Mein Leben & ich

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Es gibt sie noch, die Überraschungen im deutschen Fernsehen.

In der Nacht auf Samstag zeigte RTL ab 1.52 Uhr unerwartet zwei Folgen der bislang ungesendeten letzten Staffel der schönsten Comedyserie, die der Sender je produziert hat: „Mein Leben & ich“ mit Wolke Hegenbarth. Angekündigt war für diese Zeit die bizarre Fake-Dokureihe „Verdachtsfälle“, und aus dem offiziellen Programmdienst von RTL im Internet geht bis jetzt noch nicht hervor, dass etwas anderes kam. Nur in den Videotext waren (versehentlich, muss man vermuten) Hinweise durchgesickert, und tatsächlich liefen dann die 62. und 63. Folge von „Mein Leben & ich“ (in umgekehrter Reihenfolge natürlich). Weitere neue Folgen könnten in den nächsten Wochen zu sehen sein, teilweise hat RTL sogar schon Termine veröffentlicht (Samstag, 1.55 Uhr, Sonntag, 6.25 Uhr, Mittwoch, 2.20 Uhr), sicher ist nichts.

Selbst für einen Sender wie RTL, der viel Erfahrung damit hat, treue Serienfans zu ärgern, ist der Umgang mit „Mein Leben & ich“ spektakulär. Drei Jahre lang lag die sechste Staffel fertig produziert im Schrank. Den Erfolg der Serie, die bei Kritikern und Publikum angekommen war, beendete der Sender, als er die originelle Idee hatte, die fünfte Staffel im Fußballsommer 2006 erst nur halb zu zeigen, aber teilweise parallel zu den WM-Spielen. Als die Geschichte ein halbes Jahr später weiterging, war das Zuschauerinteresse nur noch durchschnittlich.

Ein Sendersprecher erklärte, für eine Ausstrahlung am Hauptabend fehlten dazu passende Sendungen — was völliger Unsinn ist: In diesem Sommer hat RTL etwa am Montagabend erfolgreich Sitcoms gezeigt hat, darunter die Serie „Der Lehrer“, die vorher zwei Jahre im Sendekeller abhängen durfte und die RTL im Doppelpack wegsendete (was bei neun Folgen nicht aufgeht, RTL aber egal war: Die letzte Folge blieb halt ungesendet oder lief, wer weiß es, in Fünf-Minuten-Schnipseln rückwärts zwischen den Sex-Hotline-Spots in der Nacht).

Sie müssen sie wirklich hassen, bei RTL, die letzten Zuschauer, die noch ein paar Restansprüche an ihr Programm haben.

Lafontaine & das Medien-Perpetuum-Mobile

In einem Punkt immerhin gibt der „Spiegel“ zu, in seiner Berichterstattung über Oskar Lafontaine und sein angebliches Verhältnis zu Sahra Wagenknecht einen Fehler gemacht zu haben.

Aber machen wir vorher noch einen kurzen Abstecher in die heutige Medienkolumne von Kai-Hinrich Renner im „Hamburger Abendblatt“, in der er schreibt:

In Berliner Politik-Kreisen gilt es mittlerweile als gesichert, dass die „Spiegel“-Story stimmig ist. Der klagefreudige Lafontaine hat bisher nicht mal eine Gegendarstellung verlangt.

„Stimmig“ ist ein schönes Wort in diesem Zusammenhang. Offenbar wissen weder Renner noch die „Kreise“, mit denen er gesprochen hat, ob die „Spiegel“-Geschichte stimmt. Vielleicht hatte das „Abendblatt“ auch nur keine Lust, die angebliche Klagefreude des Politikers doch noch herauszufordern.

