Eine Zeitung sagt Sorry!

Der „Evening Standard“, die einzige kostenpflichtige Londoner Lokalzeitung, hat seit Anfang des Jahres einen neuen Besitzer: den russischen Milliardär Alexander Lebedew. Der engagierte einen neuen Chefredakteur, der erst einmal eine Marktforschung über das Blatt in Auftrag gab.

Das Ergebnis war wohl einigermaßen verheerend, und so entschloss sich das Blatt zu einer einzigartigen Werbekampagne, in der es sich in der U-Bahn und auf Bussen bei den Londonern entschuldigt:





Nun hat es der „Evening Standard“ mit seiner penetranten, gehässigen Parteilichkeit zweifelsohne ganz besonders nötig, sich bei seinen Lesern und Nicht-Lesern zu entschuldigen. (Die Heftigkeit der Kommentare im „Guardian“-Blog von Roy Greenslade, der auch für den „Evening Standard“ schreibt, spricht Bände.) Aber der spanische Medienberater Juan Antonio Giner hat schon recht, wenn er meint, dass diese Werbebotschaft vielen Zeitungen gut zu Gesicht stünde, und er in ihr einen „Fünf-Punkte-Plan“ sieht, um Zeitungen zu verändern und zu retten.

Warum habe ich das Gefühl, dass viele deutsche Zeitungen im Zweifel umgekehrt von den Menschen eine Entschuldigung dafür fordern würden, dass sie sie nicht lesen?

31 Replies to “Eine Zeitung sagt Sorry!”

  1. Es wäre jetzt natürlich interessant, in den nächsten Wochen und Monaten zu beobachten, ob die guten Vorsätze in den kommenden Ausgaben umgesetzt werden, oder ob es nicht doch nur ein – zweifellos geschickter – Werbegag war. Ihres Amtes, Stefan, kann das nicht sein, Sie haben genug mit den deutschen Medien zu tun. Aber vielleicht gibt es in England so eine Art watchblog darüber? Würde mich interessieren.

  2. Bin ich der einzige, der da zuerst „Sony“ gelesen hat? Was das „S“ alles assoziieren lässt.

  3. so eine kampagne wäre doch auch was für banken. oder für autohersteller. und für politiker…

  4. Hach, da war ich schon lange nicht mehr. Seit November. Ich müsste wieder mal. Und das erste mal, dass ich gut gemachte Werbung auf dem Display sehe.

  5. Die Kampagne ist absolut genial.

    Fällt kaum einem auf, dass sie nicht ehrlich ist. Streut man sich doch so viel Asche aufs Haupt.

    Vielleicht bastelt ja mal einer weitere Versionen, z.B. „Sorry for lying to you“…

  6. „Die Selbstkritik hat viel für sich.
    Gesetzt den Fall, ich tadle mich,
    so hab ich erstens den Gewinn,
    dass ich so hübsch bescheiden bin.

    Zum zweiten denken sich die Leut:
    Der Mann ist lauter Redlichkeit
    Und drittens schnapp ich diesen Bissen
    vorweg den andren Kritiküssen.

    Zum vierten hoff ich außerdem
    auf Widerspruch, der mir genehm.
    So kommt es dann zum Schluss heraus,
    dass ich ein ehrenwertes Haus.“

    (Wilhelm Busch; 1832-1908)

  7. Toll!
    Klar man kann viel dagegen sagen, dass es nur wohlfeile Worte seien oder dass es eine geniale Werbestrategie sei.
    Wobei ich von Letzterem gar nicht so heftig überzeugt bin. Der Sex-Appeal des ‚Evening Standard‘ am Kiosk erhöht sich durch die Kampagne glaube ich nicht, zumindest nicht kurzfristig. Wahrscheinlich ist das Geld für die Anzeigen eher als langfristige Anlage zu sehen. Sozusagen für den Zeitpunkt, wenn andere Zeitungen wie auch immer nachgezogen haben, und den Leuten im Hinterkopf geblieben ist, dass „die Jungs und Mädels vom ‚ES‘ die Ersten waren“.

