Kann es wirklich sein, dass darauf — außer in diesem Twitterdings — noch niemand hingewiesen hat?
Kann es wirklich sein, dass darauf — außer in diesem Twitterdings — noch niemand hingewiesen hat?
(Original, Hintergrund für Nicht-Kenner)
[via Martina]
Der Verlag Oberauer gibt das renommierte „Medium Magazin“ und zahlreiche Fachzeitschriften für Fachjournalisten heraus. Außerdem betreibt er eine Seite mit „Nachrichten für Journalisten“ namens newsroom.de. Die hatte eine geniale Idee, wie man mit einem Nachrichtenangebot im Internet Geld verdienen kann. Aktuelle News gibt es nur für zahlende Abonnenten. Alle anderen sehen nur Meldungen wie diese:
Tja, wenn einen das interessiert, bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als die 1 Euro im Monat für das Premium-Abo zu zahlen. Also, außer, versuchsweise die Überschrift zu googlen und festzustellen, dass sie überall steht, weil es sich um eine AFP-Meldung von heute handelt, die wiederum auf einer Pressemitteilung von Sony von vor zwölf Tagen beruht.
Das sind die Online-Geschäftsmodelle, die Zeitschriftenverlegern einfallen: Lesen Sie für nur einen Euro im Monat heute schon, was andere erst seit zwei Wochen wissen.
„Überwältigender Sieg von CDU und FDP“, titelt die „B.Z.“ heute.
Ach was, auch die CDU mit ihrem winzigen Prozentzuwachs, der einem realen Wählerverlust entspricht, hat überwältigend gewonnen? Aber ja. Wenn Sie sich mal die Grafik anschauen wollen, die laut „B.Z.“ das „vorläufige amtliche Endergebnis“ darstellt:
Das ist ja wohl ein Supersprung, den der schwarze CDU-Balken gegenüber seinem grauen Vorgänger gemacht hat.
Die lustigen Experten von der kleinen Berliner „Bild“-Schwester haben sich anscheinend nicht die Mühe gemacht, die Graphen dem tatsächlichen Ergebnis anzupassen, sondern beim Malen frei improvisiert. Wie frei, sieht man, wenn man versucht, ein Raster über die Grafik zu legen. Es ist schwer, das genau zu machen, weil die Balken nicht einmal auf gleicher Höhe beginnen, aber nimmt man die 36,8 Prozent der CDU vom letzten Jahr zum Maßstab, ergibt sich folgendes Bild:
Der CDU-Balken entspricht einem Wert von über 42 Prozent. Das ist fast schon überwältigend.
Nachtrag, 22.40 Uhr. Das hatte ich ganz übersehen: Auch die Zahlenangaben sind falsch, die „B.Z.“ hat die 2008er-Ergebnisse von FDP und Grünen vertauscht. Dadurch erscheint der Zuwachs bei der FDP noch dramatischer, als er tatsächlich war.
Was würden Ihre Schafe denn wählen, wenn sie wählen dürften?
Mich würden sie wählen.
Aus der schönen, leise ironischen und auf angenehme Weise altmodischen ZDF-Miniaturen-Reihe „Der Hessenversteher“ von Gert Anhalt.
[via FAZ.net]
Wenig Stoff hier die letzten Tage. Wer Entzugserscheinungen hat, kann auf FAZ.net meinen Artikel aus der heutigen „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ nachlesen, warum die Berichterstattung über das RTL-Dschungelcamp menschenverachtender ist als die angeblich so menschenverachtende Show. Besonders die Berichterstattung von stern.de ist ekliger als die madenreichste Prüfung in Australien. Offenbar ist der Versuch abgesagt, „Spiegel Online“ Konkurrenz zu machen, und man profiliert sich (was angesichts der Konkurrenz von „RP Online“ und anderen auch nicht so leicht ist) lieber als Trashportal:
(Abgesehen von der widerlichen Art, über die Transsexuelle Lorielle London zu schreiben — kann mir jemand erklären, was die Autorin mit der Formulierung „Günther Kaufmann gibt den lustigen Onkel. Hat einiges hinter sich, was nicht nur an seiner schwarzen Hautfarbe liegt“ sagen wollte?)
Ach ja, und meine „Teletext“-Kolumne über Roland Koch ist auch bei FAZ.net kostenfrei online.
