Schlagwort: Regividerm

Das Wundersalbenmassaker

Nach einer Woche, in der der ARD eine Dokumentation über ein angebliches Wundermittel gegen Neurodermitis und Schuppenflechte um die Ohren geflogen ist, lohnt es sich, noch einmal zu nachzuschlagen, was die „Süddeutsche Zeitung“ am Anfang jener Woche, am Tag der Ausstrahlung, über diesen Film geschrieben hatte:

(…) Mehr als ein Jahr lang hat Klaus Martens für seine Dokumentation Heilung unerwünscht. Wie Pharmakonzerne ein Medikament verhindern die Geschäftspraktiken der Branche recherchiert. Das Ergebnis ist ein Beitrag, in dem sich die Guten und die Bösen sehr klar voneinander unterscheiden lassen, fast so, dass es einen schon wieder misstrauisch machen könnte. Dass man es am Schluss doch nicht ist, spricht für Martens Recherche und seine Art der Aufarbeitung — und gegen einen Wirtschaftszweig, der zwar wie jeder andere Geld verdienen muss, dabei aber zu oft vergisst, dass er mit einem besonderen Gut handelt: der Hoffnung von Menschen auf Gesundheit. (…)

Geschickt nutzt der Film die emotionalen Momente. Wenn Mitentwickler Thomas Hein mit brüchiger Stimme sagt, für ihn sei die Welt zu Ende, wenn die Kamera einen kleinen Jungen in die Sprechstunde begleitet, wo seine geschundene Gesichtshaut neu bandagiert wird, nur Augen, Nase und Mund bleiben frei. Doch so stark diese Bilder sind, erkennt man dank der gut dokumentierten Recherche und des sachlichen Tonfalls, dass der Film mehr will als Mitleid wecken für acht Millionen Patienten und zwei gescheiterte Erfinder. Die Sorgfalt des auf Wirtschaftsthemen spezialisierten WDR-Journalisten Klaus Martens zahlt sich aus: Mit jedem Gesprächspartner, jeder weiteren Information wird der Irrsinn, in den die Profitgier der Pharmakonzerne mündet, deutlicher. (…)

Wie es sich der hochverschuldete Mann leisten kann, jahrelang in einer offensichtlich nicht ganz billigen Schweizer Klinik zu leben, ist eine von zwei Fragen, die dieser ansonsten schlüssige Film unbeantwortet lässt. Die andere Frage ist, ob die rosafarbene Creme jemals auf den Markt kommen wird.

Im Nachhinein, wenn man um die, gelinde gesagt, Schwächen der Dokumentation weiß, wirkt der SZ-Artikel fast ironisch: Wie die Kollegin für einen winzigen Moment skeptisch wurde angesichts der Schwarz-Weiß-Malerei des Films. Wie sie auf die Suggestion hereinfiel, die Creme könne Neurodermitis nicht nur lindern (was durchaus möglich ist), sondern heilen. Wie sie mit der Frage endet, ob das Mittel doch noch vertrieben werden wird — eine Frage, die am Tag nach der Ausstrahlung, dem aus Marketingsicht perfekten Termin, öffentlich mit Ja beantwortet wird, aber in Wahrheit schon Wochen vorher beantwortet war.

Schon am 29. September hatte die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) eine Vorschau auf den Film veröffentlicht und sich die Aussagen vollständig zu eigen gemacht — interessanterweise mit dem Hinweis, dass man das, was man da sieht, eigentlich gar nicht glauben möchte, es dann aber augenscheinlich doch tat:

Eine Creme, die den Juckreiz lindert, die schuppigen Ekzeme zum Abklingen bringt und gar nicht teuer ist – für Patienten, die unter Schuppenflechte oder Neurodermitis leiden, klingt das wie ein Märchen. Diese Creme gibt es wirklich, und doch ist sie für die allermeisten Patienten unerreichbar. (…)

Was Martens zu berichten hat, ist eine beinahe unglaubliche Geschichte aus dem Dschungel der Pharmaindustrie, die gerade, weil sie kein Märchen ist, bislang auch kein Happy-End gefunden hat. (…)

Ich zitiere das nicht, um mich darüber lustig zu machen. Ich fand den Film zwar ganz und gar nicht überzeugend. Aber ich habe ihn mir auch erst am Donnerstag angesehen, als ich die Kontroverse um ihn schon kannte. Wer weiß, ob ich ihm nicht sonst auch auf den Leim gegangen wäre — und der nachfolgenden PR der Vertriebsfirma. Noch am Mittwoch brachte „Spiegel Online“ ein Stück, das von keinem Zweifel an der wunderbaren, wundersamen Geschichte getrübt war und Vorlage war für weitere unkritische Berichterstattung.

