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Trotzdem betrachtet etwa „Springer“-Chef Matthias Döpfner direkte Bezahlung für werbefinanzierte Inhalte als gewissermaßen gottgegebenes Vorrecht, das auch für Verlage gelten müsse. Im Gespräch mit dem „manager magazin“ sprach er im Zusammenhang mit kostenlosen Inhalten im Netz von „abstrusen Phantasien spätideologisch verirrter Web-Kommunisten“. Dass journalistische Angebote online fast ausschließlich kostenlos verbreitet werden, sei ein „Unsinn“. Springer sei aber „nicht groß genug“ gewesen, „um diesen Wahnsinn allein zu stoppen“.

Döpfner sagte nicht, ob er auch die Anteilseigner der ProsiebenSat.1 Media AG für Wahnsinnige hält. Oder die Eigentümer der RTL Group. Wo die doch seit Jahrzehnten die Kostenloskultur des privaten Rundfunks nähren mit ihren Angeboten. Springer selbst besitzt Anteile an mehreren Privatradiosendern.

„Spiegel Online“-Redakteur Christian Stöcker entlarvt die Quatsch-Argumentation von Mathias Döpfner.

Aussichtslos, selbstmörderisch, unverschämt

Die Axel Springer AG hat also das „Hamburger Abendblatt“ dazu erkoren, der Branche vorzumachen, wie Bezahlinhalte („Paid Content“) im Internet vermutlich nicht funktionieren.

Ohne jede Ankündigung standen die Leser heute plötzlich vor geschlossenen Schranken mit Euro-Zeichen. Und nicht nur die Leser: Auch viele Mitarbeiter wussten nichts davon, dass die Angebote, für die sie arbeiten, nicht mehr frei zugänglich sind. Die Online-Inhalte der Lokalausgaben sind komplett kostenpflichtig; in den Haupt-Ressorts ist es eine größere Auswahl.

Wer alle Texte lesen will, muss entweder Abonnent der gedruckten Zeitung sein oder für 7,95 Euro im Monat Abonnent der Online-Ausgabe werden. Sich einen einzelnen Artikel, an dem man besonders interessiert ist oder über den man vielleicht bei Google gestoßen ist, für ein paar Cent freizuschalten, ist nicht möglich. Damit folgt das „Abendblatt“ exakt der tödlichen Strategie der Musikindustrie, die sich jahrelang geweigert hatte, dem offenkundigen und technisch leicht zu erfüllenden Wunsch der Kundschaft nachzukommen, einzelne Musiktitel erwerben zu können. Die Musikindustrie aber wollte um jeden Preis am für sie lukrativen Geschäftsmodell der CD festhalten — mit dem Ergebnis, dass sie fast am Ende ist und branchenfremde Unternehmen wie iTunes jetzt groß im Geschäft sind.

Die Zeitungsbranche glaubt aber immer noch, dass ihr Geschäft so läuft, dass die Leser die Inhalte gefälligst so zu kaufen haben, wie die Verlage sie verkaufen wollen. Die Verleger glauben offenkundig, dass sich bei Journalismus nicht um eine Dienstleistung handelt, bei der die erfolgsversprechendste Strategie die ist, die den Wünschen der Kundschaft so weit wie möglich entgegenkommt. Sie halten sich für unverzichtbar und ihre Produkte für unersetzbar. Sie folgen der Musikbranche in den Abgrund.

Das Bezahl-„Konzept“ des „Abendblattes“ ist kein neues Geschäftsmodell. Es ist der verzweifelte Versuch, das alte, für die Verlage komfortable Geschäftsmodell des Abonnements und des Kaufs ganzer Zeitungen, in ein neues Medium zu retten, das die Kunden von den Fesseln solcher Geschäftsmodelle befreit.

Man muss den Text „In eigener Sache“ vom stellvertretenden „Abendblatt“-Chefredakteur Matthias Iken lesen, der heute auf der Startseite von abendblatt.de steht. Man könnte denken, dass ein Händler, der plötzlich eine so radikale Verteuerung seines Angebotes bekannt geben muss, alles dafür tut, seine Kunden zu umwerben, ihm treu zu bleiben. Ikens Text aber ist eine Frechheit. Er liest sich fast, als müsste man sich als Leser von Online-Medien schämen, dafür so lange nichts gezahlt zu haben. Das muss man erst einmal bringen: Bei der Bewerbung seines eigenen „Qualitätsjournalismus“ Absätze lang rumzuschimpfen wie ein einarmiger Renter 1968 über die langhaarigen Studenten.

Viele Nutzer, schreibt er, hätten „eine echte Freibiermentalität entwickelt“. Man kann nicht oft genug wiederholen, dass das Problem der Verlage im Internet nicht die angeblich dort herrschende Kostenlos-Mentalität ist. Eigentlich würden sich die Online-Inhalte auch allein durch Werbung finanzieren lassen, da die Vertriebs- und Druckkosten wegfallen und die Reichweite größer ist. Der Grund, warum die Werbeeinnahmen in den meisten Fällen (noch) nicht ausreichen, hat nichts mit den Lesern und ihrer „Freibiermentalität“ zu tun, sondern damit, dass die Medien im Internet ihr Monopol als Werbeflächen verloren haben. Früher musste ein Unternehmen, das Kunden mit Werbung erreichen wollte, auf Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehen, Radio und Außenmedien zurückgreifen. Heute kann es auf eine Vielzahl weiterer Werbeflächen zurückgreifen, darunter solche, die in vielen Fällen ein weitaus erfolgversprechenderes Umfeld darstellen als Journalismus: Suchmaschinen zum Beispiel. Vor allem deshalb sind die Werbeerlöse im Internet so frustrierend niedrig: Das Angebot an Werbeflächen ist viel größer. Man nennt das Markt.

Und wenn der „Abendblatt“-Vize ernsthaft glaubt, dass in der Anfangszeit des Web vor lauter Begeisterung über die technischen Möglichkeiten die Frage der Einnahmen „vergessen“ worden sind — vielleicht könnte ihm jemand erklären, wie das zum Beispiel war mit Google. Wo auch alle jahrelang dachten, die hätten kein Geschäftsmodell, dabei hat Google nur eine interessante Reihenfolge gewählt: Das Unternehmen hat erst alles daran gesetzt, die größtmögliche Reichweite aufzubauen und seine Kunden glücklich bis süchtig zu machen. Und dann Wege gesucht und gefunden, diese Reichweite und diese Treue in Geld zu verwandeln. Mag sein, dass das mit Journalismus schwerer ist als mit einer Suchmaschine. Aber wenn man die Augen fest vor der Realität verschließt, ist es unmöglich.

