An: Hajo Schumacher, Waffelkönig

Lieber Herr Schumacher,

ich weiß, dass Sie schneller schreiben, als Sie denken können, aber Ihr heutiger Beitrag auf der Titelseite der „Berliner Morgenpost“, den Sie auch auf N24 vorgelesen haben, hat mich trotzdem überrascht. Sie haben einen „offenen Brief“ an Horst Schlämmer verfasst:

Lieber Horst Schlämmer,

Sie können ein klares Wort vertragen. Deswegen hier mal ein paar Punkte, die manchen Menschen ganz gehörig auf den Sack gehen, wie man bei Ihnen in Grevenbroich so sagt. Erstens: Sie sind gar kein Politiker, sondern ein mehr oder weniger lustiger Komiker.

Sie nehmen sich alle Freiheiten dieses Staates, indem Sie heute diesen und morgen jenen veräppeln. Das ist Ihr gutes Recht.

Zwei Punkte unterscheiden Sie von einem richtigen Politiker. Erstens: das Ziel. Sie wollen dieses Land nicht besser machen, gestalten oder opponieren — Sie wollen einfach nur Filmtickets verkaufen und Werbeverträge einheimsen. (…)

Sie übernehmen keine Verantwortung, sondern verstecken sich in Ihrer Witzewelt. Dass 18 Prozent der Deutschen Sie angeblich wählen würden, beweist nicht Ihre Großartigkeit als Komiker, sondern nur, dass etwa einer von fünf Landsleuten schlichtweg einen an der Waffel hat, wie Sie es ausdrücken würden. (…)

Herr Schumacher? Horst Schlämmer ist kein Komiker. Genau genommen gibt es Horst Schlämmer gar nicht. Horst Schlämmer ist eine Kunstfigur von Hape Kerkeling — das ist der Komiker. Das ist, in Ihren Worten, die „Zecke am Allerwertesten der Demokratie“, die „deren Freiheiten“ nutzt, „um sie lächerlich zu machen“.

Vermutlich haben Sie recht, und man muss schon ganz schön blöd sein, um eine Witzfigur mit einem Politiker zu verwechseln — und sogar wählen zu wollen. Ich frage mich nur: Wie viel blöder muss man sein, um eine Witzfigur mit ihrem Schöpfer zu verwechseln — und ihr sogar einen Brief zu schreiben?

Ihr
Stefan Niggemeier

Super-Symbolfotos (71)

Heute schauen wir nach Österreich oder genauer: Wie es auf uns schaut. Thomas Schaller hat sich für die Hörfunkwelle Ö1 des ORF mit dem Aufstieg der Piratenpartei beschäftigt und eine klischee- und metaphernreiche Kolumne verfasst:

Nun vermute ich, dass die Beziehung zwischen Bild und Bildtext eher indirekter Natur ist und das Foto gar nicht zeigt, was aus Deutschland geworden ist. Aber was sonst? Ist das der Riss, der durch unsere Gesellschaft geht? Ein Piratenschiff (Detail)? Der Topf, in dem in Deutschland besonders heiß gekocht wird (womöglich mit Brei inside)? Das Fass, dem der Tropfen die Krone aufsetzt?

[eingesandt von Aleks]

Warum Paid-Content-Versuche gut sind

„Wir müssen als Verleger alles versuchen, um eine Wirtschaftsgrundlage für die digitale Welt zu schaffen.“

Das hat Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende der Axel-Springer-AG, nicht gesagt. Gesagt hat er:

„Wir haben als Verleger geradezu eine heilige Verantwortung, alles zu versuchen, um eine Wirtschaftsgrundlage für die digitale Welt zu schaffen.“

So groß ist die Hybris dieser Menschen. So ungetrübt ihr Glaube an das Heilsbringende, das geradezu Göttliche der eigenen Existenz.

