Ein grofef Tohuwabohu

Am Schlimmsten ist es, wenn sich Unglücke und Verbrechen zwischen zwölf und 14 Uhr ereignen, während der Sendezeit des RTL-Mittagsmagazins „Punkt 12“. Die Live-Berichterstattungs-Katastrophe vom Amoklauf in Winnenden war, wie es in diesem Genre gerne heißt, kein Einzelfall.

Um 12:25 Uhr kamen gestern die ersten Meldungen, dass bei den Feiern zum Königinnentag in Apeldoorn ein Auto in die Menge gerast sei und mehrere Menschen verletzt habe. Um 12:48 Uhr brachte „Punkt 12“ Bilder. Ohne Vorwarnung zeigte der Film ungeschnittene Aufnahmen von den Verletzten und Toten: Körper, die über den Asphalt geschleudert werden, blutende Menschen auf den Straßen, die ersten Sekunden, in denen sich Polizisten über die Opfer beugen und ihnen für Wiederbelebungsversuche die Hemden aufreißen, alles live kommentiert von der ahnungslosen Katja Burkard.

Ich habe mich entschieden, den Ausschnitt nur als Audio und nicht als Video zu dokumentieren. Nicht, weil RTL Probleme damit hat, das Zitatrecht anzuerkennen, und vermutlich versuchen würde, dagegen vorzugehen. Sondern weil ich glaube, dass sich die besondere Qualität der „Punkt 12“-Berichterstattung auch so erschließt. ((Wenn Sie genau wissen wollen, wie es auf einer Straßenszene nach so einem Anschlag aussieht, versorgen Sie die Online-Medien dazu freundlicherweise mit ungezählten Großaufnahmen — mehr dazu bei Lukas.)) Um einen Eindruck davon zu vermitteln, in welchem programmlichen Umfeld sich ein solches Unglück bei RTL ereignet, habe ich den Ausschnitt etwas länger gewählt.

[audio:http://www.stefan-niggemeier.de/blog/wp-content/punkt12.mp3]

Medien im Blutrausch (2)

Zugegeben: Die Hoffnung, dass Politiker wie der bayerische Innenminister Joachim Herrmann oder Journalisten wie der „Tagesspiegel“-Krawallkommentator Malte Lehming für die im folgenden genannten Argumente zugänglich sein könnten, stellt selbst meinen Glauben an die Kraft der Aufklärung auf eine harte Probe.

Trotzdem.

Matthias Dittmayer schreibt mir:

Ich hatte vor etwas längerer Zeit frustriert von der sogenannten Berichterstattung über „Killerspiele“ ein Youtube-Video veröffentlicht, das durch den Blogeintrag „Medien im Blutrausch“ ein voller Erfolg wurde. 1,5 Millionen Zugriffe, Artikel in der „Welt“, dem „Tagesspiegel“ und sogar eine kleine Meldung in der „FAZ“. Dachte ich mir zumindest. Jetzt nach Winnenden ist alles schlimmer als zuvor. Journalisten, Polizisten, Politiker und Wissenschaftler geben mehr Schwachsinn von sich als je zuvor. Und ihnen wird geglaubt. So sprang der „Focus“ mit dem Artikel „Killt die Killerspiele“ und viele anderen Formate auf die allgemeine Hetze an. Was haben z.B. diese Aussagen gemeinsam:

— Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Hessen, Heini Schmitt:

„Es ist bekannt, dass in allen Fällen, in denen es zu Amokläufen kam, die Täter einen ausgeprägten Hang zu sogenannten Killerspielen hatten. […] Die Welt wird nicht ärmer, wenn es keine Killerspiele mehr gibt.“

„Tagesspiegel“, Malte Lehming:

„Es ist kein Zufall, dass Killerspiele ursprünglich in Militärkreisen entwickelt wurden, um Soldaten emotionsloser, sprich: effektiver, zu machen.“

Sie sind in jeglicher Hinsicht falsch. Das interessiert aber niemanden. Die Bahn stellt Werbung für „Killerspiele“ ein, Galeria Kaufhof hat Spiele mit einer höheren Freigabe als „ab 16“ aus dem Sortiment genommen, Media Markt aus den Regalen, und die „ab 16“ zum Teil gleich mit. Vor dem Kauf eines Killerspieles werden nun Name und Anschrift der wohl potentiellen Amokläufer erfasst, ohne rechtlich wohl erforderliche Einwilligung. In Stuttgart und Nürnberg wurden Veranstaltungen der ESL (quasi die Bundesliga der Videospiele) untersagt, da dort CounterStrike gespielt wird. Die Medien zeigen ihre Macht, die Wahrheit ist dabei unerheblich.

