Entspanntere Wahlabende mit stern.de

„Aktuelle News“ steht in der Titelzeile über der Startseite von stern.de, und das ist nicht nur ein alberner Pleonasmus, sondern bezeichnet ziemlich genau, aus welchem Geschäft sich der Online-Ableger des „Stern“ spätestens mit dem jüngsten Relaunch verabschiedet hat.

Ich hätte ja, ehrlich gesagt, größere Summen darauf gewettet, dass zum Beispiel am vergangenen Abend dort außer einem Pförtner niemand arbeitete. Aber Ralf Klassen, der Vize-Chef, twitterte gegen 17 Uhr:

In der Redaktion, noch knapp eine Stunde bis zu den ersten Prognosen der Landtagswahlen. Wir basteln an mehreren Szenarien… #Farbenlehre

Kurz darauf ergänzte er:

Erste Hürde genommen: Unsere super-schöne Wahlgrafik ist online. Zurzeit noch Umfragen, ab 18 Uhr mit aktuellen ARD/ZDF-Werten www.stern.de

Ich weiß persönlich nicht so genau, was für Kunststücke die ungezählten anderen Online-Medien vollbringen, auf deren Seiten schon seit Jahren an Wahlabenden aus Hochrechnungen und Ergebnisse Säulen- und Tortendiagramme werden. Ich weiß nur, dass die „super-schöne Wahlgrafik“ von stern.de dann zum Beispiel so aussah:


Aber das war nicht das eigentlich Frappierende an der Berichterstattung von stern.de am Wahlabend. Das eigentlich Frappierende an der Berichterstattung von stern.de am Wahlabend war, dass sie praktisch nicht stattfand.

Dies ist der Kopf der stern.de-Titelseite (die am Nachmittag noch wie die Wahlplattform der CDU-Sachsen aussah) um 18.34 Uhr:

Der Text dahinter ist eine knappste Zusammenfassung der Ergebnisse in den drei Ländern (mit einem weiteren Jemand-wirft-einen-Wahlzettel-in-die Urne-Bild als Illustration); die zweite verlinkte Geschichte ist ein vor der Wahl geschriebenes Erklärstück.

Dabei blieb es im Wesentlichen.

Um 19.06 Uhr war immerhin eine Fotostrecke hinzugekommen:

Und um 19.43 Uhr war der inaktuelle Zweittext, der rechts unten angeteasert wurde, gegen ein anderes, drei Tage altes Stück ausgetauscht worden:

Um 20.10 machte die Seite, die ihr Chef Frank Thomsen für die „bildstärkste Nachrichtensite im deutschsprachigen Internet“ hält und der der Branchendienst turi2 „opulente Optik“ und „neuen Glanz“ attestiert, immer noch mit dem erschütternd nichtssagenden und zeitlosen Platzhalterwahlmotiv auf:

Bevor es wenige Minuten danach gegen ein anderes klassisch-langweiliges Vor-der-Wahl-Foto von Wahlplakaten ausgetauscht wurde:

So etwas ähnliches wie aktuelle Berichterstattung bildete sich währenddessen nur in dem offenbar ohne weitere redaktionelle Betreuung vor sich hin arbeitenden „Newsticker“ ab:

An dem Wettlauf der Online-Medien nimmt stern.de nicht einmal mehr teil: In der aktuellen Berichterstattung beschränkt sich das Angebot — ergänzt um ein paar Kolumnen und Rubriken — inzwischen zum größten Teil auf Agenturmeldungen. Einzelne, gelegentlich herausragende Reportagen deuten an, was stern.de statt eines Nachrichtenportals sein könnte, aber auch nicht ist.

Bei stern.de kann man in diesen Wochen beobachten, wie es aussieht, wenn ein großes Medium den Glauben an das Internet (oder wenigstens seine Erlösmöglichkeiten) verliert. Und nachdem die News-Community „Tausendreporter“ und die Foto-Community „Augenzeuge“ bereits abgeschaltet wurden, kann es nicht mehr lange dauern, bis auch die Gaga- und Werberubrik „Shortlist“ den Gnadenschuss bekommt: Die Redaktion hat schon seit über zwei Monaten nichts mehr beigesteuert; auch von Lesern kommt kaum noch etwas, seit stern.de das dubiose Angebot kaum noch bewirbt.

Immerhin hat stern.de es im Lauf des Abends noch geschafft, eine Klickstrecke mit Archivfotos (!) und Reaktionen zu produzieren. Das Treffendste daran war die Anzeige darüber…

…die allerdings für die Zeitung „Die Welt“ wirbt.

Claus Jacobi, Günter Kießling & die Schwulen

Claus Jacobi hat ein Problem mit Schwulen. Vermutlich nicht nur mit Schwulen — wenn man seine samstägliche Kolumne in „Bild“ liest, kommt man leicht zu dem Schluss, dass er auch mit Ausländern, Frauen und der Wahrheit ein Problem hat, vielleicht auch nur mit der Moderne. Aber das mit der Homosexualität scheint ein besonderes zu sein.