Das Geschäftsmodell der vergangenen Jahre nennt Iken das „Mutter-Theresa-Prinzip“, was vermutlich tatsächlich der Selbstwahrnehmung vieler seiner Kollegen entspricht: Sie haben ihre Inhalte nicht ins Internet gebracht, um ihre Reichweite zu vergrößern; um neue, junge Leser zu erreichen; um eine Zukunft zu haben, wenn in absehbarer Zeit kaum noch Menschen Zeitung lesen; um mit Texten, die ohnehin durch die Print-Ausgabe schon finanziert waren, noch zusätzliche Werbeerlöse zu generieren, nein: Sie haben ihre Inhalte kostenlos ins Internet gebracht als gute Gabe für die armen Menschen, die sonst nicht wüssten, was in der Welt passiert. Das „Mutter-Theresa-Prinzip“.

Der Gedanke, dass Medien sich zumindest teilweise über Werbung finanzieren, kommt in Ikens verlogenem Text nicht einmal so vor. Er behauptet, man habe „vergessen, Geld zu verdienen“. Er schreibt: „Wer Qualitätsjournalismus zum Nulltarif will, will keinen Qualitätsjournalismus.“ Was für ein „Nulltarif“? Ikens Text ist umgeben von Werbeflächen. Man kann darüber reden, inwiefern eine vollständige Abhängigkeit von Werbeeinnahmen gefährlich sein kann für unabhängigen Journalismus, aber mit jemandem, der so unredlich ist wie Iken, kann und muss man darüber nicht reden.

Iken behauptet, dass der Leser von abendblatt.de etwas „Werthaltiges“ bekommt (womöglich hat irgendein versehentlich eingebauter Realitätscheck im Redaktionssystem verhindert, dass er „wertvoll“ schreibt). Er schreibt:

Längst ist der Online-Journalismus zu einer eigenen Gattung geworden. Das einfache Verfügbarmachen von Texten aus der Zeitung im Netz war noch wenig originell, inzwischen aber sind neue und aufwendige Formate hinzugekommen.

Ja, „originell“ war es natürlich vom „Hamburger Abendblatt“, Inhalte so für das Internet aufzubereiten, dass man Dutzende Male klicken musste, um sie lesen zu können, was insofern natürlich ein „aufwendiges Format“ ist — für den Leser. Es lohnt sich übrigens, die gewaltige Zahl von empörten Leserkommentaren unter Ikens Text zu lesen, die keineswegs nur je zur Hälfe aus Angetrunkenen und Durstigen bestehen, die ihr Freibier vermissen, sondern auch aus enttäuschten „Abendblatt“-Lesern (die ohnehin damit geschlagen sind, in einer Millionen-Metropole zu leben, in der das die einzige ernstzunehmende Lokalzeitung ist wäre). Das heißt: Es würde sich lohnen, die Kommentare zu lesen, wenn die qualitätsbewussten Leute von abendblatt.de das nicht geschickt so programmiert hätten, dass man immer nur drei Beiträge angezeigt bekommt. Für die aktuell über 300 Kommentare müsste man also 100-mal klicken.

Iken fragt:

Ist es zu viel verlangt, in Zeiten, wo aufgeschäumter Kaffee im Pappbecher drei Euro kostet oder das Telefonvoting für sinnbefreite Casting-Shows mindestens 50 Cent, für das Produkt Qualitätsjournalismus knapp 30 Cent am Tag zu bezahlen?

Was er offensichtlich nicht verstanden hat: Die Antwort auf diese Frage gibt nicht er. Die Antwort geben die Menschen, denen vielleicht tatsächlich der „Kaffee im Pappbecher“ drei Euro wert ist, aber der Artikel aus dem „Abendblatt“, und sei er noch so aufwendig recherchiert, keine drei Cent. Weil sie der Kaffee glücklich macht, und sie sich nicht von irgendeinem dahergelaufenen Vize-Chefredakteur bei Springer erzählen lassen wollen, ob die Casting-Show, bei der sie mitfiebern und mitwählen, „sinnbefreit“ ist.

Die einzige Chance, die der Journalismus hat, liegt darin, den Menschen etwas anzubieten, das sie lesen wollen. Das einen Wert hat für sie, weil sie sich gut informiert fühlen oder gut unterhalten oder beides. Das sie so gut und so wichtig finden, dass sie darauf nicht verzichten wollen und bereit sind, dafür etwas zu geben: Zu allererst ihre Zeit. Das ist der eigentliche Tausch, der da stattfindet: Leser belohnen Medien dadurch, dass sie ihnen Aufmerksamkeit schenken, ein rares Gut. Und vielleicht geben sie sogar Geld. Aber dazu lassen sie sich nur überzeugen durch ein Angebot, das ihnen Geld Wert ist — und vermutlich nicht durch das Gefühl, dass so Journalismus ja theoretisch wichtig ist und jemand dafür zahlen sollte. Und ganz sicher nicht durch einen Verkäufer, der ihnen Vorwürfe macht, dass sie ihr Geld für sinnlose Sachen wie „Kaffee in Pappbechern“ ausgeben.

Ikens Text ist ein notdürftig als Werbetext getarnter Abwasserrohrbruch. Er endet mit den Worten:

Vielleicht ist es aussichtslos. Vielleicht ist es selbstmörderisch. Vielleicht ist es auch unverschämt. Doch vor allem ist es eins: Es ist alternativlos.

Anscheinend glauben die Verantwortlichen beim „Abendblatt“, die Redensart vom „Selbstmord aus Angst vor dem Tode“ sei keine Warnung, sondern ein Ratschlag.

Nachträge, 17. Dezember.

Freaks

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Quote ist alles. Wie sich RTL immer mehr zum Freaksender entwickelt.

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Es gab eine Zeit, da machte Tine Wittler den Menschen ihre Wohnungen schön. Sie ließ die Wände streichen, brachte Möbel und bunte Vorhänge mit, stellte Schränke um und arrangierte neue Kissen und alte Fotos. Gut sechs Jahre ist das erst her, dass „Einsatz in vier Wänden“ so begann. Dann wechselte die Show ins Abendprogramm von RTL und übernahm in einer Sendestunde die Renovierung eines ganzen Hauses. Und wenn sie heute in Doppelfolgen „das Messiehaus“ oder „den Schrotthof“ rettet, dann sind nicht nur die Gebäude Härtefälle.

Im „Horrorhaus“, einem „Haus, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt“, wie der Sprecher erklärt, lebt eine traumatisiert wirkende Familie zwischen Kot und Ungeziefer. Und mit Onkel Helfried, einem „arbeitslosen Klauenschneider“, der sammelsüchtig ist. Knochen, Geweihe, Felle und Tierschädel schleppt er ins Haus. Der Mann scheint, zumindest in der Inszenierung von RTL, schwer gestört. Als Tine Wittler die Familie am Ende durch ihr neues Haus führt, einen bizarr deplaziert wirkenden Möbelhaustraum, und er wie ein Alm-Öhi Beleidigungen vor sich hinbrummelt, rastet die „Wohnexpertin“ aus, beschimpft ihn als „Stinkstiefel“ und lässt die abrupte versöhnliche Umarmung durch den schmuddeligen Mann über sich ergehen, als könnte er sie jeden Moment erwürgen.