Ich habe ein neues Video gemacht, das Aussagen wie die obigen als das entlarvt, was sie sind. Schlichtweg falsch. Ich finde es übrigens bedauerlich, dass man sowas kaum in den etablierten Medien findet. Schließlich studiere ich Rechtswissenschaften, und verständlich, geschweige denn ansprechend zu schreiben, ist nun wahrlich keine Qualifikation eines Juristen.

Hier ist seine neue „Gegendarstellung“:

Deutschland, ein Stilblütenmeerchen

Manchmal, wenn ich keine Lust zum Arbeiten habe, klicke ich mich durch das Internet-Angebot von RTL. Da gibt es immer was zu entdecken. RTL.de ist mit über 1,5 Millionen Visits am Tag eines der erfolgreichsten Online-Angebote in Deutschland und schafft das durch konsequenten Verzicht auf Qualität.

Ich bin immer versucht, die Texte, die dort erscheinen, dadurch zu erklären, dass sie von indischen Kindern neben ihrer Teppichknüpfarbeit geschrieben werden, aber dann wären sie besser. Wahrscheinlicher ist die Theorie, dass es sich um Rückübersetzungen aus dem Klingonischen handelt.

Mein aktueller Favorit ist das „60 Jahre BRD“-Special von „RTL aktuell“. Man täte ihm Unrecht, wenn man es auf die schlichten Fehler reduzierte wie die These, dass der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder 1998 wegen der Oderflut im Vorjahr Bundeskanzler wurde:

Gerhard Schröder allerdings rettete sein Krisenmangement die Wahl 1998. Durch seine Tätigkeit als Krisenmanager wurde auch der damalige brandenburgische Minister für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung, ’Deichgraf’ Matthias Platzeck, bundesweit bekannt.

Beeindruckend ist vielmehr die Kunst, aus den Möglichkeiten, die die deutsche Sprache bietet, konsequent immer jene zu wählen, die einen Sachverhalt so haarscharf nicht ganz trifft, dass es sich schlimmer liest, als wäre es völlig daneben:

Jemand, der viele deutsche Formulierungen schon mal gehört, aber nie richtig verstanden hat, schreibt über Dinge, von denen er schon mal gehört, die er aber nicht richtig verstanden hat.

1999 fegte der Orkan Lothar über Süddeutschland. Er gilt bis heute als Zeichen des Klimawandels. Immer heftigere Stürme in Mitteleuropa setzen den verliebenen Wäldern zu.

Bestenfalls liest es sich, als hätte jemand in der Redaktion aus dem Bestücken der Rubrik einen Wettbewerb gemacht und zum Beispiel gerufen: „Die Geschichte der deutschen Kanzler in einem Satz!“, und wer als erstes antwortete, bekam den Zuschlag:

Von Adenauer bis Merkel - Die deutschen Kanzler: Adenauer führte Deutschland nach Westen, Brandt nach Osten, Merkel ist die erste Frau im Amt und Alt-Kanzler Schmidt mittlerweile eine Ikone.

„Willy Brandts Biographie in drei Sätzen, passend zu einem Foto von ihm im Zug!“?

Brandt führte ein bewegtes Leben. Er floh vor den Nazis nach Skandinavien, wurde norwegischer Staatsbürger. Auf dem Foto sehen Sie ihn auf dem Weg nach Erfurt, wo er DDR-Ministerpräsident Willi Stoph traf und von den DDR-Bürgern begeistert empfangen wurde.

Manche Formulierungen klingen zunächst wie aus einem Privatfernseh-Wetterbericht und enthüllen ihre ganze vage, Metaphern mischende Schönheit erst beim zweiten oder dritten Lesen:

1945-49: Der Weg zur Staatsgründung. Die zunehmende Verhärtung der Fronten zwischen West und Ost seit der Konferenz von Potsdam im Sommer 1945 bestimmte den Weg in die Teilung des Deutschen Staates. Eine Einigung bezüglich der Rolle Deutschlands rutschte bis 1949 in immer weitere Ferne.

Im Abschnitt über Konrad Adenauer erfährt man erstaunliche Neuigkeiten über einen amerikanischen Präsidenten:

(Gut, dass JFK Katholik war, ist bekannt.)

