Hamburger Bankrott-Erklärung

Die deutschen Verleger haben einen überraschenden Durchbruch im Kampf ums Überleben erzielt. Ihre Forderung, im Internet besser behandelt zu werden, ist offenbar auf europäischer Ebene erfüllt worden. In einem „internationalen Abkommen“ wurde festgelegt, „geistiges Eigentum“ künftig besser zu schützen. Das berichtet bereits seit vorvergangenem Donnerstag das große deutsche Online-Portal Bild.de:

Das ist… öhm, wie sag ich’s? Unsinn.

Es hat eine fast beruhigende Konsequenz, dass die Deppen von Bild.de es nicht einmal bei einer Pressemitteilung ihres eigenen Verlages und einem Thema, das der Axel Springer AG augenblicklich am Herzen liegt wie kein zweites, schaffen, korrekt zu berichten. Sie haben das Unterschreiben einer Forderung mit einem „Abkommen“ verwechselt und die Übergabe dieser Forderung mit ihrer Erfüllung — Gott, das ist aber auch schwer auseinander zu halten.

Helmut Heinen, der Präsident des Zeitungsverlegerverbandes BDZV, und sein Hauptgeschäftsführer Dietmar Wolff werden also wohl noch eine Weile Zeit haben, ihre Leistungen im Synchronsprechen zu perfektionieren. (Heinen: „Wir werden es nicht länger hinnehmen, dass aufwändig produzierte Qualitätsinhalte der Verlage von Dritten kommerziell genutzt werden, ohne dass dafür auch nur ein Cent an die Verlage zurückfließt.“ Wolff: „Wir können nicht länger hinnehmen, dass unsere teuer produzierten Qualitätsinhalte von Dritten be­denkenlos kommerziell genutzt werden, ohne dass dafür auch nur ein Cent an die Verlage gezahlt wird.“)

Es ist davon auszugehen, dass die Verleger mit „Qualitätsinhalten“ auch das meinen, was die Produktion bei Bild.de täglich so ausstößt. Weniger klar ist, wer eigentlich die Leute sind, die ihnen diese Inhalte so „kommerziell“ oder gar „bedenkenlos kommerziell“ wegnehmen.

Die Firma Google, die sich — wohl nicht zu unrecht — angesprochen gefühlt hat, hat schon lapidar darauf hingewiesen, dass kein Autor oder Verleger es hinnehmen muss, dass seine Inhalte mithilfe von Suchmaschinen für die Öffentlichkeit auffindbar gemacht werden. Ein einfacher Befehl verwehrt Google den Zugriff und damit die kommerzielle Vermarktung dieser Suchergebnisse durch Google (reduziert allerdings auch die Zahl der Leser dramatisch).

Die bloße Möglichkeit der Verweigerung ist natürlich angesichts der marktbeherrschenden Stellung des Unternehmens und seiner beunruhigenden Intransparenz keine befriedigende Antwort. Aber sie zeigt, dass die Behauptung eines unzulässigen, ungewollten Zugriffs auf Verlagsinhalte abwegig ist. Die Verlage stören sich nicht am Zugriff, im Gegenteil, sie sind abhängig davon. Sie sind nur nicht mehr zufrieden damit, dass sie von Google nur Leser bekommen. Sie wollen auch Geld.


Foto: Axel Springer

Die „Hamburger Erklärung“ (Foto: internationale Version), auf die sich die eingangs erwähnte Falschmeldung von Bild.de bezieht, ist am 8. Juni 2009 von den sechs Hamburger Verlagen Bauer („Coupé“), Springer („Bild“), Ganske („Für Sie“), Gruner+Jahr („Stern“), „Spiegel“ und „Zeit“ unterschrieben worden. Seitdem gibt es eine Art Wettlauf, möglichst viele weitere Unterzeichner zu versammeln. In der Erklärung heißt es:

Zahlreiche Anbieter verwenden die Arbeit von Autoren, Verlagen und Sendern, ohne dafür zu bezahlen.

