Schlagwort: Tom Sänger

Erwachsen auf Probe

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Missverständnisse in der Traumawelt. RTL leiht Teenagern Babys und filmt sie dabei. Kinderschutzverbände sind außer sich: Begegnung zweier Welten.

Tom Sänger, der Unterhaltungschef von RTL, war betroffen. Er sprach mit belegter, heiserer Stimme und klang wie ein Klischee-Sozialpädagoge, der gerade schon wieder einen Spielzeugpanzer im Kinderzimmer entdecken musste: enttäuscht, ein bisschen ratlos und sehr, sehr betroffen. In seinen 14 Jahren beim Sender habe er es noch nicht erlebt, dass ein Programm so vorverurteilt wurde wie „Erwachsen auf Probe“, sagte er. „Das hat mich persönlich relativ betroffen gemacht.“ Man sah ihm an, dass die wahren Opfer in dieser Geschichte keine kleinen Kinder waren, die für eine achtteilige Realityshow ein paar Tage lang unter Aufsicht an Teenager ausgeliehen wurden. Das wahre Opfer war ein anständiger, wehrloser Fernsehsender.

Viele Verbände und Institutionen hatten die Sendung heftig kritisiert und sich einen Wettlauf um die drastischste Formulierung geliefert. Der Hebammenverband ging relativ spät ins Rennen, lag aber dank des Vorwurfs „einer neuen Form der Prostitution“ am Ende weit vorne. Dabei hätten die Kritiker die Sendung noch gar nicht gesehen, sagte Sänger. Und ihre Empörung beruhte auf falschen Annahmen. Zum Beispiel der, dass die Eltern ihre Babys den Teenagern für vier Tage, rund um die Uhr überlassen würden. In Wahrheit seien sie fast die ganze Zeit dabei gewesen; die Kinder hätten auch fast immer bei ihnen die Nacht verbracht. Woher haben die Kritiker nur diese Lügen?

Die naheliegendste Antwort wäre: aus einer Pressemitteilung des Senders. Dort beschrieb RTL das Konzept so: „Dann überlassen vier Familien aus ganz Deutschland für vier Tage den Teenagern das Schönste, was sie besitzen: ihre Babys. Nun erleben die Teenager erstmals am eigenen Leib, was es bedeutet, einen Säugling rund um die Uhr zu versorgen.“ Doch die Konfrontation mit der Tatsache, dass sein Sender genau die anscheinend übertriebenen Fakten in Umlauf brachte, die die heftigen Proteste von Kinderschützern auslöste, nahm Sänger nichts von seiner Betroffenheit. Das sei doch nur eine Pressemitteilung gewesen! Die dürfe man doch nicht einfach für bare Münze nehmen, ohne sich vorher beim Sender noch einmal zu vergewissern, was denn wirklich passiere!


Zur Vorbereitung üben die Jugendlichen mit Puppen den richtigen Umgang mit Kleinkindern. Foto: RTL

Vorgestern lud RTL nicht nur die Presse, sondern auch Kritiker ein, sich eineinhalb Folgen der Serie anzuschauen. Die Produzenten und Senderverantwortlichen, die Hebammen, Jugendpsychologen, das Jugendamt und die Familienpartei, sie saßen nun in einem Vorführraum bei RTL. Aber sie kamen von zwei Planeten. In einer denkwürdigen Begegnung trafen Kulturen aufeinander, die nichts voneinander verstanden. Fernsehleute, die die Regeln ihres quotengetriebenen Geschäftes soweit verinnerlicht haben, dass sie sie für naturgegeben halten. Und Kinderschützer, die das Medium oft nicht einmal kennen und es mit einem Fundamentalismus ablehnen, als sei es gerade erst erfunden worden.

Das Außergewöhnliche an der Kritik, die sich an „Erwachsen auf Probe“ entzündet, ist nicht nur ihr Ausmaß, sondern dass es weniger um die Zuschauer geht. Solche Diskussionen führen die an ihnen Beteiligten längst mit großer, ermüdender Routine. Im Grunde weiß man auch 2009 fast nichts darüber, wie Programme auf junge Zuschauer wirken, weshalb die Debatte meistens sehr fruchtlos ist. Auch bei „Erwachsen auf Probe“ ist keineswegs klar, ob die Konfrontation von Teenagern, die sich ein Kind wünschen, mit dem realen Stress des Familienlebens auf gleichaltrige Zuschauer abschreckend wirkt oder anziehend.