Aus der Einrichtungssendung ist eine Freakshow geworden. Und aus RTL ein Freaksender.

In diesen Wochen deklassiert RTL die Konkurrenz wie seit Jahren nicht. Die steigenden Quoten gehen fast ausschließlich auf das Konto einer konsequenten Freakisierung: das Ausstellen seltsamer, beschränkter, verrückter, wahnsinniger Menschen.

RTL widerspricht dem natürlich, verweist auf sein vielfältiges Sendeangebot, auf Qualitätsserien wie „Dr. House“ und Prestigeprojekte wie den Zweiteiler über die Hindenburg-Katastrophe, der gerade in Köln gedreht wird. Aber es sind nicht „Dr. House“ oder „Wer wird Millionär“, die gerade alle Rekorde brechen. Es sind alle Formen von Freakshows.

An manchen Montagen sehen achteinhalb Millionen Leute zu, wie sich von RTL gecastete Bauern lächerlich machen (oder von RTL lächerlich gemacht werden). Die Dokusoap lebt davon, dass ein erheblicher Teil des Personals bizarr vertrottelt wirkende Menschen sind, und wenn einer nicht so gut singen kann, stellt der Sender ihn auf eine große Bühne, damit es auch jedem auffällt. „Schwiegermuttertochter gesucht“ funktioniert nach demselben Prinzip, gerne auch mit erwachsenen Männern, die sich noch mit ihren Müttern ein Bett teilen, und Teilnehmern, bei denen man sich bei der schlimmen Frage ertappt, ob sie nicht ins Heim gehören statt ins Fernsehen.

Auch der Erfolg von „Das Supertalent“ basiert nicht zuletzt darauf, dass es in Teilen keine Talent-, sondern eine Freakshow ist. Hilflos zurechtgemachte Menschen, die mindestens an einer grotesken Fehleinschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten leiden, unterhalten durch ihr Scheitern auf großer Bühne das Publikum. Den Leuten im Saal hat die Produktionsfirma sogar eine angemessene Reaktion beigebracht: Sie drehen sich mit dem Rücken zu den Freaks auf der Bühne und machen unter Buh-Rufen eine Daumen-runter-Geste. Irgendwie sinnbildlich schaffte es „Mr. Methan“ ins Halbfinale, eine grün maskierte Witzfigur, die schon 1996 bei RTL zur Musik furzte, und pupste Moderator Daniel Hartwich einen mit Konfetti gefüllten Luftballon mit einem Pfeil vom Kopf.

Den Nachmittag hat RTL ganz zum Menschenzoo umgebaut. Hier bekommen weiße Ehepaare schwarze Babys, verprügeln fast cartoonhafte Furien ihre Männer, werden Mütter Kriminellen hörig. Wer von diesen Leuten wirklich verrückt ist und wer die Verrückten nur spielt, ist Publikum und Sender offensichtlich egal, in vielen Fällen scheinen einfach Bekloppte Bekloppte zu spielen. Die „Scripted Reality“ genannten Formate wie „Verdachtsfälle“ und „Familien im Brennpunkt“ sind dabei gleich doppelte Freakshows: Das unglaubliche Geschehen ist so unglaublich schlecht gespielt, dass sich der Gruselkitzel noch verstärkt.

Die Zuschauerzahlen sind gigantisch, die Programme billig und niedrigstwertig. Die Shows verlangen immer extremere, abwegigere Charaktere und Geschichten – und abgesehen davon ist dem Publikum alles egal, vor allem, was davon fiktional ist und was real. Ein Verantwortlicher, der sich der Frage nach notwendigen Grenzen stellt, nicht nur im Sinne einer gesellschaftlichen Verantwortung, sondern auch des Profils eines Senders, ist nicht zu erkennen.

Wie wenig sich RTL auf eine ernsthafte Diskussion einlässt über das, was das Fernsehen mit den Zuschauern und seinen Protagonisten macht, hat der Fall „Erwachsen auf Probe“ in diesem Jahr gezeigt. Das Experiment mit Jugendlichen als Eltern hatte dann zwar schlechte Quoten. Aber vielleicht waren die Freaks und die Konstellation auch einfach nur nicht krass genug.

Die Grenzen der Satire beim ZDF: Sonneborns Chinesenwitze und Schächters Kotau

Ein vermutlich lustig gemeinter Beitrag der „heute show“ hat die Beziehungen zwischen dem ZDF und dem chinesischen Volk belastet. Eine satirische Umfrage von Martin Sonneborn auf der Frankfurter Buchmesse, bei der Chinesen mit mangelnden Deutschkenntnissen vorgeführt wurden, ist nach chinesischen Protesten aus dem Online-Archiv des Senders entfernt worden. In einem Brief an den chinesischen Botschafter drückte ZDF-Intendant Markus Schächter sein Bedauern aus, dass der Beitrag „die Gefühle vieler Chinesen verletzt hat und als beleidigend empfunden wurde“.

Der Satiriker Sonneborn hatte sich einen Spaß daraus gemacht, den Chinesen Aussagen über Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land in den Mund zu legen und ihnen für sie unverständliche Fragen über Folter und Massenerschießungen zu stellen. Er machte Witze über Produktpiraterie und „gegrillte Labradorsteaks“.

In China fanden das nicht alle lustig. Als eine untertitelte Version des Beitrags auf dem chinesischen Videoportal todou.com veröffentlicht wurde, löste er Reaktionen aus, die der in Taiwan lebende Journalist Klaus Bardenhagen in seinem Blog als „übliche Flut von ‚wir sind in unserem Nationalstolz verletzt und ganz furchtbar traurig, außerdem finden die bösen Ausländer uns sowieso alle böse‘-Kommentaren“ beschreibt. Auch das chinesische Staatsfernsehen CCTV berichtete über den vermeintlichen Skandal, verschwieg dabei aber offenbar, dass es sich nicht um eine Nachrichtensendung, sondern eine Satireshow handelte.

Die Propagandaseite des „China Internet Network Information Center“ (die Sonneborn ebenfalls einen „Journalisten“ nennt) meldete, dass sich das Außenministerium und die Botschaft in Deutschland beim ZDF beschwert hätten. Intendant Schächter habe sich daraufhin entschuldigt.