Warum das RTL-Dschungelcamp nicht annähernd so menschenverachtend ist wie die Berichterstattung darüber.
Lorielle London hatte sich die bordeauxfarbenen Haare mit selbstgebastelten Spangen zu zwei langen Zöpfen zusammengebunden und es geschafft, durch geschicktes Auf- und Hochschlagen sogar die Dschungeleinheitskleidung ein kleines bisschen feminin wirken zu lassen. Mit den geschminkten Augen in ihrem extrem auf weibliche Formen operierten Gesicht wirkte sie nach fünf Tagen im Camp gleichzeitig übertrieben aufgedonnert und schrecklich heruntergekommen. Neben ihr saß eine vergleichsweise burschikose Gundis Zámbó und hörte zu, was Lorielle ihr über sich erzählte: „Du musst dir vorstellen, du gehst dein ganzes Leben lang durchs Leben und wirst von allen nur gehänselt, geschlagen, von so gut wie keinem gemocht. Dann glaubt man auch selbst irgendwann, dass man nicht so toll ist.“
Lorielle London wurde vor 24 Jahren als Lorenzo Woodard geboren und hat sich in den vergangenen Monaten vor diversen Fernsehkameras in eine Frau verwandelt. Sie hat viele Operationen hinter sich, aber eine entscheidende noch vor sich. In ihrem knappen Badeanzug zeichnet sich zu ihrem Missvergnügen ihr Penis ab. Und weil die Tage lang sind im Dschungel und die üblichen Hemmungen irgendwann fallen, stellte Gundis Zámbó ihr ein paar Fragen, die man für blöd halten kann, aber direkt und ehrlich waren: „Transsexuelle, haben die normalerweise auch andere Transsexuelle als Partner? Ganz ehrlich: Jemand, der mit dieser Szene nichts zu tun hat und sich in dich verliebt und nicht weiß, dass du da untenrum noch was hast – was ist denn dann?“ Lorielle erklärte später noch, dass sie sich schon als „heterosexuell“ bezeichnen würde, und dann diskutierten die Frauen entspannt und ernsthaft, was das im konkreten Fall bedeutet.
Es war eine fast anrührende Szene in der RTL-Show „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“: So ungelenk und direkt, so freundlich schonungslos, und wer weiß, wann je zuvor so viele Fernsehzuschauer in einer Unterhaltungssendung so viel über Transsexualität erfahren haben. Wie absurd, dass ausgerechnet in dieser bizarren, künstlichen Extremsituation im australischen Dschungel Gespräche entstehen, die dem schwierigen Thema angemessener sind als die übliche Boulevardberichterstattung. Lorielle, deren ganze traurige Medienkarriere bislang darauf aufgebaut war, ein Freak zu sein, wirkt plötzlich im besten Sinne des Wortes normal: menschlich, verletzlich, echt.
Das ahnt man nicht, wenn man nicht die Show verfolgt, sondern die Berichterstattung über die Show. Dort geht es ausschließlich um Freaks und Deppen. Der mediale Umgang mit der Sendung hat sich seit der Premiere der ersten Staffel 2004 dramatisch verändert. Wurde sie anfangs noch verteufelt oder ignoriert, springen viele Medien jetzt hemmungslos auf den Zug auf und versuchen, von ihrem erstaunlichen und sogar noch zunehmenden Erfolg zu profitieren. Bei „Welt Online“ sieht das dann so aus: Neben dem langen Artikel, in dem Großkritiker Hellmuth Karasek mit vielen Ausrufezeichen und auf dem Niveau eines mittelguten Schulaufsatzes beschreibt, wie schlimm es gewesen sei, dass ihn die Redaktion gezwungen habe, sich eine Folge anzusehen, sind zigteilige Bildergalerien verlinkt; ein eigenes Dossier verspricht, „alle Ekel-Prüfungen und Lästereien“ zu dokumentieren; „Welt-TV“ zeigt, wie Giulia Siegel sich für ihre Halbnacktaufnahmen im „Playboy“ verrenkt; und eine Autorin berichtet jeden Tag aufs ausführlichste, was in der Sendung zu sehen war (und hat, haha, „auf sämtliche möglichen Ansprüche auf Schmerzensgeld sowie die Erstattung eventuell anfallender Folgekosten für eine psychologische Nachbehandlung vorab schriftlich“ verzichtet).