Ich habe bis heute nicht verstanden, wer sich hinter diesen „zahlreichen Anbietern“ verbirgt. Aber die vielen Unterzeichner können mir das ja bestimmt erklären. Und bei der Gelegenheit gleich mit, wen sie meinen, wenn sie schreiben:

„Wir widersprechen all jenen, die behaupten, dass Informationsfreiheit erst hergestellt sei, wenn alles kostenlos zu haben ist.“

Also mal bei ein paar Unternehmen nachgefragt:

  • Beim „Spiegel“ sind leider gerade alle Leute, die mir meine Fragen offiziell beantworten könnten, im Urlaub.
  • Bei der Nachrichtenagentur dpa betont man, die Erklärung nicht unterzeichnet zu haben, sondern sie nur zu „unterstützen“, weshalb man man auch nicht für jede Formulierung einstehen könne. Auch konkrete Beispiele für die „zahlreichen Anbieter“, die die Arbeit anderer im Internet verwenden, möchte Sprecher Justus Demmer nicht nennen. „Aber dass es das gibt, ist unstrittig.“ Ist es?
  • Die Sprecherin des „Zeit“-Verlages ist erst im Urlaub. Ihre Vertretung empfiehlt, falls die Zeit drängt, sich mit den Fragen „an einen der Hauptinitiatoren der ‚Hamburger Erklärung‘, beispielsweise Axel Springer AG, zu wenden“. Als die Sprecherin selbst wieder zurück ist, bittet sie, sich mit den Fragen „direkt an die Verbände“ zu wenden, die Auskunft geben, „also EPC bzw. WAN-IFRA oder VDZ“.
  • Der Verlag Axel Springer bedankt sich bei mir für das „Interesse an Axel Springer“, möchte aber die Fragen nicht beantworten: Man solle sich mit ihnen „direkt an die Verbände: VDZ/BDZV für Deutschland oder EPC/WAN-IFRA auf internationaler Ebene“ wenden.
  • Die Verlagsgruppe Handelsblatt möchte zwar ebenfalls keine Beispiele für die angeblich „zahlreichen Anbieter“ nennen. Sprecher Georg Wallraf erklärt aber:

    Wie beispielsweise dpa mit einer speziellen Software Attributor durchforsten auch wir — derzeit noch anhand von Suchworten — systematisch das Internet, um die Nutzung unserer Artikel zu verfolgen. Dabei stellen wir einerseits häufig Verstöße gegen das Urheberrecht fest, die heute schon aufgrund der Rechtslage verfolgt werden können. Darüber hinaus gibt es aber auch eine Vielzahl von Adaptionen unserer Inhalte, die wir nicht mit urheberrechtlichen Mitteln bekämpfen können. Es handelt sich dabei z.B. um solche Seiten, die z.B. durch eine Inhaltsbeschreibung unserer Artikel und unter Ausnutzung unseres Logos unsere Stellung als Verlagshaus nutzen, um die Informationen auf ihren Seiten aufzuwerten und dem Leser entsprechende Orientierung zu vermitteln. Konkrete Beispielsfälle will ich hierzu nicht nennen, weil sie nicht Thema einer größeren öffentlichen Auseinanderseztung sein sollen.

    Auf die Frage, wer denn behaupte, dass „alles kostenlos zu haben“ sein muss, verweist er „auf eine auch im Rahmen des Urheberrechtes geführten Diskussion, die eine noch deutlichere Entsprechung auf europäischer Ebene hat“ und nennt als einziges Beispiel den Heise-Artikel über den Vortrag des Münsteraner Urheberrechts-Experten Thomas Hoeren mit der Überschrift: „Informationsfreiheit hat Priorität vor dem Urheberrecht“.

    Der Artikel ist siebeneinhalb Jahre alt. Er stammt vom 29. Januar 2002. Ich bezweifle auch, dass man der Position von Professor Hoeren gerecht wird, wenn man ihm die Forderung unterstellt, alles müsse kostenlos sein. Gegenüber der „Welt“ hat er erst vor wenigen Tagen unter bestimmten Voraussetzungen für ein Leistungsschutzrecht für Buch-Verleger plädiert — genau das, was die Presseverlage auch fordern.