Gelegentlich flüchtet sich die Formulierungsschwäche überraschend in Meinungsstärke:

Merkel stellt sich im September zum ersten Mal zur Wiederwahl. Anfangs sammelte sie große Lorbeeren, doch in der derzeit herrschenden Finanzkrise erweist sie sich nicht als führungstauglich. Angela Merkel (2005 - ?)

Unter die Überschrift „Negative Momente der BRD-Geschichte“ bzw. „Die trüben Momente unserer Republik“ hat rtl.de auch die Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss, gegen die Startbahn West („Der Flughafenausbau war unvermeidlich, doch es gab militante Gegner, die ein Lager im Kelsterbacher Wald errichteten“) und gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf einsortiert. Und dann:

Mit dem Amoklauf von Winnenden (16 Toten) endet dieser Rückblick auf die Unglücke und weniger schönen Ereignisse aus 60 Jahren BRD.

(Muss ich dazu sagen, dass das zugehörige Foto nicht Winnenden zeigt?)

Und wo bleibt das Positive, das extrem Positive? Hier:

Die WM in Deutschland zeigte der Welt: Die Deutschen können friedlich feiern, Party machen und sind dabei extrem gastfreundlich. Im Ausland verankerte sich ein neues Bild des Ordnung liebenden humorlosen Deutschen. Ein extrem positives.

Nachtrag, 13:30 Uhr. Ein paar der oben genannten Formulierungen hat RTL.de geändert. Keine Sorge: Die meisten Stilblüten blühen weiter, aber JFK ist zum Beispiel nicht mehr so leicht mit Adenauer zu verwechseln, das Foto zu Winnenden zeigt nicht mehr Erfurt, und über Angela Merkel heißt es jetzt: „Anfangs sammelte sie große Lorbeeren, doch in der derzeit herrschenden Finanzkrise werfen ihr Kritiker ein zögerliches Verhalten vor.“

Im Zweifel hat sich „RTL aktuell“ für den Zweifel entschieden. Über Orkan Lothar ist nun zu lesen: „Ob Klimawandel oder nicht: Immer heftigere Stürme in Mitteleuropa setzen den verbliebenen Wäldern zu.“

Und was die Oderflut 1997 angeht, behauptet RTL.de sicherheitshalber nur noch, dass sie Gerhard Schröder „möglicherweise“ die Wahl 1998 gerettet hat. Noch wahrscheinlicher ist natürlich, dass es weder die Oder noch 1997 war.

Nachtrag, 22.15 Uhr. Jetzt geht RTL.de kein Risiko mehr ein und hat den ganzen Absatz über die politische Dimension der Oderflut 1997 ersatzlos gestrichen — mitsamt dem eigentlich richtigen Verweis auf die Rolle Platzecks. Aber was sollen die „RTL aktuell“-Leute auch machen? Sowas nachschlagen??

Sag zum Abschied leise Dialektik

Heute war die SPD-Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten in der Stadt. Gemerkt habe ich davon aber nichts. Es ist eine seltsame Kandidatur. Manchmal hat man den Eindruck, man schadet der SPD, wenn man für Schwan ist. Kein Wunder: Ein Sieg in der Bundesversammlung würde Steinmeier erledigen. Das wäre der Präzendenzfall einer Koalition mit der Linken an der Spitze des Staates. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und wie schon seit Beginn der Arbeiterbewegung ist die Spaltung zwischen Sozialdemokraten und Sozialisten immer noch akut und lebendig. Ein echtes historisches Fossil, dass es noch in die Nachrichten schafft.

Aber man nutzt der Union auch nicht, wenn man für Köhler ist. Er schwebt irgendwie über den Dingen. Neulich traf ich nach einer Podiumsdiskussion einen erfolgreichen Rechtsanwalt. Partner in einer Wirtschaftskanzlei, glaube ich. Er trug auch nach 22 Uhr Krawatte und war ganz von der Krise bewegt. Alles müsse anders werden. Meine Punkte zum Thema gingen ihm längst nicht weit genug. Er war aufgewühlt und gewissermaßen existentiell unruhig. „Der Buddhismus“, sagte er — „da bin ich jetzt unterwegs“. Wirtschaft und Politik hatte er hinter sich gelassen. Köhler kommt mir genau so vor, als würde er in stillen Momenten am liebsten auswildern oder irgendwohin entschweben, wenn man ihn nicht festhält.

Mir persönlich wäre Schwan lieber, aber dass ihre Wahl eine neue historische Epoche einläutet, wie die von Gustav Heinemann den Wandel hin zur sozialliberalen Ära, das kann ich mir nicht vorstellen.

