Chronisch krank

Es ist alles noch viel schlimmer.

Seit über einem Jahrzehnt schreibt der Journalist Christoph B. Schiltz für die „Welt“ auf der Grundlage einer Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) immer wieder über den jeweiligen Krankenstand in Deutschland. Seit über einem Jahrzehnt missversteht er, was diese Statistik misst, und interpretiert die Zahlen falsch. Und seit über einem Jahrzehnt übernehmen Nachrichtenagenturen und vermeintliche Qualitätsmedien seine falschen Interpretationen.

Das BMG misst den Krankenstand mit der Statistik KM 1/13. Es ist eine höchst ungenaue Messung, und die Regierung räumt das selbst auch ein. Es handelt sich um eine Stichtagserhebung: Die Krankenkassen melden dem Ministerium, wieviel Prozent ihrer Versicherten am Ersten eines jeden Monats vom Arzt krankgeschrieben waren. Wenn eine Grippewelle Deutschland vom 5. bis 25. Februar lahmlegt, taucht das in der Statistik nicht auf. Wenn der Erste eines Monats auf einen Sonntag fällt, liegt der gemeldete Krankenstand für diesen Monat niedriger als wenn er auf einen Montag fällt, weil sich am Wochenende weniger Menschen neu krankschreiben lassen. Wegen der Feiertage am jeweiligen Monatsanfang fallen die gemeldeten Krankenstände im Januar und Mai immer relativ niedrig aus. Und weil die Statistik nur ärztliche Krankschreibungen zählt, erfasst sie Kurzzeiterkrankungen in der Regel nicht, weil für ein oder zwei Tage Fehlen meistens kein Attest nötig ist.

Die Aussagekraft der Zahlen ist also sehr gering, aber wenn man die Einschränkungen kennt, kann man natürlich dennoch interessante Rückschlüsse aus ihnen ziehen.

Christoph B. Schiltz kennt sie nicht. Christoph B. Schiltz glaubt, dass die Prozentangaben in der Statistik des BMG nicht das Verhältnis der Krankgeschriebenen zu den Nicht-Krankgeschriebenen am jeweiligen Stichtag angeben, sondern das Verhältnis der Fehlzeiten zur Soll-Arbeitszeit im jeweiligen Monat. Das tun sie nicht.

Oder wie das Gesundheitsministerium formuliert: „Schlüsse auf eine Differenz zur Sollarbeitszeit oder auf die Zahl der Fehl-Arbeitstage pro Jahr lassen sich nicht ziehen.“

Diese Schlüsse zieht Christoph B. Schiltz aber seit mindestens 1998. Er hat den Zahlen in zig Artikeln in der „Welt“ und ihrer Teilkopie „Berliner Morgenpost“ eine Bedeutung zugeschrieben, die sie nicht haben. Er tut das mit großer Routine.

„Welt“, 27.7.1999:

Nach der neusten Statistik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die 30,1 Millionen Arbeitnehmer im ersten Halbjahr 1999 4,25 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht 4,62 Arbeitstagen und einem Anstieg von 6,2 Prozent gegenüber den ersten sechs Monaten 1998.

„Welt“, 20.1.2000:

Laut Statistik des Bundesge-sundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die 32,08 Millionen Arbeitnehmer im Jahr 1999 4,25 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht einer Fehlquote von 9,4 Arbeitstagen.

„Welt“, 5.7.2000:

Laut der neuesten Statistik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die 31,9 Millionen Arbeitnehmer im ersten Halbjahr 4,23 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht einer Fehlquote von 4,6 Arbeitstagen.

„Welt“, 31.7.2002:

Laut Statistik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die Arbeitnehmer im ersten Halbjahr 4,18 Prozent der Sollarbeitszeit – ein Minus von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dies entspricht 5,1 Arbeitstagen.

„Welt“, 15.10.2002:

Nach den neuesten Erhebungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer zwischen Januar und September 2002 insgesamt 4,02 Prozent der Sollarbeitszeit (Vorjahr: 4,17 Prozent). Dies entspricht 6,6 Arbeitstagen.

„Welt“, 2.1.2003:

Nach den neuesten Erhebungen des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer im vergangenen Jahr vier Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht 8,8 Arbeitstagen.

„Welt“, 21.10.2003:

Nach den neuesten Erhebungen des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer zwischen Januar und September 2003 aus Krankheitsgründen durchschnittlich 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht 5,8 Arbeitstagen und bedeutet einen Rückgang von 11,2 Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum (4,03 Prozent der Sollarbeitszeit).

„Welt“, 29.12.2003:

Laut neuen Statistiken des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer im abgelaufenen Jahr 3,6 Prozent derSollarbeitszeit. Dies entspricht 8,97 Arbeitstagen.

„Welt“, 20.12.2004:

Laut neuesten Statistiken des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung fehlten die 34,1 Millionen Arbeitnehmer im abgelaufenen Jahr aus Krankheitsgründen 3,3 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht einer Fehlquote von 7,35 Arbeitstagen.

„Welt“, 15.1.2007:

Nach neuesten Erhebungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer 2006 im Durchschnitt 3,29 Prozent der Sollarbeitszeit. Das entspricht 7,2 Arbeitstagen.

„Welt“, 28.12.2009:

Im abgelaufenen Jahr fehlten die Arbeitnehmer in Deutschland laut neuen Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, 3,3 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies ist ein Gleichstand gegenüber dem Vorjahr und entspricht 7,3 Arbeitstagen.

„Welt“, 19.7.2010:

Die Arbeitnehmer fehlten in den ersten sechs Monaten laut den neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit – das sind zehn Prozent mehr als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Die Fehlquote entspricht vier Arbeitstagen.

(Kleine Auswahl.)

Allein fast ein Dutzend Mal vermeldete Schiltz in der „Welt“, dass der Krankenstand auf ein „Rekordtief“ gefallen sei. Ungefähr ein Jahrzehnt lang variierte er minimal den Satz: „Arbeitsmarktexperten nennen als wichtigste Gründe für den niedrigen Krankenstand die schwache Konjunktur und die Angst der Arbeitnehmer, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit im Krankheitsfall den Job zu verlieren.“ Gleich dreimal zitierte er den Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit, Joachim Möller, mit demselben Satz: „In wirtschaftlichen Krisenzeiten sinken tendenziell die Krankenstände.“

Das mag immerhin stimmen. Schiltz‘ Zahlen stimmen nicht. Noch einmal: Man kann aus den der „Welt“ jeweils „vorliegenden“ „neuesten“ Statistiken des BMG weder die Fehlzeit als Anteil der Sollarbeitszeit errechnen, noch die entsprechenden Arbeitstage.

Fast amüsant ist es nachzulesen, wie Schiltz die Schwankungen der Monatswerte von Jahr zu Jahr notiert, ohne die einfache Erklärung dafür zu erkennen. Am 16.4.1999 zum Beispiel notierte er in der „Welt“:

Besonders deutlich war der Anstieg in den Monaten Februar und März [1999 gegenüber 1998].