  • Der Burda-Verlag tut sich schwer, meine Fragen spontan zu beantworten, bietet aber nach eineinhalb Tagen Bedenkzeit folgende Zitate:

    In der Erklärung heißt es: „Zahlreiche Anbieter verwenden die Arbeit von Autoren, Verlagen und Sendern, ohne dafür zu bezahlen.“ Können Sie mir Beispiele für solche Anbieter nennen?

    Zum Beispiel die zahlreichen Angebote, die Online-Inhalte aggregieren — allen voran selbstverständlich Google.

    In der Erklärung heißt es: „Wir widersprechen all jenen, die behaupten, dass Informationsfreiheit erst hergestellt sei, wenn alles kostenlos zu haben ist.“ Können Sie mir sagen, wer solche Forderungen vertritt?

    Die Debatte um die kostenlose und freie Nutzung aller Online-Inhalte — auch jener, die derzeit bereits ausreichenden Schutz genießen — zieht ja mittlerweile weite Kreise bis hin zu politischen Initiativen (weitreichende Forderungen in diesem Sinne z.B. http://www.piratenpartei.de/navigation/politik/unsere-ziele.)

    Gut, das mit der Piratenpartei habe ich kommen sehen. Dazu ließe sich jetzt inhaltlich einiges sagen, was die wirklich fordert. Aber man darf vermutlich nicht vergessen, dass die „Hamburger Erklärung“ am Tag nach der Europawahl verabschiedet wurde, bei der die Piraten erdrutschartige 0,9 Prozent der Stimmen erzielten.

  • Gruner+Jahr hat mir eigentlich eine Antwort versprochen (am Montagnachmittag habe ich zum ersten Mal angefragt), das scheint aber noch zu dauern.

    Nachtrag, 23. Juli: Anstelle einer Antwort schreibt mir Gruner+Jahr:

    Zu Frage 1:
    Damit sind alle Anbieter gemeint, die ohne ausdrückliche Zustimmung von Verlagen Inhalte redaktioneller Websites kopieren und auf ihren eigenen Seiten veröffentlichen. Nicht gemeint ist die Verlinkung auf redaktionelle Websites.

    Zu Frage 2:
    Dies spricht vor allem diejenigen an, die einen universellen Zugang, den auch wir befürworten und praktizieren, mit zwingend kostenlosem Zugang verwechseln.

  • Und der Zeitschriftenverlegerverband VDZ hat sich bislang nicht zurückgemeldet, aber ich weiß nicht: Irgendwie habe ich das Gefühl, es lohnt sich nicht, darauf zu warten.

Die Presseverleger haben sich offenkundig zum Ziel gesetzt, mit der „Hamburger Erklärung“ den Erfolg des „Heidelberger Appells“ nachzuahmen — einem Pamphlet, das Dinge vermischt, die nichts miteinander zu tun haben, und als Diskussionsgrundlage völlig untauglich ist, aber inzwischen von Hans und Franck unterschrieben wurde. Unter der Hand lassen manche keinen Zweifel daran, was für ein grauenhaftes Dokument diese „Hamburger Erklärung“ ist, die offenbar aus dem Bereich des Axel-Springer-Außenministers Christoph Keese stammt (und deren englische Übersetzung, die der EU-Kommission übergeben wurde, bizarrerweise nicht einmal mit dem Original übereinstimmt).

Es ist ein Dokument der Hilflosigkeit, ein ziellos-hysterisches „So tu doch einer was“, bei dem es auf Inhalte nicht ankommt, solange nur möglichst viele mitschreien. Kein Wunder, dass die einzelnen Verlage nicht wissen, was sie genau da unterschrieben haben, oder keine Lust haben, sich dazu öffentlich zu äußern. Es eint sie das Gefühl, dass irgendwer jetzt aber echt mal irgendwas tun muss — und es hilft sogar, die Forderungen nicht zu konkret zu formulieren, sonst fällt noch jemandem auf, wie radikal sie sind.

