeitung lobt Kassel“ – klingt doch gleich viel besser. Wer käme da auf die Idee, dass der Autor des Lobs aus Frankenberg (Eder) stammt, nur eine Autostunde entfernt von Kassel (Fahrtzeit mit dem Zug: rund zwei Stunden).

Frankenberg hat rund 18.000 Einwohner und ist, ausweislich einiger Fotos, ganz hübsch. Die Fotos legen allerdings auch den Verdacht nahe, dass „Alle wollen nach Kassel“ ein bekanntes Gefühl ist, wenn man da wohnt. Kassel ist womöglich ein Sehnsuchtsort, jedenfalls für Frankenberger.

Und dieses Frankenberg-Kassel-Gefühl ist jetzt versehentlich in der „Huffington Post“ zum nationalen Trend ausgerufen worden. Rund 7.000 Menschen gefällt das. Und der Autor wohnt (noch) in Berlin.

Nachtrag, 30. April 2015. Autor Sebastian Christ hat noch mal was geschrieben.

Der Tom-Kummer-Kasten der HNA

Weil der Bürgermeister von Hofgeismar nicht bereit war, ihre Fragen zum gescheiterten Projekt eines gigantischen Ferienresorts zu beantworten, hatten die Redakteure der „Hessischen/Niedersächsichen Allgemeinen“ (HNA) eine richtig schlechte Idee: Sie dachten sich seine Antworten einfach aus.

Sie schrieben:

Alle Bemühungen [um ein Gespräch] waren wieder einmal erfolglos. Daraufhin hat sich die Redaktion die Mühe gemacht, die an Sattler gerichteten Fragen selbst zu beantworten.

Wir legten bekannte Tatsachen zugrunde und nutzten frühere Aussagen Sattlers. Manche Antworten in unserem fiktiven Interview ergeben sich indes aus einem logischen Sinnzusammenhang.

Schon die erste Antwort lässt erahnen, wieviel Spaß sie an der Retourkutsche hatten:

Herr Sattler, warum haben Sie in der Stadtverordnetensitzung am 17. Dezember, als Sie das Aus für das Beberbeck-Projekt erklärten, fluchtartig den Saal verlassen?

Sattler: Das war keine Flucht. Ich konnte mich nur in dieser für mich hoch emotionalen Situation nicht auch noch den lästigen und penetranten Fragen der Opposition aussetzen.

Nicht alle waren amüsiert. Und am nächsten Tag entschuldigte sich der Chefredakteur:

Der Artikel hätte so nie erscheinen dürfen. (…)

Eine Dokumentation von Antworten, die nie gegeben wurden, ist nicht nur unlogisch, sondern schlechtes journalistisches Handwerk. Wir entschuldigen uns in aller Form für diese Fehlleistung.

Beides — das fiktive Interview und die klare Entschuldigung — ist bemerkenswert. Aber fast am erstaunlichsten ist, wie souverän die Zeitung in ihrem Online-Auftritt mit dem Thema umging. Anstatt das ausgedachte Gespräch einfach kommentarlos zu löschen, wie es schätzungsweise 207 Prozent aller deutschen Online-Medien getan hätten, verlinkte sie an dieser Stelle auf die Entschuldigung des Chefredakteurs und behielt die Kommentare der ursprünglichen, sehr kontroversen Leserdiskussion. Das fiktive Interview verschwand nicht ganz, sondern blieb als PDF online, was die Distanzierung von dem Text deutlich machte, aber gleichzeitig jedem die Möglichkeit gab, sich ein eigenes Bild über den journalistischen Fehltritt zu machen.

Ich habe keinen Schimmer, wie gut oder schlecht die Berichterstattung der HNA in Hofgeismar ist (einem Ort, von dem ich gerade zum ersten Mal gehört habe). Aber dieser Umgang mit erkannter eigener Beklopptheit ist vorbildlich.

[mit Dank an Silke L.!]