Ich verrate Ihnen und ihm ein Geheimnis: Die Stichtage für die Erhebung, der 1. Februar und der 1. März, waren 1998 Sonntage, 1999 Montage. Alles andere als ein besonders deutlicher Anstieg in der Zahl der Krankgeschriebenen an diesen Stichtagen 1999 wäre wahrlich bemerkenswert gewesen. Aber Schiltz glaubt ja, es handele sich um die Fehlzeiten.

Immer wieder betont er in seinen Jahres-, Halbjahres und Quartalberichten auch, dass der Krankenstand im Januar besonders niedrig gewesen sei. Nun ja: Da ist Stichtag Neujahr. Die meisten frisch Erkrankten werden erst am 2. Januar zum Arzt gehen und somit in der Januar-Statistik fehlen.

Nun könnte man das alles abtun als die erstaunliche, und doch irgendwie nicht überraschende Geschichte eines Journalisten, der vor vielen Jahren eine Statistik für sich entdeckt, sie aber in all den Jahren nicht verstanden hat. Es ist aber alles noch schlimmer. Seine Fehlinterpretation gibt seine Zeitung routinemäßig an die Nachrichtenagenturen, die sie routinemäßig ungeprüft zu Meldungen verarbeiten, die andere Zeitungen routinemäßig ungeprüft weiterverbreiten.

Allein die Nachrichtenagentur dpa vermeldete seit 1998 mindestens zwei Dutzend Mal die falschen Anteile der „Soll-Arbeitszeiten“ unter Berufung auf die „Welt“. Aber auch AP, AFP, Reuters, epd fielen auf den cleveren ahnungslosen „Welt“-Journalisten und seine Vorabmeldungen herein. Der Unsinn erschien im Laufe der Jahre u.a. in „Berliner Zeitung“, „B.Z.“, „taz“, „Bild“ und „Süddeutscher Zeitung“.

Seit vergangenem Jahr scheint das Gesundheitsministerium zu versuchen, mit Pressemitteilungen gegenzusteuern. Mit welchem Erfolg können Sie im BILDblog nachlesen. Aber natürlich auch erraten.

Nachtrag, 20.20 Uhr. BILDblog-Leser Christian M. hat nachgerechnet und ein weiteres Detail dieses umfassenden Desasters offengelegt:

Wenn man um die Sache mit den Stichtagen weiß, bleibt von den aktuellen Meldungen über den (angeblich wegen der besseren Konjunktur) sprunghaft gestiegenen Krankenstand im ersten Halbjahr nichts, aber auch gar nichts übrig. Es verhält sich nämlich so, dass von den sechs Stichtagen 2009 gleich fünf auf einen Sonn- oder Feiertag fielen. 2010 waren das nur zwei. Das ist der Grund, warum der Krankenstand im ersten Halbjahr 2010 scheinbar sprunghaft gestiegen ist.

Livestylejournalismus

Die ersten Leserreaktionen schwanken zwischen Unverständnis und wütender Ablehnung; einige werfen Michalis Pantelouris Sensationslust und das Ausschlachten von persönlichem Leid für eine Art Soap vor. Ich bin mir sicher, dass seine Absicht das Gegenteil ist, aber ich kann die Zweifel verstehen.

Michalis ist freier Journalist mit buntem Lebenslauf, der unter print-wuergt.de bloggt. In der kommenden Woche fliegt er nach Griechenland, um die Wahrheit über den merkwürdigen Tod einer 26-jährigen Berlinerin vor drei Jahren in Athen herauszufinden — oder wenigstens dessen rätselhaften Umstände zu schildern. Die Leser können ihn bei seinen Recherchen quasi live begleiten: Michalis will sämtliche Ergebnisse seiner Arbeit kontinuierlich veröffentlichen, Akten und Videos von seinen Interviews ungekürzt online stellen. Er will dabei nicht auswählen; die einzigen Grenzen bei sollen die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und der gute Geschmack sein — und dann will er es entsprechend begründen.

Es ist ein Experiment. Es soll ein Versuch sein, Journalismus radikal anders zu verstehen und zu praktizieren. Michalis Pantelouris sagt:

Ich glaube, Journalisten und Medienunternehmen nutzen nicht einmal im Ansatz die wahren Möglichkeiten des Internet. Denn das Netz ist ja nicht nur multimedial und schnell, sondern auch grenzenlos in Bezug auf Platz, geradezu archivarisch ewig in Bezug auf die Bestandsdauer von Geschichten, und interaktiv.

Das hat relativ weit reichende Implikationen, die beabsichtigt sind. Journalisten sind beauftragt von ihren Lesern, sie arbeiten aus meiner Sicht per Definition in der Öffentlichkeit und sollten für diese Leser so direkt wie irgend möglich auch erreichbar sein. Wenn ich all meine Rechercheergebnisse veröffentliche, bin ich durch meinen Auftraggeber, den Leser und Nutzer, überprüfbar. Das ist für fast jeden anderen Berufsstand selbstverständlich, aber für uns, für Publizisten, deren Beruf sich vom Publikum ableitet, ist es das im Moment überhaupt nicht. Das halte ich für falsch.

Ich weiß, dass das Urteil dabei vernichtend sein kann. Es kann sein, dass ich am Ende als mittelmäßiger oder gar schlechter Reporter dastehen kann. Das ist nicht einmal unwahrscheinlich. Nichts an dieser Geschichte ist gefaked oder eingefädelt, die Wahrscheinlichkeit ist also eher hoch, dass ich nicht mehr als die Geschichte berichten kann, ohne ihr wichtiges Neues hinzufügen zu können. Es wird irre peinlich sein, wenn ich wichtige Gesprächspartner einfach nicht erreiche, was in Athen im Sommer passieren wird. Und ich bin nervös deswegen. Aber die Freude darüber, tatsächlich eine neue Form ausprobieren zu können, von der ich glaube dass sie potenziell zu einer Entwicklung des Journalismus beitragen kann, überwiegt ein kleines bisschen.

Ich finde, Leser (auch ich als Leser) haben ein Recht darauf, Journalisten anweisen und kontrollieren zu können. Aber tatsächlich ist die Realität so, dass Journalisten sich pausenlos untereinander tolle Anekdoten erzählen mit dem Zusatz „kann man aber nicht Drucken“. Statt als Vermittler von Informationen sehen sie sich als Hüter und Filter von Informationen. Ich glaube, das ist die schädlichste singuläre Entwicklung im Journalismus überhaupt.

Das muss sich ändern, Schritt für Schritt. Und ich habe das Gefühl, die Möglichkeit zu bekommen, ein echt viel versprechendes Experiment in die richtige Richtung machen zu dürfen. Das steht hinter der Geschichte zurück, das muss klar sein und ist mir bewusst, wir reden hier über einen Menschen, der ums Leben gekommen ist, über einer erschütterte Familie, über Schicksale.

Als Medium, das ihm diesen Versuch ermöglicht, hat er die Lifestyle-Zeitschrift „Neon“ gewinnen können. Unter http://www.neon.de/alle/livereportage wird er berichten. Zunächst von seinem Besuch bei den Eltern der jungen Frau in Berlin, dann aus Griechenland, wo er unter anderem zum Tatort fahren und mit Anwälten, Zeugen und Tatverdächtigen reden will.