2004 erzählte er in seiner Kolumne folgende Anekdote:

Vorsicht

Ein Mann mit Koffer hastete durch Berlins Flughafen Tegel. „Wohin so eilig?“, fragte ein Freund. Der Mann setzte seinen Koffer ab und sagte: „Im NS-Reich wurde es verfolgt. Unter Adenauer war es verboten. Unter Kohl wurde es erlaubt. Jetzt werden sie als Pärchen in der Kirche gesegnet.“ Er nahm den Koffer wieder: „Ich will weg sein, bevor es Pflicht wird.“

Bei BILDblog kommentierten wir damals:

Die Anekdote handelt offensichtlich von Homosexualität. Im Dritten Reich wurden rund 100.000 Menschen wegen ihrer Homosexualität in Konzentrationslager verschleppt und gefoltert, zwei Drittel davon ermordet. Viele weitere wurden zwangskastriert. Bis 1969 stellten die Paragraphen 175 und 175a homosexuelle Handlungen unter Strafe und trieben viele Schwule in die Isolation oder den Selbstmord. Erst 1994 wurde das Sonderstrafrecht für Homosexuelle abgeschafft.

Und Claus Jacobi erzählt einen Witz darüber, dass die Situation nicht 1933, nicht 1945, nicht 1954, nicht 1969 zum Weglaufen war, sondern heute, wo Schwule und Lesben viele Rechte haben und sichtbar in verantwortlichen Positionen sind. Was will er uns damit sagen?

Im November 1998 schrieb Claus Jacobi:

Schöne neue Welt? Neue deutsche Wirklichkeit: Er nimmt Viagra. Sie schluckt die Pille. Beate Uhse liefert zünftiges Zubehör. Die Tochter ist überzeugt, ihr Bauch gehört ihr. Der Sohn zieht in die romantischste Nacht seines jungen Lebens mit einem Kondom bewaffnet. Sexual-Unterricht in der Schule. Schwule und Lesben werden in der Kirche gesegnet. Die Bundesregierung arbeitet an Renten für Huren. Eine Kleinanzeige verheißt: „Frischfleisch aus Polen eingetroffen.“ Alle drei Minuten wird in diesem, unserem Land eine Frau vergewaltigt. Das Fernsehen unterweist in Sado und Maso. Auf der Bühne wird kopuliert. Kinder-Porno boomt. Abtreibung ist erlaubt

Das geht noch viele Absätze so weiter und mündet in die Sätze:

Millionen Eltern aber lieben bei uns ihre Kinder immer noch mehr als alles sonst auf der Welt, behüten und umsorgen sie. Mögen sie sich nie beirren lassen. Sie, nicht die anderen, sind Baumeister einer wirklich schönen Welt.

Immer wieder zählt Jacobi in seinen Kolumnen die Indizien für den Untergang des Abendlandes auf, und immer wieder gehört die Emanzipation von Schwulen und Lesben dazu. Im Mai 1998 schrieb er:

Jeder achte Deutsche glaubt, daß die Sonne sich um die Erde dreht. Schwule Paare dürfen Kinder adoptieren. Kunst kommt ohne Fellatio und Cunnilingus nicht mehr aus. Eine Bischöfin verlangt einen Staat „ohne Militär und ohne Grenzbewachung“, eine Universität schlägt vor, eine Straße nach Rudi Dutschke zu benennen. Und immer mehr wollen immer mehr Geld und Genuß, immer mehr Rechte und immer weniger Pflichten. „So kann es doch nicht weitergehen“, meinte eine alte Dame, die neu an Bord des „Narrenschiffs“ war. „So wird es auch nicht weitergehen, Gnädigste“, tröstete der Kapitän: „Es wird noch schlimmer werden.“ Ehe es besser werden kann – und bis dahin reisen Deutsche auf dem großen „Narrenschiff“ weiter in der Ersten Klasse.

Und im Januar 2006:

Das ist die Welt, in der wir leben: In Hamburg kann jeder fünfte Schulanfänger nicht richtig Deutsch. Das Fernsehen plant Serien über Schwule und Lesben. „Ich wollte ihn nur essen, nicht töten“, verteidigt sich ein Angeklagter vor Gericht. Manager, die Konzerne an den Rand der Pleite führten, erhalten zum Abschied Millionen Euro und Limousinen auf Lebenszeit. Deutsche Atomkraftwerke, die zu den sichersten der Welt zählen, sollen abgeschaltet werden. Die grüne Claudia Roth schwärmt von „Interkulturalität“. Eine Blinde möchte mit ihrem Blindenhund ins Kino. Susanne Osthoff wird für den Grimme-Preis vorgeschlagen. Schöne neue Welt …

Im April 2005 schrieb Claus Jacobi:

Die Medien berichteten über die Trennung des Schlagerstars Patrick Lindner von seinem Lebensgefährten Michael Link. Besonderes Mitgefühl galt dem siebenjährigen Jungen Daniel. Patrick Lindner hatte ihn in Rußland adoptiert, aber auch an Michael Link hatte der Junge sich angeschlossen. Interessante Psycho-Frage am Rande: Adoptieren Schwule eigentlich auch Mädchen? Selbst das Statistische Jahrbuch gibt da keine Auskunft.

