Falls Sie sich fragen, was das für ein merkwürdiger Text ist, der von mir am Sonntag auf sueddeutsche.de erschienen ist, und vor allem: Warum der so kryptisch anfängt —
Es fehlt der erste Satz. Irgendwie ist der erste Satz verloren gegangen. Auf den sich die nächsten zehn Sätze bezogen, die nun da frierend ohne Anschluss herumstehen. Der erste Satz lautete:
Und dann war da plötzlich ein Medium, mit dem man alles machen konnte.
Der Text ist Teil einer Reihe von Gastbeiträgen, die der Online-Ableger der „Süddeutschen Zeitung“ gerade unter dem Titel „Wozu noch Journalismus?“ veröffentlicht. Vor ein paar Tagen formulierte der Zeitschriftenmann Manfred Bissinger („Stern“, „Natur“, „Merian“, „Die Woche“) dort u.a.:
Wie erfolgreicher Journalismus immer besser werden kann, führt seit Monaten die „Seite 3“ der Süddeutschen Zeitung vor, die dank des Engagements ihrer Redakteure und Reporter von Woche zu Woche neuen Höhepunkten entgegeneilt. Sie liefert zudem den Beweis, dass Print dem Internet immer überlegen sein wird.
Er demonstriert damit unfreiwillig, auf welchem Niveau diese Debatte immer noch geführt wird. Er versucht nicht einmal, seine Aussage zu begründen. Es übersteigt einfach das Vorstellungsvermögen des alten Print-Mannes, dass Dinge einmal anders sein könnten, als sie heute sind, und deshalb schließt er es für alle Zeiten aus. Es ist schon richtig, dass das Internet im Augenblick die Strukturen, die hinter der Qualität einer „Seite 3“ in der SZ stehen, noch nicht finanziert. Aber richtig ist auch, dass Print diese Strukturen jetzt schon kaum noch oder nicht mehr finanziert. Oder was meint Bissinger? Und benutzt er Telefon und E-Mail, obwohl doch handgeschriebene Briefe, transportiert per Post (obwohl sie sich, leider, nicht mehr auf die bewährte Qualität der Kutsche verlässt), der Elektronik immer überlegen… Ich schweife ab.
Hier ist jedenfalls das unredigierte (und deshalb womöglich Tippfehler, aber immerhin auch den ersten Satz enthaltende) Manuskript meines Textes für die Reihe von sueddeutsche.de:
Wozu noch Journalismus?
Und dann war da plötzlich ein Medium, mit dem man alles machen konnte.
Journalisten, die ein langes Interview geführt hatten, für das in der Zeitung nicht genügend Platz war, konnten es trotzdem in ganzer Länge veröffentlichen. Kritiker konnten ihrem Publikum zeigen, worüber sie schrieben: die Kunst, das Bauwerk, den Film, mit beliebig vielen Fotos oder bewegten Bildern. Meldungen konnten sich auf die Neuigkeiten des Tages beschränken und für diejenigen, die die Vorgeschichte nicht mitbekommen hatten, einen Link auf die entsprechende Meldung vom Vortag setzen. Kommentatoren konnten eine echte öffentliche Debatte führen und auf widersprechende Meinungen in anderen Medien verweisen, und die Leser konnten sich daran beteiligen und untereinander und mit den Autoren diskutieren. Nachrichten konnten das Publikum sofort erreichen, egal wann sie passierten. Fehler konnten an Ort und Stelle korrigiert werden. Rechercheure konnten dem interessierten Publikum die brisanten Dokumente, die sie aufgetan hatten, zeigen. Aufklärer konnten ihre Argumente mit Quellen untermauern, von deren Aussagekraft sich die Leser ein eigenes Bild machen konnten.
Die aufwändig produzierten Inhalte von gestern verstaubten nicht mehr in irgendwelchen Archiven, sondern blieben zugänglich. Und sie mussten nicht erst teuer und zeitraubend auf Papier gedruckt und durch das ganze Land verschickt werden, um zu den Lesern zu kommen.
Eigentlich müssten La-Ola-Wellen von Journalisten durch das Land schwappen, vor lauter Begeisterung darüber, wie das Internet ihre Arbeit erleichtert und verbessert und ihre Möglichkeiten potenziert hat. Das Gegenteil ist der Fall. Die Online-Welten werden abgetan und belächelt, als Heimat für Betrüger und Perverse denunziert, die digitalen Vorreiter als „Internet-Apologeten“ verspottet. Jedes Indiz dafür, dass die junge Internet-Welt noch nicht mithalten kann mit den über viele Jahrzehnte, Jahrhunderte etablierten Formen der Produktion und Finanzierung von Journalismus, wird als Scheinbeleg für die vermeintlich immanente Überlegenheit der Wissensvermittlung auf Papier gefeiert.