In einem Interview mit der „FAZ“ kündigte Döpfner am Freitag an, bei den Online-Auftritten der Regionalzeitungen des Verlages ein „Freemium-Modell“ einzuführen:

„Allgemeine Nachrichten sind für den Leser gratis, Premiuminhalte kosten Geld. Wer etwa die Exklusivgeschichte aus der Stadtverordnetensitzung lesen möchte, das Archiv oder den Staumelder nutzen will, muss zahlen.“

Nun gibt es zwar weder in Berlin noch Hamburg überhaupt Stadtverordnete, und ich habe weder auf den Seiten des „Hamburger Abendblattes“ noch der „Berliner Morgenpost“ Staumelder gefunden (dafür aber — kostenlos — auf denen von NDR und RBB), aber vermutlich darf man einem Kreuzritter nicht mit so lächerlichen Details kommen. So ein Döpfner denkt in ganz anderen, heiligen, Kategorien, und meint, dass die Leser „über Jahrhunderte“ bewiesen hätten, dass sie für wirklich attraktive Inhalte auch Geld bezahlen würden.

Nun ja.

Ganze Heerscharen von Verlegern haben der angeblichen „Kostenlos-Kultur“ im Internet den Kampf angesagt. Angeführt von Rupert Murdoch wollen sie ihre Inhalte — oder wenigstens einen Teil davon — nur noch zahlenden Kunden zugänglich machen. Dafür ernten sie viel Spott von Bloggern und Netzaktivisten.

Doch bei aller Skepsis, ob die Pläne aufgehen: Ihre Versuche sind eine große Chance, weil sie die Verlage zu einem entscheidenden Umdenken zwingen. Wer überhaupt eine Chance haben will, Leser zum Bezahlen für seine Inhalte zu bringen, muss Qualität liefern.

Dass der deutsche Online-Journalismus in einem so trostlosen Zustand ist, liegt nicht nur an den geringen Einnahmen. Es liegt auch daran, dass er in weiten Teilen gar nicht für Leser gemacht ist, sondern für die Klickzähler der IVW und für Google.

Journalismus ist eine Dienstleistung, und über Jahrtausende, wie Döpfner sagen würde, versuchten gute Journalisten, Nachrichten so aufzuschreiben, dass die Leser möglichst viel davon hatten. Ob es darum ging, Sachverhalte möglichst einfach oder knapp zu erklären oder in großer Tiefe verständlich zu machen — Geschäftsgrundlage war der Versuch, den Leser zufrieden zu stellen und zu einem glücklichen Kunden zu machen.

Im real-existierenden Online-Journalismus geht es darum häufig nicht. Nicht einmal die komischen Leute vom „Hamburger Abendblatt“ werden annehmen, dass sich ihre Leser freuen, wenn ihnen „alle 68 neuen Fahrradstationen“ in der Stadt auf 68 einzelnen Seiten verteilt präsentiert werden. Oder dass sie es zu schätzen wissen, dass sie bis zu 175-mal klicken dürfen, wenn sie herauszufinden wollen, ob sie mit ihrem Auto „Gewinner und Verlierer bei der neuen Kfz-Steuer“ sind.

Diese Klickstrecken sind nicht nur ein merkwürdiger Spleen, sie sind ein Symbol für die Perversion des journalistischen Selbstverständnisses in vielen Online-Medien. Die Unzufriedenheit des Lesers wird in Kauf genommen, um die Klickzahlen in die Höhe zu treiben.

Außer auf die IVW ist diese Inhalteproduktion auch auf die Suchmaschinen hin optimiert. Ob zum Beispiel die Überschrift über einem Artikel den Lesern gefällt, ist häufig nur noch ein Zweitargument neben der wichtigeren Frage, ob sie Google gefällt, sprich: Ob der Aufbau und die enthaltenen Schlagwörter dazu führen, dass der Artikel weit oben in den Suchergebnissen auftaucht.