Das ist ein typischer Jacobi. Und das Widerliche daran ist, dass er es gar nicht aussprechen muss, und es doch für jeden, der es lesen will, klar da steht: Schwulen vergehen sich im Zweifelsfall an kleinen Kindern. Nein, das hat Jacobi nicht geschrieben, und vermutlich würde er es auch weit von sich weisen, wenn man ihn mit dieser Interpretation konfrontierte. Aber was sonst soll die scheinbar unschuldige Frage bedeuten, ob Schwule auch Mädchen adoptieren? Der Unterschied zwischen schwulen und heterosexuellen Männern ist nicht, dass Schwule sich nicht für Frauen interessieren oder sie nicht mögen. Der Unterschied ist, dass sie mit ihnen in der Regel keinen Sex haben wollen.

Was, glaubt Jacobi, ist der Grund für Schwule, Kinder zu adoptieren?

Es war nicht sein erster Text, der Schwule subtil mit Pädophilen gleichsetzte. Im September 1998 schrieb Claus Jacobi:

Der deutsche Staat ist progressiv. Schwule Paare können Knaben adoptieren und 16jährige wählen. Müll geht als Kunst durch, mal sortiert, mal unsortiert. Sexualverbrecher erhalten Ausgang aus der Haft, und Junkies werden in staatlichen Fixerstuben umsorgt. Soldaten dürfen Mörder genannt werden, aber Raumpflegerinnen nicht Putzfrauen. Der deutsche Staat ist tolerant. Graffiti oder Gewalt gegen Sachen sind Kavaliersdelikte. Der Ladendieb ist Opfer des Konsum-Terrors. Wer einmal als Baby vom Nachttopf gefallen ist, darf bei Raub vor Gericht mit Nachsicht der Psycho-Sachverständigen rechnen.

Nicht Kinder, nicht Jungen und Mädchen: „Knaben“ können von schwulen Paare adoptiert werden, und Jacobi scheint eine klare Vorstellung davon zu haben, warum sie das tun wollen.

Im September 2006 schrieb Claus Jacobi:

Ab Juni 2007 wird in Berlin ein Mahnmal an die „im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen“ erinnern. Nach dem Entwurf soll im Innern ein Filmbild zwei einander küssende Männer zeigen. (…) Sogleich warnte der Regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit in „Emma“ davor, „weibliche Homosexuelle“ auszugrenzen und die Vorsitzende des Bundestags-Kulturausschusses, Monika Griefahn (SPD), die den Mahnmal-Entwurf „schlicht unangebracht“ findet, möchte auch „ein küssendes Frauenpaar“ sehen. Und das ist dann gut so?

Im November 2006 schrieb Claus Jacobi:

Ein Gericht im nahen New Jersey hat entschieden, dass zwei zusammenlebende Lesben als Eltern eines Neugeborenen anerkannt werden können. Und das ist auch gut so. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Unbeantwortete Nebenfrage: Wie kam die eine Lesbe zu dem Kind?

Ja, das würde Jacobi gerne wissen. Aber solche Dinge liegen nicht nur jenseits seiner Moral, sie übersteigen auch sein Vorstellungsvermögen. Er lebt in einer sehr kleinen Welt.

Im Juli 2009 schrieb Claus Jacobi:

Abgeordnete meiner Heimatstadt Hamburg haben in eindrucksvoller Weise dargestellt, wozu Volksvertreter fähig sind. Mit ihrer Hilfe soll an Schulen eine „Pixi“-Broschüre verbreitet werden. Es geht dabei nicht nur um Subventionen, sondern auch um Inhalte. Für die Auflage, die in ein paar Wochen erscheinen soll, sind bereits jede Menge Fortschritts-Korrekturen vorgesehen: Der deutsche Name Bruno soll durch den türkischen Namen Aydan ersetzt werden. Das Foto einer Schülergruppe wird durch einen Jungen im Rollstuhl bereichert. Ein Afro-Amerikaner zieht ins Parlament ein. Und das „Rednerpult“ soll künftig „Redepult“ heißen, damit Frauen nicht benachteiligt werden. Folge des Vorgehens der Politiker: Nun haben auch Hamburgs Homosexuelle Änderungswünsche bei Pixi angemeldet.

Fast muss man ihn dafür bewundern, dass man seinen Texten anliest, wie es ihn beim Schreiben geschüttelt hat.

Ich würde mich schämen, bei einem Medium zu arbeiten, das die Texte dieses Mannes veröffentlicht. Aber bei „Welt Online“ hielt man es für eine gute Idee, Günter Kießling, einem Mann, der vermutlich nicht schwul war, aber die Schwulenfeindlichkeit dieser Republik mit aller Wucht erfahren musste, mit der Wiederveröffentlichung eines alten Textes des homophoben Claus Jacobi zu würdigen. General Kießling ist gestorben, und die „Welt“ lässt Jacobi noch einmal dessen Rehabilitation als Heterosexueller mit den Worten zusammenfassen:

Kein Vorwurf gegen ihn hielt Stand. Seine Unschuld wurde erklärt.

Johannes Kram fasst die Logik dahinter bündig zusammen:

„Unschuld“ meint also „Nicht schwul“.

Ja. Im Sinne der Anklage. Und im Sinne Claus Jacobis.

Nobert Körzdörfer schwurbelte in seiner Inkarnation als David Blieswood: „Claus Jacobi ist ein Mann, wie sie nicht mehr gemacht werden vom lieben Gott.“ Schön wär’s.