Dem Internet wird das egal sein. Es ist nicht auf gute Presse angewiesen. Seine technischen Vorteile sind für die meisten Menschen, die jungen zumal, so offenkundig, dass sie auch nicht darauf hereinfallen, dass in der Rhetorik der Papierjournalistenlobby das Internet synonym ist mit marodierenden Kinderschänderbanden, der Kiosk hingegen anscheinend nur edle Hochglanzzeitschriften feinster Recherchekunst anbietet.
Ein Problem wird die Internetfeindlichkeit der klassischen Medien und Journalisten nur – für die klassischen Medien und Journalisten.
Ist es nicht erstaunlich, in welch geringem Maße Journalisten Gebrauch machen von den Möglichkeiten des neuen Mediums? Es gibt in Deutschland wenig, das man wirklich als „Online-Journalismus“ bezeichnen könnte. Was es stattdessen im Überflluss gibt: Übernahmen aus Printmedien, ergänzt durch Bildergalerien, hinter denen erkennbar weniger ein publizistisches Interesse steht als der Versuch, möglichst viele Klicks zu generieren. Automatisch oder halbautomatisch übernommene Agenturmeldungen, illustriert mit dem erstbesten Symbolfoto aus dem Archiv. Und hastig ab- und zusammengeschriebene Textchen mit Klatsch und Tratsch.
Das ist natürlich eine Frage der fehlenden Etats. Aber es spricht auch für ein erhebliches Misstrauen gegenüber den neuen Formen und Möglichkeiten – und den ungewohnten Regeln, die im Internet gelten. Schon das Verlinken auf andere Seiten, eine der Ur-Funktionen des Netzes, scheint bei den deutschen Online-Medien auf erhebliche innere Widerstände zu stoßen; nur allmählich setzt sich die Praxis durch.
Als Erklärung für das, gelinde gesagt: zurückhaltende Engagement deutscher Medien im Netz müssen immer wieder die mangelnden Refinanzierungsmöglichkeiten herhalten. Natürlich ist das nicht falsch. Natürlich kann man verstehen, dass ein Verlag zögert, bevor er es riskiert, ein noch halbwegs funktionierendes Erlösmodell möglicherweise durch ein Angebot zu kannibalisieren, bei dem die Werbeerlöse zur Zeit ungleich niedriger und die Vertriebserlöse Fehlanzeige sind. Aber das Risiko einer scheinbaren Risiko-Vermeidungsstrategie dürfte noch größer sein. Wer sein Online-Angebot auf ein Minimum reduziert, um die Menschen zu zwingen, das Print-Produkt zu kaufen, läuft Gefahr, für eine ganze Generation gar nicht mehr präsent zu sein. Der „Stern“ etwa konzentriert sich im Internet im Wesentlichen darauf, Agenturmeldungen hübsch aufzubereiten und mit einzelnen Kolumnen anzureichern. Die einbrechenden Auflagenzahlen des gedruckten „Stern“ deuten eher nicht darauf hin, dass das die Menschen dazu bringt, massenhaft an den Kiosk zu gehen. Und junge Leute, die das Heft selbst womöglich nie in der Hand hatten, kämen angesichts des real existierenden stern.de vermutlich nicht auf die Idee, dass sich hinter der Muttermarke ein traditionsreiches Angebot mit großen Reportagen und üppigen Fotos verbirgt.
Nach der aktuell unter Verlegern vorherrschenden Interpretation schützt der „Stern“ seine Einnahmen dadurch, dass er seine exklusiven Inhalte nicht online verschenkt. Stattdessen verschenkt der „Stern“ aber so die Möglichkeit, sich neue Leser zu erschließen, die das spezielle journalistische Angebot von „Stern“ womöglich zu schätzen wüssten – was jedenfalls wahrscheinlicher ist als beim Agentureinerlei auf stern.de. Wer glaubt, dass er im Internet nur zweite Wahl anbieten muss, darf sich nicht wundern, wenn das Image seiner Marke leidet.
Die Aussage, dass sich Qualitäts-Journalismus im Internet nicht refinanzieren lässt, wird von den Print-Lobbyisten so oft wiederholt, als handele es sich um ein Naturgesetz. Dabei handelt es sich bislang nur um eine Momentaufnahme in einem Medium, das gerade erst zum Massenmedium geworden ist und sich immer noch rasant verändert. Dabei spricht wenig dafür, dass die Art, wie wir heute Nachrichten und Hintergründe im Internet lesen, in immer neuen Varianten des „Spiegel Online“-Musters, von Dauer sein wird.