Aber das erleichtert die journalistische Arbeit natürlich ungemein, wenn sich Stimmigkeit oder Plausibilität als neues publizistisches Kritierium durchsetzt: Endlich nicht mehr recherchieren müssen, was war, sondern nur noch, was gewesen sein könnte. Das veröffentlicht man dann, und wenn der Betroffene „nicht mal eine Gegendarstellung verlangt“, nimmt man es fortan als wahr an. (Was hätte Lafontaine in der vergangenen Woche auch anderes zu tun gehabt, als sich um Gegendarstellungen zu kümmern — mal abgesehen von der Frage, wie klug ein solches Vorgehen gewesen wäre. Im übrigen behauptet der „Spiegel“ nicht einmal, Lafontaine habe ein Verhältnis zu Wagenknecht, sondern nur, dass es Gerüchte in der Linkspartei gebe, die ihm das unterstellen. Was hängen bleibt, ist natürlich etwas anderes.)

Ich kann nicht beurteilen, ob die „Spiegel“-Behauptungen über Lafontaine wahr (oder auch nur „stimmig“) sind, und zu der perfiden Art, wie der „Spiegel“ seine Umwidmung zum Klatschblatt rechtfertigt, ist an anderen Stellen schon genug gesagt worden. Aber nachhaltig faszinierend finde ich es, wie die „Spiegel“-Autoren sich zu ihrem Gerüchtetext, der überwiegend aus Fragen besteht, eine zusätzliche Scheinquelle gebastelt haben. Sie schreiben:

Auch ein Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vor zwei Wochen („Lafo hat was am Laufen mit Sahra Wagenknecht“) blieb unwidersprochen.

Aber die „FAS“ hat das nicht berichtet. Sie hat in ihrer wöchentlichen Kolumne „Herzblatt-Geschichten“, die ironisch die Behauptungen der Klatschblätter kommentiert, berichtet, dass das in der „Bunten“ stehe, dort angedeutet unter anderem durch die Formulierung:

„Die Kommunistin Sahra Wagenknecht, intime Kennerin von Lafontaines Positionen und nicht nur in Streikfragen mit ihm auf Augenhöhe, verlangt wie er regelmäßig französische Verhältnisse.“

Und woher hat die „Bunte“ diesen merkwürdigen Satz? Aus dem „Spiegel“, wo sich die Autoren Stefan Berg, Markus Deggerich und Frank Hornig mit ihm Mitte Oktober für eine „vielversprechende Karriere in der Bütt“ empfohlen hätten, wie Jens Berger treffend kommentiert.

Also noch einmal: Der „Spiegel“ schreibt, was die „FAS“ schreibt, was die „Bunte“ schreibt, was der „Spiegel“ schreibt. Oder kürzer: Der „Spiegel“ bestätigt sein eigenes Gerücht mit seinem eigenen Gerücht. Hut ab vor soviel Chuzpe.

Ich habe gestern Georg Mascolo, den „Spiegel“-Chefredakteur gefragt, ob so ein Vorgehen seriös sei. Er hat das nicht direkt beantwortet, sagt aber:

„Die Autoren haben für dieses Stück wochenlang recherchiert. Es gibt keinen Anlass an der Darstellung zu zweifeln.

Bei dem Text in der FAS handelt es sich erkennbar um eine Glosse; sie hätte so im SPIEGEL nicht zitiert werden dürfen.“

Wie gesagt: Immerhin.

PS: Natürlich hat sich das Klatschblatt „Bunte“ auch in dieser Woche wieder dem Thema gewidmet, unter der bestimmt lustig gemeinten Überschrift: „Oskar und die linke Lady“. „Bunte“ weist darauf hin, dass Frau Wagenknecht „süß-saure Krabben im Wok oder Lammhüfte in Rotweinjus“ koche und 1997 mit „reichlich Brautschmuck im Haar“ geheiratet habe, „obwohl“ sie noch 1989 in die SED eingetreten sei. Und als einen Beleg für die Affäre nennt „Bunte“ was? Natürlich:

Auch die renommierte „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ berichtete vor zwei Wochen: „Lafo hat was am Laufen mit Sahra Wagenknecht.“

Die Medien haben das Perpetuum Mobile entdeckt. Läuft ohne Antrieb von außen, macht aber viel Dreck.