So ist es mit dem ganzen sogenannten Superwahljahr. Seltsame Verschränkungen führen dazu, dass eigentlich alles so bleiben muss wie bisher. Eine christliberale sogenannte Reformkoalition hätte jeden Samstag die Gewerkschaften und Studierenden auf der Straße. Bei Rotrotgrün hätten wir einen Investitionsstreik und eine Kapitalflucht, alle anderen Konstellationen sind zu unwahrscheinlich. Aber es kann sich ja auch noch was ereignen.

Bloggen macht Spaß. Aber neben meinem regulären Beruf, den Freuden der Familie und diversen ehrenamtlichen Tätigkeiten, in denen es um das Aufstellen von Klettergerüsten auf Schulhöfen sowie die ordnungsgemäße Ausgabe von Biogemüse an Grundschüler geht, bleibt mir einfach zu wenig Zeit dazu. Ausserdem verlangt die Katzenwelt eine ganz eigene Art von Zuwendung — Alice schmollt nun schon seit Stunden, weil ich sie eben aussperren musste: Sie nahm immer wieder auf dem Keyboard Platz.

Darum möchte ich mich hiermit verabschieden, nicht ohne meinem strengen, nie schlafenden, immer angriffslustigen, großartigen Gastgeber zu danken. Wir sind in all den kleinen Punkten so zuverlässig entgegengesetzter Meinung dass wir uns in allen wichtigen Fragen wieder einig sind — das ist die schönste Form von Dialektik.

Happiness Is A Sticky Note

Schauen Sie sich an, was die Jungs von EepyBird mit Post-its machen:


EepyBird’s Sticky Note experiment from Eepybird on Vimeo.

Und jetzt schauen Sie sich an, wie sich Art Fry, der Erfinder des Post-its, anschaut, was die Jungs von EebyBird mit Post-its machen:


Post-it Note inventor watches Sticky Note Experiments from Ironic Sans on Vimeo.

Und wenn Sie jetzt kein breites, glückliches Grinsen auf dem Gesicht haben, kann ich Ihnen auch nicht helfen.

(Die Jungs von EepyBird können übrigens auch erstaunliche Sachen mit Cola Light und Mentos machen.)

[via „Ironic Sans“]

Eine für alle

Machen Sie doch kommende Woche mal ganz was Verrücktes: Schalten Sie um 18:50 Uhr die ARD ein und schauen sich eine Folge der Daily Soap „Eine für alle — Frauen können’s besser“ an. Sie bekommen nicht nur das aufregende Gefühl, etwas zu tun, was sonst keiner tut. Sie werden auch in ein paar Tagen noch etwas zu kichern haben: Wenn die ARD die Serie vorzeitig einstellt und erklärt, dass das deutsche Fernsehpublikum für so realitätsnahe Fiktion leider doch nicht zu haben sei, obwohl man sich doch alle Mühe gegeben habe, zeitgemäß und hochwertig zu produzieren…

Sie werden auch den Witz besser verstehen, dass sich jemand beschwert haben soll, dass die Werbung für die Serie Männer diskriminiere. Dabei stammen die Frauen in ihr direkt aus einem Fünfziger-Jahre-Film – außer dass sie nicht Näherinnen, sondern Schweißerinnen sind, und die lebensklugen Sprüche jetzt lauten wie: „Männer kann man sich schönsaufen, Arbeitslosigkeit nicht.“ Ununterbrochen schmachten sie irgendwelchen anbetungswürdigen Traummännern hinterher. Der revolutionäre emanzipatorische Akt der ersten Folge besteht darin, dass eine Frau sich einmal nach der Arbeit weigert, noch die Probleme ihrer Familie zu lösen („Ach wisst ihr was, klärt doch einfach mal was ohne mich“, hoho!). Dass dieselbe kleine Arbeiterin dann für einen Euro die Firma kauft, die von bösen Heuschrecken ausgesaugt werden soll, hat auch nichts mit Klugheit zu tun, im Gegenteil: Frauen sind doch so impulsiv!