Bei bezahlten Angeboten sind solche Kriterien nachrangig. Wer in einem Umfeld aus kostenlosen Inhalten Geld nehmen will, kann überhaupt nur eine Chance haben, wenn er den Leser als Kunden ernst nimmt und alle anderen Erwägungen seiner Zufriedenheit unterordnet. Verlage, die Inhalte kostenpflichtig machen wollen, werden gezwungen zu überlegen, was ihre Angebote besser macht als die der Konkurrenz oder wenigstens einzigartig. Sie werden Andersartigkeit als Chance entdecken müssen und nicht mehr auf bloße Reproduktion des Vorhandenen setzen können. Sie werden Konzepte entwickeln müssen, wie Leser mit möglichst wenig Klicks an gewünschte Informationen kommen und nicht mit möglichst vielen. Vielleicht entdecken sie auch andere Themen als lukrativ, weil sich zwar Trilliarden von Menschen für die neuesten Britney-Spears-Gerüchte interessieren, wenn man sie frei Haus bekommt, aber doch eher nur einem Bruchteil von ihnen das auch Geld wert wäre, und plötzlich Relevanz wieder ein Auswahlkriterium werden könnte. Sie werden so attraktiv sein müssen, dass sie Menschen etwas wert sind, und nicht mehr bloß attraktiv genug, um kostenlos angeklickt zu werden. Womöglich werden die Medien sogar transparent werden und ihre Fehler korrigieren, weil jemand, der für Journalismus zahlt, das zukünftig erwartet.

Okay, ein Traum.

Aber genau darum geht es ja: Die Verleger träumen davon, für ihre journalistischen Inhalte im Internet Geld nehmen zu können. Sie werden das, wenn überhaupt, nur mit guten Journalisten und gutem Journalismus erreichen — was bisher nicht unbedingt die dominierenden Mittel im Wettlauf um Klicks und Werbeeinnahmen waren.

Ich freue mich auf den Versuch.

Bürger fragen, Steinmeier fragt zurück


Foto: RTL

Ich war heute Nachmittag bei der Aufzeichnung der RTL-Bürgersprechstunde mit Frank-Walter Steinmeier und habe mich davon noch nicht wieder erholt. Zum Glück waren wir Presseleute (überwiegend bemitleidenswerte Agenturkollegen, nehme ich an) in einem abgedunkelten Nebenraum untergebracht, so dass ich während der Sendung meinen Kopf in den Händen vergraben konnte, was nicht nur half, das Elend nicht mitansehen zu müssen, sondern auch verhinderte, dass er mit einem lauten TOCK auf die Tischplatte knallte.

Hintergrund und Thema des ersten Fragers hätte Steinmeier mühelos vorher erraten können: Es war ein Mitarbeiter von Hertie, der nun, nachdem die letzten Kaufhäuser geschlossen wurden, arbeitslos wird und wissen wollte, warum die Bundesregierung für seinen Arbeitgeber nicht gekämpft habe wie für Opel und Arcandor. Steinmeier beantwortete die Frage nicht. Stattdessen stellte er fest, dass so eine Insolvenz und Arbeitslosigkeit ja eine Zäsur sei. „Ich selbst komme an vielen Kaufhäusern von Hertie vorbei“, sagt er, „in denen es jetzt dunkel sein wird.“ Er bescheinigte dem Mann, dass er als langjähriger Verkäufer sicher „gut und freundlich mit Kunden umgehen“ könne, was ja eine schöne Qualifikation sei, und Leute mit Erfahrung würden ja immer gebraucht. „Rücken Sie den Mitarbeitern von der Arbeitsagentur richtig auf die Pelle; sagen Sie denen, ich kann was, ich will was, ich will arbeiten, so schnell wie möglich, und ich bin mir sicher, da geht auch noch was“, fügte er hinzu und riet dem Mann: „Nicht den Kopf hängen lassen, immer wieder nach vorne schauen!“

Anstatt die schlichte Frage zu beantworten, versuchte sich Steinmeier an einer Instant-Lebensanalyse des Hertie-Mannes. Er fragte ihn, ob er verheiratet sei und Familie habe („Wenn man Kinder hat, ist die Verantwortung noch größer“), erkundigte sich nach seiner „Belastungssituation“ („Belastungssituation?“, fragte der Verkäufer verständnislos zurück), wollte wissen, welches Finanzierungsinstitut für seinen Hauskredit zuständig sei. Ich bin mir fast sicher, dass er sich noch nach Haustieren, Sternzeichen, vererbbaren Krankheiten in der Familie und der Farbe des Läufers im Flur erkundigt hätte, wenn die Moderatoren nicht das Thema gewechselt hätten.