[Offenlegung: Ich schreibe regelmäßig für die FAS.]

Über Enke und Werther

Die Medien arbeiten seit einer Woche daran, die Zahl der Selbstmorde in Deutschland in die Höhe zu treiben.

Selbstmord ist ansteckend. Berichterstattung über Suizide erhöht die Zahl der Suizide. Das ist der sogenannte „Werther“-Effekt, benannt nach Goethes Roman. Nachdem er erschienen war, soll sich eine Reihe von Lesern in ähnlicher Form das Leben genommen haben wie die liebeskranke Titelfigur.

Der amerikanische Soziologe David Philipps wies vor 35 Jahren nach, dass immer, wenn die „New York Times“ prominent über einen Selbstmord berichtet hatte, die Zahl der Selbstmorde signifikant anstieg. In vielen weiteren Untersuchungen wurde der beunruhigende Effekt seitdem immer wieder bestätigt: Je länger und prominenter über den Suizid berichtet wurde, umso größer war der folgende Anstieg der Selbstmordrate. Wenn ein Selbstmord nur in New York groß auf der Titelseite behandelt wurde, nicht aber in Chicago, stieg die Zahl der Selbstmorde in New York stärker als in Chicago. Während eines neunmonatigen Zeitungsstreiks in Detroit 1967/68 sank die Zahl der Selbstmorde hier signifikant.

1981 zeigte das ZDF in bester Absicht Robert Strombergers realistisches Drama „Tod eines Schülers“ über einen Jugendlichen, der sich vom Zug überrollen lässt. Hinterher nahm die Zahl der Eisenbahnsuizide bei jungen Männern um 175 Prozent zu. Auch bei der Wiederholung der Serie eineinhalb Jahre später stellten Wissenschaftler noch einen erheblichen Nachahmungseffekt fest.

Der australische Psychiater Robert D. Goldney‌ fasste die Ergebnisse der Forschung 1989 so zusammen, dass sich auch Journalisten verstehen könnten:

„Es besteht kein begründeter Zweifel mehr, dass die Medien zu Selbstmorden beitragen. Eine unreflektierte Berichterstattung wird zwangsläufig zu weiteren Selbstmorden führen.“

Wäre es also am besten, wenn Medien gar nicht über Selbstmorde berichten? In den meisten Fällen, wenn es zum Beispiel nicht darum geht, etwa die Missstände in einer Schule aufzudecken, wo sich plötzlich viele Jugendliche das Leben nehmen, lautet die Antwort: Ja. Es wäre am besten, wenn Medien gar nicht über Selbstmorde berichten.

Das ist für Journalisten eine unerträgliche Antwort. Journalisten gehen davon aus, dass es gut ist, wenn etwas an die Öffentlichkeit kommt. Dass es erlaubt sein muss, über etwas zu berichten, das sich unzweifelhaft ereignet hat.

Kleiner kommunikationswissenschaftlicher Exkurs: Nach Max Weber lässt sich zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unterscheiden. Verantwortungsethik bewertet Handlungen nicht danach, ob sie in bester Absicht geschehen, sondern nach den Folgen, die sie haben („zweckrationales Handeln“). Gesinnungsethik bewertet Handlungen dagegen vor allem aufgrund von Überzeugungen und Werten wie dem der Wahrhaftigheit. Ein Journalist, der sich gesinnungsethisch richtig verhält, muss allein dafür Sorge tragen, dass das, was er berichtet, wahr ist. Man spricht dabei vom wertrationalen Handeln, das Weber so definiert:

„[Wertrational handelt], wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät oder die Wichtigkeit einer ‚Sache‘ gleichviel welcher Art, ihm zu gebieten scheinen. Stets ist […] wertrationales Handeln ein Handeln nach ‚Geboten‘ oder oder gemäß ‚Forderungen‘, die der Handelnde an sich gestellt glaubt.“

Journalisten (nicht nur) in Deutschland fühlen sich, wie unschwer zu erraten ist, ganz überwiegend einer Gesinnungsethik verpflichtet und lehnen Verantwortung für die Folgen ihres Handelns ab. So glaube sie, die Pflicht zu haben, über Suizide zu berichten — unabhängig davon, ob diese Berichterstattung zu weiteren Suiziden führt.

