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Ich war heute Nachmittag bei der Aufzeichnung der RTL-Bürgersprechstunde mit Frank-Walter Steinmeier und habe mich davon noch nicht wieder erholt. Zum Glück waren wir Presseleute (überwiegend bemitleidenswerte Agenturkollegen, nehme ich an) in einem abgedunkelten Nebenraum untergebracht, so dass ich während der Sendung meinen Kopf in den Händen vergraben konnte, was nicht nur half, das Elend nicht mitansehen zu müssen, sondern auch verhinderte, dass er mit einem lauten TOCK auf die Tischplatte knallte.
Hintergrund und Thema des ersten Fragers hätte Steinmeier mühelos vorher erraten können: Es war ein Mitarbeiter von Hertie, der nun, nachdem die letzten Kaufhäuser geschlossen wurden, arbeitslos wird und wissen wollte, warum die Bundesregierung für seinen Arbeitgeber nicht gekämpft habe wie für Opel und Arcandor. Steinmeier beantwortete die Frage nicht. Stattdessen stellte er fest, dass so eine Insolvenz und Arbeitslosigkeit ja eine Zäsur sei. „Ich selbst komme an vielen Kaufhäusern von Hertie vorbei“, sagt er, „in denen es jetzt dunkel sein wird.“ Er bescheinigte dem Mann, dass er als langjähriger Verkäufer sicher „gut und freundlich mit Kunden umgehen“ könne, was ja eine schöne Qualifikation sei, und Leute mit Erfahrung würden ja immer gebraucht. „Rücken Sie den Mitarbeitern von der Arbeitsagentur richtig auf die Pelle; sagen Sie denen, ich kann was, ich will was, ich will arbeiten, so schnell wie möglich, und ich bin mir sicher, da geht auch noch was“, fügte er hinzu und riet dem Mann: „Nicht den Kopf hängen lassen, immer wieder nach vorne schauen!“
Anstatt die schlichte Frage zu beantworten, versuchte sich Steinmeier an einer Instant-Lebensanalyse des Hertie-Mannes. Er fragte ihn, ob er verheiratet sei und Familie habe („Wenn man Kinder hat, ist die Verantwortung noch größer“), erkundigte sich nach seiner „Belastungssituation“ („Belastungssituation?“, fragte der Verkäufer verständnislos zurück), wollte wissen, welches Finanzierungsinstitut für seinen Hauskredit zuständig sei. Ich bin mir fast sicher, dass er sich noch nach Haustieren, Sternzeichen, vererbbaren Krankheiten in der Familie und der Farbe des Läufers im Flur erkundigt hätte, wenn die Moderatoren nicht das Thema gewechselt hätten.
Als nächstes kam eine Frau an die Reihe, die nach irgendeinem geisteswissenschaftlichen Studium gerne in die PR gegangen wäre, aber nicht aus der endlosen Schleife von Praktika herauskommt. Sie wollte von Steinmeier wissen, wie er die versprochenen 500.000 Arbeitsplätze in der Kreativindustrie schaffen wollte. Aber irgendein schlechter Berater muss dem Kanzlerkandidaten eingeimpft haben, dass es in dieser Show darum gehe, sich um Einzelschicksale zu kümmern — dabei wären die Betroffenen schon glücklich gewesen, wenn Steinmeier einfach nur ihre Fragen beantwortet hätte. Mit vereinten Kräften mussten die Moderatoren und die Frau selbst Steinmeier davon abbringen, darauf zu bestehen, dass sie einen Bewerbungsaufruf in die Kamera spricht, um so einen Arbeitgeber zu finden. (Die 500.000 Arbeitsplätze in der Kreativindustrie entstehen übrigens, wenn ich es richtig verstanden habe, durch ein verbessertes Urheberrecht und höhere Rentenansprüche für Künstler.)
Ein „Internet-Frager“, wie RTL das nannte, stellte Steinmeier die berechtigte Frage, ob er keine Angst habe, dass sein Versprechen von den vier Millionen Arbeitsplätzen ins Buch der Geschichte eingehen werde — gleich neben die „blühenden Landschaften“ von Helmut Kohl. Steinmeier antwortete, man könne sowas natürlich immer karikieren, aber: „Ich finde, wir müssen uns selbst ein bisschen ernst nehmen.“ Ja, wenn es schon kein anderer tut.
Wenn die Moderatoren Maria Gresz und Peter Kloeppel versuchten, Steinmeiers Monologe zu unterbrechen und ihn mit konkreten Fragen konfrontierten, redete der Außenminister einfach weiter, was im Fernsehen nicht so richtig gut wirkt. In der Nicht-Antwort auf die Frage eines Unternehmers, warum die Regierung den Mittelstand nicht so fördere wie die Großunternehmen, brachte Steinmeier die Formulierung unter: „Wenn Sie meine Rede gehört haben, die ich hier kürzlich bei der Karl-Schiller-Stiftung gehalten habe…“
Vermeintliche Erfolge verkaufte Steinmeier mit der Formulierung: „Auch das ham wir einigermaßen hingekriegt.“ Ansonsten sprach er sich entschieden dafür aus, gute Dinge zu erreichen: Altenhelferinnen besser behandeln, Verantwortung für die Soldaten in Afghanistan übernehmen, was für die Bildung tun.
Ich kann mich nur an einen einzigen Grund erinnern, den er nannte, warum man ausgerechnet seine Partei wählen sollte: Weil die Union Steuersenkungen verspricht, die sie eh nicht umsetzen kann. Wirtschaftsminister Guttenberg wolle sogar die Mehrwertsteuer erhöhen, warnte Steinmeier. Irgendwie glaube ich nicht, dass es viele Menschen gibt, die dumm genug sind, noch einmal die SPD zu wählen, weil sie verspricht, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen.
Können wir nicht folgenden Deal machen? Wir einigen uns darauf, dass Union und FDP die Wahl gewinnen und lassen dafür die noch ausstehenden sechs Wochen Wahlkampfelend ausfallen. Irgendwie habe ich nach dem heutigen Nachmittag das Gefühl, dass sogar Frank-Walter „Wahlkampf macht Spaß“ Steinmeier dafür zu gewinnen wäre.
Ich würde schätzen, dass die Sendung heute Abend noch schlechtere Zuschauerzahlen hat als die erste Ausgabe mit Angela Merkel. Dass RTL diese Wahlkampfshows trotzdem macht, liegt vermutlich an einem Restgefühl von gesellschaftlicher Verantwortung als großer Fernsehsender. Das ist theoretisch lobenswert, führt aber praktisch in die Irre. Jede weitere Sendung wie diese erhöht die Politikverdrossenheit und schadet der Demokratie.
Nachtrag, 17. August. Die Quote war tatsächlich katastrophal.