Ganz so war es nicht. Beim ZDF legt man Wert darauf, dass es sich bei dem Brief an den Botschafter nicht um eine Entschuldigung, sondern nur den Ausdruck des Bedauerns handele. „Satire ist eine Gattung mit langer Tradition“, doziert der Intendant in dem Schreiben. „Solange es Satire gibt, war und ist sie ‚Stein des Anstoßes‘. Deswegen löst sie auch hierzulande immer wieder Kritik, Verärgerung und intensive Diskussionen aus.“

Offenbar hat die Freiheit dieser Ausdrucksform aber hinter persönlichen oder nationalen Empfindlichkeiten zurückzustehen, denn Schächter fährt fort: „In Gesprächen mit der zuständigen Redaktion und den Autoren wurde deutlich gemacht, dass der Beitrag die Gefühle von Chinesen verletzt hat, damit es dazu keine Wiederholung gibt.“

Das ist ein erstaunlicher Kotau – und ein untaugliches Kriterium. Wenn Satire verletzend sein darf, dann muss sie auch Chinesen verletzen dürfen. Dass ein deutscher Intendant sich dem Druck chinesischer Regierungskreise beugt und einen Film aus dem Online-Archiv entfernen lässt, ist ein schlechtes Zeichen.

Und das, obwohl der „heute show“-Beitrag eine erbärmliche Form von Humor ist: Sonneborn demonstriert Überlegenheit gegenüber den Chinesen dadurch, dass er ihre fehlenden Sprachkenntnisse ausnutzt. Er missbraucht zufällige Buchhändler, die das Pech haben, ihm vors Mikrofon zu laufen, für etwas, das man nur mit viel gutem Willen als eine Kritik am chinesischen Staat oder der umstrittenen Politik der Buchmesse deuten kann. Nicht auszuschließen, dass Sonneborn durch die Instrumentalisierung der chinesischen Gäste zeigen wollte, wie die chinesischen Gäste durch die Medien instrumentalisiert werden. Wahrscheinlicher ist, dass es eine gute Gelegenheit war, ein paar Chinesenwitze zu machen.

Das ist traurig und geschmacklos – aber auf meine Gefühle nimmt die „heute show“ ja auch keine Rücksicht, wenn sie regelmäßig jemanden wie den Komiker Olaf Schubert beschäftigt. (Andererseits habe ich natürlich auch keine 100 Millionen Zuschauer für „Wetten dass?“ zu bieten.)

Markus Schächters Brief an den chinesischen Botschafter endet mit der Bitte, sein Bedauern „auch nach China zu übermitteln“. Und dem Satz: „Die Grundlage der langjährigen Beziehungen des ZDF zum chinesischen Volk und seinen chinesischen Partnern sollte, so hoffe ich, stabil und solide genug sein für ihre gedeihliche Weiterentwicklung in der Zukunft.“

Das Mysterium der heimlichen Qualitätsserien-Nachtversendungen

Eines müsse ich ihm glauben, sagt Christian Körner, der Pressesprecher von RTL: „Wir wollen, dass unsere Programme auch von Zuschauern gesehen werden.“

Klingt nach einer Selbstverständlichkeit. Ist es aber nicht. RTL hat sich zum Beispiel gerade richtig viel Mühe gegeben, die letzte Folge der Erstausstrahlung von „Der Lehrer“ vor dem Publikum zu verstecken. Und schaffte es, dass sie nicht, wie die anderen, von gut zwei Millionen Leuten gesehen wird, sondern nur von ein paaar Hunderttausend.

Und das ging so:

Der Sender hat von der Schul-Comedyserie neun Folgen produzieren lassen. Die lagen dann erst ein paar Jahre rum, bis sich RTL im Sommer dazu durchrang, sie in Doppelfolgen schnell wegzusenden. Bei neun Teilen stellen Doppelfolgen die Programmplanung eines Senders allerdings vor gewisse Herausforderungen. Sicher, man hätte einfach zum Schluss drei Folgen senden können – aber dann hätten die Leute vom RTL-Mischmagazin „Extra“ im Anschluss womöglich nicht genügend Zeit für ihre beliebten Verbrauchertests gehabt. Man hätte die letzte Folge im Doppelpack mit etwas anderem zeigen können, aber mit was? Und man hätte die neunte Folge als erste einer zweiten Staffel zeigen können, aber dazu müsste es eine zweite Staffel geben, und das kann man wohl ausschließen. Also zeigte RTL nur die Folgen 1 bis 5 und 7 bis 9 und hoffe, dass niemandem auffiel, dass da was fehlte.

Um dann, ohne jede Ankündigung, am 25. November doch noch die sechste Folge nachzureichen. Morgens um 4.20 Uhr. Und wer das verpasst hatte und unter Schlafstörungen litt, entdeckte vielleicht zufällig die Wiederholung: zwei Tage später, am Freitagmorgen um 4.30 Uhr.

Warum die Geheimniskrämerei? Christian Körner sagt, bei so kurzfristigen Programmänderungen sei es ja ohnehin zu spät, noch die Zeitungen und Zeitschriften rechtzeitig zu informieren. Warum aber auch auf den Programmtafeln im RTL-Teletext anstelle nicht „Der Lehrer“, sondern „Staatsanwalt Posch ermittelt“ angekündigt war, kann er nicht sagen. Und eine Antwort auf die Frage, warum RTL überhaupt ganz plötzlich einfällt, kurzfristig noch eine verwaiste Serienfolge ausstrahlen zu müssen, findet Körner auch nach längerer Recherche nicht. Man hört ihm aber eine gewisse Amüsiertheit an, dass man sich überhaupt für das Programm zu einer Zeit interessiert, wo eh keiner guckt.

Aber genau das ist es ja. RTL versendet gerade auch die komplette letzte Staffel der erfolgreichen und vielgelobten Serie „Mein Leben & ich“ zu einer Zeit, wo eh keiner guckt. Auch diese Comedy hing zunächst ein paar Jahre im Keller ab, bis der Sender vor einigen Wochen plötzlich und unangekündigt damit begann, sie in der Nacht von Freitag auf Samstag und im Morgengrauen am Sonntag zu verstecken – gerne in Doppelfolgen, in der jeweils zuerst die zweite Folge läuft und dann die erste.

Eine halbwegs plausible Antwort, warum RTL so mit in jeder Hinsicht hochwertigen Programmen umgeht, ist vom Sender nicht zu bekommen. Auch die Freunde aktueller Primetime-Serien müssen sich von RTL einiges zumuten lassen: Die Handlung von „Dr. House“ wird immer wieder durch lange Wiederholungsblöcke unterbrochen. Bei „C.S.I.“ hat es der Sender geschafft, die wöchentliche Ausstrahlung gerade dann einmal aussetzen zu lassen, als es eine dramatische Doppelfolge gab. Stattdessen lief auf dem Sendeplatz der Pilotfilm zur Neuauflage von „Knight Rider“ – einer Serie, die aber erst eine Woche später begann. Es ist ein einziges Rätsel und Trauerspiel.