Die Erkenntnis, dass es am besten wäre, wenn Medien über die meisten Suizide gar nicht berichten würden, widerspricht also nicht nur dem Wettlauf um Auflage und Quote, sondern auch ganz fundamental dem journalistischen Selbstverständnis eines ganzen Berufsstandes.

Aber dem besinnungslosen Kampf um Aufmerksamkeit, Auflage und Quote widerspricht es natürlich auch, und vermutlich lässt sich nur so die flächendeckend grotesk verantwortungslose Berichterstattung der vergangenen Tage erklären. Man könnte den Eindruck haben, eine ganze Branche hätte sich zu einem großen Feldversuch entschlossen, einmal zu testen, wie weit sich die Zahl der Selbstmörder in die Höhe treiben lässt, wenn man jeden einzelnen Ratschlag zur Suizidprävention ignoriert.

Studien haben gezeigt, dass die Suizidrate nach Berichten über Suizide unter anderem ansteigt,

  • wenn das Opfer besonders prominent ist
  • wenn die Berichterstattung prominent auf den Titelseiten stattfindet
  • wenn sich die Berichterstattung über Tage hinzieht
  • wenn der Ort und die Methode des Suizids genau beschrieben wird
  • wenn sich gefährdete Menschen mit dem Opfer identifizieren können.

Der „Spiegelfechter“ Jens Berger ist schon am vergangenen Mittwoch die Medien-Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft zur Suizidprävention durchgegangen:

Ein Suizid sollte nicht als Aufmacher auf der Titelseite erscheinen. Geschenkt, bis auf die FTD erschien heute kein einziges Publikumsmedium mit einem anderen Thema als Aufmacher.

Es sollten weder Fotos noch Dokumente wie der Abschiedsbrief publiziert werden. Natürlich wäre es naiv, anzunehmen, dass eine Berichterstattung über den Freitod eines Sportstars ohne Foto auskäme. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Abschiedsbrief nicht in den nächsten Tagen 1:1 von der BILD-Zeitung abgedruckt wird, geht derweil allerdings gegen Null.

Der Suizid sollte nicht als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion dargestellt werden oder als alternativlos dargestellt werden. Im Falle Enke hatten die lieben Kollegen der schreibenden Zunft bereits am gestrigen Abend nichts Besseres zu tun, als den Freitod als nachvollziehbare Reaktion auf den Tod seiner Tochter darzustellen.

Die Suizidmethode und der Ort des Suizids sollten weder detailliert beschrieben, noch abgebildet werden. „Natürlich“ weiß heute ganz Deutschland ganz genau, an welchem Ort sich Robert Enke wie umgebracht hat. Selbst komplett irrelevante Details werden in den Rang einer Sondernachricht gehoben.

Und es ist nicht nur die „Bild“-Zeitung, die seit einer Woche alles dafür tut, Auflage, Leid der Angehörigen und Zahl der Suizide zu steigern — und sich im Zweifelsfall wie immer auf ihre „Informationspflicht“ berufen würde. Und nicht nur die genauso skrupellose Fernsehversion namens RTL.

Bei kaum einem Medium (die „FAZ“ vielleicht ausgenommen, bei der ich allerdings natürlich befangen bin) habe ich in den vergangenen Tagen so etwas wie Zurückhaltung aus Sorge um den „Werther-Effekt“ feststellen können. Schon am Dienstagabend enthielten die Meldungen der Nachrichtenagentur dpa jedes verdammte Detail über den Ort und den Ablauf des Geschehens.