Die angeblich so ordinäre und niveaulose Show ist für manche der Vorwand, einmal so richtig ordinär und niveaulos sein zu dürfen. Das untere Ende des Spektrums markiert dabei konsequent der Online-Auftritt des „Sterns“. „In den Augen Pipi, im Höschen Kakerlaken“, titelte er am Dienstag. Die Redaktion treibt (anders als die Show selbst) eine unheilige Faszination von Fäkalien und Genitalien. Die erste Tageszusammenfassung auf „Stern.de“ hieß „Kot und Spiele“, später folgten Titel wie: „Mit Penis und Schwanz ins Dschungelcamp“, „Männer, wo sind eure Eier“.
Die madenreichsten Prüfungen im australischen Dschungel sind nicht halb so eklig wie diese Texte, die ihre sprachliche Hilflosigkeit und gedankliche Armut durch Drastik wettzumachen versuchen. Giulia Siegel habe sich von Ratten annagen lassen, „damit van Bergen, die olle Hexe, nicht verreckt“, heißt es da. Und für Lorielle (von „Bild“ gerne „er/sie/es“ genannt) hat „Stern.de“ nur Begriffe wie „die Staffeltunte“, „die Quotentunte“, „die Tränen-Transe“, die „Transentränen“ weint – insgesamt: „Eine unansehnliche Nervenprobe, wie sie schlimmer kaum sein kann.“
Sie schlagen einen absurden Doppelpass, versuchen gleichzeitig, sich über die angeblich menschenverachtende Sendung zu empören und sie an Menschenverachtung zu übertreffen. Dabei geht die Show selbst mit ihrem Personal zwar auch nicht immer pfleglich, aber ungleich differenzierter um. Lorielle ist dort zum Beispiel längst nicht mehr die Witzfigur. „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ gelingt es auf verblüffende Weise, die Kandidaten sowohl zu Karikaturen ihrer selbst zu machen, als auch zu vermenschlichen. Gerade die krassen Prüfungen, an denen sich die Kritiker besonders stoßen, spielen dabei eine wichtige Rolle.
Lorielle war in der zweiten Sendung von den Zuschauern ausgewählt worden, ihren Ekel zu überwinden und eine Abfolge von Cocktails mit teils noch lebendigen Tiereinlagen zu trinken. Es war nicht leicht, sich das anzusehen, aber das sonst so überkandidelte Wesen wurde in dieser Situation nicht noch überkandidelter, sondern verweigerte sich der vermutlich von größeren Teilen des Publikums erhofften hysterischen Rolle als Ultra-Daniel-Küblböck, riss sich zusammen, kämpfte, war tapfer – und plötzlich war es viel leichter, mit dieser Frau mitzufühlen, als sie zu verachten.
Bei Ross Antony gab es im vergangenen Jahr eine ähnliche Entwicklung. Am Anfang war er ein nervöses Wrack und erschien wie das fleischgewordene übelste Tunten-Klischee. Am Ende lachte das Publikum nicht mehr nur über ihn, sondern auch mit ihm, und er gewann als stolzer schwuler tuntiger Mann.
Es ist ein bisschen beunruhigend, dass es so viele Dreiviertel-Prominente zu geben scheint, die sich offenbar unter einem Zwang sehen, der Welt zu beweisen, wie tough und echt sie sind. Und es ist noch beunruhigender, dass sie glauben, dass der Gang in das Dschungelcamp der richtige Weg dafür ist. Aber so unwahrscheinlich es klingt: In dem Moment, in dem Lorielle diese Cocktails trank, verlor sie nicht, sondern gewann an Würde.
Im Gegensatz zu der Berichterstattung außerhalb der Show. In seinem Online-Auftritt zeigte RTL genau das, was vielen anderen Medien auch am naheliegendsten erschien: Ein großes Foto von Lorielle in dem Moment, als ihr etwas, das aus pürierten Kängurupenissen bestehen sollte und „Penis Colada“ genannt wurde, aus dem Mund quoll. Es sah aus wie Sperma.
Die Show spielt ein perfides Spiel mit uns. Sie ist über weite Strecken intelligent gemacht – aber sie bietet die Vorlage für die dümmstmögliche Berichterstattung. Sie balanciert durchaus gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen einer fairen Darstellung der Kandidaten, ihrer Sorgen und Nöte, und der Maximierung der Schadenfreude und Häme durch ihre Reduzierung auf reine Witzfiguren. Aber sie weiß, dass sie damit den Vorwand liefert, nur die Witzfiguren zu sehen, und profitiert natürlich von dem Hype und der Skandalisierung.