Burda deutet es wenigstens an: Es geht nicht nur um Google, sondern um Aggregatoren allgemein. In Wahrheit stört die Verleger zum Beispiel schon ein Angebot wie Turi2, das die Nachrichten des Tages (mehr oder weniger gut) zusammenfasst. Mit etwas Pech reicht den Lesern schon der eine Satz, der bei Turi steht, und sie schenken dem Medium, das ihn (womöglich aufwändig) recherchiert hat, nicht einmal mehr einen Klick, der sich in einen (mickrigen) Werbeerlös umwandeln lässt.

Das ist ein Problem, aber um es mit Google zu sagen: „Einige Vorschläge der Nachrichten-Verleger haben die besten Absichten, aber würden die Art, wie das Netz funktioniert, grundlegend verändern — zum Schlechten.“

Ja, da gibt viel zu diskutieren und zu bedenken, und manche Mechanismen des Web, die es erleichtern, Zugang zu Nachrichten und hochwertigen Inhalten zu bekommen, erschweren gleichzeitig die Produktion dieser Nachrichten und hochwertigen Inhalte. Und die Antwort der Verlage auf diese Herausforderung ist es, eine „Hamburger Erklärung“ zu unterschreiben, deren wirre Behauptungen man auf Nachfrage nicht einmal belegen kann oder mag? Wirklich?

 

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Virtualität

Was hätte Bernhard Grzimek geantwortet, wenn man ihm gesagt hätte, tolle Neuigkeiten, wir haben jetzt eine Technik, mit der wir wilde Tiere neben Sie virtuell ins Studio beamen können? Mein Tipp wäre: „Vielen Dank, aber ich möchte dann doch lieber den richtigen Affen auf mir rumkrabbeln lassen.“

Sie ist merkwürdig, unsere Faszination für die Virtualität, die mit dem neuen ZDF-Nachrichtenstudio einen Höhepunkt erreicht hat, und man kann die Beteuerungen, wieviel besser man damit Informationen vermitteln kann, komplett als PR-Mumpitz abtun. Man braucht kein virtuelles Studio, um zu zeigen, wo es bei einem Atomkraftwerk gebrannt hat. Im Gegenteil: Man würde es besser verstehen, wenn nicht ein Moderator ungelenk neben den Animationen herumstünde und mit der Hand vage in einen leeren Raum zeigte. Was die Sache wirklich begreifbar machen würde, wäre ein Modell des Werkes, das der Journalist in die Hand nehmen, drehen, auseinander bauen und mit dem Finger auf bestimmte Teile zeigen könnte.

Dem ZDF geht es um den schönen Schein, um Unverwechselbarkeit und eine Ausstrahlung von Modernität. Das ist nicht nur legitim, sondern sogar notwendig für einen Fernsehsender. Aber ich wette, in ein paar Jahren werden wir eine Renaissance der anfassbaren Realität im Fernsehen erleben (CNN ist mit seinen Touch-Screens schon halb auf dem Weg). Und auf die virtuelle Mode werden wir ähnlich belustigt und befremdet schauen wie heute auf die verwegenen Einsätze der damals neuen Blue-Screen-Technik in den Musikshows der Siebziger.

So faszinierend die Technik und ihre Möglichkeiten sind: Gegen die Erklärungen eines Heinz Haber vor 40 Jahren mit Modellen, Experimenten und Live-Wachsmalstift-Zeichnungen sieht sie erstaunlich alt aus.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Qualitätsjournalismusersatz

Die meisten Zeitungen zahlen ihren freien Mitarbeitern erbärmliche Honorare. Eine gängige Antwort auf die Frage, wie die freien Journalisten denn davon leben sollen, lautet: Die meisten müssen ja gar nicht davon leben, sondern verdienen noch anders ihr Geld. Das könnte sogar stimmen.

Unten auf der Ostvorpommern-Seite der „Ostsee-Zeitung“, zum Beispiel, erschien gestern ein Artikel über die Zeugnisübergabe an der Außenstelle Bandelin der Berufsfachschule Greifswald:

Es scheint eine wunderbare Schule zu sein, deren Absolventen wirklich allerbeste Voraussetzungen haben.

(…) Die 23-jährige Greifswalderin hat ab August einen Job beim hiesigen Diakonieverein und fühlt sich für die Herausforderungen im Therapiebereich gut gewappnet.

