Neu: RTL 2 macht das Gespür für Mitgefühl täglich erlebbar

„Trash“ nennen Kritiker das, was RTL 2 zeigt. Eigentlich tun sie das fast immer schon, angesichts der Menschen-, Tier- und vor allem Zuschauer-verachtenden neuen Programme, die der Sender in diesen Tagen gestartet hat, aber gerade wieder besonders intensiv.

Heute hat RTL 2 in einer erstaunlichen (und bislang nicht als Fake enttarnten) Pressemitteilung seinen Kritikern recht gegeben und Besserung gelobt. Natürlich ist darin nicht von „Trash“ die Rede. Aber unter einer dünnglänzenden Oberfläche aus PR-Deutsch ist der Vorwurf unschwer zu erkennen. Indirekt räumt der mysteriös mit dem Chefsessel verwachsene, öffentlichkeitsscheue Geschäftsführer Jochen Starke sogar ein, dass es seinem Programm an Mitgefühl und gesellschaftlicher Verantwortung fehlte. Starke lässt sich mit den Worten zitieren:

„Wir legen Wert darauf, dass RTL II als ein Sender wahrgenommen wird, der Unterhaltung und innovative, auch kontroverse Formate mit einem Gespür für Mitgefühl und gesellschaftliche Verantwortung verbindet. Unser neues Qualitätsmanagement wird uns dabei helfen, dieses Bewusstsein im Programm täglich erlebbar zu machen.“

Neue Formate sollen künftig einen „standadisierten Evaluationsprozess“ durchlaufen, der den gesamten Sender, von der Redaktion über das Marketing und die Werbevermarktung bis zur Geschäftsführung, einbezieht. „Auf diese Weise wird sichergestellt“, formuliert der Sender weiter, „dass die Programme von RTL II künftig in größerem Maße als bisher den qualitativen Ansprüchen gerecht werden, die der TV-Sender mit dem Start seiner neuen Markenpositionierung ‚it’s fun.‘ im vergangenen Jahr Zuschauern und Werbekunden versprochen hat.“ So deutlich hat selten ein Sender formuliert, dass seine gegenwärtigen Programme erbärmlich sind.

Überhaupt ist von „qualitativen Ansprüchen“ im deutschen Fernsehen selten die Rede, und vermutlich wäre es auch zu dieser plötzlichen Erkenntnis nicht gekommen, wenn viele der neuen Sendungen nicht vor allem den quantitativen Ansprüchen der Werbekunden und der Gesellschafter nicht genügt hätten. Nur eine sympathisch überschaubare Zahl von Menschen wollte zusehen, wie sich RTL 2 auf bösartigste Weise über einfache, dicke Menschen lustig machte, die der Sender zu diesem Zweck ins „Abenteuer Afrika“ geschickt hatte, und auch der Versuch der Drag-Queen Olivia Jones, mithilfe von Plüschohren und einer Ganzkörpermaske aus Kamel-Dung unerkannt unter Dromedare leben zu können („Das Tier in mir“) stieß auf nachvollziehbar wenig Interesse.

Hinter den Erwartungen zurück blieb auch die Quote der Aufklärungs-Doku-Soap „Generation Ahnungslos“; die harmlos-doofe Mittelmeer-Game-Show „Der Kreuzfahrt-König“ ist nach nur drei Folgen aus dem Programm genommen worden. Die tägliche Vorabend-Fake-Dokumentation „X-Diaries“ hat zwar einige Zuschauer – ihre Zahl steht aber in keinem Verhältnis zur Blödheit der schlecht erfundenen Sex-Geschichten aus dem Urlaub.

Nun kann es natürlich sein, dass der Trash einfach nicht trashig genug war – andererseits müsste man dann angesichts des RTL-2-Programms die unter Wissenschaftlern noch umstrittene Frage klären, ob es nicht selbst bei Fernsehqualität einen absoluten Nullpunkt gibt oder es sich um ein tatsächlich bodenloses Phänomen handelt.

Zumindest für den Moment scheint RTL 2 die Antwort nicht herausfinden zu wollen. Zum „neuen“ „Qualitätsmanagement“ scheint auch zu gehören, dass man sich von der Unterhaltungschefin getrennt hat – „im gegenseitigen, freundschaftlichen Einvernehmen“ natürlich, aber offenbar doch mit Differenzen, was die Erlebbarkeit des „Gespürs für Mitgefühl und gesellschaftliche Verantwortung“ im Programm angeht.

Der Name von Programmdirektor Holger Andersen, der vor nicht einmal einem Jahr von RTL zum kleineren Halbschwestersender gewechselt ist, taucht in der Pressemitteilung nicht auf. Vor einem Monat hatte er in einem Interview gesagt: „Wir wollen auffallen, aber mit Qualität.“ Das klang damals schon irgendwie falsch.

Burkhardt Müller-Sönksen in Wort und „Bild“

Ich weiß das natürlich nicht, aber ich würde vermuten, dass sie in der „Bild“-Zeitung die Nummer von Burkhardt Müller-Sönksen auf Kurzwahl haben. Für diese Tage, wenn man zu einem aktuellen Thema noch ein richtig markiges Politiker-Statement braucht. Oder eine neue Schlagzeile, um eine alte Kampagne weiterdrehen zu können.

Müller-Sönksen sitzt für die Hamburger FDP im Bundestag. In der „Bild“-Zeitung war er schon „Medienexperte“, „Rechtsexperte“, „Verteidigungsexperte“, „Verkehrsexperte“ und „Menschenrechtsexperte“. Aber vor allem ist er wohl Medienexperte (und damit meine ich nicht, dass er sich mit dem Thema besonders gut auskennt).

In der vergangenen Woche hat er der „Bild“-Zeitung erzählt, dass ARD und ZDF nach dem neuen Rundfunkgebührenmodell 1,2 bis 1,6 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen werden. Das kann man zwar noch nicht wissen, weil die Details noch gar nicht feststehen, und es spricht alles dagegen, dass es auch nur annähernd stimmt, und selbst wenn es stimmen sollte, würden ARD und ZDF diese Mehreinnahmen nicht bleiben, weil die Gebühr dann später entsprechend gesenkt würde. Aber die „Bild“-Zeitung nimmt’s da nicht so genau, schon gar nicht wenn es gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geht.

Über „Bild“ und die Nachrichtenagentur AFP fand Müller-Sönksen und seine Quatschrechnung den Weg auch in andere Medien. Selbst die sonst so seriösen Kollegen von epd übernahmen zunächst ohne weitere Recherche die „Bild“-Vorabmeldung und berichteten: „FDP-Politiker: GEZ-Reform bringt Sendern Plus bis zu 1,6 Milliarden.“ Später verschickten sie immerhin eine weitere Fassung mit einem Dementi der rheinland-pfälzischen Landesregierung.