Dabei lässt sich sogar zeigen, dass eine veränderte, zurückhaltende Berichterstattung Leben rettet. In Wien gelang es, die Zahl der Suizide und Suizidversuche in der U-Bahn um 60 Prozent zu senken, nachdem die Redaktionen Empfehlungen des österreichischen Vereins für Suizidverhütung umgesetzt hatten, über Selbstmorde nicht emotional, auf keinen Fall mit Foto, nicht auf der Titelseite und möglichst kurz zu berichten.

Noch einmal die Empfehlungen, was Medien tun können, um den „Werther-Effekt“ möglichst gering zu halten:

  • Sie sollten jede Bewertung von Suiziden als heroisch, romantisch oder tragisch vermeiden, um möglichen Nachahmern keine post-mortalen Gratifikationen in Form von Anerkennung, Verehrung oder Mitleid in Aussicht zu stellen.
  • Sie sollten weder den Namen der Suizidenten noch sein Alter und sein Geschlecht angeben, um eine Zielgruppen-Identifizierung auszuschließen.
  • Sie sollten die Suizidmethode und – besonders bei spektakulären Fällen – den Ort des Suizides nicht erwähnen, um die konkrete Imitation unmöglich zu machen.
  • Sie sollten vor allem keine Informationen über die Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides andeuten, um so jede Identifikations-Möglichkeit und Motivations-Brücke mit den entsprechenden Lebensumständen und Problemen des Suizidenten vermeiden.

Oder in konkreter Empfehlung:

  • Beschreibe den Suizidenten, die Methode, den Ort, die Lebensverhältnisse und die Gründe so abstrakt, dass sie kein Anschauungsmaterial mehr enthalten, das einer möglichen Identifikation und Enthemmung Vorschub leisten könnte (nach W. Ziegler und U. Hegerl, 2002).

Nun kann man natürlich sagen, dass es unrealistisch ist, diese Empfehlungen im Fall eines so prominenten und beliebten Menschen wie Robert Enke umzusetzen. Allerdings sind es gerade die Suizide von solchen Menschen, die besonders viele Nachahmungstäter herausfordern. Und bei aller Trauer um den Nationaltorwart, bei aller Anerkennung, was für ein besonderer Sportler und Mensch er gewesen sein mag, muss man die Frage auch stellen, inweit die grenzenlose Heroisierung, die in den vergangenen Tagen passiert ist, gefährlich ist.

Und natürlich hilft es wenig, wenn sich nur zwei, drei Medien an die Empfehlungen halten und sich alle anderen mit spektakulären Bildern, knalligen Titelseiten, detaillierten Grafiken und exklusiven Abschiedsbriefen überbieten. Natürlich müsste es eine Absprache, eine Vereinbarung der Medien geben, sich gemeinsam an bestimmte Vorgaben bei der Suizid-Berichterstattung zu halten. Ich kann aber auch sechs Tage nach dem Tod von Robert Enke keinen Beteiligten, kein Medium erkennen, das überhaupt eine Diskussion über einen solchen Kodex in Gang setzt.

Mag sein, dass es unrealistisch ist, davon auszugehen, dass die Medien anders über einen Fall wie den des Robert Enke berichten könnten. Dann seien wir aber auch ehrlich genug zu sagen, was der Preis für diese vermeintliche Informationspflicht und diesen Verkaufswettkampf ist. Er lässt sich in Menschenleben zählen.

Flausch am Sonntag (9)

Zwanzig Jahre ist es her, dass der große Douglas Adams sich mit dem Zoologen und Fotografen Mark Carwardine auf den Weg machte, die letzten Tiere ihrer Art zu besuchen. Aus ihrer Reise zum Aye-Aye, dem Weißen Rhinozeros, dem Yangtse-Delfin und anderen entstanden eine BBC-Radioserie und eines meines Lieblingsbücher.