Mit 18 Jahren startete Katharina in Bandelin die zweijährige Ausbildung zur Sozialassistentin. Anschließend
hängte sie an der Außenstelle der Berufsfachschule Greifswald, einem Unternehmen der Medigreif Gruppe, noch drei Jahre dran und ist nun Heilerzieherin. (…)

Für das neue Schuljahr sind die Klassen für die Zweige Sozialassistenz und Erzieher mit je 28 Schülern bereits
komplett belegt, wie Gerlinde Beyer sagt. „Lediglich bei den Heilerziehungspflegern haben wir noch einige Plätze frei.“ Die Berufsschüler kommen aus ganz Mecklenburg-Vorpommern nach Bandelin, ergänzt Dr. Barb Neumann, die Leiterin der Berufsfachschule. (…)

Nun weiß ich natürlich nicht, was „Ostsee-Zeitungs“-Autor Dirk Lenz, dessen Kürzel „D. L.“ unter dem Artikel steht, für ein Zeilenhonorar bekommen hat für den Text. Aber ich nehme an, er wird auch mit ein paar Cent zufrieden gewesen sein. Dirk Lenz arbeitet bei der Medigreif Gruppe, die die Berufsfachschule betreibt, und verantwortet deren Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Mecklenburg-Vorpommern. Aber das steht natürlich nicht in der „Ostsee-Zeitung“.

[mit Dank an Thomas Niehoff]

Tragischer Sieg beim „NDR Comedy Contest“


Screenshot: NDR

Erinnern Sie sich an Nico, den depressiven „Lebensqualitäter“, für den ich vor ein paar Monaten getrommelt habe, weil er sich mit seinem Auftritt übers „Scheitern“ beim „NDR Comedy Contest“ beworben hatte?

Nun: Er hat es ins Finale geschafft. Und er hat gewonnen.

Ich habe leider die Show völlig vergessen — sie lief letzte Nacht im NDR-Fernsehen. Aber hier kann man sich die komplette Sendung ansehen, und hier Nicos Auftritt.

Glückwunsch, Nico!

Super-Symbolfoto (67)

Lange nicht Symbolfotobingo gespielt! Also los:

Welchen Gegenstand zeigt das Bild, mit dem das Online-Angebot des Wiener „Standard“ folgende Meldung illustriert hat?

Sicherheitspolizeigesetz
Verfassungsgerichtshof zementiert Handy- und Internetüberwachung

Auflösung hier.

Ein „Stern“, der seinen Namen trägt…

Erst hatte ich gedacht, dass eine Wahlbroschüre von Karl-Theodor zu Guttenberg an Berliner Kiosken ausliegt, aber dann war es doch nur der aktuelle „Stern“.

Man muss, um die Haltung der Hamburger Illustrierten zum Bundeswirtschaftsminister in all ihrer Differenziertheit und Distanz zu erfahren, sich gar nicht mehr ansehen als das Cover und das Foto, das schon so merkwürdig unjournalistisch und wahlplakathaft daher kommt. Doch man verpasst etwas, wenn man nicht auch die dazugehörigen Texte im Heftinneren liest.

Am besten ist das Editorial von Chefredakteur Thomas Osterkorn. Es beginnt mit den Worten:

Guttenberg ist kein Obama, aber …

Das ist die hohe Kunst des Nicht-und-doch-Vergleichs. Osterkorn weiß, dass er ausgelacht würde, wenn er Guttenberg mit Obama vergliche. Also gibt er zu, dass der Vergleich abwegig ist, macht ihn aber doch. Man teste den Effekt mit Formulierungen wie: „Thomas Osterkorn ist nicht Gott, aber…“.

(Der vollständige Satz lautet übrigens: „Guttenberg ist kein Obama, aber der Effekt ist durchaus vergleichbar: Da tritt eine junge, unverbrauchte Figur auf die politische Bühne, gibt sich aufrichtig und unbequem, zeigt Selbstbewusstsein und Manieren, trägt gut geschnittene Anzüge und sagt ein paar ganz vernünftige Sachen – und schon sehen die Platzhirsche auf der Lichtung zwischen Bundestag und Kanzleramt verdammt alt aus.“ Man muss froh sein, dass der „Stern“ auf die Zeile „Yes, he can“ auf dem Titel verzichtet hat.)