Meine Bitte an Müller-Sönksen, mir (für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“) seine Rechnung zu erläutern, blieb leider letztlich ohne Antwort. Aber vermutlich ist der Mann zu beschäftigt, an seiner nächsten Schlagzeile zu arbeiten. Der Mann, den die FDP-Fraktion allen Ernstes zu ihrem medienpolitischen Sprecher gemacht hat, ist ein Musterbeispiel für den Typ Politiker, dem keine Forderung zu billig, blöd oder populistisch ist, um in die Medien zu kommen.

Eine Politikerkarriere in „Bild“-Auftritten:

  • 27. Juni 2000: Müller-Sönksen fordert ein Kampfhunde-Verbot: „Tränen in den Augen von Kampfhundebesitzern können die Hamburger ertragen. Tränen in den Augen von Eltern und Klassenkameraden darf es so nie wieder geben.“
  • 30. April 2003: „TÜV für ältere Autofahrer!“ („Bild“): FDP-Fraktionschef Müller-Sönksen fordert eine Überprüfung von Seh- und Reaktionsfähigkeit ab dem 60. Lebensjahr alle fünf Jahre und „ab 80 Jahren dann häufiger“.
  • 7. Juni 2004: FDP-Verkehrsexperte Burkhardt Müller-Sönksen fordert nach einer „Todesfahrt des Geister-Opas“ („Bild“) eine Überprüfung von Seh- und Reaktionsfähigkeit bei Senioren: „Auch wir müssen diese regelmäßigen Untersuchungen einführen. Außerdem könnten kostenlose Nahverkehr-Tickets für Senioren ein Anreiz und Ausgleich sein, den Führerschein im Alter abzugeben.“
  • 17. März 2006: Müller-Sönksen unterstützt den „Nackt-Test“ („Bild“) für Ausländer: Sie sollen sich vor der Einbürgerung eine DVD ansehen müssen, auf der küssende Schwule und nackte Badende zu sehen sind. „Ausländer müssen die Lebenswirklichkeit in Deutschland akzeptieren! Die DVD ist dazu notwendig.“
  • 1. September 2006: „Für 2700 Euro Jung-Ganoven mit Taxi ins Heim chauffiert / RIESEN-EMPÖRUNG ÜBER BEHÖRDEN-IRRSINN“ („Bild“). Müller-Sönksen sagt: „Ein krasser Fall von Verschwendung!“
  • 21. Oktober 2006: Müller-Sönksen fordert Strafen für Schuldenmacher: „Kanzler, Ministerpräsidenten und Minister sollten mit Teilen ihrer Rentenansprüche für rote Zahlen im Haushalt haften. Dann würden sie sich so um die Staatsfinanzen kümmern, als sei es ihr eigenes Geld!“
  • 4. August 2007. Müller-Sönksen protestiert gegen eine Hinrichtungswelle im Iran: „Ich halte es für menschlich völlig pervers, die Hinrichtung als öffentliches Schauspiel zu inszenieren. So ein Iran befindet sich gesellschaftlich noch im tiefen Mittelalter.“
  • 27. August 2007. Müller-Sönksen fordert, zum Schutz vor ausländerfeindlichen Übergriffen die Bundespolizei bei Volksfesten einzusetzen: „Wenn Ortskräfte und Landespolizei nicht ausreichen, sollte auf Bundespolizei zurückgegriffen werden.“
  • 24. Dezember 2009. Müller-Sönksen protestiert gegen die geplante „Tagesschau“-Anwendung fürs iPhone: „Die ARD sollte sich auf die im Staatsvertrag verankerte Grundversorgung beschränken und die Gebühren für Inhalte und nicht für Vertriebswege ausgeben.“
  • 29. Dezember 2009. Müller-Sönksen ist mit der Gesamtsituation unzufrieden: „Wir brauchen nicht nur eine neue Gebührenregelung, sondern auch eine klare Definition für die Grenzen des öffentlichen Rundfunks.“
  • 31. Dezember 2009. Immer noch: „Wir werden die Frage der Gebührenfinanzierung zu einem Schwerpunktthema 2010 machen.
  • 9. Januar 2010. Müller-Sönksen unterstützt die Klage eines Anwaltes, der keine „Zwangsgebühren“ zahlen will, gegen den NDR: „Diese Klage zeigt, wie wenig Akzeptanz die GEZ-Gebühren noch haben. Vor allem dann, wenn das Geld jetzt auch noch im Internet verschwendet wird.“
  • 2. Februar 2010. Müller-Sönksen beschwert sich, dass sich eine Figur in der „Lindenstraße“ abfällig über die FDP geäußert hat. „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat überparteilich zu sein“, sagt Müller-Sönksen, „gerade in Unterhaltungssendungen.“
  • 15. Februar 2010. Müller-Sönksen kündigt Schritte gegen die geplante „Tagesschau“-Anwendung fürs iPhone an: Wir werden jetzt zusammen mit den Ministerpräsidenten an einer Änderung des Rundfunkvertrags arbeiten, damit dieses App nicht umgesetzt wird.“
  • 8. April 2010. Müller-Sönksen hat eine Meinung zu der Frage, wer an der Trauerfeier für drei in Afghanistan getötete Bundeswehrsoldaten teilnehmen soll: „Alle Abgeordneten, die dem Afghanistan-Einsatz zugestimmt haben, sollten darüber nachdenken, ob sie den Familien der getöteten Soldaten in diesen schweren Stunden bei der Trauerfeier solidarisch beistehen können.“
  • 10. Juni 2010. Müller-Sönksen ist gegen das neue Verfahren, um die Rundfunkgebühren zu erheben: „Es ist der saure alte Wein Marke GEZ in neuen Schläuchen. Es gibt kein Ende der Schnüffelei, sondern Schnüffelei ohne Ende.“
  • 11. Juni 2010. Müller-Sönksen fordert, die Rundfunkgebühr zu senken: „Wenn in Zukunft viel mehr Beitragszahler herangezogen werden, ist das Mindeste eine Senkung der Gebühr.“
  • 29. Juli 2010. Müller-Sönksen protestiert gegen die Berichterstattung von ARD und ZDF über die Leichtathletik-EM: „Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Deutschen bei solchen Großereignissen jeweils das größte Aufgebot stellen. Wenn auf einen deutschen Teilnehmer fast drei Mitarbeiter von ARD und ZDF kommen, dann gibt es aus Sicht der Gebührenzahler dafür nur ein Wort: Geldverschwendung.“
  • 12. August 2010. Müller-Sönksen errechnet Mehreinnahmen für ARD und ZDF durch neues Gebührenverfahren in Fantastillionenhöhe und droht: „Sollte es zu unbilligen Mehrfachbelastungen kommen, prüfen wir eine Klage beim Bundesverfassungsgericht.“
  • 13. August 2010. Müller-Sönksen fordert auf der Grundlage seiner Fantasierechnung, die Rundfunkgebühr zu senken: „Die Abgabe sollte statt 17,98 Euro bei 15 Euro im Monat liegen.“

Burkhardt Müller-Sönksen. So macht man sich in den Medien einen Namen.