Als nächstes kam eine Frau an die Reihe, die nach irgendeinem geisteswissenschaftlichen Studium gerne in die PR gegangen wäre, aber nicht aus der endlosen Schleife von Praktika herauskommt. Sie wollte von Steinmeier wissen, wie er die versprochenen 500.000 Arbeitsplätze in der Kreativindustrie schaffen wollte. Aber irgendein schlechter Berater muss dem Kanzlerkandidaten eingeimpft haben, dass es in dieser Show darum gehe, sich um Einzelschicksale zu kümmern — dabei wären die Betroffenen schon glücklich gewesen, wenn Steinmeier einfach nur ihre Fragen beantwortet hätte. Mit vereinten Kräften mussten die Moderatoren und die Frau selbst Steinmeier davon abbringen, darauf zu bestehen, dass sie einen Bewerbungsaufruf in die Kamera spricht, um so einen Arbeitgeber zu finden. (Die 500.000 Arbeitsplätze in der Kreativindustrie entstehen übrigens, wenn ich es richtig verstanden habe, durch ein verbessertes Urheberrecht und höhere Rentenansprüche für Künstler.)

Ein „Internet-Frager“, wie RTL das nannte, stellte Steinmeier die berechtigte Frage, ob er keine Angst habe, dass sein Versprechen von den vier Millionen Arbeitsplätzen ins Buch der Geschichte eingehen werde — gleich neben die „blühenden Landschaften“ von Helmut Kohl. Steinmeier antwortete, man könne sowas natürlich immer karikieren, aber: „Ich finde, wir müssen uns selbst ein bisschen ernst nehmen.“ Ja, wenn es schon kein anderer tut.

Wenn die Moderatoren Maria Gresz und Peter Kloeppel versuchten, Steinmeiers Monologe zu unterbrechen und ihn mit konkreten Fragen konfrontierten, redete der Außenminister einfach weiter, was im Fernsehen nicht so richtig gut wirkt. In der Nicht-Antwort auf die Frage eines Unternehmers, warum die Regierung den Mittelstand nicht so fördere wie die Großunternehmen, brachte Steinmeier die Formulierung unter: „Wenn Sie meine Rede gehört haben, die ich hier kürzlich bei der Karl-Schiller-Stiftung gehalten habe…“

Vermeintliche Erfolge verkaufte Steinmeier mit der Formulierung: „Auch das ham wir einigermaßen hingekriegt.“ Ansonsten sprach er sich entschieden dafür aus, gute Dinge zu erreichen: Altenhelferinnen besser behandeln, Verantwortung für die Soldaten in Afghanistan übernehmen, was für die Bildung tun.

Ich kann mich nur an einen einzigen Grund erinnern, den er nannte, warum man ausgerechnet seine Partei wählen sollte: Weil die Union Steuersenkungen verspricht, die sie eh nicht umsetzen kann. Wirtschaftsminister Guttenberg wolle sogar die Mehrwertsteuer erhöhen, warnte Steinmeier. Irgendwie glaube ich nicht, dass es viele Menschen gibt, die dumm genug sind, noch einmal die SPD zu wählen, weil sie verspricht, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen.

Können wir nicht folgenden Deal machen? Wir einigen uns darauf, dass Union und FDP die Wahl gewinnen und lassen dafür die noch ausstehenden sechs Wochen Wahlkampfelend ausfallen. Irgendwie habe ich nach dem heutigen Nachmittag das Gefühl, dass sogar Frank-Walter „Wahlkampf macht Spaß“ Steinmeier dafür zu gewinnen wäre.

Ich würde schätzen, dass die Sendung heute Abend noch schlechtere Zuschauerzahlen hat als die erste Ausgabe mit Angela Merkel. Dass RTL diese Wahlkampfshows trotzdem macht, liegt vermutlich an einem Restgefühl von gesellschaftlicher Verantwortung als großer Fernsehsender. Das ist theoretisch lobenswert, führt aber praktisch in die Irre. Jede weitere Sendung wie diese erhöht die Politikverdrossenheit und schadet der Demokratie.