Osterkorns Editorial trägt die Überschrift: „Dieser Freiherr ist wirklich ein freier Herr“. Das ist natürlich ein bisschen arg intellektuell für die Leserschaft des „Stern“. Deshalb macht der eigentliche Artikel mit einer Reihe von Werbefotos auf, die beweisen, dass Guttenberg in jeder Lebenslage eine gute Figur abgibt: im Hubschrauber, zwischen schönen Frauen, mit Kindern, am Klavier, mit Journalisten und beim Rockkonzert. Über jedem Foto steht ein Schlagwort:

  • Der Überflieger
  • Der Liebling
  • Die Lieben
  • Der Vorleser
  • Der Gefragte

Dann fiel den Werbeleuten, die ja auch nur „Stern“-Redakteure sind, nichts mehr ein und sie machten weiter mit den Begriffen:

  • Fingerspitzengefühl
  • Optimisten
  • Kunstfreunde
  • Glamourfaktor

(75 Seiten weiter hinten im selben Heft sieht Guttenberg nochmal gut aus, da fühlt er sich „sichtlich wohl“ in der Gesellschaft der Unternehmer, die er mit dem Deutschen Gründerpreis auszeichnen durfte — eine Veranstaltung, ach ja: des „Stern“.)

Von den 2723 Wörtern des Porträts ist ziemlich genau eines kritisch gegenüber Guttenberg. Es lautet „Schachtelsätze“. Zum Glück hat der Satz, in dem es steht, ein Happy End: „Als [Guttenberg] im Interconti seine Schachtelsätze mit einigem Erfolg aus dem grammatikalischen Niemandsland geführt hat, erheben [die Zuschauer] sich zu Standing Ovations.“

Man erfährt in diesem Text nichts über Karl-Theodor zu Guttenberg, aber viel darüber, wie toll „Stern“-Autor Axel Vornbäumen ihn findet. Wofür dieser Shooting Star steht, was er erreichen will, das hat er nicht herausgefunden oder es hat ihn nicht interessiert, denn es ist ja höchstens halb so spannend wie die Premieren-Meldungen, vor denen sein Artikel strotzt:

  • In seinen wenigen Amtswochen hat der junge Polit-Aufsteiger aus Oberfranken den Politikbetrieb in Berlin aufgemischt wie lange kein anderer mehr.
  • Ein Adliger ohne Allüren, millionenschwer, mit einer Familientradition, die bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht, verheiratet mit der Ururenkelin von Bismarck. Ein Aufsteiger, der von oben kommt. Das gab es noch nie.
  • So schnell war schon seit Langem niemand mehr so beliebt.
  • 61 Prozent der Deutschen haben Vertrauen in den jüngsten Wirtschaftsminister, den dieses Land je hatte (…).

Und Guttenberg ist nicht nur Wirtschaftsminister, sondern wird offenbar auch schon als Kanzlermaterial gehandelt. Schreibt Osterkorn in seinem Vorwort: „… der schon als möglicher Kanzlerkandidat gehandelt wird.“ Steht im Inhaltsverzeichnis: „Schon fragen die ersten: Kann er auch Kanzler?“ Und über dem Artikel: „Schon fragen die ersten: Kann er auch Kanzler?“

Und wer sind diese „ersten“, wer ist es, der Guttenberg als möglichen Kanzlerkandidat handelt (außer dem „Stern“ selbst natürlich)? Die Antwort, die der Artikel als Beleg liefert, ist etwas ernüchternd:

„KAY-T-Free for Bundeskanzler“ fordert einer bei Facebook im Gästebuch.

Wow, „einer bei Facebook“. Stop the press.

Man darf nun aber nicht denken, wie es Laien tun könnten, dass Deutschlands Ober-Illustrierte dem Guttenberg mit dieser Hymne einen Gefallen tut, oh nein. Der „Stern“ schreibt:

Kritisch wird beäugt, wie einer da die Leiter emporstürmt – auch ein stern-Titelbild ist da schon ein Problem.