Mit CDU/CSU und SPD sitzen Sie in der ersten Reihe

Womöglich hätte er es gemacht. Womöglich hätte sich Guido Westerwelle schnell noch, wie schon einmal 2002, zum „Kanzlerkandidaten“ seiner Partei küren lassen. Und womöglich hätten Grüne und Linke es geschafft, die Funktion ihrer „Spitzenkandidaten“ kurzfristig ebenfalls entsprechend umzuwidmen. Und die ARD hätte sich was einfallen lassen müssen.

Ulrich Deppendorf, der Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, hatte den drei Oppositionsparteien im Bundestag nämlich am Dienstagabend in der ARD-Sendung „Klartext“ einen verführerisch einfachen Weg angeboten, wie sie doch noch am „Duell“ am 13. September zwischen der Kanzlerin und ihrem Stellvertreter teilnehmen könnten. „Herr Westerwelle“, sagte Deppendorf süffisant, „Sie hätten das schnell ändern können. Sie hätten sich bloß zum Spitzenkandidaten auch fürs Kanzleramt aufstellen lassen können. Dann wären Sie zu dritt dabei. Sie haben ja noch eine Woche Zeit.“ Deppendorf sah dabei nicht aus, als hätte er einen Witz gemacht. Westerwelle wirkte nicht, als fände er es lustig.

Aber es stellt sich heraus: Deppendorfs Wort gilt nicht. Es reicht nicht, sich „Kanzlerkandidat“ zu nennen – obwohl das eine irgendwie dem Wahlkampf und seiner Inszenierung im Fernsehen angemessen absurde Regel gewesen wäre und die interessante weitere Frage aufgeworfen hätte, ob dann nicht auch Helga Zepp-LaRouche mitdiskutieren dürfen müsste, die „Kanzlerkandidatin“ der durchgeknallten „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“.

ARD-Chefredakteur Thomas Baumann jedenfalls erklärt auf Nachfrage des Fernsehblogs, welche Voraussetzungen der Spitzenkandidat einer Partei, die nicht SPD oder CDU heißt, erfüllen müsste, um zum Fernseh-„Duell“ zugelassen zu werden:

„Wenn er eine echte, reale Chance hätte, nach der Wahl tatsächlich zum Bundeskanzler gewählt zu werden. In Deutschland werden traditionsgemäß bei Koalitionsregierungen jene Spitzenkandidaten zum Kanzler gewählt, deren Partei die meisten Mandate erzielt hat.“

Nun weiß man weder, wer diesen Test mit der „echten, realen Chance“, Bundeskanzler werden zu können, durchführt, noch warum Frank-Walter Steinmeier ihn offenbar bestanden hat. Aber ein „Duell“ mit einer einzigen Teilnehmerin wäre womöglich sogar den Fernsehleuten, die sonst gar kein Gefühl für die Absurdität ihres Tuns haben, merkwürdig vorgekommen. Und wer weiß, ob Angela Merkel zugesagt hätte, gegen sich selbst anzutreten.

Sie mag ja offenbar auch der Einladung des ZDF zu einem Gespräch aller Spitzen- und Kanzlerkandidaten nicht folgen. Chefredakteur Nikolaus Brender hat seinen Frust darüber jetzt öffentlich gemacht, dass die Kanzlerin immer etwas Besseres zu tun habe, als sich mit den ganzen anderen vor Fernsehkameras auseinanderzusetzen. „Mit Händen und Füßen, scharfem Timbre in der Stimme und auch gutem Zureden“ versuche man, alle zusammen zu bekommen – dabei fragt man sich, wo das Problem liegt. Wenn Frau Merkel nicht mag, findet die Veranstaltung eben ohne sie statt. Aber nicht so, dass sie einfach fehlt und es wirkt, als stünde sie über dem Zank der Parteipolitiker. Sondern mit einer Papp-Merkel an ihrem Platz, die schweigend in der Redezeit, die der Kanzlerin eigentlich zustünde, eingeblendet wird. Oder alternativ mit Kanzlerkandidatin Zepp-LeRouche an ihrer Stelle.

Mag sein, dass es naiv ist anzunehmen, dass ARD und ZDF (und im Zweifelsfall auch RTL und Sat.1) sich trauen würden, die CDU-Vorsitzende in dieser Weise vor den Kopf zu stoßen. Aber natürlich könnte man es tun. Man müsste es nur wollen. Und dann würde man schon sehen.

Jedenfalls war es ein bemerkenswerter Moment in der Diskussionsendung „Klartext“ mit Deppendorf und Sandra Maischberger am Dienstagabend, als die Vertreter der Oppositionsparteien die ersten Minuten der Sendung dazu nutzten, den Vorwurf des langweiligen Wahlkampfes an die Fernsehleute zurückzugeben. „Wie soll denn da Spannung aufkommen“, fragte Gregor Gysi angesichts des „Kanzlerduells“. „Wenn Sie wenigstens einen kleinen Oppositionspolitiker wie mich einlüden, damit da ein bisschen was los wäre.“ Westerwelle gab ihm Recht und sagte an die Adresse der Moderatoren: „Beklagen Sie sich nicht darüber, dass der Wahlkampf Ihnen nicht spannend genug ist, wenn Sie ihn im Wesentlichen auf eine Auseinandersetzung beschränken zwischen der Regierungschefin und ihrem Stellvertreter.“

Die Schuldfrage um die empfundene Langeweile des Wahlkampfes war nicht der einzige schwarze Peter, um den es an diesem Abend ging. Der andere heißt mit Nachnamen Ramsauer, ist Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag und hätte in der Runde eigentlich nichts zu suchen gehabt. Angekündigt war eine Diskussion der „Fraktionsspitzen“ im Deutschen Bundestag, und die CSU bildet bekanntlich eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. Auf Nachfrage erklärt der für die Sendung verantwortliche WDR, dass im Untertitel genau deshalb die Rede nicht von „Fraktions-„, sondern von „Polit-Spitzen bei Maischberger und Deppendorf“ gewesen sei – die vage Formulierung umfasst natürlich nach Belieben auch weitere (semi)prominente Gäste, also auch Ramsauer.