Die Show hat eine Distanz zu sich selbst, die der Berichterstattung über sie fehlt. So ist sie selbst erstaunlicherweise auch der Ort, an dem die wenigsten schlechten Wortspiele über den Nachnamen des Models Nico Schwanz gemacht werden. Während „Spiegel Online“ vorauseilend einen Artikel mit sämtlichen naheliegenden Assoziationen veröffentlichte, ging die Show selbst das Thema sofort auf der Meta-Ebene an: Mit einem Sparschwein, in das die Moderatoren Dirk Bach und Sonja Zietlow für jede anzügliche Anspielung fünfzig Cent werfen müssen.
Zum Geheimnis des überwältigenden Erfolges von „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ gehört, dass die Show nicht nur an die niedersten Instinkte appelliert (aber natürlich auch), sondern auch das Gehirn intelligenter Menschen anspricht. Sie ist hervorragend produziert, von Menschen, die offensichtlich Spaß an der Arbeit haben, und vielschichtig – im Gegensatz zu den Trittbrettfahrern in den anderen Medien mit ihren einfältigen Nacherzählungen und Hau-drauf-Witzen bei gleichzeitiger Distanzierung vom schrecklichen Programm. Die Show nimmt sich selbst viel weniger ernst, als es zum Beispiel „Bild“ oder auch die anderen RTL-Magazine tun, die bei jeder Wendung ins Hyperventilieren geraten, erlaubt sich aber genau dann, wenn es angemessen ist, auch Ernsthaftigkeit.
Als Ingrid van Bergen eines Abends am Lagerfeuer erzählte, wie es war, als sie ihren Lebensgefährten im Affekt tötete, war es eine faszinierende, etwas verstörende Erzählung, die einen Einblick in das Innenleben eines Menschen gewährte, für den Reinhold Beckmann vermutlich töten würde. „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ zeigte das ausführlich, ruhig, ohne Effekte, und hinterher sagen die Witzbolde Sonja Zietlow und Dirk Bach genau das Richtige: nichts.
Ich war gestern Abend weder am Fernseher noch am Computer, aber Thorsten Lohmann und Hendrik Runte waren es, und sie haben freundlicherweise festgehalten, wie das aussah, als der Nachrichtensender N24 live von der Notlandung eines Passagierflugzeugs im Hudson-River berichtete:
Der eingeblendete Werbespruch lautet: „Willkommen an Bord“.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sollte den Satz vervollständigen: „Wer nicht weiß, was sich hinter dem Kürzel TSG verbirgt…“ Sie hatte sogar noch den Tipp bekommen, dass es um Wiesbaden geht. Aber sie schaute von einem Interviewer zum anderen, schwieg, schaute vom anderen Interviewer zum einen, schwieg immer noch und entschied sich schließlich kurzzeitig für diesen Ausdruck völliger Ratlosigkeit:
Thorsten Schäfer-Gümbel? „TSG hab ich, ehrlich gesagt, jetzt eher für ’nen Sportverein gehalten in diesem Zusammenhang.“
Gut, andererseits hatte sie auch weder vier Alternativen zur Auswahl, noch durfte sie jemanden anrufen. Überhaupt war es ein ungewöhnlicher Abend bei ARD und ZDF. Beide Sender hatten sich in einer spektakulären konzertierten Aktion entschieden, ein Einzelgespräch mit einem nicht unbedeutenden Politiker ausnahmsweise weder von Reinhold Beckmann noch von Johannes B. Kerner führen zu lassen, sondern Nachwuchskräften eine Chance zu geben: sogenannten politischen Journalisten. Anlässlich des irgendwie historischen Konjunkturpaketes tingelte Frau Merkel durch die Hauptstadtstudios und stellte sich unter anderem den Fragen von Thomas Baumann und Ulrich Deppendorf im Ersten (Video) sowie Bettina Schausten und Peter Frey im Zweiten (Video).