Während Adams unterwegs war, hütete der von mir sehr verehrte Stephen Fry sein Haus in England. Und sah jetzt nach, was aus den aussterbenden Tierarten geworden ist, die Adams ge- und besucht hatte — wieder mit Carwardine, diesmal aber für eine sechsteilige Fernsehreihe, die gerade in der BBC gelaufen ist.

Es fehlt etwas der besondere Humor des Schriftstellers, der Fjordland in Neuseeland (eine magische Gegend, die ich vor einigen Jahren kennenlernen durfte) zum Beispiel so beschrieb:

„Würde man ganz Norwegen nehmen, es ein bißchen durchkauen und alle Elche und Rentiere rausschütteln, es dann zehntausend Meilen weit um die Welt schleudern und mit Vögeln auffüllen, wäre das Zeitverschwendung, weil es so aussieht, als hätte das schon jemand getan.“

Aber es ist Fernsehen vom Feinsten: unterhaltsam und lehrreich, aufwändig und herzerwärmend, und das hier ist die Szene, in der Sirocco, ein von Hand aufgezogener Kakapo (der auch eine eigene Facebook-Seite hat und twittert), dem Fotografen seine Zuneigung zeigt:

(Eine Szene mit einem dieser fantastischen Kiwis gibt es auch, aber die wirkt doch ein bisschen unfreundlich dem eigentlich gerade Mittagsschlaf haltenden Tier gegenüber, obwohl das natürlich alles für einen guten Zweck ist, irgendwie.)

Freigegeben


(„Bild“, 14. November 2009)

Es hat natürlich eine gewisse Konsequenz, das dazuzuschreiben, dass die Paparazzi-Fotos von der Fotografierten „freigegeben“ wurden, bei einer Zeitung, für die Selbstverständlichkeiten keine Selbstverständlichkeit sind. Und wahrscheinlich sind sie bei „Bild“ am Donnerstagabend mit einem seltenen, wohligen Gefühl ins Bett gegangen, endlich mal das Richtige getan zu haben, und trotzdem nicht darauf verzichten zu müssen, die Trauer einer Frau in großen Bildern ausstellen zu können.

Ich wär aber trotzdem gern dabei gewesen, bei dem Gespräch, in dem Teresa Enke die Fotos von ihr „freigab“, und stelle mir das ungefähr so vor:

Ding Dong, wir sind’s, „Bild“ Hannover. Hallo Frau Enke, können wir kurz reinkommen? Nee, danke, wir haben schon was getrunken. Ja, Frau Enke, hamSe ja sicher gemerkt, dass wir Sie heute den ganzen Tag verfolgt haben, vorm Haus, auf dem Weg zum Auto, auf dem Friedhof, mit Ihrer süßen Tochter — die ist aber auch wirklich ein Schatz. Ja, das haben wir natürlich alles fotografiert. Doch, auch auf dem Friedhof, haben Sie vielleicht gar nicht mitgekriegt, mit so einem Tele, von hinter dieser kleinen Baumgruppe! Na, wir wollten da ja auch nicht mehr stören als nötig. Jedenfalls, sehen Sie mal, das hier sind die Fotos, die wir gemacht haben, also unsere kleine Vorauswahl. Und, naja, das soll ja nicht so aussehen, als würden wir die gegen Ihren Willen veröffentlichen, ist ja auch eine schwere Zeit für Sie. Vielleicht können Sie einfach welche raussuchen, die Ihnen gefallen, die okay wären? Das hier, aus dem parkenden Auto, wo der Rückspiegel so eine malerische Unschärfe macht, und Sie ganz in Schwarz in der Ferne, das hat doch was. Ach, eine Handvoll würde schon reichen, muss gar nicht viel sein, das hier, wo Sie allein mit einem Regenschirm am Grab Ihrer Tochter Lara stehen, das können wir zum Beispiel ganz groß ziehen, das wär schon schön. Also, Frau Enke, überlegenSe sich’s. Und Beileid nochmal!