Er glaube nicht, dass Journalismus objektiv sein könne, sagt Michalis, und deshalb müsse er wenigstens überprüfbar sein — dadurch, dass er möglichst viel Material online stellt, seine Bewertungen nachvollziehbar und den Kontext überprüfbar macht. Natürlich würden nicht viel Leute von der Möglichkeit Gebrauch machen, aber schon der eine, der es tue, und vielleicht sogar Anregungen für weitere Recherchen gebe, mache einen Unterschied. Die fehlende Transparenz von Journalisten sei einer der Hauptgründe, warum die Leute heute Journalisten nicht trauen, sagt Michalis.

Eine gute Woche will er wahrscheinlich vor Ort in Griechenland sein, die ersten Tage in Athen, dann vermutlich auf Kreta. Der Erfolg des Projektes hänge aber nicht davon ab, ob er tatsächlich etwas Neues herausfinde — auch wenn das, wenn es gelingt, natürlich die Freude jedes Reporters sei. „Ich bin in erster Linie Chronist, nicht Ermittler“, sagt er.

Das ist eine wichtige Unterscheidung, und ich glaube, die Unschärfe zwischen diesen beiden Rollen ist ein Grund für die Skepsis gegenüber dem Projekt. Ich nehme Michalis Pantelouris, den ich ein bisschen kenne, seine hehren Ziele ab. Er brennt für dieses Experiment und es macht Spaß, sich endlos von ihm vorschwärmen zu lassen, wie sich der Journalismus verändern könnte und müsste. Andererseits hat die Geschichte für mich auch etwas Frivoles. Mag ja sein, dass sich durch eine solche Arbeitsweise der Informationsanspruch des Publikums besser befriedigen lässt, ganz sicher aber bedient sie auch das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums. Macht er aus einem tragischen Schicksal nicht einen aufregenden Live-Krimi? Wird das Geschehen durch eine solche Art der Aufbereitung als Fotsetzungsgeschichte nicht sogar fiktionalisiert — genau das Gegenteil dessen, was Pantelouris behauptet und erreichen will?

„Je unmittelbarer ich eine Information vermittle“, sagt Pantelouris, „desto mehr berührt und bewegt sie das Publikum. Wenn ich einen Totenschein sehe, ist das etwas anders, als wenn ein Journalist schreibt, wie jemand gestorben ist.“

Ich finde es einen aufregenden Versuch, und ich drücke ihm die Daumen, dass er gelingt — schon weil es viel mehr Experimente mit den neuen journalistischen Formen, die das Internet bietet, und viel mehr Diskussionen über die Zukunft des Journalismus geben muss. Ich glaube auch, dass fehlende Transparenz, oder viel grundlegender noch: fehlende Wahrhaftigkeit ein Hauptproblem des Journalismus heute ist. Aber ich habe, wie viele Kommentatoren auf neon.de, meine Zweifel, dass ein solches persönliches Schicksal, ein solcher Kriminalfall das richtige Thema für ein solches Experiment ist. Bei mir bleibt ein mulmiges Gefühl.

Zeitung verkauft Leser für Strumpf

Korrektur, 11:58 Uhr. Ich Depp habe „Neue Westfälische“ und „Westfälische Nachrichten“ miteinander verwechselt. Die folgenden Bemerkungen stimmen natürlich trotzdem — beziehen sich aber auf zwei verschiedene Zeitungen. Entschuldigung!

Am Dienstag war ich Teilnehmer einer Diskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn zum Thema „Blog gegen Print“. Mit mir auf dem Podium saß unter anderem Thomas Seim, der Chefredakteur der „Neuen Westfälischen“. Der sagte viele vernünftig klingende Sachen darüber, dass klassische Medien selbstverständlich Blogs als Quellen nutzen und selbst den Umgang mit solchen Formen üben sollten, und dass eine Funktion von Tageszeitungen in der Zukunft auch sein werde, ihren Lesern durch Auswahl, Gewichtung und Überprüfung einen Überblick über die verwirrend vielen und teils zweifelhaften Inhalte im Netz zu verschaffen.

Seim benutzt aber den alten Trick, so zu tun, als hätten sich Tageszeitungen als Garanten all dessen erwiesen, was nun im Internet verloren zu gehen drohe: Eine klare Trennung von redaktionellen und werblichen Inhalten, zum Beispiel. Dazu seien Zeitungen nämlich schon durch den Pressekodex verpflichtet, sagte Seim. Im Internet gebe es solche Regeln nicht.

Und damit zu einem ganz anderen Thema.

Am Mittwoch besuchte „Miss Germany“ Anne Julia Hagen die Firma Jentschura in Roxel bei Münster. Die „Neue Westfälische“ „Westfälischen Nachrichten“ berichten ausführlich über dieses Ereignis. „Miss Germany schläft mit Strümpfen“ titelt sie und schreibt:

(…) Die amtierende „Miss Germany“, die keine Currywurst mag, dafür aber Kartoffelsalat, kam nicht aufgemotzt und schon gar nicht in Nylons daher.

Natürlich schön, dezent gebräunt und mit dem richtigen Mix aus geschmeidigen Bewegungen und einer Portion Selbstbewusstsein setzte sich die 20-Jährige für die Fotografen und Kameraleute in Szene – inklusive langer Mähne, einem bezaubernden Lächeln und sexy Augenaufschlag. Die Berlinerin schwört auf „Basische Strümpfe“, von denen die Firma Jentschura in Roxel täglich 250 Stück an die Beine bringt.

Und was bringt das? Miss Germany: „Meine Beine fühlen sich danach toll an, irgendwie leicht. Und die Haut ist streichelzart und sieht einfach gut aus“, strahlt Anne Julia Hagen, die im Februar dieses Jahres mit Krönchen und Schärpe ausstaffiert wurde und die Strümpfe bereits seit drei Jahren überstreift. „Meine Mutter hat mich auf den Geschmack gebracht“, erzählt die Beauty-Queen von der gesunden Lebensart ihrer 43-jährigen Frau Mama auf basische Art.

Am Mittwoch lernte Anne Julia Hagen die Textilmanufaktur in Roxel kennen, die diese Produkte weltweit auf den Markt bringt. Und demonstrierte die Handhabung der Strümpfe. In einer Schüssel mit Wasser verrührte die schöne Miss mit den Maßen 90 – 66 – 93 bei einer Größe von 1,74 Metern einen vollen Teelöffel einer basischen Mineralienmischung. Darin tauchte sie die Baumwollstrümpfe kurz ein, um sie danach gut auszuwringen und ihre Beine in die feuchten Strümpfe zu stecken. Darüber streifte sie sich galant trockene Strümpfe aus reiner Schurwolle über – und fertig war die bestrumpfte Miss Germany, die am liebsten nachts die Strümpfe trägt. Auch bei warmen Temperaturen.

„Am Morgen fühle ich mich einfach wohl, die Beine wirken schlanker“, so die Erfahrung von Deutschlands schönster Frau, die an der Universität Potsdam Kulturwissenschaften, Anglistik und Amerikanistik studiert. (…)

In einer neunteiligen Bildergalerie kommen die „Westfälischen Nachrichten“ ihrer Chronistenpflicht nach und demonstriert mit Fotos, die der Laie leicht mit Werbeaufnahmen verwechseln könnte, wie sehr solche Wollstulpen eine junge Frau entstellen schmücken.