    Und da liegt auch eher der Grund dafür, dass ich das so toll finde: Es handelt sich hier in erster Linie um eine unglaubliche Nestbeschmutzung und Aufforderung an die anderen Medienhäuser/Zeitungen, sich ebenfalls zu entschuldigen. Diese Kampagne bricht erstmals sichtbar ein Tabu und das eisige Schweigen der Medien-Protagonisten über die Qualität ihrer Arbeit. Vor allem die Wortwahl ist doch interessant: ok, ’negativ‘ und ‚vorhersehbar‘ – geschenkt, das muss ne Zeitung manchmal sein. Aber ‚losing touch‘ rangiert im journalistischen Todsündenregister ziemlich weit oben. Und ’selbstgefällig‘!!! Olàlà!

    Welche Zeitung will von nun an noch behaupten, sie sei so völlig anders als der ES strukturiert, dass man sie nicht auch als „selbstgefällig“ bezeichnen könnte?

  8. Wenn wir lesenden Dummbatze jenen leckeren Qualitätsjournalismus nicht mehr fressen mögen, der uns von den bundesdeutschen Print-Kantinen Tag für Tag in den Napf geklatscht wird, dann haben wir doch wohl selber schuld – oder?

  9. Nach einem ersten Blick auf die Bilder hatte ich schon wieder mit einem Klickstrecken-Artikel gerechnet. Puhhhh….

  10. lieber niggemeier, sie gehen mir so auf die nerven. verarschen sie ihre leser doch grad so wies die von ihnen kritisierten boulevard-blätter nur in ganz besonders schlimen fällen tun. als wüssten sie als medienschaffender nicht ganz genau, dass da oben eben keine zeitung „sorry“ sagt. das ist ne werbekampagne. es geht nicht darum, sich zu entschuldigen, sondern leser zu gewinnen. aber weils halt in ihr weltbild passt – und vom verkauf desselben leben sie ja, sie großer online-versteher – schreiben sie halt wider besseren wissens: „eine zeitung sagt sorry“. in ihrer art dinge so zu drehen, bis sie ihnen passen, zu denunzieren, betroffenen kein chance zur gegenrede anzubieten, sind sie kein deut besser als der rest der branche…

  11. „Warum habe ich das Gefühl, dass viele deutsche Zeitungen im Zweifel umgekehrt von den Menschen eine Entschuldigung dafür fordern würden, dass sie sie nicht lesen?“

    Ja, hehe, genau, also entschuldigen Sie sich gefälligst bei paul (beitrag 15), und zwar doppelt, weil sie sie nämlich lesen und sich auch noch ne meinung bilden, zack zack!

  12. @15 (paul):

    lieber paul. tun sie doch nicht so, als ginge es ihnen wirklich um den inhalt ihres kommentars. da regt sich kein mensch wirklich über einen sachverhalt auf, niemand geht irgendwem auf die nerven, das ist ein rant! es geht nicht darum, den artikel zu kritisieren, sondern ein urteil über herrn niggemeier zu bestätigen.

    aber weil’s halt in ihr selbstbild passt – und genau dieses transportieren sie ja, sie großer kommentar-skeletor-dingens-bestrafer – schreiben sie halt wider besseren wissens: „sie gehen mir so-ho auf die ne-herven“. dabei verschweigen sie gänzlich die genüsse ihres eigenen appetenzverhaltens.

    in ihrer art dinge so zu drehen, wie sie meinen, dass es ihr selbstbild bestätigt, ihre unermessliche tollheit zu annoncieren, anderen kommentatoren ins wort zu fallen, sind sie keinen deut besser als, ähm, jeder beliebige bernd.

    oder so.

    .~.

    (p.s.: ich hoffe, ich habe ihr angebot richtig verstanden?)

  13. Wenn eine Zeitung mir das Gefühl gibt mich zu respektieren, mich wirklich wichtig zu nehmen, mir zu verstehen gibt, dass wir auf Augenhöhe sind, dann verzeihe ich ihr alles. Dann verzeihe ich ihr schlechte Recherche, Polemik und Werbung in redaktionellen Inhalten. Denn ich weiß ja: Diese Zeitung liebt mich.

  14. Paul. Wer ist eigentlich Paul?

    Da di da da da da da di –
    (Dies Lied ist nicht von Brenda Lee.)
    Ich liebe die. I`m sorry, so sorry.

