Bei Hans Meiser war noch alles echt

RTL-Rentner Hans Meiser schreibt ein Buch, „über die Geschichte des Fernsehens — wie es hätte sein sollen und was daraus geworden ist.“ Schöne Sache. Ich bin mir nur nicht sicher, ob seine größte Stärke ist, Soll und Ist voneinander zu unterscheiden.

Der Nachrichtenagentur dpa sagte Meiser jetzt über seine frühere Talkshow:

Rückblickend sei (…) auch bei „Hans Meiser“ nicht alles optimal gewesen: „Natürlich schäme ich mich für die ein oder andere Sendung, einige würde ich heute nicht mehr machen.“ Aber: „Keiner meiner Gäste war gefaked.“

Bis auf die in den Fake-Sendungen, meint er vermutlich.

[via turi2]

Ein Medienporno

Das ist der Stoff, aus dem heute Medienaufreger sind: Vor vier Wochen ist in einem Filmbericht im Regionalfernsehen des Saarländischen Rundfunks für drei Sekunden klein der Name einer Pornoseite zu lesen gewesen. Auf einem Reiter („Tab“) im Browser konnte man sehen, dass sie hinter der gezeigten Seite des Lebensmittelhändlers Rewe aufgerufen war.

„Sauereien auf Gebührenkosten“, nennt Holger Kreymeier das in der aktuellen Ausgabe seines Magazins fernsehkritik.tv. „Die Sau hat nebenbei auf […] herumgesurft. Unglaublich!“

Der österreichische „Standard“ behauptet:

Ein Redakteur des Saarländischen Rundfunks (SR) wurde nun dabei ertappt, dass er sich während der Arbeitszeit Schmuddelfilme ansieht.

Der Branchendienst „kress“ berichtet unter der Überschrift:

Auf […] erwischt:
 SR-Bericht zeigt Journalisten bei der Arbeit

Der Artikel beginnt sarkastisch:

Es war bestimmt die Recherche im Internet-Porno-Milieu, die hinter dem frivolen Browser-Tab […] steckt.

Auch „Meedia“ hat die Story abaufgeschrieben. Hier steht sie mit dem schönen Satz:

Wozu der Journalist eines öffentlich-rechtlichen Senders während der Arbeitszeit auf einer Webseite für Pornovideos surfte — unklar.

(Felix Schwenzel hält die bescheuerte Ausdrucksweise für eine Marotte der „Meedia“-Konkurrenz „turi2“, aber in Wahrheit ist sie erstens ursprünglich von Kress.de und zweitens von begrüßenswerter Halbehrlichkeit. Noch transparenter wäre es natürlich, wenn „Meedia“ statt „— unklar“ schreiben würde: „wissen wir nicht“, „stand da nicht“, „uns doch egal“, oder, wenn es unbedingt eine Ellipse sein soll: „— unrecherchiert“.)

Jedenfalls: Wenn „Meedia“ die Frage, wozu der Journalist auf einer Porno-Website surfte, nicht bloß in den Artikel geschrieben, sondern dem SR gestellt hätte, hätte die Antwort wie folgt gelautet:

Der Bericht dreht sich um den Hacker-Angriff auf eine REWE-Datenbank. Dort hatten sich überwiegend Kinder und Jugendliche angemeldet, um Tiersticker zu tauschen. Durch den Angriff besteht nach unseren Recherchen die große Gefahr, dass die betroffenen Kinder verstärkt mit Spam- und Phishingmails bombardiert werden, unter anderem auch mit pornographischen Angeboten.

Mehrere dieser „Angebote“ wurden vom Kamerateam abgefilmt. Im endgültigen Schnitt hat sich der Autor aber dafür entschieden, diese Bilder nicht im Vorabendprogramm zu zeigen — auch nicht elektronisch verfremdet.

So erklärt sich der bildliche Zusammenhang zwischen der REWE-Datenbank und dem winzigen Tab zu einer Pornoseite. (…)

Das Schlimmste, das man dem SR und seinem Autor vorwerfen kann, ist also, versehentlich den Namen einer aus beruflichen Gründen besuchten Pornoseite öffentlich gemacht zu haben. Im Filmbericht war er, wie gesagt, rund drei Sekunden klein zu sehen. Kress.de nennt ihn mitsamt dessen Slogan werbewirksam in der Schlagzeile, „Meedia“ im Vorspann.

Kress.de hat allerdings immerhin die Erklärung des Saarländischen Rundfunks nachgetragen (und dabei unauffällig auch die Überschrift geändert). Bei „Meedia“ und dem „Standard“ stehen weiter die skandalisierenden Original-Versionen. Bestimmt fehlt den Mitarbeitern dort die Zeit zur Korrektur, weil sie schon die nächste geile Geschichte, äh, recherchieren.