Wenn RTL wenigens konsequent wäre und die Nachtstrecke konsequent für die verbliebenen sehenswerten Programme verwenden würde – man könnte sich drauf einlassen und auf Verdacht den Rekorder programmieren. Neben versprengten Serienresten und der schönen Abschlussstaffel von „Mein Leben & ich“ hätte man so Ende November (natürlich ebenfalls unangekündigt) schön noch einmal „Doctor’s Diary“ sehen können, jeweils gegen 2 oder 3 Uhr. Und Vox ahmt es dem großen Bruder nach und hat in den vergangenen Tagen einfach mehrere bislang ausgelassene Folgen der amerikanischen Krimiserie „The Closer“ ausgestrahlt, eine am Montag, zwei im Doppelpack am Mittwoch, eine am Dienstag, aber immer gegen drei Uhr morgens.

Offenbar hat es buchhalterische und lizenzrechtliche Gründe, Dinge kurz vor Jahresende noch wegzusenden. Aber welchen Sinn hat es, das so zu tun, dass möglichst niemand die Schätze entdeckt, unangekündigt, im Morgengrauen, wild durcheinander? Von RTL gibt es darauf keine Antwort. Irgendwelche Vorschläge?

Von Bums- und anderen Glücksgriffen

Dass Isi Yilmaz in seiner sympathisch-kaputten Münchner Kneipe X-Cess auf den Toiletten Haltegriffe angeschraubt hat, damit die Besucher beim spontanen Sex nicht immer die Spülkästen von der Wand reißen — diese Information wollten die Verantwortlichen von sueddeutsche.de ihren Lesern lieber nicht zumuten. Und auch die Geschichte, warum Yilmaz glaubt, irgendwann den „Nobel-Friedens-Dingsbums“ zu bekommen, musste Matthias Eberl aus seiner Audio-Diashow auf sueddeutsche.de über den Laden herausschneiden. Aber Eberl hat die ungekürzte Version einfach auf seine eigene Seite gestellt

— und dafür gestern den Deutschen Reporterpreis in der Kategorie „Beste Webreportage“ gewonnen. Eberl nahm den mit 5000 Euro dotierten Preis auch als Anerkennung für das jahrelange, oft miserabel bezahlte Experimentieren mit dem Genre der Audio-Slideshow und hatte den restlichen Abend im Berliner „Rodeo“ ein solches Glücksbärchen-Grinsen, dass kein Zweifel aufkam, dass es den richtigen getroffen hat.

Rund 70 Einsendungen hatte es in dieser Kategorie gegeben, und ich war (als Jury-Mitglied) ein bisschen enttäuscht, dass die Resonanz auf den Aufruf nicht größer und besser war. Die Qualität vieler eingereichter Beiträge war durchwachsen, und ein größerer Teil waren bloß online gestellte Artikel aus Zeitungen — die auszuzeichnen, hätte eine eigene Web-Kategorie einigermaßen sinnlos gemacht.

Es gab nur wenige wirklich überzeugende Kandidaten. Das liegt vermutlich auch daran, dass der Preis noch nicht bekannt genug ist, und das „Reporter-Forum“ als Veranstalter eher aus der klassischen Print-Reportage im Umfeld von „Spiegel“, „Geo“ und „Süddeutscher Zeitung“ kommt. Aber natürlich liegt es auch daran, dass es um den Online-Journalismus (noch) nicht so gut gestellt ist in Deutschland. Es fehlt die Ausstattung und die Kultur.

Und manchmal auch einfach der Gedanke, dass man in einem multimedialen Medium arbeitet, was mehr beinhaltet als nur die Möglichkeit, Klicks mit sinnlosen Bildergalerien in die Höhe zu treiben. Die nominierte Reportage von David Hugendick auf „Zeit Online“ zum Beispiel beschreibt wunderbar den Kampf des stotternden Autoren gegen saisonal wechselnde Buchstaben. Aber eigentlich hätte es so nahe gelegen, eine Aufnahme einzubinden, in der man sich die Sprechübungen selbst anhören kann!

Online-Journalisten brauchen besondes viel Idealismus. Von der Möglichkeit, Tage oder gar Wochen in eine Reportage zu investieren, können sie nur träumen. Insofern ist es kein Wunder, dass viele der Artikel, die in den Print-Kategorien des „Reporter-Preises“ nominiert waren, von ganz anderer Qualität sind, weil sie unter ganz anderen Bedingungen entstanden sind: mit üppigen Spesen- und Zeitbudgets.

Und einem manchmal etwas beunruhigenden Gefühl eigener Großartigkeit, was einen unguten Kontrast ergab: Während ich als Laudator in der Kategorie „Web-Reportagen“ gesagt hatte, dass es da noch Luft nach oben gibt, konnte man bei den Lobreden auf die richtigen Reporter das Gefühl haben, dass es fast einem Wunder glich, dass es den Juroren gelungen war, in einem unüberschaubaren Kreis perfekter Texte noch einzelne entdeckt zu haben, die es auf wundersame Weise geschafft hatten, 101-prozentig zu sein.

Keine Frage: Das „Reporter-Forum“ ist eine feine Einrichtung, die sich der Förderung der Kunst und des Handwerkes der Reportage verschrieben hat. Und es ist eine gute Idee, das mit einem eigenen Preis zu befördern. Aber es hatte für mich auch etwas Dekadentes zu sehen, wie die Großjournalisten nacheinander auf die Bühne kamen und Preis-Quartett spielten: Wer hat die meisten Preise, die frühesten Auszeichnungen, die höchsten Dotierungen, die lustigste Preisanekdote…

So ganz klar ist mir nicht, warum es einen neuen Preis braucht, um den „Spiegel“-Report „Der Bankraub“ aus dem vergangenen Jahr, der schon mehr Auszeichnungen bekommen hat, als sich die Schreiber erinnern können, noch einen weiteren, hoch dotierten Preis zu geben. Oder der (zurecht) vielfach preisgekrönten „Zeit“-Redakteurin Sabine Rückert. Es ist ja nicht so, dass diese Leute bei den bereits existierenden Auszeichnungen chronisch übergangen würden.

Der „Reporter-Preis“ hat sich selbst das Ziel gesetzt, Journalisten zu „ermutigen, Geschichten zu entdecken, die noch keiner kennt“. Wäre es nicht schön, wenn er dabei auch gezielt Reporter entdecken wollte, die noch keiner kennt, und sich vornimmt, Talente mit einem Geldsegen zu fördern, die nicht das solide Gehalt eines langjährigen Zeitschriftenredakteurs im Rücken haben?

Die Nominierten in der Kategorie „Web-Reportage“:

Die Gewinner in den anderen Kategorien:

Alle nominierten Artikel als PDF: Lokalreportage, Text des Jahres, Reportage.

[Offenlegung: Ich war nicht nur Mitglied der Web-Reportagen-Jury, sondern mit diesem Blogeintrag auch selbst in der Kategorie „Text des Jahres“ nominiert — was mich freut, aber zur Vermeidung naheliegender Inzucht- und Kungel-Vorwürfe doch eher keine gute Idee war.]