Die Redaktion lässt verlauten, dass die CSU zwar keine Fraktion im Bundestag bilde, aber immerhin „in Fraktionsstärke“ vertreten sei. Außerdem hätte das Verwaltungsgericht schon bei den traditionellen Fernsehrunden der Parteivorsitzenden am Wahlabend entschieden, dass es rechtens sei, einen Vertreter der CSU einzuladen. Aber so absurd schon bei der „Berliner Runde“ nach Landtagswahlen außerhalb Bayerns die Präsenz eines CSU-Vertreters ist – dort sitzen wenigstens die Parteivorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien. Bei „Klartext“ saßen die Fraktionsvorsitzenden – und einen solchen kann die CSU nicht bieten.

Dass die Union doppelt vertreten war, sei eine redaktionelle Entscheidung, keine Vorgabe der Parteien gewesen, sagt der WDR. De facto konkurrierten die beiden Schwesterparteien in diesem Wahlkampf miteinander, und auch angesichts der Kabbeleien zwischen CSU und FDP habe man die Anwesenheit des Landesgruppenchefs für nötig gehalten: „Man kann es der CDU nicht überlassen, die CSU mit zu vertreten.“ Aha.

Deppendorf hätte vermutlich gesagt, „Sie können ja selber schnell noch den ein oder anderen Landesverband abspalten und wären auch doppelt mit dabei“, aber darauf hätte man sich natürlich auch wieder nicht verlassen können.

Und der MDR zeigt heute, zufällig drei Tage vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, eine viertelstündige Sondersendung „Wie weiter im Osten, Frau Merkel?“ mit der Bundeskanzlerin. Den Fragesteller spielt der CDUMDR-Chefredakteur Wolfgang Kenntemich. Kein Wunder, dass Frau Merkel da gerne zugesagt hat.

Und es wird keiner im Studio sein, der Kenntemich vor laufender Kamera die entscheidende Frage stellen könnte: Geht’s noch?

Nachtrag, 12.55 Uhr: Der MDR hat das Merkel-Interview abgesagt. Intendant Udo Reiter sagte, die Terminwahl sei unglücklich gewesen.

5000 Euro für die beste Online-Reportage

Geld verdienen mit Qualitätsjournalismus im Internet? Nichts leichter als das. Das „Reporter-Forum“ bietet 5000 Euro für eine einzige Reportage. Sie muss nur herausragend sein.

Das „Reporter-Forum“ ist ein loser Zusammenschluss von Autoren und will die Kultur des guten Geschichtenerzählens fördern. In diesem Jahr vergibt es zum ersten Mal den „Deutschen Reporterpreis“. Gesucht ist neben der „besten Reportage“ überhaupt, der „besten Lokalreportage“ und dem „Text des Jahres“ auch die „beste Web-Reportage“.

Alle Formen sind möglich: klassische Artikel, Liveblogging, Multimedia-Produktionen, was auch immer. Eine Jury, der unter anderem Axel Hacke, Erwin Koch, Alexander Osang, Doris Dörrie, Antje Kunstmann und Claus Kleber angehören, kürt im November die Sieger. Einsendeschluss ist der 1. Oktober; es bleiben also noch fünf Wochen zum Publizieren.

Nachtrag, 28. August. Inzwischen steht auch die Jury für den Online-Preis fest:

  • Else Buschheuer, Schriftstellerin
  • Kathrin Passig, Schriftstellerin
  • Wolfgang Büchner, dpa-Chefredakteur
  • Ariel Hauptmeier, Geo-Redakteur
  • Stefan Niggemeier, ich

Der Calli

Bei den Calmunds zu Hause gibt es zwei Schubladen mit Süßigkeiten. In der einen, im Esszimmer, liegt immer nur eine Tüte. Wenn die leer ist, fragt Reiner Calmund seine Frau, ob sie ihm neue Lakritzschnecken holt. Dann geht sie umständlich Umwege durchs Haus, damit er nicht merkt, dass der eigentliche Vorrat in einer anderen, randvollen Schublade in der Küche liegt. Vielleicht kann man daraus Schlüsse ziehen auf die Schlichtheit des Reiner Calmund. Bestimmt aber darauf, wie glücklich diese Ehe ist.