Aber hier geht es um eine ganz andere Frage: Ob schon bei der Produktion jemand zu Schaden kam, die Kleinkinder, die für das Experiment für eine kurze Zeit von ihren Eltern getrennt wurden. Einige Experten sagen, dass eine solche Trennung Probleme auslösen und zu Bindungsstörungen führen kann. Der Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie nannte RTL eine „Traumafabrik“.

Die Aufregung wirkt etwas hysterisch angesichts der alltäglichen Unzulänglichkeiten, die sich in Familien mit Kindern abspielen müssen. Aber das Argument der Kinderschützer ist nicht, dass RTL die Kinder außerordentlich großen Risiken ausgesetzt hat. Sondern dass es völlig unnötig war, die Kinder überhaupt einem Risiko, egal wie klein, auszusetzen – man hätte ja diese Sendung nicht produzieren müssen. Das ist keine Ebene, auf der RTL mit sich diskutieren lässt.

Entscheidend zur Beurteilung der Sendung war für die Experten, was wirklich bei der Produktion passiert war, wie weit die leiblichen Eltern der Kinder entfernt standen, wie lang die Trennung genau war. Es war in der Diskussion faszinierend zu sehen, wie die Kinderschützer mit großer Naivität glaubten, dass eine Sendung, die RTL eine „Dokumentation“ nennt, das tatsächliche Geschehen dokumentiert. Und wie die Fernsehleute mit ebenso großer Betriebsblindheit nicht glauben konnten, dass jemand annehmen könnte, dass das, was RTL in so einer Show zeigt, eine größtmögliche Annäherung an die Wirklichkeit wäre — und nicht vor allem den üblichen Inszenierungs-Regeln folgen würde.

Hilflos versuchten die Kinderschützer einen Zipfel dessen zu erreichen, was wirklich am Set passiert ist. Nachdem sie lernen mussten, dass schon einer  RTL-Pressemitteilung nicht zu glauben ist, erfuhren sie, dass auch der Sendung selbst nicht zu trauen ist. Wenn die Kinder nachts wirklich bei ihren leiblichen Eltern und nicht den Teenagern waren – wieso spielte dann eine Szene laut Einblendung um 23.47 Uhr? Holger Roost, Chef der Produktionsfirma Tresor-TV, erwiderte trocken, das sei ja eine „gefühlte Zeit“. „23.47 Uhr“ bedeute nur, dass es relativ spät gewesen sei.

Und wenn das Experiment wirklich so unproblematisch gewesen sei, wieso dann fast nur überforderte Teenager und kaum ein lachendes Kind zu sehen seien? Doch, sagte Roost, die Kinder hätten viel gelacht, aber das wolle man ja nicht sehen. Und die Szenen, in denen die Jugendlichen gut zurecht kommen mit der Situation, kommen natürlich erst in späteren Folgen. Man zeige ja die Entwicklung in der „Heldenreise“ der Protagonisten.

Für erfahrene Fernsehzuschauer ist „Erwachsen auf Probe“ nicht besonders spektakulär. Der Moment, wenn die Eltern nach diversen Probeübungen den jungen Leuten ihr Kind in die Hand drücken, hat zwar tatsächlich etwas frivoles. Die Inszenierung spielt mit  der Ungeheuerlichkeit, bei einem Fremden an der Tür zu klingeln, ihm das Kind in die Hand zu drücken und zu sagen: Bitte schön, aber machen Sie nichts kaputt. Und wenn man die Kinder weinen sieht und die Sendung vorübergehend wie eine Gameshow wirkt (wird der tätowierte junge Mann von alleine drauf kommen, was dem Kleinen fehlt: Essen / Trinken / Schlafen / Unterhaltung?) ist die grundsätzliche Frage natürlich berechtigt, ob Kinder in dieser Form zu Versuchsobjekten gemacht werden dürfen.