Die Rügen-Routine, journalismusfrei

Alle drei Monate gibt der Deutsche Presserat die Rügen bekannt, die seine Beschwerdeausschüsse ausgesprochen haben. In knapper Form nennt er die Medien, beschreibt die Fälle und zitiert die Richtlinien des Pressekodex, gegen die sie verstoßen haben. Aus der Pressemitteilung machen dpa, andere Nachrichtenagenturen und die Branchendienste dann durch Kürzen und Umstellen einzelner Sätze Meldungen. Eine Recherche findet nicht statt.

Am Donnerstag war es wieder so weit. Die Pressemitteilung trug diesmal den Titel „‚Erstklassige‘ Schleichwerbung: Presserat rügt Zeitung für Luxusflug-Reportage“. Die Agentur dpa behielt die Überschrift gleich bei und meldete: „Presserat rügt Zeitung für Luxusflug-Reportage“. Die Kollegen der Katholischen Nachrichtenagentur KNA entschieden sich für: „Presserat erteilt sechs Rügen“.

„Kress Report“, „W&V“, „Horizont“, „Meedia“, „DWDL“ — sie alle verwursteten die Pressemitteilung zu Online-Meldungen, nicht ohne gelegentlich kleine Fehler einzubauen. Bei kress.de wurde aus der öffentlichen Rüge für die „Thüringer Allgemeine“ eine nicht-öffentliche; bei horizont.net aus einer Rüge wegen Diskriminierung von Sinti und Roma eine wegen Verletzung der Intimsphäre. Die Ab- und Umschreibespezialisten von „Meedia“ übernahmen beim Copy & Paste ganze Absätze der Pressemitteilung inklusive Flüchtigkeitsfehler („Persönlichkeitsreichte“), missverstanden eine zeitlose Richtlinie aus dem Pressekodex als aktuelle Anspielung auf den Fall Robert Enke und personalisierten auf fast perfide Weise die Rüge für die „Thüringer Allgemeine“, indem sie so taten, als sei der „von der WAZ freigestellte und in der Diskussion als Qualitätsjournalist etikettierte“ Ex-Chefredakteur Sergej Lochthofen persönlich getadelt worden.

Mit Ausnahme von horizont.net, die immerhin den Link zu einem der gerügten Artikel heraussuchten (aber absurderweise zur Illustration irgendeine „Welt am Sonntag“ zeigen und nicht die Seite mit dem gerügten Text), hat keines dieser Medien in irgendeiner Weise selbst recherchiert.

Dabei hätte es nur wenige Minuten gedauert, die gerügten Online-Artikel zu ergooglen oder aus den Archiven zu suchen. Die Kollegen hätten sich die Artikel selbst durchlesen und sie mit eigenen Worten beschreiben können, anstatt sich auf die Formulierungen des Presserates verlassen zu müssen. Sie hätten sich ein eigenes Bild machen und die Urteile des Presserates, der ja nicht unfehlbar ist, kritisch würdigen können. Sie hätten merken können, dass die eine Werbegeschichte aus der „Welt am Sonntag“, die der Presserat gerügt hat, von einem nicht unbekannten Schriftsteller verfasst wurde. Sie hätten bei Edda Fels, der Kommunikationschefin von Axel Springer, nachfragen können, ob die „Welt am Sonntag“ für den Bericht über die First Class von Singapore Airlines tatsächlich die Kosten von rund 9000 Euro selbst bezahlt hat, wie es ihre ach so strengen journalistischen Leitlinien vorschrieben. Sie hätten darüber stolpern können, dass die gerügten Online-Medien nur die Artikel aus ihren Print-Müttern übernommen haben, und beim Presserat nachfragen, warum er in solchen Fällen nicht beide Versionen rügt.

Es hat mich 15 Minuten gekostet, herauszufinden, wer der Bürgermeister und ehemalige Bundestagsabgeordnete ist, über den sein früherer Pressesprecher eine Abrechnung in der „Thüringer Allgemeinen“ schreiben durfte. Vermutlich wäre das mit einem Anruf beim Presserat auch in drei Minuten zu erfahren gewesen.

Je nach vorhandenem Interesse und verfügbarer Zeit hätten sich mit einer Investition von wenigen Minuten oder zwei Stunden auf Grundlage der Pressemitteilung des Presserates interessante, relevante, lesenswerte eigene Artikel produzieren lassen. Stattdessen haben sich alle Mediendienste sowie die Nachrichtenagenturen dafür entschieden, nichts weiter zu tun, als die Pressemitteilung umzuschreiben.

Das ist typisch ist für die Art, wie in vielen (Online-)Redaktionen gearbeitet und auf die Möglichkeit verzichtet wird, sich mit geringstem Aufwand ein eigenes Bild zu verschaffen, sich von der Konkurrenz zu unterscheiden und, herrje: journalistisch zu arbeiten. Und ich glaube, dass sich das nicht nur mit Geld-, Zeit- und Personalnot erklären lässt. Es ist eine Frage des Handwerks. Und der Haltung.

Wenn einem journalistischen Medium die Mittel fehlen, mit einer Pressemitteilung mehr zu tun als sie zu kürzen, dann fehlen ihm die Mittel, ein journalistisches Medium zu sein. Und warum sollte es ökonomisch sinnvoll sein, zuverlässig dasselbe zu produzieren wie die Konkurrenz? Worin besteht der Mehrwert für den Leser?

Journalismus ist in einem erstaunlichem Maße durch das routinierte, fast mechanische Reproduzieren von Inhalten ersetzt worden. Ein Teil der Belegschaft ist ganz für die Arbeit am Content-Produktions-Fließband abgestellt, wo selbst der Gedanke an eine Mini-Recherche, wie in diesem Fall ein Link auf die gerügten Artikel des Presserates, abwegig ist.

Es ist ein Journalismus, dem das Interesse an seinem Gegenstand abhanden gekommen ist. Wer braucht den?

(Nein, dieser Text hat nicht die versteckte Botschaft: Seht her, wie toll wir das im Vergleich bei BILDblog machen. Ich ärgere und wundere mich nur jedesmal über den Umgang mit den Presserats-Meldungen und halte sie für ein besondes anschauliches Beispiel dafür, wie Journalismus bloß simuliert wird.)

Journalisten, nackt im Gegenwind

Hans Hoff hat mit mir für die Medienzeitschrift „journalist“ ein langes Interview geführt. Es geht um die Frage, ob Journalisten es ertragen müssen, wenn sie im Netz „herabgesetzt, beleidigt, verhöhnt“ werden, und ob es in der Verantwortung von Bloggern liegt, einen „Internetmob“ zu bremsen.

Wie viel Öffentlichkeit muss ein Journalist ertragen?
Alle Öffentlichkeit. Seine Arbeit ist ja öffentlich, also hat er in der Rolle als Journalist alle Öffentlichkeit zu ertragen.