Das Geschäft mit den Bildern

Die Firma, die die Bergungsarbeiten am Bahnübergang gefilmt hat, an dem sich Robert Enke das Leben genommen hat, und die das Glück hatte, auch Teresa Enke in dem Moment gefilmt zu haben, als sie an die Unglücksstelle kommt und verzweifelt die Polizisten fragt, was mit ihrem Mann ist, diese Firma heißt NonstopNews.

Sie ist nach eigenen Angaben der zweitgrößte „unabhängige Nachrichtendienst“ Deutschlands, und Aufnahmen von Unfällen und Bergungsarbeiten, eingeklemmten Verletzten und weggetragenen Leichen sind ihr Geschäft.

Am Dienstag verschickte sie um kurz vor Mitternacht das Angebot per E-Mail an die Redaktionen.

Bilderangebot: Schock für ganz Fußball-Deutschland: Nationaltorwart Robert Enke von Zug erfasst und tödlich verletzt

NewsNr. 10007
Stand: 2009-11-10 20:54:30
Länge: 6+6:00 Min.
Verfügbar: 23.55 Uhr (…)

Datum: Dienstag , 10. November 2009, 18:30 Uhr
Ort: Eilvese, Region Hannover, Niedersachsen
(…)

Die aktuellen NonstopNews-Bilder und die O-Töne :

  • Totale der Einsatzstelle, Großaufgebot Feuerwehr und Polizei vor Ort
  • Regionalbahn auf den Gleisen,
  • Feuerwehrleute stehen rund um den Regionalzug
  • Auto von Robert Enke unweite des Bahnübergangs,
  • Exklusiv: Abfahrt Rettungswagen
  • Exklusiv: Mercedes M-Klasse von Robert Enke wird auf Abschlepper sichergestellt
  • Notfallseelsorger vor Ort Polizei bei Unfallaufnahme
  • Bahnhof Eilvese
  • Seelsorger mit Feuerwehrleuten im Gespräch
  • Frau von Robert Enke, Teresa: „Jetzt sagen sie mir endlich was mit meinem Mann ist“
  • Abfahrt Leichenwagen
  • Zahlreiche Fans an der Einsatzstelle, Regionalzug fährt an stehenden Zug vorbei
  • Fans mit Hannover 96 Trikots und Schals legen Kerzen nieder
  • O-Töne mit mehreren Fans an der Einsatzstelle: …kann gar nicht sein dass Robert Enke tot ist…können uns nicht vorstellen das er das ist…haben aus dem Fernsehen davon erfahren und sind zur Einsatzstelle gefahren…trifft uns wie ein Schlag…kann nicht glauben das er das getan hat…können uns aber nicht vorstellen das er sich umgebracht hat weil Jogi Löw ihn nicht in der Nationalelf spielen lässt…kenne ihn persönlich aus dem Dorf und ist als superlieber netter Typ bekannt, hat ihm aus dem Dorf keiner zugetraut…
  • O-Ton Polizei Hannover (Name auf Band): …Lokführer meldete Person auf den Gleisen… vollbesetzte Regionalbahn…als wir gemerkt haben wer das ist waren wir alle sehr erschüttert…haben Auto gefunden…
  • O-Ton Stefan Wittke, Sprecher von Robert Enke:…sind alle sehr betroffen…habe ihn am Montag das letzte Mal gesehen, gab keine Anzeichen das was nicht in Ordnung ist…war ein großer Mann der uns verloren gehr…man kann noch nicht abschätzen was das für den Verein für Konsequenzen hat…
  • Schnittbilder

Bestellen Sie das TV-Material unter (…) – Standort: Hannover (…)

(Alle Formatierungen im Original)

Und die Fernsehsender nahmen das Angebot an und kauften die Aufnahmen. Mindestens das ZDF, RTL und Kabel 1 zeigten auch die Szene, in der wir erfahren, wie es aussieht, wenn eine Frau an den Ort kommt, an dem sich ihr Mann gerade das Leben genommen hat — ProSieben sogar unverpixelt, mit Ton und, für alle Fälle, Untertiteln.