Nachtrag, 17. August. Die Quote war tatsächlich katastrophal.

Flausch am Sonntag (5)

Ich habe „Wo die wilden Kerle wohnen“ nie gelesen; ich glaube, ich habe überhaupt erst vor kurzem zum ersten Mal davon gehört. Aber ich kann gar nicht aufhören, die Trailer für den Film von Spike Jonze anzugucken, der kurz vor Weihnachten in die deutschen Kinos kommt. Jedesmal wieder machen sie so ein warmes Gefühl im Bauch.

Gefährliches Halbwissen

Es ist, wie immer, alles noch schlimmer. Der traurige Versuch einer „Spiegel“-Redakteurin, in der ohnehin unwürdigen Presseschau-Rubrik des „ZDF-Morgenmagazins“ die Titelgeschichte des Blattes zum Thema Recht im Internet zu erklären, der als YouTube-Video seit einigen Tagen die Runde macht — das war ihr wacher Auftritt.

Dies hier ist ihr Auftritt in derselben Sendung, zum selben Thema, eine gute Stunde zuvor:

Ich weiß nicht, ob diese Sprach- und Haltlosigkeit repräsentativ für die Redaktion des Nachrichtenmagazins ist. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass genau diese Mischung aus halb verstandenen Schlagworten und nicht verstandenen Zusammenhängen für einen Großteil der Bevölkerung exakt das ist, was von den Diskussionen der vergangenen Wochen und der „Spiegel“-Titelgeschichte hängen geblieben ist.

Wenn der Abmahner zweimal klingelt

Claudia Pechstein vermutet, dass Jens Weinreich gedopt war, als er über sie schrieb, dass vieles dafür spricht, dass sie gedopt hat, aber das hier wird kein Text über Leute, die Dinge sportlich nehmen. Im Gegenteil.

Jens Weinreich (die Älteren werden sich noch an seine Auseinandersetzung mit DFB-Präsident Theo Zwanziger erinnern) ist einer von den Kollegen, nach denen auf irgendwelchen Podien über Qualität im Journalismus dauernd gerufen wird. Er ist einer der wenigen investigativen Sportjournalisten, kritisch und unabhängig, er recherchiert statt abzuschreiben, er verbeißt sich in Themen, auch wenn sie gerade keine Konjunktur haben. In seinem Blog zapft er das Wissen seiner Leser an und veröffentlicht Original-Dokumente, damit sich jeder selbst ein Bild machen kann. Und wenn er etwas nicht weiß, schreibt er das ebenso auf, wie wenn er etwas falsch gemacht hat.

Er ist, mit anderen Worten, eine unfassbare journalistische Nervensäge, und es gibt sicher eine erhebliche Zahl von Leuten, die nur darauf warten, dass sie ihm an den Karren fahren können.

Am vergangenen Donnerstag berichtete er über die Blutdoping-Fernsehshow der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein und machte einen Fehler. Er schrieb zum Beispiel in der Online-Ausgabe der „Frankfurter Rundschau“:

Inhaltliche Schwer- und Reizpunkte setzten die beiden von der Verteidigung beauftragten und bezahlten Gutachter: Holger Kiesewetter aus Berlin und Rolf Kruse vom Referenz-Institut für Bio-Analytik in Bonn.

Weinreich selbst hatte in der Pressekonferenz nach der Bezahlung gefragt, aber die Antwort teilweise falsch verstanden. Kiesewetter bekam Geld für sein Gutachten, Kruse nicht.

Nun hätte es vermutlich ausgereicht, Weinreich eine kurze Mail mit der Bitte um Korrektur zu schreiben, und alles spricht dafür, dass er dieser Bitte auch dann sofort nachgekommen wäre. Aber Weinreich erhielt keine Bitte um Korrektur, sondern noch am selben Abend per Fax eine Abmahnung von Simon Bergmann, dem Anwalt von Claudia Pechstein. Er wurde aufgefordert, eine Unterlassungserklärung abzugeben.