Wenn ich früher einen Fehler gemacht habe, musste ich das Gelächter der Kollegen und den Rüffel des Chefs ertragen. Heute werde ich auf großer Bühne kleingelacht, lande bei stefan-niggemeier.de oder bei bildblog.de, und Tausende ergötzen sich an meiner Fehlleistung.
Ich finde es richtig, dass ich mit diesem Risiko leben muss. Das heißt natürlich nicht, dass all die Reaktionen auch legitim sind. Da stellt sich dann die Frage, ob ich mich von den Leuten beleidigen lassen muss. Grundsätzlich muss ich aber hinnehmen, dass andere Leute entscheiden, wie groß sie meinen Fehler aufblasen wollen.

Wie viel Kritik und Beleidigung muss man denn als Journalist einstecken?
Bei Kritik gilt: jede. Beleidigungen: gar nicht. Es gibt kein Recht darauf, Journalisten beleidigen zu dürfen. Man muss das nicht alles hinnehmen, aber es ist auch nicht hilfreich, sich über alles aufzuregen. Wenn sich in irgendeinem Blog irgendwelche Leute auf mich eingeschossen haben und sich gegenseitig beim Beleidigen überbieten, kann die richtige Reaktion auch sein, das zu ignorieren.

Steigt das, was ich ertragen muss, mit dem Verbreitungsgrad? Muss ich mehr ertragen, wenn ich im Fernsehen auftauche?
Da gelten keine besonderen Regeln. Wir nehmen uns als Journalisten doch auch das Recht heraus zu sagen: Dieser Politiker oder dieser Verbandsfunktionär gehört jetzt aber mal an den Pranger gestellt, weil er dieses oder jenes macht. Man bietet natürlich mehr Angriffsfläche, wenn man im Fernsehen auftritt.

Wenn eine Spiegel-Redakteurin wie Kerstin Kullmann im ZDF-„Morgenmagazin“ auftaucht und bei der Vorstellung einer Spiegel-Titelgeschichte übers Internet etwas Falsches sagt, ruiniert sie in anderthalb Minuten ihren Ruf, weil sie anschließend in Blogs wie Ihrem zerfleischt wird. Da fehlt doch jede Verhältnismäßigkeit.
Einerseits ja, vor allem, wenn es um Frau Kullmann persönlich geht. Sie hat ja niemandem etwas getan. Andererseits sitzt sie da als Vertreterin des Spiegels, der selbst einen besonderen Anspruch an sich hat und gut im Austeilen ist, und das ergibt schon eine besondere Fallhöhe – daraus erklärt sich auch die Wucht der Reaktion.

Muss sie sich dann als „Porzellanpüppchen“ und als „fleischgewordener Blondinenwitz“ beschimpfen lassen?
Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Sie schien in diesen unglücklichen Sekunden ja tatsächlich alle Klischees zu bestätigen. Aber die Debatte auch bei mir im Blog war ja nicht so einseitig. Es gab ja durchaus Leute, die Kullmann in Schutz genommen haben. Man spricht so leicht von einem Mob, übersieht aber, dass keineswegs alle in eine Richtung rennen, sondern viele auch sagen: Ihr spinnt ja wohl. Ich weiß nicht, ob das die Angriffe erträglicher macht, aber das relativiert dieses Mobhafte schon.

Gibt es ihn denn, den Mob im Internet?
Natürlich gibt es eine Dynamik, die es überall gibt, wo mehrere Menschen zusammenkommen. Wenn da drei Beleidigungen stehen, setzt der Vierte noch einen drauf. Ich sehe das manchmal auch bei mir, wenn ich einen Eintrag wirklich scharf formuliere und an die Grenze dessen gehe, was ich an Kritik zulässig finde. Das ist dann gelegentlich für einige Kommentatoren Ansporn, noch einen draufzusetzen und damit zumindest meine Grenze des Zulässigen zu überschreiten. Daraus muss ich selbstkritisch schließen: Eigentlich hätte ich nicht so weit vorlegen dürfen.

Gibt es einen typischen Verlauf der Erregungswellen? Im Fall von Eva Schweitzer, die einen Blogger wegen eines zu üppigen Zitats abgemahnt hat, kamen bei Ihnen schnell 200 Kommentare zusammen, aber nach ein paar Tagen stagnierte die Zahl unter der 300er-Marke.
Es geht ganz schnell los, ist aber oft auch ganz schnell wieder vorbei. Deshalb meine ich, dass man das manchmal einfach aushalten sollte, weil nach zwei Tagen vermutlich eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird. Es gibt aber Themen, bei denen man hundertprozentig darauf setzen kann, dass sie einen Entrüstungssturm auslösen. Das war die Spiegel-Geschichte zum Thema Internet, das war Frau Schweitzer zum Thema Urheberrecht.

Sobald es netzbezogene Themen sind, schwappt die Welle höher?
Ja. Viele derjenigen, die im Netz besonders aktiv sind, haben das Gefühl: Das ist unser Internet. Und fühlen sich herausgefordert, ihre Empörung auch noch auszudrücken, selbst wenn das hundert Leute schon vorher gesagt haben.

Was kann ich als Journalist tun, um mich vor solch einem Mob zu schützen?
Man kann sich nicht davor schützen. Man kann nur überlegen, wie man damit umgeht.

Man könnte Fehler vermeiden.
Das ist ja nicht realistisch. Ich glaube aber, dass es im frühen Stadium oft hilft zu kommunizieren. Sich auf die Diskussion einzulassen und zu zeigen, dass man nicht auf dem hohen Ross sitzt. Fehler zuzugeben, falsche Anschuldigungen mit Argumenten zu kontern und zeigen, dass man auch ein Mensch ist und nicht nur ein Opfer, das zum Abschuss freigegeben ist. Manchmal stachelt das die Leute zwar erst an, die dann jede weitere Wortmeldung wieder zerrupfen, deshalb kann es je nach Mentalität oder Thema auch besser sein, das alles an sich abtropfen zu lassen. Ich habe da keine endgültige Antwort.

Eva Schweitzer hat sich kampfeslustig gegeben.
Ich fand sie eher arrogant. Wenn sie schreibt, dass Blogger solche sind, die nachts im Schlafanzug vor dem Computer sitzen

Tun sie das nicht?
Tun sie auch. Aber nicht nur. Das ist doch ein blödes Klischee.

Bei den Diskussionen verdichtet sich, wenn es um Journalismus im Netz geht, der Eindruck, dass da vorwiegend Männer unterwegs sind.
Ist das nicht bei Journalisten ähnlich? Die Wortführer unter den Journalisten sind doch auch Männer.

Die Fälle, in denen die Erregung besonders hoch schwappte, drehten sich meist um Frauen.
Die Männerfälle gibt es ja auch. Wenn Frau Schweitzer dasselbe als Mann gemacht hätte, wäre die Diskussion genauso verlaufen, minus die zehn Deppen, die da wirklich ihren Sexismus ausleben.