„Er ist, wie er ist, und er soll auch der dicke Calli bleiben“, sagt seine Frau am Anfang der Reihe, die Calmund ein Jahr lang beim Abnehmen und Fitwerden begleitet („Iron Calli“, dienstags, 22.15 Uhr, Vox). Die Haltung der Serie zu ihrem Protagonisten ist von ausgesuchter Ekelhaftigkeit: Vom „Speckpatienten“ redet der Sprecher trotz fehlender medizinischer Befunde und geilt sich daran auf, dass das Maßband nicht lang genug ist, um um dessen Bauch zu reichen. Das ist sicher ein Grund für seine Beliebtheit: dass man sich so sehr über ihn lustig machen kann.

Der andere muss sein: dass er so knuddelig ist. Eher im übertragenen, als im praktischen Sinne, aber Sylvia Calmund stellt zu Recht mit strahlenden Augen fest: „Alle lieben ihn.“ Er ist eine große Maskotte. Und er hat das Internet für sich entdeckt – ein überraschend naheliegender Ort für jemanden, der so bodenständig und kommunikationsfreudig ist wie er. Bei Twitter folgen ihm über 20 000 Menschen, und auf calli.tv macht er seine Fans mit kleinen Videos glücklich, in denen er als Kumpel, ohne die angestrengte Scheindistanz von Journalisten, Trainer interviewt oder in seinem bräsig-rheinländischen Singsang mit Analysen überrascht wie: „Bayern-Bremen? Das ist ohne Wenn und Aber das ab-so-lu-te Spitzenspiel dieses Spieltages.“ („Absolute Spitzen-“ ist Calmunds Universalattribut, ergänzt nur durch „Weltklasse“ und – beim Essen – „ein Gedicht“.)

Der schwachsinnige Kommentator, der Calmunds Abnehmversuch ein, höhö, „schweres Unterfangen“ nennt und meint, ihn, höhö, „hungert es nach Kontakten und Essbarem“, beschreibt ihn als vielbeschäftigten „Manager, Medienunternehmer, Kolumnist, Autor, Moderator oder Vortragsreisenden“. Calmund hat aus seinem Callisein einen Beruf gemacht. Er ist längst sein eigener Planet. Und das ist jetzt gar keine Anspielung auf irgendwas.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Programmhinweis (31)

Jetzt am Wochenende ist „Tag der offenen Tür“ bei der Bundesregierung, und aus irgendwelchen Gründen machen auch die Hauptstadtbüros von ARD, ZDF und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit.

Die F.A.Z. veranstaltet dazu ein kleines Diskussionsprogramm: Am Samstag kann man Michael Horeni (11 Uhr) und Carsten Germis (13 Uhr) zuhören oder Jürgen Trittin im Gespräch mit Markus Wehner erleben (15.30 Uhr); am Sonntag plaudern Joachim Jahn (13 Uhr) und Wulf Schmiese (14 Uhr) aus dem Nähkästchen. Es gibt lustig benannte Speisen und Getränke „in einem der schönsten Redaktionsgebäude der Hauptstadt“ (Mittelstraße 2-4).

Ach so, ja, und am Samstag um 12 Uhr unterhält sich mein alter Chef Claudius Seidl, Ressortleiter Feuilleton der „Sonntagszeitung“, mit mir über die „Zukunft der Zeitung“. Das wird bestimmt nett.

Demagogie und Journalismus

Natürlich hätte man sich denken können, wie sich das anhört, wenn eine Ministerin das Thema Kindesmissbrauch zu Wahlkampfzwecken missbraucht. Wenn sie sich als Retterin geschundener Kinderseelen aufspielt und mit dem Päckchen, das sie sich zum Thema Kinderpornographie und Internet geschnürt hat, über die Dörfer zieht, mit all den Lügen und Halbwahrheiten, der kalkulierten Emotionalität und den irreführenden Appellen an den vermeintlich gesunden Menschenverstand. Natürlich hätte man sich denken können, dass das kein schöner Anblick ist, insbesondere, wenn die Rednerin auf eine schreckliche Weise gut ist, wenn sie es schafft, dass die Zuschauer mit dem Tremolo in ihrer Stimme mitschwingen und keine Sekunde auf den Gedanken kommen, dass irgendjemand irgendetwas gegen das sagen könnte, was die sympathische Frau hinter dem Pult sagt und tut und fordert.

Und trotzdem fand ich es schockierend, den Auftritt von Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) am Montag in Sulzbach zu sehen:

Das ist das, was man Demagogie nennt.

Und jetzt kommt das, was man sich Journalismus nennt.

Die „Saarbrücker Zeitung“ berichtet über die Veranstaltung:

Sympathische Frau begeistert Sulzbacher

(…) Am Montagabend war die Kämpferin für eine neue Familienpolitik in Deutschland zu Gast in Sulzbach. In der Aula warteten 300 Gäste auf die „sympathische Revolutionärin“, wie von der Leyen gerne bezeichnet wird. Die Gruppe The Angels spielte den Titel „a beautiful day“, als die Ministerin pünktlich um 20 Uhr an der Aula eintraf. (…) Der [Festsaal] war rappelvoll und prächtig geschmückt. Das hatten die Damen der CDU-Frauen-Union erledigt. „Wir sind von dieser tollen Resonanz überwältigt“, freute sich [Innenminister] Klaus Meiser (…).