Flausch am Sonntag (26)

„Mongrels“ funktioniert nach dem Prinzip: Wenn man schon eine Puppenserie für Erwachsene macht, sollte man auch das meiste draus machen und keine Rücksicht auf Tabus oder irgendwelche Grenzen des guten Geschmacks nehmen. So gesehen ist die Serie mit ihren Witzen über Anne Frank, Serienkiller und tote Showmaster natürlich außerordentlich pubertär. Aber sie ist auch klug, anspielungsreich, originell, witzig und ambitioniert. Ich habe jede Folge mit offenem Mund angesehen. Und dann noch einmal.

„Mongrels“ spielt im Londoner East End, hinter einem Pub. Die Haupt-Protagonisten sind zwei Füchse, eine Katze und eine Taube, die sich hier herumtreiben, sowie die eitle Hündin des Besitzers. Zu den cleveren Ideen gehört es, die Tiere nicht nur, wie üblich, zu vermenschlichen, sondern umgekehrt auch immer wieder auf ihre tierischen Reflexe zu reduzieren.

Hinzu kommt der reizvolle Kontrast zwischen den niedlichen Figuren und den obszönen Situationen und drastischen Geschichten. Die Macher sind zum Beispiel auf eine beunruhigende Art besessen vom Thema Tod. Ich glaube, es gibt keine Folge, in der nicht ein gerade gestorbenes Lebewesen, sei es Tier oder Mensch, von anderen Mitwirkenden aufgefressen wird. Es geht um Terroranschläge, Sex mit Minderjährigen (Katzen), Tollwut, Kastration, Kannibalismus, versehentlichen Lesbianismus, die Existenz von Gott, Facebook-Blind-Dates und die Frage der Möglichkeit der Liebe zwischen einem Fuchs und einem Huhn.

In jeder Folge gibt es einen Musical-Song — dieser hier handelt in anschaulichen Worten von Hühnerfeindlichkeit:

„Mongrels“ ist voller popkultureller und selbstreferentieller Anspielungen, gespielt von fantastisch lebendigen Figuren. In dieser Woche lief vor dem überschaubaren Publikum des Digitalsenders BBC 3 die achte und vorerst letzte Folge. Ich sehne mich jetzt schon nach einer Fortsetzung. Am Montag erscheint die DVD.

Lothar Matthäus

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Bei jedem anderen würde man sich fragen, warum er sich das jetzt noch wieder antut, aber wir reden hier von Lothar Matthäus, und da hat diese Frage irgendwann bei den letzten hundert Malen ihren Sinn verloren. So sitzt er am Donnerstag bei „Markus Lanz“ und sagt: „Es gibt eigentlich gar nichts mehr zu erzählen, weil ich mit meiner Frau vor ein paar Tagen eine dolle Aussprache gemacht habe“.

Es ist nicht leicht, in der Dramaturgie einer solchen Boulevardschlacht noch einen drunterzusetzen unter die Fotos, auf denen man sieht, wie Matthäus die Fotos von der Affäre seiner jungen Frau sieht, unter deren tränenersticktes Bekenntnis, sie habe „mit ihm auch ihre Jungfräulichkeit geschenkt“, unter die Diskussion, wer ihre Brust-Verkleinerung nun bezahlen soll. Matthäus hält es tatsächlich durch, in der ZDF-Show keine schmutzige Wäsche zu waschen. Er verrät nur, dass er ein sehr ordentlicher Mensch sei und im Hotelzimmer Stehlampen, die zu nah an der Wand stehen, immer sofort verrückt, denn sonst hätte man da ja gleich eine Wandlampe hinmachen können.

Dass Matthäus sich auch noch diesen Auftritt antut, hat eine Logik: Die öffentliche Demütigung, der sich der frühere Nationalspieler seit Wochen ausgesetzt sieht und aussetzt, wäre nicht komplett ohne die Erbärmlichkeit, die es bedeutet, sich den Zudringlichkeiten von Markus Lanz auszusetzen. Beste Motoröle neiden dem ZDF-Moderator inzwischen seine Schmierigkeit, und das Gespräch mit Matthäus hat er als Psycho-Verhör angelegt. Er fragt: „Wenn Sie morgens in den Spiegel schauen, mögen Sie sich dann?“ Er setzt nach: „Was mögen Sie an sich?“, und lässt ihm den Ausfluchtversuch, das sollten andere entscheiden, nicht durchgehen: „Sie haben doch ein Bild von sich!“, fordert er streng. Die anderen Gäste, die Moderatorinnen Vera Int-Veen und Sonja Zietlow, schlagen mit grausamer Hilfsbereitschaft Matthäus‘ Ohren und „Super-Haare“ als attraktive Elemente vor. Matthäus lässt sich schließlich dazu hinreißen, seine „sportliche Figur“, die er noch „im hohen Alter“ habe, zu loben. Lanz belohnt ihn mit dem Satz: „Er hat sich unheimlich entwickelt, ist ein Weltenbürger geworden: perfekte Schuhe, perfekte Uhr, perfekt sitzender Anzug.“

Es ist schwer zu beurteilen, ob Matthäus diese Aufmerksamkeit wie alle Aufmerksamkeit genießt. Er wirkt eher wie jemand, der keine Wahl hat, als so lange in allen Medien über sein Privatleben zu reden, bis die Menschen endlich verstanden haben, dass er keiner ist, der in allen Medien über sein Privatleben redet. Lanz beendet das Gespräch mit dem Hinweis, Matthäus sei das ein oder andere Mal enttäuscht worden, „deshalb an Sonja Zietlow die Frage: Sind Hunde die besseren Menschen?“

Spökes, Späßchen, Spiegel Online

Neulich erschien auf „Spiegel Online“ ein Artikel über die Spieler-Transfers in der Bundesliga. Es ging, wenn ich es richtig verstanden habe, darum, dass die Vereine irgendwie bislang gespart haben, was aber nicht unbedingt etwas zu sagen hat; dass noch Geld da ist, das irgendwann weg sein könnte, aber noch nicht so bald; und um den Trend, dass daraus kein Trend abzulesen sei.