Und in einem vorbildlichen multimedialen Einsatz produzierte die Journalistin der „Westfälischen Nachrichten“ gemeinsam mit dem Fotografen gleich auch noch einen gut halbminütigen Nachrichtenfilm:

Deutschlands aktuell schönste Frau, Anne Julia Hagen, war gestern in Roxel. Die Berlinerin schaute sich in der Firma Jentschura um – weil hier Basische Strümpfe produziert werden. Und auf diese schwört die seit Februar amtierende Miss Germany bereits seit drei Jahren. (…)

Und das ist natürlich — anders als die schnöde Tatsache, dass Frau Hagen einfach einen Werbevertrag mit der Strumpffirma hat — eine Nachricht für die Journalisten von den „Westfälischen Nachrichten“. Die Zitate der Miss Germany stammen übrigens teilweise aus der Pressemitteilung des Unternehmens selbst.

Ich weiß nicht, ob der Artikel auch in der gedruckten Ausgabe der „Westfälischen Nachrichten“ erschienen ist. Andererseits: Kann ja nicht. In Print ist Schleichwerbung ja verboten.

[via Jörg-Olaf Schäfers]

Paul

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Falls Sie die letzten vier Wochen von der Außenwelt abgeschnitten waren: Paul ist ein Oktopus, der in einem Aquarium lebt und scheinbar alle Spiele der deutschen Nationalmannschaft richtig vorhergesagt hat (er wählte jeweils aus zwei Essensbehältern mit Flaggen). Das ist statistisch gesehen nicht viel unwahrscheinlicher als die FDP, gibt aber Anlass zu lustigen Wortspielen wie „Okrakel“ und den Medien die Möglichkeit, über etwas anderes zu berichten als Fußball, ohne über etwas anderes zu berichten als Fußball.

Ich weiß schon, dass das mit Paul ein Spaß ist. Ich weiß nur nicht, ob alle anderen das noch wissen. 600 Fernsehsender sollen Pauls letzte Essenswahl am Freitag gezeigt haben. N24 unterbrach sein Programm und übertrug live. Konkurrent n-tv machte noch die Abendnachrichten mit Pauls Prognose auf. Weil Paul vor dem deutschen Spiel gegen Spanien die spanische Kiste wählte und Spanien tatsächlich gewann, wurde aus dem Aberglauben, dass das Tier den Ausgang eines Spieles richtig vorhersagen kann, plötzlich der Aberglaube, dass das Tier den Ausgang eines Spieles bestimme (entsprechend wurden nun Tintenfisch-Rezepte veröffentlicht).

In vielen Meldungen über Pauls Prognosen wirkt es, als sei die Möglichkeit, mithilfe einfachster Mathematik die Wahrscheinlichkeit einer solcher Trefferserie zu berechnen, der größere Akt der Magie als die Möglichkeit, dass Paul das Ergebnis vorhersagen kann. Die vermutlich dümmste Paul-Geschichte kam im Gewand der Schein-Aufklärung daher: In einem dpa-Korrespondentenbericht sagte ein Tintenfisch-Forscher, man könne auf die Vorhersagen gar nichts geben — weil der Kraken zum Beispiel vermutlich gar nicht die Farben auf den Fahnen erkennen könnte! „Krakenexperte gibt Entwarnung“, titelte dpa.

Ich wollt ich wär / unter dem Meer / im Garten eines Kraken… und zusammen würden wir den ganzen Tag über die Beklopptheit der Menschen lachen und weinen.

Anwalt Schertz verliert gegen „Stalker“ (3)

Der prominente Berliner Prominenten-Anwalt Christian Schertz hat sich juristisch gegen die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ durchgesetzt. Vor dem Landgericht Frankfurt erwirkte er eine einstweilige Verfügung, die die FAZ zur Veröffentlichung einer Gegendarstellung verpflichtete. Die Zeitung ging in Berufung, aber das Oberlandesgericht Frankfurt machte in einem „Hinweisbeschluss“ klar, dass es ihr nicht stattgeben würde.

Und so erschien am Montag auf der Medienseite folgender Text:

Gegendarstellung. In der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. März 2010 schreiben Sie auf Seite 35 in einem Artikel mit der Überschrift "Kein Cyberstalking Niederlage für Berliner Anwalt" über mich: "Das Landgericht hielt die Berufung von Schertz für verspätet und damit unzulässig." Hierzu stelle ich fest: Das Landgericht hielt die Berufung nicht für verspätet, sondern stellte ausdrücklich in der mündlichen Verhandlung fest, dass sie fristgerecht eingelegt wurde. Die Unzulässigkeit der Berufung beruht auf einem anderen Grund. Berlin, 18. März 2010 Rechtsanwalt Dr. Christian Schertz

Die Zeitung nutzte allerdings die Gelegenheit, im Detail die Hintergründe für die Niederlage von Schertz zu erklären, über die sie damals berichtet hatte:

Anmerkung der Redaktion: Herr Dr. Schertz hat recht. Das Landgericht (Az. 86 S 6/10) stellte in den Urteilsgründen Folgendes fest: Die Berufung sei unzulässig, weil sie den Erlass einer neuen einstweiligen Verfügung teils gleichen, teils weitergehenden Inhalts begehre. Damit verkenne der Anwalt "Sinn und Zweck des Rechtsmittels der Berufung". Zweitens sei der neue, in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag nicht innerhalb der Berufungsbegründungsfrist eingegangen und ändere daher an der Unzulässigkeit der Berufung nichts. Schließlich sei die Berufung auch deshalb unzulässig, weil die dem Kläger durch das angefochtene Urteil entstandene Beschwer inzwischen mit dem Ablauf der Wirksamkeit der einstweiligen Verfügung entfallen sei.

So gesehen, war der Sieg von Schertz über die FAZ ein Pyrrhus-Sieg, denn in der ausführlichen Fassung wirkt sein juristisches Vorgehen (bzw. das seiner Kollegin, die ihn in der Verhandlung vertrat) noch peinlicher. Andererseits ist das natürlich möglicherweise ein Grund für ihn, erneut gegen die FAZ vorzugehen. Dass auf ein abgeschlossenes Verfahren gleich mehrere neue folgen, wäre nicht untypisch für das Vorgehen von Schertz in eigener Sache.

Ausgangspunkt mehrerer Verfahren war der Versuch von Schertz, mithilfe des „Stalker-Paragraphen“ gegen den kritischen Gerichtsreporter Rolf Schälike vorzugehen und ihn so mundtot zu machen. Nachdem er damit (nach zwischenzeitlichen Erfolgen) gescheitert war, ging er wie geschildert gegen die Berichterstattung der „FAZ“ über die für ihn ungünstige Entscheidung vor. Ein Jahr zuvor war er auch erneut gegen Schälike vorgegangen, weil der den Termin einer entscheidenden Verhandlung sowie ihr Ergebnis auf seiner Internetseite öffentlich gemacht hatte:

Das ist nach Ansicht von Schertz bzw. seinem Anwalt unzulässig. Schälike rufe damit „natürlich zum Besuch der mündlichen Verhandlung öffentlich auf“ — obwohl die Angelegenheit nur die höchstpersönlichen Rechte von Schertz und nicht seine Arbeit als Medienanwalt betreffe. Außerdem könne das Publikum eh nicht verstehen, was mit den „kryptischen Kurzdarstellungen“ auf der Homepage gemeint sei, deshalb könne sich Schälike auch nicht auf ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit berufen.