Jeden Moment erwartet man, dass Doris Day zur Tür rein kommt und die anderen mit ihrer Modernität überfordert — außer, dass man schon nach Minuten aufhört, überhaupt etwas zu erwarten. Der alte Firmenbesitzer sagt: „In jeder Muffe steckt mein Herzblut und das meiner 463 Angestellten.“ Und die Frauen stehen beim Streik auf dem Hof: „Es kann kein Zufall sein, dass die Schwalben schon so früh aus dem Süden zurückgekommen sind.“ — „Hoffentlich sind’s keine Geier.“ — „Oder schräge Vögel.“

Machen Sie sich nichts draus, wenn Sie die ersten sechs Folgen verpasst haben: Die Geschichte ist so zäh erzählt, dass in jedem Fernsehfilm zum Thema erst eine Viertelstunde vergangen wäre. Als Zeitvertreib können Sie versuchen, das Wetter in der jeweils nächsten Szene zu erraten. Faustregel: Wenn die Sonne richtig durch die Studiofenster zu knallen scheint, kommt garantiert gleich jemand aus einem Schneesturm rein.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Gute und weniger gute Gründe gegen Pro Reli

Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich eine Sache ablehne, nur weil „Bild“ für sie kämpft.

Das ist natürlich kindisch, aber vielleicht nachvollziehbar, wenn man sieht, mit welchen Mitteln diese Zeitung für Sachen kämpft, die sie zu ihrer Sache gemacht hat. Ihre aktuelle Kampagne für das Volksbegehren „Pro Reli“ in Berlin, die auch vor dümmsten Lügen nicht zurückschreckt, ist wieder so ein Fall. Nicht genug damit, dass „Bild“ sich vollends die Werbestrategie von „Pro Reli“ zu eigen gemacht hat, die darauf setzt, dass sich nicht genügend Berliner für einen Kampf für den Religionsunterricht mobilisieren lassen würden, und ihn deshalb kurzerhand zu einem Kampf „für die Freiheit“ umgedeutet hat. „Bild“ blendet die Argumente der Gegenseite und Nachrichten, die in deren Sinne sind, fast vollständig aus.

Das ist so üblich bei „Bild“, und das finde ich immer wieder doppelt erstaunlich. Nicht nur, dass Journalisten das für eine zulässige Form der Berichterstattung halten. Sondern dass sie so wenig von der Belastbarkeit ihres eigenen Standpunktes, der Kraft der eigenen Argumente überzeugt sind, dass sie glauben, die Gegenseite gar nicht erst erwähnen zu dürfen. Die „Bild“-Zeitung traut sich nicht, ihren Lesern halbwegs fair beide Seiten vorzustellen und ihre eigene Position durch Kommentare deutlich zu machen. Spricht daraus ein mangelnder Glaube an die Klugheit ihrer Leser? Oder nur ein mangelnder Glaube an die eigene Argumentationsfähigkeit?

Wäre es zu riskant gewesen, wenn „Bild“ den Lesern nicht nur die Namen der Prominenten verraten hätte, die für „Pro Reli“ sind, sondern auch die, die die Gegenkampagne „Pro Ethik“ unterstützten? Wäre es zu riskant gewesen, wenn „Bild“ am Freitag nicht fünf junge Leute für „Pro Reli“ hätte sprechen lassen, sondern nur vier — und eine einzige Gegenstimme auf der Seite untergebracht hätte? Wäre es zu riskant gewesen, wenn „Bild“ gestern neben 21 „Pro Reli“-Bekenntnissen (darunter einem grob irreführenden Zitat der ehemaligen Fernsehmoderatorin Tita von Hardenberg, die entweder nicht weiß, worum es bei dem Volksentscheid geht, oder nicht will, dass andere es wissen) zwei oder drei „Pro Ethik“-Leute hätte zu Wort kommen lassen? Manchmal glaube ich, die Menschen, die bei dieser Zeitung arbeiten, halten ihr Blatt nicht für halb so mächtig, wie alle anderen das tun. Sonst würden sie nicht mit einer solchen Gewalt, mit einem solchen Krampf, jede Transparenz, jede Fairness daraus fernhalten – als könnte ein Hauch von Pluralismus schon alles zusammenstürzen lassen.

(Immer wieder beunruhigend auch, dass hohe, nun ja: Würdenträger der Kirche bei diesen Gelegenheiten dem Busen-, Hetz- und Lügenblatt ihre Aufwartung machen. Ich meine, man muss „Bild“ ja nicht ächten, aber… oh Gott, was red‘ ich denn da? Natürlich muss man. Was denn sonst?)

In diesen Wahlkämpfen schlägt auch immer die große Stunde eines lokalen „Bild“-Kolumnistenclowns namens Reimer Claussen. Als es um den Erhalt von Tempelhof als Flughafen ging, schrieb er: „Wer Tempelhof schließt, würde auch das Stadtschloss noch einmal sprengen.“ Nun behauptet er, die Gegner von „Pro Reli“ entlarvten sich dadurch quasi als Linksfaschisten, dass sie vom „Wahlzwang“ zwischen Ethik und Religion sprechen, den sie ablehnen:

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. „Wahlzwang!“ Was für ein Wort! Damit offenbart sich die Linke alias PDS vulgo SED endgültig.