Es muss die Hölle gewesen sein, dafür eine Überschrift zu finden. Man kann ja nicht „Irgendwas mit Geld“ oder etwas ähnlich Sinnloses über den Text schreiben.

Natürlich kann man. Es müssen nur genügend Silben mit demselben Buchstaben anfangen. Bitte schön:

Bundesliga-Transfers / Magie des Pinkepinke-Plans

Bei „Spiegel Online“ wird sie noch gepflegt, die alte journalistische Untugend des Überschriften-Stabreims. Mit diesem Eintrag möchte ich dem unbekannten Alliteraten in der Redaktion ein Denkmal setzen.

Die einfachste Form der Überschriften-Alliteration ist die Aufzählung. Man reihe mindestens zwei, besser drei Begriffe aneinander. Die einzelnen Wörter können etwas miteinander zu tun haben, müssen es aber nicht. Auch schmucklosesten Wortkombinationen verleiht der gemeinsame Anfangsbuchstabe billigen Glanz:

Reaktionen auf Volksentscheid / Begeistert, beflügelt, bedröppelt

Geht auch bei ernsten Themen:

Taliban-Offensive nahe Kabul / Herausfordern, hinrichten, herrschen

Schön ist, wenn nicht nur die Anfangslaute stimmen, sondern auch die Zahl der Silben harmoniert und einen schönen Rhythmus ergibt:

Namibia-Fotoblog / Flieger, Forscher und Flamingos

Das ist weniger wichtig, je ungewöhnlicher die verwendeten Wörter sind:

Punks im Comic / Siff, Suff und Selbstauflösung

Ein fehlendes drittes Wort derselben Gattung ist kein Grund zur Verzweiflung:

San Fermin in Pamplona / Wein, Weib und wilde Stiere

Je mehr Wörter mit dem selben Anfangsbuchstaben aneinander gereiht werden können, umso geringer sind die Ansprüche an irgendeinen Sinn der Kombination:

Englands 1:4-Pleite / Rage, Rooney und die Radikal-Rasur

Bonuspunkte gibt es für aufwändige Alliterationsarrangements, die die Dachzeile einbeziehen:

Kriselnde Kanzlerin / Angezählt, allein, aufrecht

Im folgenden Beispiel darf man deshalb davon ausgehen, dass der Stabreimer vom Dienst es verfluchte, dass Frau Cole mit Vornamen nicht Caroline, Christine oder wenigstens Karla heißt:

Cheryl Coles Kollaps / Reiselust, Romantik, Riesenaufregung

Winiwalistisch wirkt hingegen dieses Kleinod:

Weltnaturerbe Wattenmeer / Wiege des Wurms

Wenn ein Geräusch „rätselhaft“ ist, kann es kein Knall sein:

Alarm auf Supertanker / Rätselhafter Rumms auf hoher See

Und wenn es Streit um einen „Hitzestau“ gibt, kann das kein Durcheinander sein:

Bahn-Streit mit ZDF / Hickhack im Hitzestau

Als Alternative zum klassischen Dreiklang bietet sich das Doppelpaar an:

Mexikos Drogenkrieg / Tödlicher Terror im Reich des Rauschs
DVD-Filmbeileger / Scharfe Schwerter, windige Weihnachtsmänner
Gerüchte über Sarkozys Ehekrise / Power-Paar im Tratsch-Tsunami
FDP-Generalsekretär Lindner / Diener, Denker, Liberalen-Lenker
WM-Bilanz / Rasen auf dem Rasen, Pfeifen an den Pfeifen

Das Wort „Stabreim“ geht übrigens auf Snorri Sturluson (1178-1241), den Verfasser der Snorra-Edda (Prosa-Edda oder auch Jüngere Edda) zurück, aber das wussten Sie sicher.

Neonazi-Schutz für Kitas / Bastion gegen braune Brut
Trainer in der Bundesliga / Dominanz der Dauerdirigenten
Zeitlupen-Diskussion / Fandels Fabel-Forderungen
Videogame-Pianist Nuss /
'Final Fantasy' für Feingeister

Sie merken schon, mir fällt dazu nichts mehr ein. Dafür habe ich die Alliterationen hier unten wenigstens alphabetisch sortiert.

Familie und Beruf / Karrierekiller Kind
Comics aus China / Knallbunter Kitsch gegen Kadertreue
EM-Bilanz von Barcelona / Leichtathleten lieben den Löw-Effekt

Kennen Sie die Sendungsreihe „Mumien, Monstren, Mutationen“, die früher im Nord-Dritten lief?

Von der Leyens Hartz-IV-Reform / Meisterprüfung für Merkels Musterministerin
Neuer Truppenchef in Afghanistan / Petraeus predigt permanenten Kampf
Taschenbuch-Bestseller / Preußen, Prunk und Prostitution
Küstenlandschaft in Brasilien / Wind, Wasser, Wunderwelt

Das selbsterklärte Standardwerk „Stilistik für Journalisten“ nennt die Alliteration „eines der reizvollsten Stilmittel“, warnt aber auch (konkret im Zusammenhang mit einer Fünffach-Alliteration), dass ein „Zuviel nicht nur gewollt oder verkrampft, sondern eher parodistisch“ wirkt — schon anhand der Kolumnentitel lässt sich erkennen, dass „Spiegel Online“ gerne bereit ist, diese Risiko in Kauf zu nehmen (falls man nicht realistischerweise bereits vom Verlust von Hopfen und Malz ausgeht):

Achilles' Verse / Rechnen am Riegel-Regal

(Hajo Schumacher nennt sich für seine Lauf-Kolumne Achim Achilles. Sie können sich selbst einen Reim drauf machen, müssen es aber nicht.)