Noch einmal zum Mitdenken: Schertz versucht erst (zwischenzeitlich sogar mit Erfolg), Schälike zu untersagen, sich ihm auf weniger als 50 Meter zu nähern — wodurch sich der Kritiker nicht mehr im Gerichtssaal hätte aufhalten dürfen, wenn Schertz anwesend war. Und als Schertz damit scheitert, versucht er, ihm schon den bloßen Hinweis auf die Verhandlung sowie ihr Ergebnis zu verbieten — unter anderem, weil der Inhalt der (öffentlichen) Verhandlung seine Privatsache sei.

In dem Verfahren geht es indirekt auch um meinen Blogeintrag zu dem Thema. Meine Einschätzung, dass Schertz Schälike zum „Stalker“ erklären lassen wollte, um einer kritischen Berichterstattung den Riegel vorzuschieben, sei „schlicht falsch“, erklärt Schertz‘ Anwalt in einem Schriftsatz. Es gehe darum, dass Schälike ihn bis in sein Privatleben verfolgt habe:

Der Kläger [Schertz] kann bestens damit leben, wenn über seine berufliche Tätigkeit kritisch berichtet wird. Dies geschieht auch deshäufigeren, ohne dass der Kläger juristische Schritte anstreben muss oder dies ggf. auch nicht kann, weil ein Vorgehen keine Aussicht auf Erfolg hätte.

Wenn ich das richtig lese, bedeutet das, dass Schertz dann mit kritischen Berichten über seine Arbeit leben kann, wenn er es muss. Die Argumentation wird dann auf eine fast schon amüsante Art zirkulär:

Der Kläger [Schertz] käme doch im Traum nicht darauf, gegen einen Berichterstatter, der über ein oder mehrere gerichtliche Verfahren, die der Kläger (…) geführt hat, Schritte nach dem Gewaltschutzgesetz einzuleiten.

Mit anderen Worten: Schertz‘ Rückgriff auf den „Stalker-Paragraphen“ kann schon deshalb kein Missbrauch sein, weil das ja ein Missbrauch wäre.

Eigentlich hätte das Landgericht Berlin Anfang Juni über Schertz‘ Klage entscheiden sollen. Nachdem sich offenbar abzeichnete, dass er verlieren würde, stellte Schertz aber einen Befangenheitsantrag gegen die Richter — was man nach ungezählten Entscheidungen dieser Richter in seinem Sinne als Akt der Verzweiflung werten könnte.

In welchem Maße der Medienanwalt Schertz die Meinungsfreiheit ablehnt, wenn sie seinen Interessen zuwiderläuft, zeigt auch sein Versuch, eine andere Veröffentlichung von Schälike zu unterbinden. Im März hatte Schälike eine „Mitteilung“ auf seiner Seite veröffentlicht, in der er über mehrere juristische Niederlagen von Schertz unter der Überschrift berichtete:

Fünf Klatschen in einer Woche gegen den Berliner Querulator.

Wichtiger Sieg für die Meinungs- und Äußerungsfreiheit von Bloggern und Journalisten.

Schertz versuchte dagegen eine einstweilige Verfügung zu erwirken, diesmal zur Abwechslung beim Landgericht Köln. Es handele sich um Schmähkritik; Schälike gehe es nicht um „Berichterstattung“ über gerichtliche Verfahren, sondern „um die Herabwürdigung und Bloßstellung“ von Schertz. Belegt werden sollte das unter anderem mit Kommentaren von Schälike hier im Blog, die angeblich beweisen, dass Schälike „keine Gelegenheit auslässt“, Schertz „herabzuwürdigen“.

Zudem könne die Berichterstattung über die „angeblichen ‚Klatschen'“ leicht dazu führen, potenzielle Mandanten abzuschrecken:

Wer über einen Rechtsanwalt zielgerichtet behauptet, dass dieser in Reihe Verfahren verlieren würde und dann auch noch auf anderen Internetseiten davon abrät, diesen Rechtsanwalt zu mandatieren, der greift in massiver Weise das Anwalt-Mandanten-Verhältnis an, auf das [Schertz] zur Ausübung seiner Berufsfreiheit angewiesen ist.

Die Reaktion des Gerichtes auf den Antrag kann man nun guten Gewissens als Klatsche für Schertz bezeichnen. Es lehnte die geforderte einstweilige Verfügung ab. Erstens fehle die notwendige Dringlichkeit. Zweitens sei sein Persönlichkeitsrecht nicht verletzt worden. „Klatsche“ sei in diesem Zusammenhang eine zulässige Meinungsäußerung, und die angegriffenen Tatsachenbehauptungen seien nicht unzulässig. Das Gericht wörtlich:

Warum ein wahrheitsgemäßer Bericht über den Verlauf von Gerichtsverfahren abträglich für die Ehre bzw. das Ansehen des Antragsstellers sein kann, ist nicht ersichtlich.

Das Gericht berief sich dabei ausdrücklich auch auf eine neue Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, das im Zusammenhang mit einer anderen Klage von Schertz die für ihn positiven Urteile der ersten Instanzen kassiert und betont hatte, dass das Persönlichkeitsrecht eines Menschen:

seinem Träger keinen Anspruch darauf vermittelt, öffentlich nur so dargestellt zu werden, wie es ihm selbst genehm ist (…).

Schertz tut sich offenkundig äußerst schwer, das für sich zu akzeptieren.

Am morgigen Freitag nimmt er auf der Jahrestagung des „Netzwerkes Recherche“ an einer Diskussion über die Grenzen der „Boulevard-Recherche“ teil. Er wird sich sicher als Freund und Verteidiger der Pressefreiheit ausgeben.

Hinweis: Ich bin freier Mitarbeiter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Dieser Eintrag gibt nur meine persönliche Meinung wieder. Nachtrag, 9. Juli. Ich hatte in dem Absatz, der mit „Ausgangpunkt“ beginnt, die zeitliche Abfolge zunächst falsch dargestellt und jetzt korrigiert.

„Lebt er noch?“ (2)

Weiß jemand, wie groß die Redaktionsbüros von „Newstime“ sind und wie lange ich entsprechend bräuchte, um sie hüfthoch vollzukotzen?
(Lukas Heinser, 12. November 2009)

Die Kommission für Zulassung und Aufsicht der Landesmedienanstalten (ZAK) hat einen Beitrag der Nachrichtensendung „Newstime“ beanstandet. ProSieben hatte im November 2009 gezeigt, wie die Frau von Robert Enke an dem Ort eintraf, an dem er sich gerade das Leben genommen hatte. Sicherheitshalber hatte der Sender ihre schwer verständlichen Fragen an die Polizei nach seinem Verbleib sogar noch untertitelt.