  15. @ polyphem

    Nicht, wer ist eigentlich Paul. Sondern, was ist ein Paul? Ich bin jetzt total fit und erläutere: ‚Lernen‘ + ‚Verstand’/’Berufserfahrung‘-‚Niggemeier‘ = 1 Paul.

    Danke für den Wilhelm Busch, großartig.

  16. Paul-Schelte: Sollte hier beendet werden, das führt zu nichts. Zum Kern des Eintrags: Natürlich ist jede Kommunikation eines Medienunternehmens auch Vermarkte / Werbung / Strategie – ob gut, aufrichtig oder nicht. Zeigt sich aber in der Folge, dass die journalistische Arbeit sich entsprechend entwickelt – also den Leser wieder ernst nimmt – dann ist das nur recht und billig. Man kann eben auch beides machen: guten Journalismus UND Geld verdienen. Und das das so kommen kann (und sollte), hat eben nichts mit einer vermeintlich naiv-träumerischen Sicht der Dinge zu tun (bin jetzt doch noch auf Paul eingegangen. Und wenn Medienhäuser sich dazu entschließen, kann man das nur begrüßen, weil eben auch die scheinbar unumstößlichen Säulen des Journalismus wanken und sich teilweise vom Interesse der Leser/Zuschauer/Zuhörer abwenden (als Beispiele ohne Gewichtung nur kurz genannt: der WDR in einzelnen Formaten mit Trend zur Boulevardisierung, das Medienhaus Lensing mit Stichwort Münstersche Zeitung und der WAZ-Konzern mit Redaktionsschließungen und -fusionierungen).

    Und der bisherige Status von Tageszeitungen gerade im Lokalen, lieber Niggemeier, ist geprägt vom Bild „war schon immer da, gehört zur Grundversorgung wie Wasser und Strom von den Stadtwerken, Krankenkassenleistungen von der AOK und die Versorgung mit Rundfunk von ARD/ZDF“ – unnötig auszuführen, dass auch bei den genannten Analogien sich einiges verändert hat… Das wird wohl zu Ihrer Frage geführt haben, warum Sie dass Gefühl haben, dass… usw. Es kommt eben auf den kompetenten und entscheidungsfreudigen Leser an, der sich die richtigen Angebote selbstbewußt aussucht. Übrigens der nötige Gegenpart zu den Anbietern in einem freien Medienmarkt… (ob die Verlage den überhaupt als Möglichkeit in Betracht ziehen?)

  17. [Off Topic] Interessant wie es das Thema „Ehrenamt“ schwuppdiwupp ohne jeden Tagesbezug in die 20h Tagesschau geschafft hat. Einfach weil man in den Chefetagen die (an sich nicht schlechte) Idee hatte daraus eine ‚Themenwoche‘ zu machen. [off topic end]

  18. @15Paul

    Kann es sein, dass bei Ihnen „PISA“ zutrifft und eine gewisses Unvermögen bezüglich „Textverständnis“ zum Ausdruck kommt?

    Falls dies nicht der Fall sein sollte: Handelt es sich hier um den Fall „Getroffene Hunde bellen“? Muß damit gerechnet werden, dass aus dem „Beller“ irgendwann ein „Angstbeißer“ wird?

    Man kann Ihnen eigentlich nur raten, wenn sie so „genervt“ sind und die Blogbeiträge von Stefan so unerträglich finden (oder auch nur nicht verstehen):
    Lesen Sie sie doch einfach nicht.
    Oder werden Sie etwa von irgendeiner geheimen Macht dazu gezwungen? Stimmen, die mit Ihnen reden? Zwanghafte Muskelkontraktionen, die Sie zum Öffnen und Lesen des Blogs zwingen?