Nun gehört zum Repertoire richtiger Journalisten, wenn sie ihr verlorenes publizistisches Monopol beklagen, der beliebte Schlager „Journalisten recherchieren, Blogger schreiben nur ab“. Doch während die professionellen Journalisten noch am Abschreiben waren, hatte der anonyme Pharma-Blogger „Hockeystick“ in der „Stationären Aufnahme“ zwar noch nicht selbst recherchiert, aber etwas anderes, was eigentlich gute journalistische Tradition ist: Zweifel. Nach und nach trugen er und andere Indizien und Belege dafür zusammen, dass die Geschichte nicht ganz so eindeutig war, wie der Film und die auf ihm beruhenden Artikel glauben machen wollten, und die Markteinführung von „Regividerm“ keine Reaktion auf die Zuschauerresonanz nach dem Film gewesen sein kann.

Die ARD aber sah entweder nicht, was sich da zusammenbraute, oder entschloss sich zu einer verheerend falschen Trotzreaktion: In der Sendung „Hart aber fair“ sprach Frank Plasberg unbeirrt von den „besten klinischen Studien“, die die Wunderwirkung des Mittels bestätigten — Studien, deren überaus begrenzte Aussagekraft im Internet bereits gemeinschaftlich analysiert worden war.

Einer, der das getan hatte, heißt David Beck­wer­mert. Von ihm hatte ich zuvor genau so wenig gehört wie von dem Blog „Principien“, auf dem er schrieb. Ich habe am Donnerstagabend, als ich die verunglückte „Hart aber fair“-Sendung im Fernsehblog auf FAZ.net kritisierte, lange überlegt, ob das unter diesen Voraussetzungen eine Quelle für mich sein kann — schließlich bin ich Laie, was die Analyse medizinischer Studien angeht. Ob Beckwermert mit jedem seiner Urteile Recht hat, weiß ich bis heute nicht, aber ich weiß, warum ich ihn für glaubwürdig gehalten habe und halte: Weil er klar argumentiert und weil er mir mit vielen Links zu Quellen und Fachbegriffen Gelegenheit gibt, seine Argumentation nachzuvollziehen.

Bei Martens Film genügte hingegen schon eine relativ flüchtige Internetrecherche, um festzustellen, wie sehr er die Dramaturgie auf seine These von der böse Pharma-Industrie, die ein Wundermittel für zig Millionen Menschen verhindert, hingebürstet und Widersprüche etwa bei der Beurteilung der Nebenwirkungen von umstrittenen Neurodermitis-Mitteln wie Elidel schlicht weggelassen hat.

Zugespitzt formuliert: Ich traute dem mir völlig unbekannten Blogger mehr als dem preisgekrönten ARD-Filmemacher.

Ich bin überzeugt davon, dass das in Zukunft häufiger und mehr Menschen so gehen wird und den Journalisten das ganze dumme Gerede von ihrer naturgemäßen Überlegenheit über die neuen Nebenbei-Publizisten nichts helfen wird. Helfen wird ihnen nur, wenn sie sauber arbeiten, ihre Quellen offenlegen, sich im Nachhinein auf die Diskussion mit Kritikern einlassen und im Zweifel zugeben, an welchen Stellen sie Fehler gemacht haben und an welchen Positionen sie aber festhalten.

Natürlich gibt es auch umgekehrt keine natürliche Überlegenheit von Bloggern und Online-Kommentatoren. Sie sind auch nicht pauschal die besseren Journalisten und haben ihre eigenen unguten Reflexe: Zum Beispiel aus dem fehlenden Beweis, dass die Creme gegen Neurodermitis wirkt, zu schließen, dass sie nicht wirkt. Oder gleich die ganz große Verschwörungstheorie aufzumachen und aus der Tatsache, dass ein Film aufgrund journalistischer Fehler für eine Marketingkampagne für ein neues medizinisches Produkt eingespannt werden konnte, zu folgern, dass der Film bewusst zu diesem Zweck gedreht worden sein muss. Aber diese Überreaktion ist zum Teil auch die Folge einer übertrieben einseitigen und undistanzierten Bericherstattung.

Ich frage mich, ob der Film in diesem Maße berechtigten Widerstand produziert hätte, ob die ARD-Leute auch dann Fehler hätten einräumen müssen, ob in der „Süddeutschen“ und auf „Spiegel Online“ schließlich doch noch so kritische Artikel über Regividerm stehen würden, wenn es keine Blogger gegeben hätte, die zweifelten und recherchierten statt zu glauben und abzuschreiben.

(Entschuldigung, wenn das schon wieder wie eine Ansammlung von Banalitäten wirkt. Aber die Wahrheit ist, dass es immer noch als klug gilt, sich damit brüsten, Blogs zwar nicht zu kennen, aber doof zu finden, und es Online-Medien nicht zu blöd ist, das auch noch zu veröffentlichen.)