Ein ProSieben-Sprecher hatte mir damals gesagt: „Aus Sicht der Nachrichtenredaktion war es angemessen, die Bilder zu zeigen.“ Inzwischen hat sich der Sender für den Beitrag entschuldigt. Nach dem Urteil der ZAK hat er die Persönlichkeitsrechte von Frau Enke verletzt und gegen journalistische Grundsätze verstoßen.

Ich hab noch Sand in den Schuhen aus Daten

„Papier ist geduldig.“
(früheres Sprichwort)

Vorweg sollte ich sagen, dass das neue Jahrbuch des Verbandes der Zeitschriftenverleger (VDZ) auf schwerem, hochwertigem Papier gedruckt ist. An der Qualität der Texte kann also überhaupt kein Zweifel bestehen.

Und doch wird jemand, der versucht, sich mit Hilfe dieser Essays von Geschäftsführern führender Verlage ein Bild vom Zustand dieser Branche zu machen, ratlos zurückbleiben. Im Vorwort blickt der Verbandspräsident Hubert Burda auf ein „erfolgreiches Jahr 2009“ zurück und findet: „Wir haben allen Grund, selbstbewusst zu sein“.

Auch wenn wir uns von den hohen Renditen der letzten Jahrzehnte verabschieden müssen, bleibt Print ein höchst lukratives Geschäftsmodell, vorausgesetzt, es ist klug gemanagt.

Auf den nächsten gut 200 Seiten aber wechseln solche Lobreden auf die Zukunftsfähigkeit des Geschäftes mit dem Drucken und Vertreiben von Inhalten auf Papier sich mit Beschwörungen ab, dass sein Ende unmittelbar bevorsteht, wenn nicht sofort diverse Gesetze geändert, Steuern erlassen, Konkurrenten ausgeschaltet und Subventionen beschlossen werden.

Das Jahrbuch zeichnet das schizophren anmutende Bild einer Branche, die gleichzeitig demonstrieren will, dass es ihr bestens geht (und all die Todesprognosen verfrüht sind) und dass sie im Sterben liegt (und also alle alles tun müssen, was sie sagt). Es ist eine Branche, die vollkommen davon überzeugt ist, unverzichtbar zu sein, und fassungslos feststellen muss, dass nicht alle die gleiche Überzeugung haben.

Passenderweise wird der VDZ von einem Mann geführt, der Hysterie und Propaganda für angemessene Reaktionen auf eine komplexe Gemengelage hält. Wolfgang Fürstner arbeitet sich in seinem Essay noch einmal an der geplanten Aufbereitung der Inhalte von tagesschau.de auch für das iPhone ab – und hat sich von Jürgen Doetz, der als Cheflobbyist der Privatsender jahrzehntelang gegen ARD und ZDF gekämpft hat, leider immer noch nicht die Grundbegriffe für diese Auseinandersetzung erklären lassen.

Fürstner schreibt:

Zur Erinnerung: Die Idee der Grundversorgung entstammt den fünfziger Jahren, als es noch Frequenzmangel gab, und sie war ein Versuch, einen Mindeststandard zu setzen.

Das hat er fast wörtlich im Januar schon der „Welt“ gesagt und ist falsch. Den Begriff der Grundversorgung hat das Bundesverfassungsgericht 1986 in seinem Vierten Rundfunkurteil geprägt, und er bezeichnet gerade nicht einen Mindeststandard, sondern die umfassende Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, „für die Gesamtheit der Bevölkerung“ Programme zu bieten, und zwar Information, Bildung und Unterhaltung. Dahinter stand, dass das Gericht privat finanziertem Rundfunk dies nicht zutraute. ARD und ZDF sollten nicht die Lücken füllen, die die Privaten ließen, sondern ein vollwertiges Programm machen dürfen und müssen, das alle Ansprüche erfüllt. Das meint der Begriff „Grundversorgung“.

Wolfgang Fürstner kennt nicht einmal die Grundlagen des Dualen Systems, will aber der Politik und der Öffentlichkeit erklären, wie es auszusehen habe.

Nun hätte ich aber vermutlich kein Wort über das VDZ-Jahrbuch verloren, wenn ich darin nicht auf das Gedicht den Beitrag „Das gedruckte Wort ist wie ein Kuss“ gestoßen wäre, verfasst von Wolfram Weimer, dem ehemaligen Chefredakteur von „Cicero“ und neuen Chefredakteur von „Focus“.

Sein Text beginnt wie folgt:

Riechen Sie lieber an einer Blume oder am Bild einer Blume? Erleben Sie lieber einen Sonnenuntergang mit Grillenzirpen aus den Dünen und Sand zwischen den Zehen oder reicht Ihnen der Film eines Sonnenuntergangs? Lieben Sie lieber ohne zu küssen?

Man kann lieben ohne zu küssen, aber warum sollte man? Die Blume und der Kuss sind wie das gedruckte Wort. Sie sind, sie werden nicht, sie sind, das macht sie so faszinierend.

Jawohl, das ist allen Ernstes der Beginn eines Plädoyers, warum gedruckte Inhalte elektronischen Inhalten überlegen sind. (Fairerweise muss ich sagen, dass Sie die ganze Pracht seiner Argumentation hier im Blog natürlich nicht erkennen können. Sie müssten den Text bitte ausdrucken.)

Das „Pic“ von der Blume, das downgeloadete Onlinevideo vom schönsten Sonnenuntergang auf Tonga, der elektronische „Hug“ auf dem Flirtportal haben tausend Vorteile, aber einen entscheidenden Nachteil: sie sind flüchtig. Das virtuelle und das gedruckte Wort sind daher in Wahrheit keine Konkurrenten, weil sie sich auf unterschiedliche Kategorien des Lebens und Lesens beziehen. Das gedruckte Wort wird vom Internet so wenig verdrängt wie der Apfel von der Vitamintablette.

Das ist auf so vielen Ebenen falsch, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Andererseits ist es so offensichtlich falsch, dass ich gar nicht weiß, ob ich überhaupt irgendwo anfangen soll.

Zunächst beschreibt Weimer den Unterschied zwischen einem realen Gegenstand oder Erlebnis und seiner Abbildung oder Beschreibung. Dann tut er so, als sei das gedruckte Wort mit dem eigenen Erleben identisch und das digital veröffentlichte Wort mit seiner Beschreibung. Ich bin mir nicht sicher, ob das der Versuch einer Gehirnwäsche ist oder ihr Ergebnis.

Und dann weitet er den bekannten Irrtum, Online für ein flüchtiges Medium zu halten, auf elektronische Inhalte insgesamt aus – was besonders absurd ist. Schon das Foto von der Blume ist im Gegensatz zur echten Begegnung mit ihr eben gerade nicht flüchtig. Und zumindest in meinem Leben ist auch das elektronische „Pic“ (wie Weimer es mit spitzen Fingern nennt) deutlich weniger flüchtig als der Papierabzug, weil ich den gerne mal verliere. Und man kann, wenn man will, viel gegen den „elektronischen ‚Hug'“ sagen – ein entscheidender Vorteil ist, dass ich ihn mir immer wieder ansehen kann, im Chatprotokoll oder meiner Facebook-Historie.

An der behaupteten Flüchtigkeit des Internets hängt ein Großteil der Argumentation Weimers – und offenbar der Zukunft der Print-Branche. Weimer schreibt:

Das Flüchtige wird in den flüchtigen Medien ein Zuhause finden. Das Relevante aber wird immer nach Gravitation streben.