Jemand, der es schafft, den Begriff Wahl mit dem Begriff Zwang zu verbinden, der muss einfach aus einer Tradition kommen, wo man auch die Reisefreiheit für eine üble Sache hielt. 40 Jahre lang haben sie es geschafft, die Bevölkerung der DDR von der schrecklichen Last, frei zu wählen, zu erlösen. Jetzt sollen auch unsere Schüler in den Genuss kommen.

Der Gedanke, dass auch dieser Mann womöglich wählen darf, erschreckt mich ein bisschen. Ich wünsche Reimer Claussen aber, dass er sich seine Ahnungslosigkeit bewahren kann und niemals erfahren muss, dass sich das, was der Volksentscheid aus dem Fach Religion machen will, ganz offiziell „Wahlpflichtfach“ nennt. Kinder würden nicht mehr Ethik und Religion belegen können, sondern zwischen beiden wählen müssen. Aber das muss man sich mal irgendwo zergehen lassen: Wahl. Pflicht. Wahlpflicht. Leute, die sich solche Wörter ausdenken, fressen auch kleine Kinder. ((Oh, ich sehe gerade, exakt den Witz haben wir damals schon bei BILDblog gemacht.)) (Die Suche in Zeitungsarchiven nach dem Wort „Wahlzwang“ fördert übrigens weniger Artikel über die DDR und mehr über Belgien zutage.)

Ich glaube, dass die Art, wie „Bild“ diese Wahlkämpfe führt, der Demokratie schadet. Weniger durch die Einseitigkeit. Sondern vor allem dadurch, dass sie jede dieser Fragen zu einem Kampf für die Freiheit stilisiert, zu einem Überlebenskampf, bei dem bei falschem Ausgang der Untergang droht. In der „Bild“-Welt gibt es kein Ringen um den besten Weg, bei dem beide Seiten bedenkenswerte Argumente haben. In der „Bild“-Welt sind die Gegner das Böse und müssen mit allen Mitteln bekämpft werden.

Zwei große Kämpfe in Berlin hat „Bild“ jetzt schon verloren (außer den um Tempelhof auch den gegen die Umbenennung eines Teils der Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße). Nicht auszudenken, wenn Berlin heute wieder gegen Das Richtige, gegen „Bild“ und gegen die Freiheit stimmt.

Vielleicht ist also nachvollziehbar, warum ich mich manchmal dabei ertappe, gegen eine Sache zu sein, nur weil „Bild“ dafür ist. Aber es bleibt kindisch.

Im Fall von „Pro Reli“ jedoch glaube ich, gute inhaltliche Argumente gefunden zu haben, zum Beispiel in dieser Pressemitteilung des LSVD, vor allem aber in diesem „Spiegel“-Essay von Julia Franck. Ich werde deshalb — nicht (nur) wegen „Bild“ — nachher mit Nein stimmen.

(Und anders, als gerne kolportiert wird und das „Handelsblatt“ unfassbarerweise verbreitet hat, reicht es im Zweifelsfall nicht, einfach zuhause zu bleiben, wenn man gegen den Gesetzesentwurf ist.)

Nachtrag, 19.20 Uhr. „Pro Reli“ ist gescheitert.

Haftzettel-Revolte im HR

Es ist noch nicht ganz so weit, dass Mitarbeiter des Hessischen Rundfunks in den Hungerstreik getreten wären oder mit der öffentlichen Verbrennung von Onkel-Otto-Figuren begonnen hätten. Der sichtbare hausinterne Protest gegen Kürzungen im Programm, die auch die öffentlich-rechtliche Restkompetenz des Senders treffen könnten, hat bislang nur Post-It-Größe — aber immerhin.

In den Anstaltsgängen hängen Fotos vom Sender und seiner Mitarbeiter mit Motivations- und Ermahnungs-Sprüchen, die aus einem Volkseigenen Betrieb der DDR stammen könnten. Heute früh hatte jemand kleine Botschaften daran gebappt:


„Wir sind ein HR“ — „WIR AUCH! Die freien Mitarbeiter. Rettet das Programm“


„Wir verwenden die Mittel verantwortungsbewusst und wirtschaftlich“ — „…aber NICHT transparent!!! Wo gehen die 485 Mio pro Jahr genau hin? Rettet das Programm“