Ernie & Bert

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Die dümmste Antwort kommt ausgerechnet von Steve Whitmire, der nach dem Tod von Jim Henson Kermit den Frosch und Ernie spielte. Auf die Frage, ob Ernie und Bert schwul seien, sagte er: „Es sind Puppen. Sie existieren nicht unterhalb der Hüfte.“ Als ob sexuelle Identität eine Frage des Unterleibs wäre.

Früher war es die fundamentalistische Rechte, wie der amerikanische Pfarer Joseph Chambers, der in den beiden „Sesamstraßen“-Figuren subversive Propaganda für homosexuelle Lebensgemeinschaften sah. Aktuell ist es die Linke, die fordert, dass Ernie und Bert endlich ihr Coming Out haben und heiraten müssten. Die Antwort der Macher ist seit Jahren dieselbe: Ernie und Bert existierten bloß, um Vorschülern zu verdeutlichen, dass auch sehr unterschiedliche Charaktere Freunde sein könnten. Muppets hätten keine Sexualität.

Dabei gibt es durchaus vereinzelte, offen heterosexuelle Muppet-Paare: Oskar und Graf Zahl zum Beispiel haben — selten gesehene — Freundinnen. (Und in einem legendären „Sesamstraßen“-Special verspeist das Krümelmonster eine höchst aufreizende Julie Andrews — oder jedenfalls ihren Schmuck und ihre Schuhe.) Die Frage ist nicht ganz abwegig, ob die „Sesamstraßen“-Welt wirklich eine Welt ohne Sexualität ist — oder nicht doch eine nur ohne Homosexualität. Ist das Verhältnis von Ernie und Bert womöglich Ausdruck der „Don’t Ask Don’t Tell“-Ideologie — dass Schwulsein okay ist, solange man nicht darüber redet? Und würden zwei männliche (oder weibliche) Puppen, die einfach ganz selbstverständlich ein Paar sind, nicht Normalität reflektieren und demonstrieren?

Es geht eigentlich um zwei verschiedene Fragen: Dürfen Ernie und Bert schwul sein? Und: Müssen Ernie und Bert schwul sein? Die liberale amerikanische Journalistin Alyssa Rosenberg argumentiert zu recht, dass der Gedanke, dass ein Mann, der mit einem Mann zusammenlebt oder eine enge Freundschaft führt, schwul sein müsse, weder für schwule noch für heterosexuelle Männer hilfreich ist.

In der zweiten Folge der „Muppet Show“ vom 28. Februar 1976 gibt es übrigens einen großen romantischen Auftritt von Bert mit der Schauspielerin Connie Stevens, mit der er „Some Enchanted Evening“ in einer Weise singt, die alle Zweifel an seiner Heterosexualität beseitigen sollte. Das nette schwule „Sesamstraßen“-Paar müssten also dann doch andere sein als die Gay Icons Ernie und Bert.

Börsenturbulenzen: Geht jetzt die Welt unter? Oder doch nur der ARD-„Brennpunkt“?

Man kann nur hoffen, dass die Berichterstattung über die Apokalypse bei der ARD nicht in die Zuständigkeit des Hessischen Rundfunks fällt. Allein der Gedanke, dass Chefredakteur Alois Theisen es sich natürlich nicht nehmen lassen würde, die Welt persönlich armerudernd abzumoderieren, sich dabei vollständig auf die Kompetenz eines einzigen Reiter-Experten verlassen müsste, der dann aber aufgrund anderweitiger Verpflichtungen doch nicht ins Studio käme, so dass der entsprechende „Brennpunkt“ ohne jede Gewissheit endete, ob sich der Kauf eines Apfelbäumchens lohnt oder ein Paar Gummistiefel reicht…

Am Montag sind, wie erwartet, die Kurse an den Börsen eingebrochen. Die ARD nahm deshalb nach der „Tagesschau“ einen viertelstündigen „Brennpunkt“ mit dem Titel „Turbulenzen an den Finanzmärkten“ ins Programm, der damit endete, dass Alois Theisen noch einmal konkret zusammenfasste, welche Fragen von dieser Sondersendung nicht beantwortet wurden:

„Wie wirkt sich das auf die Betriebe aus, der Kurssturz?

Was bedeutet das für unsere Arbeitsplätze?

Kommt jetzt die ganz große Krise der Weltwirtschaft?

Bricht vielleicht am Ende das Weltwirtschaftssystem zusammen?“

Die Antworten, sagte Theisen und entschuldigte sich dafür, musste sein „Brennpunkt“ den Zuschauern schuldig bleiben.

Die einzige Frage, die die Sendung tatsächlich beantwortete, lautete: Kommt Thomas Mayer, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, der von der Redaktion offenbar mangels eigener Fachkenntnisse auserkoren war, all diese Fragen zu beantworten, noch im Laufe der Sendung zu Theisen ins Studio?

Die Antwort: Er kam nicht.