Sie ist wirklich so schlicht, die Welt der Print-Ideologen: Was schwer wiegt braucht ein schwer wiegendes Medium. Virtuelle Inhalte haben in doppeltem Sinne kein Gewicht.

Dabei ist es schon in einem ganz praktischen Sinne genau umgekehrt mit der Flüchtigkeit: Versuchen Sie mal den Inhalt des Artikels einer Zeitung von gestern herauszufinden. Wenn er online steht, können sich Menschen mühelos auch morgen und nächste Woche noch darauf beziehen und darüber diskutieren.

Die behauptete unterschiedliche Flüchtigkeit der Medien hat immerhin einen wahren Kern: Gute Zeitungen zum Beispiel werden so gemacht, dass sie verlässlich sind, Autorität und Bestand haben. Dass zukünftige Generationen auf sie zurückgreifen können als Dokumentation von Geschichte. Im Englischen gibt es dafür den schönen Begriff „Newspaper of record“. Richtig ist, dass viele Online-Medien nicht mit diesem Anspruch gemacht werden, sondern auf die Schnelle, für den Tag. Ich behaupte aber, dass das nicht im Medium selbst begründet ist, sondern an dem, wie es nicht zuletzt die Verlage nutzen. So gesehen ist es fast eine Frechheit, wenn Weimer von der „zirkusähnlichen Gestalt“ des Medienbetriebs in elektronischen Medien schreibt und „Klickgalerien für Bikini-Outfits“ als typisches Beispiel nennt. Was für eine geschickte Aufteilung: Erst gehen die Verlage in einen ruinösen Wettbewerb um die dümmsten Klickstrecken. Dann verweisen sie auf sie, um die Notwendigkeit ihrer Print-Produkte zu legitimieren.

Aber zurück zu Weimers oben zitierten Vergleich: Print ist der Apfel und Online die Vitamintablette, also nur eine künstliche Nachahmung der natürlichen, echten Sache? Ja, und Weimer hat noch mehr Beispiele:

In den sechziger Jahren gab es Science Fictions, die das Ende des herkömmlichen Essens vorhersagten. Es werde gesundheitsperfekte Pillen, ästhetisches Designerfood und technische Ballaststoffe mit Geschmacks- und Aromastoffen geben. Keiner werde mehr natürliche Früchte, fettes Fleisch, verderbliches Gemüse wollen. Weit gefehlt. Obwohl wir uns längst künstlich ernähren könnten, werden wir weder auf den Geruch von Omas Apfeltorte verzichten noch auf das Erlebnis einer platzenden Traube im Mund.

Für Leser, die es weniger anschaulich und mehr intellektuell lieben, spricht Weimer später auch von der „strategischen Chance von Printmedien als Heimstatt der Eigentlichkeit“: „Print ist (…) nicht nur der Form nach wirklicher als elektronische Medien, auch dem Print-Inhalt wird die Wirklichkeitsnähe stärker zugesprochen.“

Dass wir uns „in immer rascheren Abfolgen mit Scheinskandalen beschäftigen“, liegt laut Weimer natürlich auch am „hastigen Überschlag des Elektronischen“. Als Beispiele, wie wir „von einer Panik in die andere jagen“, nennt er:

Vorgestern das Waldsterben, die Kampfhunde und Sars, gestern Feinstaub, BSE und Vogelgrippe, heute die Klimakatastrophe und die Schweinegrippe – der Alarmismus prägt die Multimediademokratie.

Wenigstens bei der Angst vor dem Waldsterben, die aus einer Zeit stammt, als es noch kein World Wide Web, ja noch nicht einmal nennenswert privaten Rundfunk in Deutschland gab, hätte er doch merken müssen, dass Printmedien diesen Alarmismus ganz gut alleine hingekriegt haben – und was wäre die Panikmache in den Fällen Kampfhunde, Sars, Vogel- und Schweinegrippe ohne das Zutun der gedruckten „Bild“-Zeitung gewesen?

Ich würde mich nicht so lange an diesem Essay abarbeiten, das vermutlich ohnehin außer mir kaum jemand gelesen hätte, weil solche Jahrbücher mit ihrem schönen, schweren Papier doch eher dafür gemacht sind, dass man sie ungelesen ins Büroregal stellt, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass es in erstaunlicher Deutlichkeit zeigt, wie irreal das Weltbild dieser Leute geworden ist und wie fern ihnen immer noch die Binsenweisheit ist, dass guter Journalismus nicht davon abhängt, ob er in analoger oder digitaler, gedruckter oder elektronischer Form vorliegt.

Am Ende wagt Weimer noch einen anderen Vergleich:

Ich plädiere daher für mutige Investitionen unserer Verlagshäuser in ihre Kernprodukte. So wie die Autoindustrie seit Jahrzehnten totgesagt wird, so investiert sie doch immer wieder in neue Modelle und in die Verbesserung ihrer Autos. Sie flüchten nicht in den Flugzeugbau, den Bahn- oder Schiffsbetrieb, noch glauben sie ernsthaft daran, dass Geschäftsreisen verschwinden, nur weil Online-Konferenzen möglich sind.

Mag sein, nur wären sie schlecht beraten, wenn sie glaubten, auch in Zukunft müssten Autos mit Benzin angetrieben werden, und anstatt neue Antriebswege zu entwickeln, den Menschen Vorträge darüber halten würden, dass der Otto-Motor das Maß aller Dinge ist — und ein Fahrzeug ohne ihn wie die Liebe ohne den Kuss wäre.

Der Nepp mit dem „Killer-Spiel-Killer“ von „Stern TV“

Die Geschichte ist ein Traum: Ein junger Mann aus der Provinz erfindet ein Programm, auf das die Welt gewartet hat. Eltern können damit endlich nachgucken, was ihre Kinder wirklich an Computerspielen auf ihren Rechnern installiert haben, und die bösen oder nicht altersgerechten Sachen mit einem Mausklick von der Festpatte löschen lassen.

Der Held muss natürlich, wie es in solchen Geschichten ist, erst gewaltige Widerstände überwinden. Keiner will ihm helfen, viele verstehen ihn nicht. Die Sache schleppt sich über Jahre hin und kostet ein kleines Vermögen. Aber seine Familie steht ihm bei, und am Ende hat er geschafft und eine Software auf den Markt gebracht, die die Welt ein bisschen besser macht.

Die Leute von „Stern TV“ erzählen diese Geschichte in ihrer Sendung am 9. Juni ungetrübt von jeder journalistischen Distanz. Es ist ein insgesamt fast 18-minütiger redaktioneller Werbeblock für das Programm namens „Neoguard 2010“. Günther Jauch moderiert es an als eine „bemerkenswerte Entwicklung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen und zum Aufatmen der besorgten Eltern“. Der Filmemacher Peter Schran hat den Programmierer Stefan Stein über längere Zeit begleitet und schwärmt von dessen „Vision“: „die fortschreitende Macht digitaler Monster in den Kinderzimmern bändigen“. Der Off-Sprecher sagt:

Es klingt nach der lang ersehnten Superwaffe für leidgeprüfte Eltern. Nur eine CD einlegen, zwei, drei Eingaben und die verbotenen Spiele werden enttarnt.