Verblüfft erinnerte sich der Zuschauer, dass es tatsächlich die alten Interviewformate noch gibt, die sogar schicke moderne Vorspänne haben, allerdings nur noch selten den Beginn des öffentlich-rechtlichen Unterhaltungsprogramms verschieben. 2002 lief „Was nun, …?“ noch etwa monatlich im ZDF – inzwischen sind es im Schnitt nur noch zwei Sendungen jährlich. Es ist zudem eine reine Kanzlerfragesendung geworden: Frau Merkel war jetzt das dritte Mal in Folge da. Alle anderen gehen wohl zu Kerner. Das ARD-Gegenstück „Farbe bekennen“ hatte ohnehin nie eine größere Präsenz im Programm.
Nun haben solche Programm-Entscheidungen immer zwei Seiten. Gut war, dass kein Beckmann Frau Merkel fragte, wie sich das „anfühlt“, so ein Konjunkturpaket beschlossen zu haben. Nicht so gut war, dass ARD-Chefredakteur Baumann stattdessen glaubte, das Interesse der Zuschauer am besten dadurch zu gewinnen, dass er die Monumentalität des Ereignisses in den ersten Satz gerinnen ließ: „Der zwölfte Tag des Jahres war politisch wahrscheinlich schon einer der wichtigsten.“ Von diesem Tonfall sollte sich die ganze Sendung nicht mehr berappeln, Kanzlerin und Moderatoren tauschten entschlossen bis grimmig technische Fachbegriffe und bürokratische Superwörter aus.
ZDF-Innenpolitikchefin Schausten hatte dagegen offenbar beschlossen, dass Nüchternheit und Details was für Weicheier sind, und schon mal Frank Plasberg im Fernsehen gesehen. „Sind Sie, Frau Merkel, eine Schuldenkanzlerin“, lautete ihre erste Frage, und die Angesprochene brauchte sichtlich eine Sekunde, bis ihr einfiel, dass sie die Frage natürlich nicht beantworten muss. Die ZDF-Leute hatten sogar einen Einspielfilm mit den markigen, nur wenige Monate alten Schuldenabbau-Zitaten Merkels und Peer Steinbrücks vorbereitet. Und tatsächlich sorgte ihr Wille zur Zuspitzung für das munterere und ergiebigere Gespräch – auch wenn sich die Kanzlerin vor lauter Bemühen um fluffige Volksnähe und Anschaulichkeit gleich am Anfang hübsch in ihrer eigenen Metapher verstrickte:
Peter Frey: Sie haben sich beim CDU-Parteitag als schwäbische Hausfrau präsentiert: sparsam, nur das ausgeben, was man wirklich hat. Jetzt ist es eine richtige Kehrtwende eigentlich, dieses Kulturpaket.
Angela Merkel: Ich hab das überhaupt nicht kehrtgewendet. Sondern die schwäbische Hausfrau ist das Modell für das Wirtschaften in der Welt. Und dass wir in diese Krise gekommen sind, ist der Ausdruck dessen, dass sich nicht alle wie die schwäbische Hausfrau verhalten haben. Jetzt sind wir aber in einer Ausnahmesituation. Und wenn Not am Mann ist, dann bin ich ganz überzeugt, dass auch eine kluge Hausfrau vielleicht beim Nachbarn fragt, ob man etwas tun kann, damit auch der Patient wieder aufgepäppelt werden kann.
Ob die schwäbische Hausfrau sich in diesem Bild beim Nachbarn Aspirin borgt oder ihm ihrerseits Schirme, Schals und Pakete vorbeibringt, blieb offen.