45 Minuten erläuterte die Ministerin dann ihre Thesen zur Familienpolitik. Am Ende ihres engagierten Vortrages gab es minutenlang Beifall von den Gästen. Alle waren begeistert von der Ministerin. „Eine sehr sympathische Frau“, so die überwiegende Meinung. Der Sulzbacher CDU-Chef Michael Adam überreichte Ursula von der Leyen noch einen Blumenstrauß – und weg war die Politikerin. Um 21.30 Uhr war noch ein Termin, der letzte an diesem Tag im Saarland. Es sah nicht so aus, als mache ihr der Terminstress etwas aus. Mit einem Lächeln im Gesicht stieg die 50-Jährige in den grauen Audi mit Berliner Kennzeichen.

(Argumente gegen Ursula von der Leyen und ihren Propaganda-Feldzug bei Thomas Stadler, „c’t“, netzpolitik.org.)

[via Ralf Schwartz]

18 Prozent

Es scheint einen breiten Konsens unter Journalisten zu geben, dass die 18 Prozent, die Horst Schlämmer angeblich bekommen würde, wenn er bei den Bundestagswahlen anträte, ein Armutszeugnis für die Politik seien. Dass die ganze Geschichte ein Armutszeugnis für ihren eigenen Berufsstand sein könnte, darauf kommen sie nicht.

Ausgangspunkt des Ganzen ist eine Forsa-Umfrage, die der „Stern“ in Auftrag gegeben hat, dessen Online-Ableger sie am vergangenen Mittwoch so zusammenfasste:

In einer Umfrage für den stern bejahten 18 Prozent der Bundesbürger die Frage, ob sie sich vorstellen können, die „Horst-Schlämmer-Partei“ zu wählen.

Nun könnte man sich fragen, ob das so spektakulär ist. Ich zum Beispiel, ich würde jetzt bei der Bundestagswahl die Horst-Schlämmer-Partei nicht wählen. Das hat die Horst-Schlämmer-Partei mit der FDP gemein, die ich auch nicht wählen würde. Grundsätzlich könnte ich mir aber vorstellen, die FDP zu wählen. Kann ich mir vorstellen, die Horst-Schlämmer-Partei zu wählen? Naja, vermutlich nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dem Forsa-Mann, wenn er anruft und mir die lustige Frage in netter Form stellt, zu antworten, dass ich mir durchaus vorstellen könne, die Horst-Schlämmer-Partei zu wählen.

Hey, es ist eine Meinungsumfrage! Horst Schlämmer gibt es nicht, die Horst-Schlämmer-Partei gibt es nicht. Es ist absolut folgenlos, was ich sage. Warum soll ich da ein Spielverderber sein und sagen, dass ich es mir nicht einmal vorstellen könne, die zu wählen?

Vermutlich haben sie bei stern.de selbst gemerkt, dass die teure Umfrage nicht so atemberaubend ist, und ihr Ergebnis in der Überschrift gleich einmal verfälscht: „Fast jeder Fünfte würde Schlämmer wählen“.

Der Siegeszug dieser, äh, Nachricht begann, wie üblich, mit der Nachrichtenagentur dpa („Horst-Schlämmer-Partei genießt hohe Wählergunst“ und „Horst Schlämmer — alias Hape Kerkeling — hätte am 27. September eine durchaus realistische Chance, in den Deutschen Bundestag einzuziehen“) und setzte sich mit unterschiedlichen Graden der Verfälschung, der politischen Interpretation und des allgemeinen Wahnsinns fort.

Die Münchner Boulevardzeitung „tz“ gab ihr in einem Kommentar am nächsten Tag gleich mal die nötige Fallhöhe:

Wenn es nach CDU-Vizechef Christian Wulff geht, entscheidet nach der Wahl nicht die Kompetenz der Minister-Kandidaten, ebenso kein Wahlergebnis oder der entsprechende Wählerwillen. Aber wählen, ja das dürfen und sollen wir gnädigerweise doch noch — Arroganz und Abgehobenheit in Reinkultur.

Da verwundert es überhaupt nicht, wenn laut Forsa 18 Prozent der Deutschen lieber einen Spaßpolitiker wie Hape Kerkelings Horst Schlämmer zum Kanzler wählen würden. Denn bei so traurigen Realpolitikern wie Wulff hilft nur eines: Bitteres Lachen.

„Bild“ schrieb:

Horst Schlämmer fast so stark wie die SPD!

Die „Berliner Zeitung“ analysierte mit einer Ernsthaftigkeit, die an Ottos Versuch erinnert, den Schlager „Theo, wir vier fahr’n nach Lodz“ zu interpretieren:

„Ist das nun Zufall oder ebenfalls ein Spiegel der gegenwärtigen Verhältnisse, dass diese 18 Prozent vor ein paar Jahren das Wahlziel einer Partei gewesen sind, die damals unter ihrem Vorsitzenden Guido Westerwelle als Spaßpartei in den Wahlkampf zog und in diesem Jahr nach dem 27. September als FDP gemeinsam mit CDU/CSU die Bundesregierung zu stellen wünscht?“

Die „Berliner Zeitung“ nutzte auch die Gelegenheit, Kanzleramtschef Thomas de Maizière mit der Frage zu konfrontieren:

„Das Institut Forsa hat ermittelt, dass 18 Prozent die Schlämmer-Partei wählen würden, obwohl es die gar nicht gibt. Was sagt Ihnen das?“

Und die „Welt am Sonntag“ brachte in einem Interview mit der bayerischen FDP-Vorsitzenden Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Erkundigung unter:

Die Horst-Schlämmer-Partei würde laut Umfragen 18 Prozent schaffen, gibt Ihnen das zu denken?