Ganz unumstritten scheint die Alliteratitis auch redaktionsintern allerdings nicht zu sein. In mehreren Fällen ist die Überschrift nachträglich geändert und der Stabreim entfernt worden. Dieses Stück, das jetzt den Titel „Apollo Edgar“ trägt, hatte ursprünglich die Überschrift:

Tante, Transrapid, Transferleistungsempfänger

Wolf Schneider sagt: Wer reimt, opfert fast immer Sinn und stellt die Form über den Inhalt. Und irgendeine Frau hat in irgendeiner Studienarbeit über Überschriften in deutschen und italienischen Zeitungen geschrieben: „Fast scheint die Alliteration als die einfachste kreative Variante und immer einsetzbare Titel-Idee, um noch schnell ein bisschen Witz in den Text zu bringen.“ (Leider disqualifiziert sie sich als Sprach-Expertin mit dem Unfall im nächsten Satz: „Als ob dem stressgeplagten Journalisten, selbst wenn ihm kurz vor Redaktionsschluss gar nichts mehr einfällt, er diese Art von spielerischer Kreativität immer noch aus dem Ärmel zaubern kann.“)

All denen, die im Alliterationswahn von „Spiegel Online“ keinen Beweis von Kreativität, sondern von Schmerzfreiheit sehen, wird es die Redaktion noch zeigen. Spätestens, wenn es eine ihrer Überschriften geschafft hat, ins Allgemeingut überzugehen und eine zeitgemäße Alternative zu Brautkleid, Blaukraut und Fischers Fritz zu werden:

Belastungsprobe für Europas Institute / Stresstest stresst spanische Sparkassen

Nachtrag, 11. August. Zwei tapfere Menschen haben hier schon länger die Gaga-Gags aus den „Spiegel Online“-Überschriften gesammelt — ich habe daraus noch ein paar schöne Stabreimbeispiele oben ergänzt.

Olle Geschichten & journalistische Reflexe

Man müsste mal ausrechnen können, wie hoch der Anteil der journalistischen Inhalte ist, die automatisch generiert werden. Und ich meine damit nicht nur die massenhafte maschinelle Übernahme von Agenturmeldungen in den Online-Medien. Sondern auch Texte, die unreflektiert durch einen schlichten Reflex entstehen.

Ein kleines Beispiel dafür ist die Information, dass der Lobby-Verband der Privatsender VPRT fordert, dass ARD und ZDF weniger Geld ausgeben. Das ist nach ungefähr allen journalistischen Kriterien keine Nachricht. Der VPRT fordert seit Jahren, dass ARD und ZDF weniger Geld ausgeben. Dafür ist der Verband ja da. Er wird auch in Zukunft fordern, dass ARD und ZDF weniger Geld ausgeben, vermutlich unabhängig davon, ob und wieviel ARD und ZDF bis dahin gespart haben.

Weil auch der VPRT weiß, dass es auf Dauer langweilig wird, wenn man immer dasselbe fordert, hat er die Sache in diesem Jahr etwas konkretisiert. „Gigantische Einsparpotentiale“ von mindestens einer Milliarde Euro seien bei ARD und ZDF vorhanden:

So könnte der öffentlich-rechtliche Rundfunk ganz auf Werbung verzichten, ohne dass die Programmqualität leide, unterstrich Verbandspräsident Jürgen Doetz erneut die Lieblingsforderung des VPRT. Der Verband empfahl ARD und ZDF, Digitalkanäle und Radioprogramme einzustellen oder zusammenzulegen sowie die Ausgaben für Sportrechte und Spielfilme zu reduzieren. So ließen sich rund 600 Millionen Euro sparen. Hinzu kämen 300 Millionen Euro Einsparmöglichkeiten bei Übertragungskosten, zum Beispiel von Regionalprogrammen in landesfremden Sendegebieten sowie 145 Millionen Euro Kürzungen bei Personalkosten.

So berichtete die Nachrichtenagentur dpa am 22. Juli (und aus den Formulierungen „erneut“ und „Lieblingsforderung“ kann man fast eine gewisse Müdigkeit des Autors lesen, dem langjährigen Medienredakteur Carsten Rave).

Eine größere Welle entstand damals nicht. Warum auch?

Am Samstag veröffentlichte der „Spiegel“, wie jeden Samstag, seine „Vorabmeldungen“ mit vermeintlich exklusiven Nachrichten aus dem neuen Heft – und damit sind wir beim Thema Reflexe. Was der „Spiegel“ vorab veröffentlicht, gilt automatisch als Nachricht. (Zu Recht, wie „Meedia“-Chefredakteur Georg Altrogge sagen würde, denn der „Spiegel“ ist ein Leitmedium, und wer heute die Qualität von Leitmedien in Frage stellt, isst morgen kleine Kinder.)

Jedenfalls war unter den Vorabmeldungen auch diese mit der Überschrift: „Privatsender sehen bei ARD und ZDF eine Milliarde Euro Sparpotential“. Neu daran war die Information, dass der VRPT seine „Sparvorschläge“ als „zehnseitiges Schreiben an eine neue Arbeitsgruppe der Unionsländer unter dem Vorsitz der Sächsischen Staatskanzlei“ geschickt habe. Der Rest wiederholte im Wesentlichen, was dpa vor zwei Wochen gemeldet hatte.

(Auf meine Frage, warum das trotzdem zur (Vorab-)Meldung des „Spiegel“ taugte, schrieb mir Medienredakteur Markus Brauck: „Neu ist, dass der Verband am 27. Juli  diesen Brief an die Arbeitsgruppe der Länder geschrieben hat, der uns vorlag. Wenn die Arbeitsgruppe demnächst mit Ergebnissen an die Öffentlichkeit kommt, ist es doch gut zu wissen, aus welchen Quellen interessierter Seite sich deren Arbeit gespeist hat.“ – Als ob sich auch nur ein Journalist dann daran erinnern würde!)

Wie wenig selbst der „Spiegel“, der sonst auf alles mitschießt, was öffentlich-rechtlich ist, die VPRT-Forderung für eine echte Nachricht hielt, kann man daran erkennen, dass er die Kürzungsvorschläge sogar in der Vorabmeldung selbst als „relativ willkürlich“ kommentiert und dem Verband die Prämisse, dass die Programmqualität nicht leide, nicht abnimmt.

Aber „Spiegel“-Vorabmeldung ist „Spiegel“-Vorabmeldung und Reflex ist Reflex, und so fand die olle VPRT-Forderung plötzlich weite Verbreitung. Die Nachrichtenagentur AP übernahm sie („Privatsender fordern Milliardeneinsparung von ARD und ZDF“), die Branchendienste „Meedia“, „Kress“, „Turi2“, „DWDL“, „Horizont.net“ und viele andere behandelten sie als aufregende Neuigkeit, der Medienredakteur des „Handelsblattes“ verbrämte die Pi-mal-Daumen-Rechnung gleich zur „Finanzanalyse“.