Zwei ARD-Berichte aus dem israelischen Grenzgebiet zum Gaza-Streifen:
„Tagesschau“, 10. Januar 2009: |
„Weltspiegel“, 11. Januar 2009: |
![]() „Wir ausländischen Journalisten sind seit mehr als zwei Wochen im Süden Israels, gleich an der Grenze zum Gaza-Streifen. Israel lässt uns nicht hinein nach Gaza, … |
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![]() … und so sind wir alle auf einem Hügel versammelt, von dem aus wir unsere Live-Schaltungen in die ganze Welt machen. |
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![]() „Während im Gaza-Streifen die Kämpfe weitergehen, … |
![]() Wir nennen diesen Hügel mittlerweile zynisch „Hill of Shame“, Hügel der Schande, … |
![]() … kommen immer mehr Israelis zur Grenze, um den Verlauf des Krieges zu beobachten. |
![]() … weil wir uns alle schämen, von hier über etwas zu berichten, was wir gar nicht selbst sehen können, noch dazu wenn wir wissen, dass unsere Kollegen in Gaza durch dieses Bombardement, … |
![]() Dabei setzen sie sich auch der Gefahr aus, von Kassam-Raketen getötet oder verletzt zu werden. |
![]() … das wir wie Kino-Zuschauer beobachten, in Lebensgefahr sind. |
![]() Bei Raketen-Alarm legen sich die Kriegs-Touristen auf den Boden … |
![]() Doch auch wir geraten manchmal in Gefahr, dann, wenn Kassam-Raketen auf uns abgeschossen werden. |
![]() … und warten auf den Einschlag.“ |
![]() Dann müssen auch wir uns in Deckung begeben, dann bricht auch bei uns Unruhe aus.“ |
Offenbar hat die ARD zwar weder die israelischen Schaulustigen („Tagesschau“) noch die ausgesperrten Journalisten („Weltspiegel“) erfunden. Aber diese Art der beliebigen Uminterpretation derselben Aufnahmen ist trotzdem inakzeptabel.
Moritz Günnel, der die Sache entdeckt hat, hat die Redaktion von ARD-Aktuell in einem Brief zu einer Klarstellung aufgefordert und schreibt zu Recht:
Ich halte es für unablässig in einer seriösen Berichterstattung (…), dass Bilder und Berichte übereinstimmen. (…) Sie mögen argumentieren, dass beides faktisch vorkomme — ausgesperrte Journalisten und israelische „Kriegs-Touristen“ — und die gezeigten Bilder den Bericht nur untermauern sollten. Es geht aber um das Prinzip korrekter und seriöser Berichterstattung und um Glaubwürdigkeit. Diese schrieb ich Ihrer Berichterstattung zu, sehe diese Annahme aber nun in Frage gestellt. Ich kann keinen der Berichte selbst überprüfen, ich kann so gut wie nie bestimmen, ob die gezeigten Bilder das abbilden, was vorgegeben wird. Bei meiner Meinungsbildung muss ich mich wie jeder andere normale Bürger auch, auf Berichte von Journalisten verlassen. Dies birgt eine große Verantwortung Ihrerseits, der Sie im geschilderten Fall meiner Ansicht nach nicht gerecht geworden sind.
(Hintergründe über die Arbeitsbedingungen der Reporter im „Tagesschau“-Blog, im BBC-Blog „The Editors“ und in der „Huffington Post“.)
Nachtrag, 15.10 Uhr. Die „Tagesthemen“ haben einige der Aufnahmen ebenfalls gezeigt: am 11. Januar. Diesmal hieß es wieder, die Gezeigten seien gaffende israelische Kriegstouristen.
Nachtrag, 18.30 Uhr. Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD-aktuell, antwortet ausführlich im „Tagesschau“-Blog: Auf den Aufnahmen seien halt sowohl Journalisten als auch Kriegstouristen zu sehen, und die Autoren hätten jeweils einmal „Journalisten“ und „Kriegstouristen“ gesagt. Das sei nicht inakzeptabel, darüber könne er sich nicht empören und das gefährde nicht die Glaubwürdigkeit der „Tagesschau“-Autoren.
Ich bin anderer Meinung. Die ARD hat dieselben Bilder in zwei völlig verschiedene Kontexte gestellt und wie Symbolfotos behandelt: So wird der Mann mit Glatze, der durch seinen Fotoapparat schaut, vom Symbol für Gaffer, die fahrlässig ihr eigenes Leben riskieren, zum Symbol für die Journalisten, die gezwungenermaßen „wie Kino-Zuschauer“ den Krieg beobachten. Er kann aber nicht beides sein, ebenso wenig wie die anderen Menschen in diesem Film. Natürlich setzt die ARD mit solchen Uminterpretationen ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel — insbesondere in einem emotional aufgeladenen Konflikt wie diesem, bei dem viele Kritiker nur darauf warten, ihre Verschwörungstheorien bestätigt zu finden und der ARD unterstellen können, dass mindestens eins der im Text behaupteten Geschehnisse gar nicht passiert sei.
Der „Weltspiegel“-Beitrag hatte ausgerechnet die Schwierigkeiten, als Journalist über diesen Krieg wahrhaftig zu berichten, zum Thema — und macht sich dabei so angreifbar?