Schlagwort: Wikileaks

Ein Dogma muss kein Dogma sein

Heute verrät Chefredakteur Ulrich Reitz den Lesern der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ exklusiv den Beginn des Journalistengesetzbuchs. Er tut das, weil sich offenbar Leute darüber beschwert haben, dass die WAZ am Mittwoch — ausgerechnet vor einem wichtigen Champions-League-Spiel — gemeldet hatte, der FC Schalke 04 werde sich von Trainer Felix Magath trennen. Dadurch hätte die Zeitung den Erfolg der Mannschaft gefährdet.

Reitz hätte es dabei belassen können, einfach zu antworten, dass eine Zeitung keine „Fan-Postille“ sei und kein „Wohlfühl-Blatt“. Aber er nutzte die Gelegenheit, ein ganz großes Fass aufzumachen:

Für uns Medienleute gibt es einen Paragrafen eins, der lautet: Eine Nachricht ist eine Nachricht ist eine Nachricht. Paragraf zwei heißt: Du darfst die Veröffentlichung einer Nachricht nie abhängig machen von den Folgen dieser Veröffentlichung, zumal du die ja auch gar nicht kennst.

Für Leser, die vielleicht unterschätzen, wie ernst Reitz das meint, wie absolut und unverhandelbar dieses Dogma seiner Meinung nach ist, fügte er hinzu:

(…) eine Nachricht bewusst zurück zu halten, ist für eine Zeitung, die sich allen ihren Lesern verpflichtet fühlt, geradezu eine Todsünde. Redakteure, die so handeln würden, könnten, dürften in diesem Job nicht mehr arbeiten.

All das gelte umso mehr bei Exklusiv-Nachrichten, die ja dazu führen, dass selbst ein Blatt wie die WAZ von „Zeitungen von Rang“ zitiert wird. (Medienethik ist für Reitz nur eine Unterdisziplin der Betriebswirtschaft.)

Es ist das zweite Mal innerhalb weniger Monate, dass sich Reitz mit dem Grundsatzthema beschäftigt. Ende November allerdings war das, was er heute als heilige Pflicht beschreibt, ein „übler Verrat“. Im Zusammenhang mit der Enthüllung amerikanischer Diplomaten-Depeschen kommentierte er:

Weder der Verräter noch die Internet-Plattform Wikileaks können die Folgen ihrer Veröffentlichung auch nur annähernd abschätzen. Diese können aber tödlich sein, etwa, wenn Informanten der Amerikaner in diktatorischen Staaten hochgehen. Deshalb ist diese Art von Veröffentlichung unverantwortlich, auf jeden Fall: größenwahnsinnig. Vor allem, wenn dieser Größenwahn auch noch mit Informationsfreiheit gleichgesetzt wird.

(…) Dieser Verrat stiftet keinen Frieden, er gefährdet ihn.

(…) Die Wikileaks-Veröffentlichung ist nichts anderes als eine Illusion. Glaubt jemand, diese Mischung aus Einschätzungen und Einzelbeobachtungen sei „Wahrheit“? Was hat man davon, zu wissen, dass ein führendes Mitglied einer Denkfabrik von Premier Erdogans türkischer AKP-Partei Andalusien zurück haben und sich rächen will für die Belagerung Wiens 1683???

Erstaunlicherweise scheinen weder der erste, noch der zweite Paragraph des Reitzschen Medienleutegesetzes in diesem Fall zu gelten. Plötzlich folgt aus der Unwägbarkeit der Folgen einer Veröffentlichung keine Pflicht zur Berichterstattung, sondern ihr Verbot.

Nun kann man natürlich (wenn man das Dogmahafte an Reitz‘ Paragraphen ignoriert und also das Risiko eines Berufsverbotes oder ewiger Verdammnis in Kauf nimmt) einwenden, dass sich die potentiellen Folgen in beiden Fällen nicht vergleichen lassen: Dort geht es um den spielerischen und wirtschaftlichen Erfolg eines Fußballvereines, hier womöglich um Menschenleben.

Ich fürchte nur, dass das nicht der Grund für die unterschiedliche Wertung von Reitz ist. Dort geht es um richtige Journalisten, hier um wildfremde Leute, die das Enthüllungs- und Enthüllungs-Entscheidungs-Monopol dieser Journalisten zerstört haben.

Schon in der Präambel von Reitz‘ Grundgesetz heißt es nämlich: Gut und richtig ist, was Dir nützt; schlecht und falsch, was Dir schadet.

(Mit den fatalen Folgen des Postulats, Journalismus dürfe sich nicht um seine Folgen scheren, habe ich mich hier auseinandergesetzt. In Sachen Schalke hat Reitz natürlich grundsätzlich recht.)

[Mit Dank an Martin Liebig!]