Dem „Tüftlersohn“, dessen Mutter als Sozialpädagogin an einer Hauptschule täglich mit der Problematik konfrontiert werde, fehlt es nicht an Selbstbewusstsein: Er führt vor, wie leicht die vermeintliche Jugendschutz-Sperre an der X-Box zu überlisten sei, und erklärt, dass sein eigenes Programm nicht so einfach zu knacken sein werde. Weltweit gebe es kein ähnliches System – wenigstens sei ihm keines bekannt. Als das Bundesfamilienministerium seine Bitte um Hilfe ablehnt, klagt er: „Ich blick nicht, warum die Leute nicht verstehen, was ihnen da an die Hand gegeben werden könnte.“

Im Studio lässt sich Günther Jauch von Stefan Stein vorführen, wie leicht die Software zu bedienen ist – und wie gut sie angeblich funktioniert. Bei einem Test findet sie zwar nur neun von zehn Spielen, die die Redaktion installiert hatte, aber das sei „ein Superergebnis“, findet Jauch. 25 Euro soll das Programm kosten, aber die Redaktion von „Stern TV“ hat für ihre Zuschauer noch ein Zusatzangebot: Kostenlos lässt sich auf der Sendungsseite im Internet eine eigene, abgespeckte Version herunterladen. Sie nennt sich „Stern-TV Spiele-Scanner“, trägt unübersehbar das bekannte Logo und kann zwar die gefundenen Programme nicht löschen oder namentlich auflisten, aber sie zählen.

Jauch erklärt den Zuschauern:

„Das heißt, Sie können dann zu Ihrem Kind gehen und sagen: Pass mal auf, du hast die hier installiert, was sind das für Spiele, was machst du damit, mach die bitte weg etc. Und wenn Sie dann dem Kind am Ende nicht glauben oder wenn das sozusagen sich dauernd wiederholt, dann, würde ich sagen, nehmen wir [Stefan Steins] Luxus-Software und dann können Sie selber gucken, können’s löschen und kriegen’s dann vor allen Dingen sauber aufgeführt, wie diese ganzen Spiele heißen.“

Offenkundig erwartet die Redaktion einen größeren Ansturm auf das von ihr als Wunderwaffe dargestellte kostenlose Produkt. Jauch sagt:

„Machen Sie sich keine Sorgen, wenn das jetzt in der Nacht zusammenbricht. Das ist lang genug auf unserer Seite drauf, die nächsten Tage und Wochen auch.“

Der junge Mann werde in der Redaktion der „Killer-Spiel-Killer“ genannt, verrät Jauch. „Das ist ’ne tolle Idee“, sagt er noch zu ihm. „Herzlichen Glückwunsch!“

Die Reaktionen unter vielen Computerspielern waren deutlich weniger euphorisch, dafür aber häufig amüsiert. Einer nach dem anderen prahlte in einschlägigen Foren, wie viele der bei ihm installierten Spiele das vermeintliche Wunderprogramm nicht fand. Innerhalb kürzester Zeit hatten die Profis dokumentiert, wie lücken- und fehlerhaft die Datenbank mit den Spielen und ihren Altersfreigaben sei, und wie kinderleicht sogar der grundsätzliche Mechanismus des Programms überlistet werden könne. Kaum eine Behauptung der Hersteller hielt einer Überprüfung stand. Auch die Redaktion der Zeitschrift „PC Games“ berichtete auf ihrer Internetseite am Tag nach der „Stern TV“-Sendung von „ernüchternden Ergebnissen“.

Die Nachrichtenagentur epd und andere Medien hingegen sprang ungefähr gleichzeitig auf den Werbezug auf. „Der Killerspiele-Killer fürs Kinderzimmer – Ein neues Programm kann jugendgefährdende Spiele auf dem PC finden und löschen“, lautet die Überschrift eines längeren epd-Berichts. Er erzählte ebenfalls die Entwicklung des Programms als langjährige Heldengeschichte – hier kostete die Entwicklung sogar „knapp 100.000 Euro“. Bei „Stern TV“ war nur von 60.000 bis 70.000 Euro die Rede gewesen. Im epd-Bericht erhielt das Produkt zudem prominente Unterstützung: die Sprecherin des Aktionsbündnisses Amoklauf Winnenden sagte, das Programm sei die einzige (!) Möglichkeit, gegen altersindizierte Spiele aus dem Internet vorzugehen.

Auch Bild.de war begeistert:

Dass darauf nicht schon längst jemand gekommen ist: Eine neue Software kann jugendgefährdende Spiele auf dem PC finden und löschen. „Neoguard 2010“ verbannt so „Killerspiele“ aus dem Kinderzimmer. Der 28-jährige Hagener Stefan Stein hat das Programm entwickelt. Die Anwendung: kinderleicht!

Doch wer die überall angegebene Internet-Adresse aufruft, unter der das Zauberwerkzeug zu beziehen sein soll, findet heute nur eine leere Seite; auch die Homepage der Firma ist verschwunden. Der Server sei massiven Attacken ausgesetzt gewesen, sagt Stefan Stein auf Nachfrage. Und jetzt arbeite er mit einem Team erst einmal an einer neuen, erweiterten Version der Software, bei der auch ein „technisches Problem“ ausgeräumt werden soll, das aufgetreten sei, und wolle sich dabei keinen zu engen Zeitrahmen setzen. Nach den Sommerferien sei „Neoguard“ vermutlich verfügbar. Zu den akribisch dokumentierten Vorwürfen, was alles an seinem Programm nicht funktioniere, will er sich „zum jetzigen Zeitpunkt“ nicht äußern. Auch auf die Frage, wie es eigentlich zu der erstaunlichen Kooperation mit „Stern TV“ kam, möchte er nicht antworten – das müsse man schon bei dem RTL-Magazin erfragen.

Dort ist man allerdings auch wortkarg, was das Thema angeht. Andreas Zaik, der Leiter der Sendung, erklärt „auf dem Weg ins Wochenende“ auf detaillierte Fragen nur kurz: „stern TV hat den „Spielescanner“ wegen technischer Probleme vorübergehend vom Netz genommen. Dies wird bis zu deren Klärung und Behebung auch so bleiben.“

Tatsächlich führen die Links auf die Seite mit dem Download ins Leere. Und auf der Archivseite der Sendung ist jeder Hinweis auf den sensationellen „Spiele-Scanner“ nachträglich beseitigt worden. Nach all der wortreichen Werbung für das Produkt schenkt „Stern TV“ seinen Zuschauern und all den Eltern, die hofften, einen Schlüssel zum Säubern des Computers ihrer Kinder gefunden zu haben (wenn sie sie überhaupt ins Zimmer lassen), nicht ein einziges Wort der Erklärung, warum das Programm mit einem Mal verschwunden ist.

Viele Fragen sind noch unbeantwortet. Aber es scheint, als wäre das Programm bestenfalls gut gemeint, aber in vielfacher Hinsicht ungeeignet, Kinder und Jugendliche von nicht altersgerechten Computerspielen fernzuhalten. Die Geschichte war wirklich ein Traum – für und von Journalisten.