    Gegen substantiierte Kritik hat sicherlich niemand etwas, solch unsubstantiierte Beiträge wie Ihrer sind zwar unter Umständen belustigend, allerdings braucht sie auch wirklich niemand. ;)

    Über die Werbekampagne des Evening kann man sicherlich geteilter Meinung sein. Auch darüber, was inhaltlich von ihr zu halten ist. Wie „ernst“ diese „Entschuldigung“ gemeint ist, wird –und damit wäre ja das Ziel der Kampagne erreicht- der Leser erst feststellen, wenn er sich das Blättchen wieder kauft und liest. Allerdings –wenn ich von mir selbst ausgehe- selbst wenn die Bild (um ein vergleichbares Beispiel zu nennen) eine solche Kampagne starten würde, gleichzeitig noch die durch ihre Berichterstattung geschädigten Menschen versuchen würde zu entschädigen und die Redaktion einen „Gang nach Canossa“ antreten würde…ich würde die Zeitung trotzdem nicht kaufen. Aber ich gehe selbst nach einem Besitzerwechsel auch in kein Restaurant in welchem ich einmal schlecht bedient wurde oder schlecht gegessen habe. Die Erfahrung zeigt einfach, dass gerne weiter die ausgetretenen Pfade benutzt werden. Das ist leichter als sich wirklich neue Wege zu suchen.

    Man kann Stefan daher zustimmen: Eine solche Kampagne würde so manchem „Blättchen“ sicherlich gut zu Gesicht stehen. Allerdings auf eine Entschuldigung, die diesen Blättchen sicherlich viel, viel lieber wäre, warum ich (vielleicht auch viele Andere) es trotzdem nicht lesen…nein…die gibt es nicht. :D

  19. Ich habe über dass Wochenende etwas die Twitter-Tweeds zum Thema Netzsperre und e-petition verfolgt. Aufffallend häufig wurde auf Artikel in der Zeit und im Tagesspiegel aufmerksam gemacht und verlinkt.

    Mein Eindruck ist: Auch die „Web 2.0 Generation“ liest traditionelle Medien, hat ein Bedürnis nach ihnen und ist froh, wenn diese sich klug und meinungsstark äußern.

    (Die Medien dürfen nur nicht den Fehler machen, ihre Existenzangst, ihre Furcht vor dem Internet auf die Art und Weise, wie sie über das Internet berichten, zu übertragen.)

  20. Wunderbare Vorlage für die Konkurrenz das ganze. Säße ich bei der Konkurrenz in der Promotion, nächste Woche hingen an genau den Stellen Plakte mit trotzigen „not sorry“ Sprüchen und unserem Logo. „Not Sorry for telling the truth“, „Not sorry for having opinions“ , „Not Sorry for being inconvenient“, „Not Sorry for bringing you the latest news“ … usw …

    Nicht dass ich die „Yellow press“ gut finden würde, man sollte aber auch nicht unterschätzen dass viele Leute (vor allem in GB) eben auf „Frech“ stehen und nicht auf Weichei-medien. Siehe (Presse-)Superstars wie Jeremy Clarkson etc pp.
    Ich schätze der ES schiesst sich mit der Kampange eher selbst ins Bein und treibt die Leute zur konkurrenz.

  21. „Losing touch“, „Being predictable“ und „Taking [readers] for granted“ könnte man tatsächlich den meisten Lokalzeitungen in Deutschland und anderswo vorwerfen. Wobei das schlechteste deutsche Lokalblatt, das ich kenne, noch immer besser ist als die besten französischen oder britischen, die mir bislang untergekommen sind.
    Das Problem ist vor allem der Abstraktionsgrad der Berichterstattung. Die meisten Journalisten gehen nicht nah genug heran und berichten aus einer hochmütig wirkenden Distanz zu ihren Lesern, die Lokalteile geradezu lähmt. Gerade da, wo die übliche regional oder lokal führende Zeitung ihre Stärken haben könnte (und haben müsste), weil ihr in ihrer Region sonst niemand die Position des Platzhirschen streitig machen kann, legt sie sich mit den örtlichen Eliten ins Bett, ignoriert sie weitgehend Bürger-Initiative und Bürgerinitiativen, schreibt nur affirmativ für solche Leser und bildet deren Lebenswirklichkeit ab, deren Bindung sie sich sicher fühlt (also die älteren, die den Verlautbarungsstil gewohnt sind), und setzt längst auch in ihren Etats und Geschäftsentwicklungsplänen auf stetig sinkende Auflage. In deutschen Lokalblättern gibt es noch mehr lokalpolitische Kritikfähigkeit und journalistische Kompetenz als anderswo in Europa, aber „relativ gut“ ist zumeist trotzdem nicht gut genug.

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