Besonders anschaulich zeigt der Berliner „Tagesspiegel“, wie willenlos und reflexhaft Medien oft auf das reagieren, was ihren Posteingang erreicht und alle äußerlichen Zutaten einer meldenswerten Nachricht hat („‚Spiegel‘-Vorabmeldung“!!!). Der „Tagesspiegel“ hatte nämlich am 23. Juli schon ausführlich über die aktuelle Strategie des VPRT im Kampf gegen ARD und ZDF berichtet und geschrieben:

Der Verband empfiehlt ARD und ZDF, Digitalkanäle und Radioprogramme einzustellen oder zusammenzulegen und die Ausgaben für Sportrechte und Spielfilme zu reduzieren. So ließen sich rund 600 Millionen Euro an Ausgaben vermeiden. Aus diesen und weiteren Maßnahmen wird ein Sparpotenzial von einer Milliarde errechnet.

Als die Nachricht jetzt noch einmal die Runde machte, meldete er stumpf noch einmal:

In einem zehnseitigen Schreiben an eine neue Arbeitsgruppe der Unionsländer unter dem Vorsitz der Sächsischen Staatskanzlei sieht der PrivatsenderverbandVPRT laut Spiegel online bei den öffentlich-rechtlichen Sendern Einsparpotenziale „von mindestens einer Milliarde Euro“, sogar „unter der Prämisse, dass die Programmqualität nicht leidet“. In dem Hintergrundpapier schlagen die Privatsender zudem die radikale Einstellung aller sechs Digitalkanäle vor, was gut 220 Millionen Euro brächte.

Vielleicht verschickt der VPRT angesichts des großen PR-Erfolges seine Forderungen in Zukunft gar nicht mehr an Journalisten, sondern gleich an die Politik, damit der „Spiegel“ das dann groß aufdecken kann.

(In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, in der ich auch kurz darüber berichtet habe, habe ich übrigens behauptet, dpa hätte die VPRT-Forderung im Juli gleich zweimal als Neuigkeit verkauft. Das ist falsch.)

Loveparade

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ein einziger Blick in die Zukunft hätte doch gezeigt… Wie Journalisten nach dem Unglück auf der Duisburger Loveparade zu selbstgerechten Propheten der Rückschau wurden.

· · ·

Wenn Journalisten diese Loveparade organisiert hätten, wäre das nicht passiert.

Ungefähr in der Sekunde, in der am Samstag voriger Woche bekannt wurde, was für eine Katastrophe sich in Duisburg ereignet hatte, schlich sich in die Berichterstattung der Gedanke ein, dass genau eine solche Katastrophe absehbar gewesen sei. Bereits in der Live-Berichterstattung des WDR am frühen Abend, als die Moderatoren im Studio und die Reporter vor Ort noch so gut wie nichts wussten, fielen angesichts von Meldungen von Absperrungen erste Formulierungen wie: „Man fragt sich natürlich: Was war das für eine Idee? Das musste doch schiefgehen!“

Später empörten sich Journalisten, dass das doch klar war, dass 1,4 Millionen Menschen nicht auf diesen Platz passen würden (das war, bevor sich herausstellte, dass es viel weniger waren, wobei die Journalisten dann natürlich auch wussten, dass Veranstalter diese Zahlen immer übertreiben). Und schließlich reichte angeblich ein Blick auf eine Karte der Örtlichkeiten, um zu wissen, dass das nicht gutgehen konnte.

Jeder Laie schreibt und sendet, dass jeder Laie das unausweichliche Unglück hätte erkennen können, und die Laien, die als Journalisten arbeiten, fragten schnell, warum das niemand von den Verantwortlichen erkannt hat. Weitgehend ungestellt blieb die Frage, warum, wenn die Mängel so unübersehbar waren, all die Journalisten sie vorher übersehen hatten. Und ob man zu den vielen, die ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden, nicht auch die Medien zählen muss.

Ausgenommen natürlich Götz Middeldorf, den Duisburger Lokalchef der „Neuen Ruhr Zeitung“ (NRZ). Die „International Herald Tribune“ zitierte ihn mit den Worten: „Wir waren die einzige Zeitung, die gesagt hat: Nein. Stoppt das. Die Stadt ist nicht vorbereitet. Wir können nicht mit diesen ganzen Leuten fertigwerden.“

Fragt man Middeldorf nach dem entsprechenden Artikel, faxt er einem tatsächlich einen Kommentar vom 3. Dezember 2009 mit der Überschrift: „Stoppt die Loveparade!“ In dem geht es aber mit keinem Wort um die Frage, ob die Stadt für so viele Besucher gerüstet ist. Es geht ausschließlich ums Geld. „Es ist grotesk, ja geradezu pervers“, empörte sich Middeldorf damals, „den Duisburgern über Jahre millionenschwere Kürzungen im Bildungs- und Kulturbereich zuzumuten und zumeist ortsfremden, feierwütigen Jugendlichen einen Tag zum Abfeiern zu bieten.“

Auf Nachfrage räumt Middeldorf ein, dass Sicherheitsbedenken nicht das Thema waren. „Wir waren immer gegen die Loveparade, aber aus anderen Gründen.“ Dann muss die „International Herald Tribune“ ihn mit seinem Lob für die eigene, einzigartige Weitsichtigkeit wohl falsch verstanden haben? „Das vermute ich mal“, antwortet Middeldorf. „Das ist nicht ganz richtig.“ Er klingt nicht zerknirscht.

Er findet dann immerhin noch den Kommentar eines Kollegen, der „eine Party mit Millionen-Publikum neben einer Hauptverkehrsstrecke der Deutschen Bahn“ als „ein Riesenproblem“ bezeichnet hatte. Unaufgefordert schickt seine Redaktion schließlich noch einen Artikel von der Konkurrenz: aus der „Rheinischen Post“ vom 28. Januar. Darin stellt die Zeitung in der Debatte um die Loveparade in Duisburg „Vorurteile“ „Fakten“ gegenüber.

Das liest sich so: „Vorurteil: Die Sicherheit der Besucher, besonders am Ex-Güterbahnhof, ist nicht gewährleistet. Fakt: An den vorbereitenden Gesprächen waren unter anderem auch Polizei, Autobahnpolizei, städtisches Dezernat für Recht und Sicherheit, Feuerwehr und Zivilschutzamt, Ordnungsamt, [die Bahn-Immobilientochter] Aurelis, Bahn AG, Verkehrsverbund Rhein-Ruhr und die Duisburger Verkehrsgesellschaft beteiligt. Die Experten halten die Loveparade in Duisburg im Hinblick auf Sicherheit grundsätzlich für machbar.“

Vielleicht sagt das Fehlen von Recherchen und kritischen Würdigungen des Sicherheitskonzeptes vor dem Ereignis etwas aus über den Zustand des Lokaljournalismus. (WDR und Bild.de waren Medienpartner und also in der Rolle der Jubelperser.) Ganz sicher aber sagt die fehlende Auseinandersetzung der Medien mit ihrem Versagen etwas aus über ihr Selbstverständnis.