Der „Focus“ witzelte:

Das Programm, das Steinmeier doch noch Kanzler werden ließe, hat sich leider ein Konkurrent gekrallt: Horst Schlämmer von der HSP. Und auch wenn die CDU zugleich konservativ, liberal und links daherkommen will: Die HSP hat diese Positionen längst als ihr Glaubensbekenntnis besetzt.

Katzen würden sonst was kaufen, können sie aber nicht. Und deutsche Wähler (18 Prozent laut Umfrage) würden Horst Schlämmer wählen.

dpa raunte:

Ein brisantes Ergebnis, fanden auch die Betroffenen am roten Teppich: Denn es waren gestern Abend auch echte Politiker zur Premiere gekommen.

Der Kölner „Express“ und der „Berliner Kurier“ sprachen von einer „Ohrfeige für CDU, SPD & Konsorten“ und verrechneten sich wie folgt:

Schlämmer wäre mit seiner HSP zurzeit drittstärkste Partei. Laut der neuesten Forsa-Umfrage liegt die Union bei 38% (+1), die SPD bei 21% (+1), die FDP bei 13 (-1), die Grünen bei 12% (-1) und die Linken gleichbleibend bei 11%.

Die „Badische Zeitung“ überraschte mit der Überschrift:

Vorsprung für Schwarz-Gelb — 18 Prozent für Horst Schlämmer

Der Berliner „Tagesspiegel“ gab sich besorgt:

Die HSP würde, träte sie denn zur Wahl an, auf Anhieb auf 18 Prozent in diesem Lande kommen. (…) 18 Prozent, das ist in etwa das derzeitige realistische Wahlziel der SPD. Damit zöge die HSP locker in den Bundestag ein, wäre mit ihrem breitgefächerten Profil ein interessanter Koalitionspartner: „konservativ, links, liberal, grün“. Aus dem Stand heraus. Mit nur einem einzigen Parteimitglied. Und der, die Kröte müsste Frau Merkel, müsste Herr Steinmeier schlucken, hat selbst Machtansprüche: „Isch kandidiere“, sagt er, und „Ja, isch will Bundeskanzler werden.“ (…)

Inhalte? Wer will noch Inhalte, Pläne, Ziele? 18 Prozent der Deutschen wollen das alles nicht, schauen nicht auf Parteiprogramme, bewerten keine Taten, wollen keinen Blick nach vorne, wollen offensichtlich überhaupt nichts, was gemeinhin Politik heißt. Wahrscheinlich, weil sie beliebig ist, so beliebig, dass auch die HSP fähig erscheint. Wie gut für die Parteien, dass die HSP nicht antritt, nur fiktiv ist und ein Scherz in einem Film. Real ist alleine der Umfragewert. Das alleine kann ein bisschen Angst machen.

Der „Spiegel“ kam immerhin darauf, dass man selbst mit im Boot sitzt:

Am Donnerstag schaffte es Kerkeling auf die Titelseite der „Hamburger Morgenpost“ mit der Schlagzeile, dass 18 Prozent Horst Schlämmer zum Bundeskanzler wählen würden. Das spricht nicht für die Politik, nicht für das Volk und nicht für einen Journalismus, der politischen Klamauk allzu gern zur großen Sache macht.

„Taxi Kasupke“, seinerseits eine Art Witzfigur der „Berliner Morgenpost“, balinerte:

Kanzla-Kandidat Steinmeier hätte statt Ulla Schmidt bessa Horst Schlämmer in sein Kompetenz-Team jeholt — der is glaubwürdijer.

Und die „Hamburger Morgenpost“ fragte (leider nur rhetorisch):

Kann es wirklich sein, dass jeder Fünfte eher einen fiktiven Politiker wählt als die existierenden? Ist das nicht eine Ohrfeige für die Politik?

Mein Lieblingstext aber ist der staatstragende Kommentar von Anne-Kattrin Palmer aus dem „Berliner Kurier“ mit der ebenso mahnenden wie falschen Überschrift: „Schlämmer ist kein Witz“:

Da wählen Menschen lieber eine Kultfigur, eine Scherz-Ikone als einen „echten“ Politiker.

Denn viele Menschen identifizieren sich mit ihm. Und zwar eher als mit unseren Politikern, weil unseren Parteien leider die herausragenden Persönlichkeiten ausgehen. Viele nehmen Politik nur noch als Gemisch, als Mittelmaß wahr.

Jetzt können Politiker sagen: Ach, das ist doch nur eine Scherz-Umfrage. Da ist doch nichts dran.

Irrtum: Der schräge Schlämmer begeistert nun mal. US-Präsident Barack Obama übrigens auch. Und der ist Politiker.

Und all die Kollegen, die dies und noch viel mehr aus einer schwachsinnigen Umfrage mit unspektakulärem Ergebnis gemacht haben: Sie glauben allen Ernstes, dass es die Politik ist, um die man sich Sorgen machen muss, und die Bürger, die irgendwie fehlgeleitet sind.

Nein. Die Journalisten sind die mit dem an der Waffel.

[inspiriert durch ix, den „Postillon“ und einige Kommentare hier]