Aber der größte Teil des Programms entspricht dem, was an Reality-TV im deutschen Fernsehen längst Alltag ist. Die jungen Paare sind gut gecastet, und im Vergleich zu Sendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“ gehen die Fernsehleute sogar relativ anständig mit ihnen um. Vor allem die jungen Machos werden in ihren großen Posen und ihrer ebenso großen Überforderung bloß gestellt und lächerlich gemacht. Aber sie alle bekommen auch Momente, in denen sie menschlich wirken, und gelegentlich ist es sehr rührend, zu sehen, wie die Babys ihnen ihre eigene Beschränktheit verdeutlichen oder, ganz im Gegenteil, ungeahnte Qualitäten in ihnen zum Vorschein bringen. Es gibt Szenen mit schreiendem Kind im Supermarkt („Ey, wir sind hier im Kaisers, blamier mich hier nicht“), beunruhigende Versuche, ob ein Kleinkind auch Ravioli zum Frühstück nimmt und das große Drama, dass ein Paar noch nicht sofort ein echtes Kind zur Probe bekommt, weil der junge Mann sich in der Nacht zuvor versehentlich auf die Probepuppe gelegt hat. („Habt ihr eine Idee, warum ihr noch kein Kind bekommt?“ — „Weil unseres gestern gestorben ist?“) Das Ganze ist mit der üblichen unerträglichen Musiksoße immer gleicher Evergreens unterlegt und in hilflos-schlichter „Und gleichzeitig nebenan“-Dramaturgie erzählt.

Für ein Unternehmen, dessen Geschäft das Fernsehen ist und das seit Jahren den deutschen Markt dominiert, tut sich RTL erstaunlich schwer damit, eine Kommunikation über seine Programme zu organisieren oder an der Debatte über seine gesellschaftliche Verantwortung überhaupt teilzunehmen. Geschäftsführerin Anke Schäferkordt beschränkt sich darauf, in wenigen Interviews große Platitüden zu verbreiten; die Programmverantwortlichen scheuen die Presse. Nur Unterhaltungschef Sänger muss sich äußern, wenn die Debatten um DSDS oder die Dschungelshow aus dem Ruder zu laufen drohen. Er entzieht sich dann gerne einer ernsthaften Diskussion um Jugendschutz, Werte und Grenzen, indem er sie als „Geschmacksfragen“ abtut.

Es mag sein, dass die Eskalation der Diskussion im Vorfeld von „Erwachsen auf Probe“ kalkuliert war; mindestens so wahrscheinlich ist, dass Naivität dahinter stand. Nein, räumen die Produzenten auf Nachfrage ein, man habe sich keine wissenschaftliche Beratung geholt. Aber es seien ja Psychologen und Erzieher vor Ort gewesen. Außerdem stamme das Konzept doch von der angesehenen BBC, und dort habe sich die Aufregung im Nachhinein auch gelegt — die Sendung werde nun sogar in Schulen eingesetzt. Um den Kritikern etwas entgegenzusetzen, versucht RTL sein Konzept nachträglich als Beitrag gegen die steigende Zahl von Kinderschwangerschaften in Deutschland auszugeben — und muss sich sagen lassen, dass die gar nicht steigt, sondern abnimmt.

Die Diskussion in Köln zeigte, wie ungewohnt es für den Sender ist, sich mit Kritik auseinander zu setzen, die nichts mit den eigenen Regeln des Fernsehmachens zu tun haben. Schon durch den Gebrauch des Wortes „zynisch“ disqualifizierte man sich in den Augen von Tom Sänger für die Diskussion. (Sänger war dafür verantwortlich, bei DSDS einmal die verhaltensauffälligsten Kandidaten vor einem Millionpublikum bloßzustellen, indem er sie gemeinsam auf großer Bühne live „We are the champions“ singen ließ. Vielleicht lehnt er den Vorwurf des Zynismus hier nur deshalb so vehement ab, weil er weiß, wie viele Fernsehmomente er schon inszeniert hat, die ungleich menschenverachtender waren.)

Die Kinderschützer sahen sich nach dem Ansehen der Sendung in ihrer Kritik eher bestätigt. Am Ende der Diskussion versprach RTL zwar, in Zukunft vorher das Gespräch mit dem Jugendamt und den Kinderschutzverbänden zu suchen – aber das hatte der Sender auch schon nach der Diskussion um die „Super Nanny“ versprochen. Als konkretes Ergebnis blieb, dass RTL zusagte, am Sprecher-Text bei „Erwachsen auf Probe“ noch Änderungen vorzunehmen. Nach den Blicken, die die Produzenten tauschten, dürfte es sich eher um gefühlte Änderungen handeln.