Blut und Esskastanien

Es hat ja auch sein Gutes, wenn man sich stundenlang das Elend der Fernseh-Berichterstattung der vergangenen Tage ansieht. Ich habe dabei einen Ausschnitt aus der ZDF-Sendung „Drehscheibe Deutschland“ vom vergangenen Mittwoch gefunden, der in gerade einmal 50 Sekunden alles zeigt, was man über dieses tägliche Mittagsmagazin und sein journalistisches Selbstverständnis wissen muss:

So und so ähnlich geht das jeden Tag, und ich würde schätzen, dass das ZDF nicht nur der größte Abnehmer von Beiträgen über Zubereitungsideen von Herbstfrüchten, sondern auch von Filmen der professionellen Unfallgaffer ist. Einen Eindruck davon, was für ein Geschäft das ist, bekommt man zum Beispiel auf der Seite der Firma „TVR News“, von der auch die Bilder aus dem „Drehscheibe“-Beitrag stammen, wie ein Schwerverletzter aus seinem Auto geborgen gerettet wird.

(Aber, hey, sein Gesicht ist verpixelt. Das ist schließlich öffentlich-rechtliches Fernsehen!)

„Lebt er noch?“

Mittwochabend, 18 Uhr. Die ProSieben-Nachrichtensendung „Newstime“ macht mit dem Tod von Nationaltorwart Robert Enke auf. Stefan Landgraf berichtet.

„Der 32-Jährige hatte sich am Abend vor einen Zug geworfen, ganz in der Nähe seines Wohnortes. Enkes Ehefrau Teresa eilt sofort zum Ort der Tragödie.“

Wir sehen den Zug auf den Gleisen, das hellerleuchtete Führerhaus, Feuerwehrleute, die unter die Lok sehen. Dann die Straße, die Gleise, den Bahnübergang. Und eine junge Frau, die aufgeregt mit einer Gruppe von Helfern spricht. Sie dreht sich einem Polizisten zu. Wir hören, was sie sagt, aber weil ihre Stimme schrill und panisch ist, hat ProSieben es sicherheitshalber dazugeschrieben:

"Sagen Sie bitte, was mit meinem Mann ist."
(Screenshot: Pro Sieben. Unkenntlichmachung von mir.)

Von links läuft ein weitere Helfer ins Bild. Wir hören, wie der Polizist antwortet: „Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.“ Die Stimme der Frau überschlägt sich jetzt:

"Lebt er noch?"
(Screenshot: Pro Sieben. Unkenntlichmachung von mir.)

Der Polizist sagt noch einmal: „Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.“ Dann geht der Beitrag weiter mit Bildern derselben Frau Enke auf dem Weg zur Pressekonferenz. „Eine tapfere Frau“, nennt sie der Sprecher.

Als ich bei N24 anrufe, den Sender, von dem ProSieben seine Nachrichten bezieht, versteht man erst meine Frage nach irgendwelchen Reaktionen auf die Ausstrahlung dieser Szene nicht. (Ich wollte nicht gleich fragen, ob der verantwortliche Chefredakteur noch im Amt ist.) Außerdem sei das überall gelaufen, heißt es aus der Sendergruppe, teilweise allerdings verpixelt.

ProSieben-Sprecher Christoph Körfer sagt: „Aus Sicht der Nachrichtenredaktion war es angemessen, die Bilder zu zeigen.“

Nachtrag, 13. November. Mehr dazu hier.