Etablieren sich User und Leser als fünfte Macht im Staate, die die vierte kontrolliert?
Ich finde noch interessanter, was bei der taz passiert ist: Dort gab es Abokündigungen wegen des Verhaltens von Frau Schweitzer.

Ist das noch angemessen?
Ich halte es für übertrieben, aber das ist ja nicht die Frage. Wenn ein Leser sagt: Ich finde es inakzeptabel, dass die taz hinnimmt, was die Frau da bloggt, und deshalb kündige ich mein Abo, dann geht es nicht um angemessen oder nicht, dann muss ich mit der Unzufriedenheit der Kunden leben.

Das erzeugt ja konkreten wirtschaftlichen Schaden. Bei Amazon erschienen plötzlich ganz viele Bewertungen, die einen Verriss von Schweitzers Buch hilfreich fanden. Das ist doch ein bisschen, als würde man an eine Hauswand sprühen: Hier wohnt ein Idiot.
In diesem Fall trifft das aber jemanden, der die ganze Zeit an seinem Fenster gestanden und „kommt doch“ gerufen hat. Ich weiß nicht, ob der wirtschaftliche Schaden so hoch ist.

Aber man kann es als Symbol sehen.
Tatsächlich können plötzlich kleine Dinge größere Auswirkungen haben, aber letztlich sind die Bewertungen bei Amazon doch Ausdruck von Sympathie oder deren Fehlen einem Autor gegenüber — das ist doch erst einmal legitim. Wenn Nutzer oder Leser öffentlich ausdrücken können, was sie von etwas halten, darf man sich nicht wundern, wenn davon Gebrauch gemacht wird. Das ist nicht immer schön, aber das ist Demokratie.

Ist das nicht auch eine Form der Verrohung? Wo ist die Grenze?
Wir haben bei Bildblog mal über den Bild-Redakteur Hauke Brost geschrieben und dabei seine Homepage verlinkt. Anschließend haben ihm unsere Leser massenhaft das Gästebuch vollgekotzt. All unsere Aufforderungen zur Mäßigung haben nichts genutzt. Das war natürlich definitiv jenseits der Grenze, aber ich fürchte, dass man damit leben muss. Das hat aber noch nicht die Qualität von „Ich fackele dir jetzt dein Auto ab“. Ich weiß aber auch nicht, wie man so etwas verhindert.

Radikalisiert die Tatsache, dass ich im Internet mit Pseudonym agieren darf, die Diskussion?
Auf jeden Fall. Ich finde es prinzipiell richtig, dass Leute auch unter Pseudonym kommentieren können, aber oft wünsche ich mir, es wäre nicht so. Manchmal sehe ich als Blogbetreiber an der E-Mail-Adresse, wer das wirklich ist, und dass das nicht irgendwelche Schlafanzugträger sind, sondern Chefs von Nachrichtenagenturen, die unter dem Schutz der Anonymität mal richtig vom Leder ziehen.

Kann man die Öffentlichkeit vermeiden, wenn man sich bedeckt hält und etwa nicht ins Fernsehen geht, auch wenn man gefragt wird?
Ja, durchaus.

Warum sieht man Sie so oft im Fernsehen?
Ich sehe mich nicht unbedingt gerne im Fernsehen, aber es befriedigt natürlich die Eitelkeit, wenn man gefragt wird. Ich bin mir bewusst, dass das auch unangenehme Folgen haben kann. Ich lebe ja als einer, der andauernd anderen ihre Fehler vorhält, ohnehin mit der Angst, dass mir selbst mal ein Riesenfehler passiert, den mir andere dann mit dreifacher Freude um die Ohren hauen werden. Andererseits habe ich das Gefühl, dass es auch dann die Möglichkeit gibt, transparent und selbstkritisch zu sein und glaubwürdig zu bleiben. Uns sind bei Bildblog einige größere Fehler passiert. Und es war eine Erleichterung zu erfahren, dass wir sagen können: Es war völlige Grütze, was wir hier gemacht haben. Entschuldigung, es soll nicht wieder vorkommen.

Der normale Tageszeitungsjournalist googelt sich selbst und findet auf Platz eins seine schönste Verfehlung.
Wir werden lernen müssen, damit umzugehen, dass die eigene Geschichte so leicht zugänglich ist. Auch Personalchefs werden lernen, damit umzugehen. Es ist völlig normal, dass jeder von uns drei blöde Sachen bei Google stehen hat.

Völlig normal?
Man wird sich daran gewöhnen. Da stehen die tollen Selbstdarstellungen, da stehen auch die Fehler. Wir werden im Umgang mit dem Internet lernen …

…, das nicht mehr so ernst zu nehmen?
Zumindest einordnen zu können, was das wirklich bedeutet. Lange Zeit gab es die Diskussion, was passiert, wenn ein Personalchef peinliche Partyfotos von einem Bewerber im Netz findet. Ich war jetzt schon mehrfach bei Diskussionen, wo Personalchefs gesagt haben, dass sie sich Sorgen über einen Bewerber machen würden, bei dem es gar keine solche Spuren gibt, dass er gelebt hat.

Hat Bild-Chef Kai Diekmann das kapiert, wenn er jetzt selbst bloggt und mit Halbinformationen die schlechten über ihn verdrängt?
Ja. Ob er damit Erfolg hat, muss man sehen, aber erst einmal ist es geschickt, den Eindruck zu erwecken, die kritischsten Sachen über Kai Diekmann schreibt er in seinem eigenen Blog.

Ich muss also als Journalist aktiv ins Netz gehen, um mit positiven Nachrichten die schlechten in der Google-Liste nach hinten zu drängen.
Das ist mir zu technisch gedacht. Es geht darum, dass ich dort stattfinde und mit den Menschen kommuniziere; dass man sich von mir ein Bild machen kann, das nicht nur aus den Beschimpfungen meiner Gegner besteht. Wenn es mir nicht ganz egal ist, was da über mich steht, dann muss ich mit den Leuten reden. Das wird nicht den Mob verhindern und auch nicht die Deppen überzeugen, die gar nicht an einem differenzierten Bild interessiert sind, aber auf die kommt es sowieso nicht an. Wenn ich gute Argumente habe, werde ich Menschen überzeugen. Wenn ich daran nicht glauben würde, dürfte ich gar nicht erst Journalist werden.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion; Links von mir.

Zum Titelthema „Journalisten in der Öffentlichkeit: Zwischen abgehoben und bloßgestellt“ im aktuellen „journalist“ gehört noch eine Zusammenfassung der aktuellen Auseinandersetzungen samt frischen Zitaten von Eva Schweitzer, die die deutsche Blogosphäre mit einem von ihr selbst im Hafen in New York gesehenen Kriegsschiff mit 300 Marines vergleicht und für vergleichsweise harmlos hält, und eine Umfrage in den Online-Redaktionen, wie sie mit über die Stränge schlagenden Kommentatoren umgehen.