Es hat einerseits etwas Beunruhigendes, wie übersteigert die Hoffnungen und Erwartungen sind, die sich mit der Ankündigung eines neuen Apple-Computers in Form eine Tabletts verbinden. Andererseits zeigt dieses Beispiel, wie sehr diese Technologien und dieser Markt sich gerade noch entwickeln und was für Möglichkeiten zur journalistischen Darstellung sie noch versprichen, von denen wir heute nur träumen.
Es gibt Prototypen dafür, wie sich Zeitschrifteninhalte auf solche und ähnliche Geräte bringen lassen, die auf brilliante Weise die Opulenz und Haptik von Magazinen in die digitale Welt übertragen und clever mit den Möglichkeiten des Netzes kombinieren. Vielleicht werden die Menschen bereit sein, für solche Angebote in Zukunft zu zahlen. Vielleicht reicht es auch schon, wenn Markenartikler die Präsentationsformen in solchen Angeboten attraktiv genug finden. Sicher ist nur: Das Festhalten an Papier wird in Zukunft für die wenigsten ein Geschäftsmodell sein.
Auch das muss man festhalten: Es mag sein, dass in Zukunft weniger Journalisten gebraucht werden. Jedenfalls nicht die Heerscharen, deren Arbeit vor allem daraus besteht, Agenturmeldungen ins eigene Redaktionssystem zu pflegen und das noch einmal aufzuschreiben, was überall anders schon steht. Der Online-Journalismus wirkt manchmal wie eine reine Vervielfältigungs-Maschine von Inhalten. Das war der Print-Journalismus in vielen Bereichen auch schon, aber den Lesern der „Emder Zeitung“ fiel natürlich nicht auf, wenn in der „Braunschweiger Zeitung“ dieselben Meldungen standen.
Die publizistische Chance und die ökonomische Pflicht wird für die meisten professionellen Medien darin bestehen, eigene Inhalte zu recherchieren und zu produzieren, sich zu spezialisieren und im Dialog mit den Lesern eine eigene Kompetenz aufzubauen und zu pflegen. Viel zu sehr sind die Medienunternehmen im Netz noch damit beschäftigt, besinnungslos Reichweite zu generieren, indem sie alles anbieten und einen bizarren Leser-Sammel-Wettbewerb veranstalten. Matt Kelly, der Digital-Chef des britischen Verlages Trinity Mirror, hat es treffend formuliert: „Die Suche nach einer Fantastillion ‚Unique Users‘ – von woher auch immer und mit egal wie wenig Aufmerksamkeit -, ist schuld daran, dass viele unserer Zeitungsableger der großen Markenkraft und des Wertes und Charakters beraubt wurden, die das, was wir machen, eigentlich von all den Aggregatoren und billigen, wertlosen Nachrichtenseiten da draußen unterscheiden. Solange wir nicht in den sauren Apfel beißen und uns aus diesem wahnsinnigen Nutzerwettrennen verabschieden und uns stattdessen darauf konzentrieren, engagierte, loyale Leserschaften zu bilden, werden wir weiter zusehen müssen, wie der Wert unserer Inhalte online abnimmt. Wir müssen sofort damit anfangen, das, was wir online produzieren, wieder mit einem Gefühl für Werthaftigkeit und Besonderheit zu füllen.“
Hierzulande ist man von diesem Gedanken noch weiter entfernt als in Großbritannien – gegen die Fixierung auf „Page Impressions“, die zu den unseligen Klickstrecken geführt hat und von der man sich allmählich löst, ist der „Unique User“ als Messgröße schon ein großer Fortschritt.
„Wozu noch Journalismus?“ – das ist nicht der Achselzucker eines Twitterers und Facebook-Abhängigen. „Wozu noch Journalismus?“ ist die Frage, die sich Journalisten und Verleger im Internet wieder stellen müssen, um sich auf die Grundlagen zu besinnen. Warum machen wir das hier eigentlich? Was wollen wir? Möglichst viele Leute mit irgendwas erreichen? Möglichst viel Geld mit irgendwas verdienen?
Oder haben wir etwas zu sagen?
An der Notwendigkeit von Journalismus hat sich nichts geändert. Geändert hat sich nur, dass er nicht mehr in einer Welt des Informationsmangels, sondern des Informationsüberflusses stattfindet. Die Aufgabe des Journalisten inmitten des Durcheinanders lässt sich ganz einfach beschreiben: das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und das Richtige vom Falschen. Das Wie hat sich geändert, nicht das Wozu.
Nicht gebraucht wird nur schlechter Journalismus. Aber das war schon immer so. Es fiel früher nur nicht so auf.
Nachtrag, 10.35 Uhr. Die Kollegen von sueddeutsche.de haben den ersten Satz wiedergefunden.