Ein einziger Artikel im Internetangebot der WAZ-Gruppe muss als Beleg dafür dienen, dass die Medien vorher schon vor Problemen gewarnt haben. Er referierte mit leichter Skepsis fünf Tage vorher den Optimismus der Planer und trägt die Überschrift „Loveparade wird zum Tanz auf dem Drahtseil“. Unter diesem Artikel finden sich auch mehrere Leserkommentare, die die Planungen als äußerst riskant bewerten – und die im Nachhinein nun wiederum als Beweis dafür gewertet wurden, dass man es vorher hätte wissen müssen.

So wie viele Medien in dem Moment, in dem die Katastrophe passiert war, wussten, dass sie passieren musste, erwarteten sie auch von den Beteiligten unmittelbar Antworten und Schuldbekenntnisse. Keine Frage: Die Pressekonferenz, die Stadt, Behörden und Veranstalter am Sonntagmittag abhielten, war erschütternd. Aber der Anspruch von Medien, angetrieben durch die Taktgeber von „Spiegel Online“, dass keine vierundzwanzig Stunden nach einem solchen Ereignis keine Fragen offen bleiben dürfen, spiegelte nicht nur das Quengeln einer unter Aufmerksamkeits-Defizit-Störung leidenden Branche wider, sondern auch die ganze Anmaßung der Rolle als Ankläger, die viele Medien nun eingenommen hatten – und sich irgendwann mit der Forderung nach Rücktritten zufriedengaben. (Götz Middeldorf, natürlich, der in seiner Rücktrittsaufforderung an den Oberbürgermeister schrieb: „Sie haben die Augen verschlossen vor möglichen Risiken, die nicht nur im NRZ-Internetportal Der Westen seit Wochen geäußert wurden.“ Middeldorfs eigene geschlossene Augen sind offenbar weder der Rede noch des Rücktritts wert.)

Es ist eine bemerkenswerte Selbstgerechtigkeit, die durch viele Berichte schimmert, befeuert durch publizistische Glücksfälle wie den, dass der neue Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller sein Engagement einmal als „Himmelfahrtskommando“ bezeichnet hatte. Reflexartig wiederholt wurde auch die angebliche Ultra-Kommerzialität der Veranstaltung – ein Vorwurf, den man trotz freien Eintritts anscheinend nicht einmal belegen muss. „Monitor“ fand es irgendwie schon anrüchig, dass ein Limonadenhersteller als Sponsor einen „fünfstelligen Beitrag“ zahlte. Der Vorwurf der Geldmacherei gipfelte auf paradoxe Art darin, zu erwähnen, dass Schaller die Loveparade Millionen koste, die er aber als Verlust von den Steuern abziehen könne. Für „Spiegel-TV“ ist das gar „die einzig gute Nachricht an diesem Wochenende in Duisburg: Der kommerzielle Massenwahn hat keine Zukunft mehr.“

Die Leute von „Spiegel-TV“ waren mit vielen Kameras vor Ort, um eigentlich ihre übliche herablassende Event-Reportage zu produzieren. Sie waren sich im Rausch des Schreckens für nichts zu schade. „Die Marke Loveparade wird für immer überschattet von einem einzigen tödlichen Wort“, knarzt der Sprecher am Anfang: „Duisburg.“ Die Gesichter haben sie unkenntlich gemacht, immerhin, aber sonst zeigen sie alles: Wir sehen die verzweifelten Wiederbelebungsmaßnahmen vor Ort und das Durcheinander in der Notaufnahme („Emergency Room Duisburg“), wo die „Spiegel-TV“-Leute allem Anschein nach Ärzte von der Arbeit abhalten.

Die Reportage erzählt das Geschehen vor der Katastrophe in dem Wissen um das, was später passieren wird. Schon das Aufstellen von Absperrungen hat da etwas Anrüchiges: „Auch die Polizei glaubt noch, etwaige Probleme mit Gittern aus Eisen lösen zu können“, kommentiert der Sprecher. Was nicht passt, wird passend gemacht: Zu Szenen, wie sich verzweifelte Menschen gegenseitig helfen, heißt es: „Es herrscht das Gesetz des Stärkeren. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod in einer Menschenmenge außer Kontrolle.“ Die üblichen Kriterien bei der Auswahl, wer zuerst behandelt wird, werden bedeutungsschwanger zu einer „Methode der Militärmedizin“, denn natürlich: „Es sind Szenen wie im Krieg.“

Das als „Rekonstruktion“ verbrämte Machwerk zeigt, wie am Morgen im Bahnhof ankommende Jugendliche von Polizisten gebeten werden, das Rauchverbot zu beachten. Der Kommentar dazu lautet: „Eine tragische Geste der Ordnungsmacht, angesichts der Ereignisse, die die Stadt wenige Stunden später erschüttern wird.“ Man könnte diesen Satz sinnlos nennen, frivol oder zynisch. Er wirkt auch als Symbol für die Haltung einer Branche, die hinterher immer alles schon vorher gewusst hat.

Anwalt Schertz verliert gegen „Stalker“ (4)

Der Berliner Medienanwalt Christian Schertz kämpft weiter für und gegen seinen vermeintlich guten Ruf. Beim Landgericht Frankfurt hat er beantragt, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zur Zahlung eines „empfindliches Zwangsgeldes“ zu verurteilen, weil sie die von ihm gerichtlich durchgesetzte Gegendarstellung nicht wie vorgeschrieben abgedruckt habe.

Schertz‘ Anwältin bemängelt unter anderem, dass die Überschrift nicht gefettet und der Text über zwei Spalten verteilt gewesen sei, die Gegendarstellung nicht am Beginn einer neuen Spalte begonnen und anstelle von Absätzen lediglich „Zahlenumbrüche“ [sic] enthalten habe. Außerdem habe die FAZ die Gegendarstellung durch die längere Anmerkung der Redaktion entwertet. Dass das von der Redaktion so beabsichtigt gewesen sei und auch vom Leser so verstanden werde, könne man auch an meiner Kommentierung hier im Blog erkennen.