So eine richtige Abmahnung hat gegenüber einer bloßen Aufforderung zur Richtigstellung einen schönen Nebeneffekt: Sie kostet den Abgemahnten Geld, sogar dann, wenn er der Forderung sofort nachkommt. Im konkreten Fall sind es Abmahngebühren in Höhe von 775,64 Euro inklusive Mehrwertsteuer für die Arbeitszeit des Anwalts.

Das kann man natürlich machen. Womöglich ist es im besten Interesse von Claudia Pechstein, wenn ihr Anwalt gleich mit großer Wucht gegen falsche Darstellungen ihrer Verteidigungsstrategie vorgeht, vielleicht war das auch ein Anliegen von Frau Pechstein selbst, die „Weinrich“ für den „naivsten Sportjournalisten“ hält, von dem sie „bislang je etwas lesen durfte“. Und natürlich muss ein Journalist für seine Fehler geradestehen — auch wenn er in diesem Fall einen unverhältnismäßig hohen Preis für ein offenkundiges Missverständnis zahlt.

So weit, so alltäglich.

Am nächsten Tag bekam Jens Weinreich eine weitere Abmahnung. Er sollte sich noch einmal verpflichten, den bereits einmal abgemahnten Satz nicht mehr zu wiederholen. Diesmal trat Simon Bergmann allerdings nicht als Anwalt, sondern als Klient auf. Absender des Schreibens war sein Sozius Christian Schertz.

Das ist ein lustiger Trick. Man behauptet, dass die falsche Aussage über Rolf Kruse und die „Verteidigung“ von Pechstein nicht nur die Rechte von Pechstein verletze, sondern auch die ihres Anwalts. Und verdoppelt so die Zahl der Abmahnungen. Und die Höhe der geforderten Abmahngebühren: auf schlappe 1551,28 Euro.

Hier ist Simon Bergmann nicht mehr für Claudia Pechstein im Einsatz. Hier handeln er und Christian Schertz quasi auf eigene Rechnung. Und womöglich hatten sie davon noch eine offen. Denn Weinreich und Schertz kennen sich persönlich — von der Auseinandersetzung zwischen dem Journalisten und Theo Zwanziger. Schertz vertrat dabei den DFB und seinen Präsidenten und musste eine Reihe peinlicher juristischer Niederlagen hinnehmen.

Die Frage, ob Schertz im Recht ist und Bergmann einen Anspruch gegenüber Jens Weinreich jenseits der (längst erfolgten) Korrektur des Fehlers hat, überlasse ich gerne Juristen. Aber was die Motivation des Vorgehens angeht, spekuliere ich gerne: Es könnte ein persönlicher Akt der Revanche sein. Oder der Versuch, einen kritischen, lästigen Journalisten einzuschüchtern. Es geht nicht um Gerechtigkeit (und um die Wahrheit schon gar nicht); es geht um Schadensmaximierung. Wer es wagt, kritisch über Pechstein und ihre Fernsehshow zu berichten, wer sich traut, kritisch über Simon Bergmann und seine PR- und Verteidigungsstrategie zu berichten, wer hartnäckig nervt, soll gewarnt sein: Schon ein blöder Fehler kann richtig teuer werden.

Christian Schertz hat uns bei BILDblog und mich bei den juristischen Auseinandersetzungen um dieses Blog sehr unterstützt. Aber ich habe mich (auch weil es schon früher Anlass für Zweifel gab) entschieden, mich in Zukunft nicht mehr von der Kanzlei Schertz-Bergmann vertreten zu lassen.

„Diebe, Rufmörder, Kinderschänder“

Es gibt eine ganz einfache Methode, aus Texten über das schlimme Internet die Luft herauszulassen. Man ersetze in ihnen einfach „digital“ durch „analog“ und „Netz“ durch „Welt“ und schaue, ob die Aussagen trotzdem stimmen.