Ja, ganz bestimmt. Nur gut, dass Guttenberg wegen der Weltwirtschaftskrise eh schon nicht schlafen kann, da kann er sich für das Drama, zwei Monate vor einer Bundestagswahl groß und positiv auf dem Titelbild einer Zeitschrift mit Millionen Lesern abgebildet zu sein, gleich mit die Haare raufen.

Natürlich darf der „Stern“ Wahlwerbung machen, für wen er will und so plump er will. Aber das muss man erst einmal wollen wollen.

Ijoma Mangold

Ich habe Angst vor den Augenbrauen von Ijoma Mangold. Das ist, zugegeben, nicht die fundierteste Kritik an der neuen ZDF-Büchersendung und ihrem Moderator, aber es ist wahr. Ijoma Mangolds Augenbrauen können Dinge, die Augenbrauen nicht können sollten. Sie können hoch oben auf der Stirn einen kleinen Tisch mit exakten rechten Winkeln bilden und sich nur einen Moment später in Form von F-Löchern einer Geige ganz dicht über den Augen kringeln. Sie können zwei strenge Dreiecke bilden und asymmetrische Muster, und manchmal korrespondiert das mit den Händen, die unentwegt schrauben und wischen, winken und fächern — einmal pumpen sie sogar abwechselnd, als würden sie eine Heiße-Luft-Matratze aufblasen.

Es schien, als hätten Mimik und Gestik beschlossen, auf eigene Faust den Versuch zu unternehmen, die Blutleere in Mangolds Sprache zu kompensieren. Er hatte, vermutlich aus der Redaktion der „Zeit“, wo er arbeitet, das Wort „Assoziationsechoraum“ mit ins Fernsehen gebracht. Er sprach von einem Mann aus „prekären Lebensverhältnissen, der am Rande dieser Bürgerlichkeitswelt situiert ist“, freute sich, das alte Dresden „in seinem Glanz illuminiert“ zu sehen, und erklärte: „‚Cool‘ ist eine Eigenschaft, die auch ästhetische Valeurs haben kann.“

Mangold hat in der Sendung den Part, neben der eher gefühligen Amelie Fried den Intellektuellen zu geben. Das ist eine ohnehin undankbare Aufgabe, die nicht leichter dadurch wird, dass sein Verhältnis zur Literatur ein ausschließlich akademisches zu sein scheint. Er freute sich, wenn ein Buch „tolle Rollenmodelle gegenüberstellt“ oder „von der Komposition erstaunlich“ war, und als der Gast Walter Sittler gerade so etwas wie Leidenschaft für Erich Kästner und sein Werk „Als ich ein kleiner Junge war“ versprüht hatte, warf Mangold ein, dass ihn so begeistert hätte, in dem Buch Motive wie die „enge Sohn-Mutter-Beziehung“ aus „Emil und die Detektive“ wieder gefunden zu haben, und die Magie war dahin.

Natürlich darf so eine Bücherwerbesendung, wie sie „Die Vorleser“ sein will, auch ohne die Kaufaufforderungsrhetorik einer Elke Heidenreich auskommen. Aber die erste Sendung wirkte tatsächlich wie vorgelesen und aufgesagt. Sie vermittelte das Gefühl, dass Bücherlesen doch etwas für sehr spezielle Leute ist, die sich für merkwürdige Dinge begeistern und zu selten aus ihren Assoziationsechoräumen rauskommen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Was (nicht mehr) zu beweisen war

Die „Westfälischen Nachrichten“ schreiben über mich:

Niggemeiers Coup, in Wikipedia Wirtschaftsminister Guttenberg den falschen Vornamen Wilhelm unterzujubeln, war ein kleiner Medienskandal. Verdeutlichte es doch die Bequemlichkeit mancher Journalisten bei ihren Recherchen.

Das ist auf eine faszinierende, fast rekursive Weise treffender, als wenn es wahr wäre.

(Aber im Vergleich mit Sascha Lobo hab ich noch Glück gehabt. Sein Mini-Porträt beginnt mit den Worten: „Sascha Lobo ist mittlerweile selbst eine Riesenmaschine.“)