Schertz stößt sich auch daran, dass die FAZ die Einschätzung des Landgerichtes wiedergegeben habe, mit seinem Vorgehen „verkenne der Anwalt ‚Sinn und Zweck des Rechtsmittels der Berufung'“. Das sei erstens falsch, denn im Urteil sei nicht von dem „Anwalt“, sondern dem „Kläger“ die Rede. (Der Kläger ist der Anwalt.) Zweitens diene dieser Teil der redaktionellen Anmerkung nur dazu, ihn, Schertz, vorzuführen:

„ihn ins Lächerliche zu ziehen, d.h. als einen Anwalt darzustellen, der die Grundregeln der Berufung verkenne.“

Ich kann nicht beurteilen, wie groß Schertz‘ Chancen sind, die FAZ zu einem „empfindlichen Zwangsgeld“ oder zu einem erneuten Abdruck der Gegendarstellung zu verurteilen. Aber meiner Meinung nach müsste ihn, zu seinem eigenen Besten, jemand mal sachte beiseite nehmen und ihm erklären, dass der Kern des Problems mit der Lächerlichkeit vielleicht nicht die Veröffentlichungen über sein Handeln sind, sondern sein Handeln.

Ursprung des ganzen Verfahrens ist der vorläufig gescheiterte Versuch von Schertz, einen lästigen Kritiker dadurch mundtot zu machen, dass er ihn gerichtlich zum Stalker erklären und so u.a. aus dem Gerichtssaal verbannt lässt.

Die Vorgeschichte:

(Hinweis: Ich bin freier Mitarbeiter der FAZ. Dies hier ist meine persönliche Meinung.)

Eva Herman vermutet Gott hinter Massenpanik

Wenn es noch eines Symbols für die Radikalisierung der früheren Nachrichtensprecherin Eva Herman bedurft hätte, hat sie es heute mit ihrem Kommentar zur Katastrophe auf der Love Parade selbst geliefert. Eva Herman vermutet, dass vielleicht ein Akt Gottes dafür gesorgt hat, dass es zu der tödlichen Massenpanik kam, um auf diese Weise die sündige Veranstaltung, das „Sodom und Gomorrha“, für immer zu beenden. Sie formuliert es so:

(…) das amtliche Ende der „geilsten Party der Welt“, der Loveparade, dürfte mit dem gestrigen Tag besiegelt worden sein! Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen.

Ursprünglich war an dieser Stelle in ihrem Artikel ein Foto von zwei knutschenden Frauen zu sehen. Vielleicht war das kein Zufall. Vielleicht hat der grausame Gott, an den Eva Herman glaubt, nicht nur etwas gegen Zügellosigkeit, Drogenmissbrauch und schlechte Musik, sondern ganz speziell auch gegen Homosexualität. Unwahrscheinlich erscheint mir das nicht.

Schuld an den Toten sind nach Ansicht von Eva Herman letztlich die Achtundsechziger.

Die unheilvollen Auswüchse der Jetztzeit sind, bei Licht betrachtet, vor allem das Ergebnis der Achtundsechziger, die die Gesellschaft „befreit“ haben von allen Zwängen und Regeln, welche das „Individuum doch nur einengen“. Wer sich betrunken und mit Drogen vollgedröhnt die Kleider vom Leib reißt, wer die letzten Anstandsrnormen feiernd und tanzend einstürzen lässt, und wer dafür auch noch von den Trägern der Gesellschaft unterstützt wird, der ist nicht weit vom Abgrund entfernt. Die Achtundsechziger haben ganze Arbeit geleistet!

Eva Herman meint, am Tag nach dem Tag, an dem 19 Menschen unter furchtbaren und letztlich noch ungeklärten Umständen ums Leben gekommen sind und Hunderte verletzt wurden, müsse man die Frage stellen nach der Verdorbenheit der Veranstaltung an sich, die für sie auch als Ursache für das Unglück festzustehen scheint. Eva Herman glaubt, dass man in diesem Land quasi gezwungen war, die Love Parade gutfinden zu müssen:

Kritik an dieser Veranstaltung war schließlich auch schon in den letzten Jahren politisch unkorrekt.

Eva Herman liefert für diese erstaunliche These keinelei Beleg, aber den braucht sie auch nicht. Eva Herman wird, wenn sie nun von vielen Menschen für ihren dummen und unanständigen Text angegriffen wird, das als weiteren Beweis dafür sehen, dass es in diesem Land Denk- und Sprechverbote gibt.

Dabei darf sie das alles denken und sagen. Und ich darf sie dafür verachten.

Sven Lorig

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Der Plan war, über Sven Lorig zu schreiben, einen der Nachfolger Jörg Pilawas am ARD-Show-Fließband, was, zugegeben, angesichts der Schlafhormone, die er verströmt, ein gewagter Plan war, aber immerhin nicht ganz unmöglich erschien. Doch dann war in der „großen ARD-Weltreise“, die Lorig nun moderiert, auch noch Jens Riewa als Kandidat zu Gast, der erzählte, dass er immer seine Nachtischlampe in den Urlaub mitnimmt, weil die so schönes rotes Licht macht, und vor lauter Langewwwww

Die neue BBC-Serie „Mongrels“ beginnt damit, dass die Katze Marion ihrer betagten Besitzerin erzählt, wie sehr sie sie mag. Dann fällt die Frau über ein Wollknäuel und fällt die Treppe hinunter, und in der nächsten Szene sehen wir, wie Marion versucht, sie durch Maul-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben. „Gib’s auf, das wird nichts mehr“, sagt eine Katze neben ihr. „Das weißt du nicht, du bist kein Arzt.“ – „Aber es sind jetzt vier Monate!“ Marion lässt ab von der Frau, die anderen Tiere machen sich über die Leiche her, und der Zuschauer hat keinen Zweifel mehr, dass dies keine normale Puppenserie ist. „Mongrels“ läuft erst um 22.30 Uhr auf dem schmutzig-kleinen Digitalkanal BBC Three und überschreitet in den Geschichten über Marion, zwei Füchse, eine eitle Afghanische Windhündin und eine gewalttätige Taube in London fast alle Grenzen. Weder echte Serienkiller noch Anne Frank sind als Themen für Anspielungen tabu, und so unglaublich geschmacklos die Witze sind: Sie sind lustig.

Die Charaktere schillern clever zwischen menschlichen Verhaltensweisen und den unüberwindlichen Einschränkungen eines Tieres und erzählen typische Dramen moderner Großstädter: Wie das von dem Fuchs, der sich auf Facebook als Mensch ausgibt und so in eine Frau verliebt, die sich beim ersten Date aber als Huhn herausstellt, was sich langfristig trotz aller gemeinsamen Interessen als ein unüberwindliches Hindernis erweist. (Am Ende verliert das Huhn seinen Kopf, aber nur, weil es den Fuchs, nachdem er aus der Mikrowelle flüchten konnte, mit dem Tranchiermesser angegriffen hat.)

„Mongrels“ sprüht vor Originalität und Lust an der Provokation. Wäre es nicht schön, wenn sowas im deutschen Fernsehen wenigstens denkbar wäre?