Schlagwort: Kindstötungen

Die Medien sind für mehr getötete Kinder

Gestern morgen gab die Nachrichtenagentur ddp eine alarmierend klingende Pressemitteilung heraus:

Kriminalistenverband: Deutlich mehr gewaltsam getötete Kinder

Berlin (ddp). Die Zahl der durch Gewalt und Vernachlässigung getöteten Babys und Kleinkinder ist polizeilichen Erhebungen zufolge in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt deutlich gestiegen. Wie der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) unter Berufung auf die Polizeistatistik berichtet, kamen im vergangenen Jahr 173 Jungen und Mädchen unter sechs Jahren gewaltsam ums Leben. In 20 Fällen gingen die Ermittler im Jahr 2007 von Mord aus, in 91 Fällen von Totschlag und in 62 von fahrlässiger Tötung, sagte der stellvertretende BDK-Bundesvorsitzende Bernd Carstensen der Nachrichtenagentur ddp in Berlin. Vor zehn Jahren waren Schätzungen des Kinderhilfswerks UNICEF von bundesweit rund 100 gewaltsam gestorbenen kleinen Kindern jährlich ausgegangen. (…)

Angesichts dieser Zahlen sprach sich der Kriminalistenverband für Veränderungen beim Datenschutz im Interesse des Kinderschutzes aus. (…)

Außer dem vagen Vergleich mit irgendwelchen älteren Unicef-Schätzungen findet sich in der ganzen Meldung kein Beleg dafür, dass die Zahl gewaltsam getöteter Kinder deutlich gestiegen sei. Die Behauptung widerspricht zudem den von Kriminologen seit Jahren geäußerten Hinweisen, dass die Zahl der Gewaltdelikte gegen Kinder in Deutschland — anders, als es die Berichterstattung der Medien glauben macht — nicht zu-, sondern abnimmt. Erst am Samstag hatte die Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen gemeldet: „Trotz zahlreicher aufsehenerregender Fälle in diesem Jahr ist die Zahl der Kindstötungen in Deutschland nach Einschätzung von Forschern stabil.“

Gründe genug, gegenüber der Meldung skeptisch zu sein.

Sollte man denken.

„Zeit Online“ übernahm die Meldung wie gewohnt vom „Tagesspiegel“, der sie ebenso wie der „Kölner Stadtanzeiger“ unbesehen von ddp übernommen hatte. „RP-Online“ deklarierte die Meldung („Wöchentlich sterben drei Kinder gewaltsam“) wie üblich zum Eigenbericht um. Die „Welt“ machte aus der „deutlichen“ Zunahme gleich eine „dramatische“ (und fügte reflexartig hinzu, die Dunkelziffer sei vermutlich „noch viel höher“ — was auch sonst). Und das „Panorama“-Ressort von „Spiegel Online“ unterbrach sogar seine Krisenberichterstattung und meldete:

Zahl gewaltsam getöteter Kinder steigt

173 Jungen und Mädchen unter sechs Jahren kamen 2007 in Deutschland gewaltsam ums Leben. Experten warnen, dass die Zahl der Kinder, die durch Vernachlässigung und Gewalt sterben, stetig steige — und fordern Veränderungen beim Datenschutz. (…)

Sie alle sind der PR und dem politischen Kalkül des Bundes Deutscher Kriminalbeamter auf den Leim gegangen. Denn die Angaben, wie sie ahnungslos von ddp verbreitet werden, sind doppelt falsch. Der BDK gibt nicht die Zahl der getöteten Kinder an, sondern zählt auch die versuchten, aber vereitelten Fälle hinzu. Das tut er aber nur bei den Zahlen von 2007 — nicht denen von vor zehn Jahren. Kein Wunder, dass sich so eine Zunahme ergibt.

Man muss aber ohnehin nicht auf irgendwelche Schätzungen zurückgreifen, um die Entwicklung nachzuvollziehen. Die konkreten Zahlen werden jedes Jahr in der Polizeistatistik des Bundeskriminalamtes veröffentlicht. Sie stehen in Tabelle 91 [pdf], „Aufgliederung der Opfer nach Alter und Geschlecht“:

Ja, das wird den Berichterstatter von ddp verwundern, der in seine Meldung den Satz geschrieben hatte:

In der offiziellen Kriminalstatistik werden Kindstötungen nicht extra ausgewiesen.

Das Bundeskriminalamt bietet auf seiner Internetseite sogar eine Zeitreihe an, die die Entwicklung der Opferzahlen nach Delikt, Geschlecht und Alter sortiert über die Jahre dokumentiert [pdf] — da hätte man gar nicht den komischen Herrn Carstensen fragen müssen.

Und so sieht die angebliche deutliche Zunahme von Fällen gewaltsam getöteter Kinder in Wahrheit aus:

Es ist übrigens relativ egal, ob man die versuchten Tötungen mit in die Rechnung hineinnimmt oder die fahrlässigen Tötungen (die zum Beispiel auch Kinder mitzählen, die vom Balkon gestürzt sind, weil die Aufsicht fehlte) aus der Rechnung herausnimmt: Der Trend bleibt immer der gleiche. Es gibt keine Zunahme, schon gar keine dramatische.

Darauf wies gestern auch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen noch einmal hin (was es ja bereits in der vergangenen Woche getan hatte) und widersprach dem BDK deutlich. Mit Erfolg? Wie man’s nimmt. Diejenigen Berichte, die sich nicht auf die falschen Angaben von ddp und BDK verlassen, tragen Überschriften wie: „Kindstötungen: Experten sind uneins über Zahl der Todesfälle“ oder „Opferzahl bleibt ungewiss: Wie viele Kindstötungen gibt es wirklich? Forscher und Kriminalbeamte streiten“.

Auch die „Rheinische Post“ erwähnt die Zweifel an dem Anstieg der Kindstötungen in Deutschland. Ihr Artikel trägt die Überschrift: „Mehr Kindstötungen in Deutschland“.

Nachtrag, 18:20 Uhr. „Spiegel Online“ hat seinen Artikel geändert und eine Erklärung und Entschuldigung hinzugefügt. Von einer Zunahme der Fälle ist nun nicht mehr die Rede, aber nach wie vor heißt es: „173 Jungen und Mädchen unter sechs Jahren kamen 2007 in Deutschland gewaltsam ums Leben.“ Das ist, wie gesagt, falsch. Die Zahl 173, die der BDK und ddp verbreiten, beinhaltet neben den tatsächlichen auch die versuchten Tötungsdelikte. Das heißt, ein Teil dieser Kinder ist glücklicherweise nicht tot. Wie erkläre ich das so, dass „Spiegel Online“ es versteht?

Nachtrag, 2. Januar. „Spiegel Online“ hat noch einmal nachgearbeitet. Jetzt heißt es: „173 Jungen und Mädchen unter sechs Jahren wurden 2007 Opfer von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten.“

Nachtrag, 3. Januar. ddp hat gestern eine Art Korrektur veröffentlicht:

Nach der Veröffentlichung von Zahlen der durch Gewalt und Vernachlässigung getöteten Babys und Kleinkinder in Deutschland hat der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) seine Aussagen relativiert. „Tötungen, Misshandlungen und Vernachlässigungen finden aus unserer Sicht auf gleichbleibend hohem Niveau statt“, sagte BDK-Vize Bernd Carstensen am Freitag.

In der Folge darf Carstensen dann wortreich und offenkundig uneinsichtig die Tatsache verschwurbeln, dass seine Aussagen sowohl konkret als auch in der Tendenz schlicht falsch waren.