An einem zentralen Absatz der aktuellen „Spiegel“-Titelgeschichte lässt sich das ganz gut demonstrieren:

Im Netz In der Welt tost nicht nur Karneval, es herrscht auch Krieg. Der Cyberspace Die Welt des 21. Jahrhunderts ist in der Hand von globalen Playern des Kommerzes, Finanzjongleuren, wirtschaftlichen und politischen Tyrannen. Die Grauzonen dieser neuen Weltordnung werden vom organisierten Verbrechen genutzt. Während an der Oberfläche des digitalen analogen Reichs tausend bunte Blumen blühen, Shopping, Chats, Schöngeistiges, wuchert im Wurzelwerk darunter ein Pilzgeflecht aus Intrigen, Täuschung und Terror.

Passt. Was der „Spiegel“ als bemerkenswerte Eigenart des Internet beschwört, ist also nur eine allgemeine Zustandsbeschreibung unserer Welt.

Man hätte im konkreten Fall natürlich auf den Test auch verzichten können, weil das Nachrichtenmagazin im nächsten Satz versucht, einen tatsächlichen Gegensatz zwischen „Netz“ und „Welt“ aufzubauen, und kläglich scheitert:

Das Netz, so sehen es manche, bedroht den Frieden der Welt.

Der Friede der Welt ist bedroht?? Nein, halt: Es herrscht ein Friede der Welt??

Ich wüsste gerne, ob die Menschen in der Dokumentation des „Spiegel“ wenigstens kurz in sich hineingekichert haben, als sie das lasen, bevor sie sich wieder an die anderen Artikel im Heft über Piraten, Terroristen, den „Kriegseinsatz von Ärzten“, ein „Kriegsverbrechertribunal für Bangladesh“, Vergewaltigungen als „Alltag des Krieges“ im Kongo, die „tödliche Logik der Gewalt“ in Nahost und „Hollywoods Kampf gegen den Irak-Krieg“ setzten.

Die These des Aufmachers lautet etwa: „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, kann aber leicht mit einem verwechselt werden“, möglicherweise aber auch: „Das Internet ist ein rechtsfreier Raum, müsste das aber nicht bleiben“, ganz genau ist das nicht auszumachen. Das Stück gehört zum beliebten „Spiegel“-Multi-Autoren-Genre, in dem das Hauptziel ist, so viele Namen, Zitate und Faktenfetzen wie möglich in einem Text unterzubringen, die dann notdürftig miteinander verbunden werden.

Argumentative Stringenz ist dabei natürlich optional. So packen die Redakteure die Geschichte des Buchhändlers Amazon, der von ihm illegal verkaufte digitale Bücher auf den Lesegeräten seiner Kunden kürzlich löschte, in das Kapitel, in dem sie behaupten, dass der „digitale Fortschritt die zivilisierte Welt in die Zeit der Selbstjustiz, des Faustrechts zurückführen könnte“. Dabei ist der Fall ein interessantes Beispiel für das Gegenteil. Dass es unendlich dumm war von Amazon, die Bücher einfach zu löschen, ist das eine. Das andere ist: dass Amazon womöglich im Recht war. Wer gutgläubig Diebesgut kauft, hat keinen Anspruch darauf, es behalten zu dürfen. Im „wahren Leben“ kommt dann zwar auch nicht der Buchhändler und holt ein solches Buch aus dem Regal. Aber das Recht gilt, es lässt sich bloß nicht oder nur unter größten Mühen durchsetzen. Mit anderen Worten: Die analoge Welt ist ein rechtsfreier Raum. (Warten Sie nicht auf die entsprechende „Spiegel“-Titelgeschichte.)

Es gäbe unendlich viele solche Beispiele, auf die man aber natürlich nicht kommt, wenn man gleich am Anfang des Artikels die analoge Welt als Friedensidyll beschrieben hat. Bei allem gelegentlichen Versuch zum Differenzieren verlässt der „Spiegel“-Artikel auf seinen Millionen Zeilen an kaum einer Stelle die Grundannahme, dass es darum gehe, das Internet soweit zu zähmen, dass es so frei und zivilisiert wird wie der Rest der Welt. Dass viele Mächtige, nicht nur in China, längst erfolgreich daran arbeiten, im Internet Dinge zu kontrollieren, auf die sie außerhalb des Netzes keinen Zugriff haben, passt nicht ins Denkmuster der „Spiegel“-Geschichte. Dabei verbindet sich mit dem Internet genau so der Traum von der totalen Kontrolle wie der von der totalen Freiheit.

Perfide ist der Text gleich am Anfang, als er erst beschreibt, wie ein Polizist im Internet gegen Kinderpornographie kämpft, und dann fortfährt:

Sie sind ganz schön weit, die Kämpfer um die staatliche Hoheit im Cyberspace.

Die an der anderen Front aber auch. Die Flagge mit dem schwarzen Segel auf weißem Grund weht schon in unmittelbarer Nähe des Berliner Regierungszentrums: Die Piratenpartei hat Ende Juni ihr Wahlkampfbüro für die Bundestagswahl eröffnet.

„Die an der anderen Front“? Da muss man schon sehr genau aufpassen beim Lesen, um nicht zu denken, dass die Piratenpartei für den freien Zugang zu Kinderpornographie kämpft.

Was der „Spiegel“ aber mit den merkwürdigen Sätzen meint, dass es mit Informationen im „Paralleluniversum“ (gemeint ist das Internet) schlimmer sei „als mit Atommüll“ („Sie haben nicht einmal eine Halbwertszeit. Im Internet gibt es keine Zeit und keinen Zerfall.“), testet derweil eine „Spiegel“-Redakteurin mit einem denkwürdigen Auftritt im „ZDF-Morgenmagazin“:

 
Lesenwerte Auseinandersetzungen mit dem „Spiegel“-Titel:

  • Felix Schwenzel (1): „so ist das beim spiegel. arschiges verhalten ist beim spiegel OK, bei anderen ist es vergleichbar mit dem wirken eines polizeistaates.“ (wirres.net)
  • Felix Schwenzel (2): „schlimm und skandalös findet der spiegel auch, dass der urheber eines hassvideo gegen einen bayerischen lateinlehrer nie gefunden werden konnte. nur ob das wirklich etwas mit dem internet zu tun haben muss oder vielleicht der mangelhaften welt in der wir leben (oder gar schlechter polizeiarbeit), kommt den besorgten autoren nicht in den sinn. ich erinner mich zum beispiel daran, dass die schüler die einem lehrer an meiner schule hundescheisse auf die winschutzscheibe und die lüftung schmierten ebenso wie die, die den vorgarten des direktors verwüsteten und sein haus mit klopaier schmückten, nicht identifiziert werden konnten.“ (wirres.net)
  • Alexander Svensson: „Dass das Domainnamensystem den Übergang vom Wissenschaftler-Internet zum globalen Netzwerk mit mehr als einer Milliarde Nutzern einigermaßen unbeschadet überstanden hat, ohne völlig auseinanderzufliegen, ist schon eine Leistung. Was für ein Wahnsinn ist da ein Plädoyer, ICANN binnen zwei Monaten in „eine supranationale unabhängige Instanz“ zu verwandeln und mit „weitreichenden Befugnissen und Mitteln“ auszustatten, ohne auch nur einmal über Legitimation und Kontrolle zu reden, von den genauen Aufgaben ganz zu schweigen.“ („Wortfeld“)
  • Christian Stöcker: „Insgesamt aber muss, wer das Internet für überwiegend schädlich hält, ein Menschenfeind sein. Das Netz ist vor allem eins: Der größte Informationsvermittler und -speicher, den die Menschheit jemals zur Verfügung hatte. Vor nicht allzu langer Zeit herrschte im alten Europa noch Konsens darüber, dass mehr Information in der Regel besser ist als weniger Information. Dass die Möglichkeit, Bildung und Wissen zu erwerben, begrüßenswert ist, dass die Welt dadurch zu einem besseren, freieren, womöglich glücklicheren Ort wird.

    Manchmal kann man dieser Tage den Eindruck bekommen, dieser alte Konsens gelte nun nicht mehr: Weil unter der vielen Information im Netz auch so viel ist, das dem einen oder anderen nicht behagt. („Spiegel Online“)

(Das letzte ist natürlich nicht wirklich eine Antwort auf den „Spiegel“-Artikel. Liest sich aber so.)