Der „Brennpunkt“ hatte mit einem Filmbericht begonnen, in dem ein Frankfurter Börsenmakler die Kurve des Dax in verschiedene Metaphern übersetzte. „Ich bin seit heute Anhänger von Sebastian Kneipp „, begann er, „Wechselbäder kalt und warm.“ (Lacher, Beifall oder ein närrisches Tätää wurden nicht eingespielt.) Der Mann fügte hinzu: „Es begann sehr positiv, weiß, dann wird es etwas schwieriger in den Märkten, grau, und zum Schluss muss man sagen, ist es dann doch noch ein schwarzer Montag geworden.“ Schön, dass einem endlich mal jemand diese komplexe Farbenmetaphorik erklärt hat.

Der Bericht endete mit einer Art Entwarnung. Der Sprecher sagte: „Es gilt die alte Börsenweisheit: Der Bulle schlägt den Bär – auf lange Sicht geht’s wieder nach oben.“

Im Anschluss setzte sich Alois Theisen ans Steuer des auf Hochtouren laufenden mobilen Bildergenerators: „Die Krise kam nicht mit einem großen Knall. Sie schleicht auf leisen Sohlen.“ Dann erklärte er, dass die negative Kursentwicklung eigentlich gar nicht der Lage der brummenden deutschen Wirtschaft und insbesondere der Automobilindustrie entspreche („Die Auftragsbücher sind voll“).

Es hätte ein Film darüber folgen sollen. Aber er kam nicht. Nach einigen Sekunden sagte Theisen:

„So, und der Beitrag liegt noch nicht vor. Es ist heute ganz hektisch. Unser Gesprächspartner, den wir hier im Studio haben wollten, den Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer, ist auch noch nicht eingetroffen. Das ist Wahrscheinlich den Aufgeregtheiten, Nervositäten des Tages geschuldet. Wir hoffen noch.“

Zum Glück saß in New York schon die Korrespondentin Anja Bröker im ARD-Studio bereit, die Theisen körpersprachlich engagiert fragte, ob der Dow Jones immer noch weiter nach unten rutsche oder es ein Halten gebe. Sie hatte keinelei Hoffnung.

Nun wieder Theisen:

„Ja, und äh, was sagen denn die Fachleute an der New Yorker Börser, ist jetzt sozusagen die Schuldenkrise der Staaten, ist die jetzt in der realen Wirtschaft angekommen? Hat sich die Wirtschaft mit dem Bazillus infiziert?“

Das ist mal ein originelles Bild, das vielleicht ein klitzekleines Bisschen darunter leidet, dass die die, äh, Erkältung der Staaten nicht zuletzt daher rührt, dass sie so aufopferungsvoll alles dafür getan haben, die schwer verkühlte Wirtschaft dick einzupacken, und dafür die eigenen Mäntel und Schals opferte.

(Frau Bröker wies Herrn Theisen geduldig darauf hin, dass es der amerikanischen Wirtschaft sehr schlecht geht und sie sich nur extrem langsam erholt.)

In der Zwischenzeit war offenbar der Beitrag über die deutsche Wirtschaft fertiggeworden, und Theisen unterstrich deren „Brummen“ noch einmal mit einer Beckerschen Doppelfaust. Wort- und zahlenreich beschrieb der Film, wie unfassbar blendend es der deutschen Autoindustrie gehe und wie ungerecht es angesichts dessen sei, dass gerade deren Unternehmen besonders stark an der Börse verlören.

Zurück zu Alois Theisen:

„Ja, ist das alls nur Panik? Hat es mir der Wirklichkeit nichts mehr zu tun? Das würde ich jetzt gerne fragen Thomas Mayer, den Chefvolkswirt der deutschen Bank, der eigentlich zugesagt hatte, heute Abend hier bei uns zu sein. Noch ist er nicht eingetroffen. Vielleicht es ein Stau. Wir hoffen noch.“

Stattdessen erinnerte er die Zuschauer an den Beginn der Krise, den „verschleierten Bankrott“ Griechenlandes und die Politiker, die durch „Zaudern, Zögern und einen wirren Zickzack-Kurs“ in den Augen vieler Menschen zu „Versagern“ geworden seien. Immerhin habe sich die Krise um den Euro und die Staatsanleihen der hochverschuldeten europäischen Länder dank des Einschreitens der Europäischen Zentralbank nicht weiter verschärft, sagte Theisen, ein „kleiner Lichtblick an einem trüben Tag“ – und eine weitere Metapher im Bild:

„Sind es nur Kratzer an der Oberfläche? Oder ist der Euro auch in seinem Kern beschädigt?“

Zurück zu Theisen:

„Ja, ist das heute die Trendwende in der Schuldenkrise oder nur eine Atempause? (…) Die Märkte haben trotz des Lichtblicks bei den Staatsanleihen die Aktien weiter auf Talfahrt geschickt. Glauben sie den Politikern nicht mehr?“

Thomas Mayer, der all das hätte beantworten sollen, war immer noch nicht im Studio aufgetaucht, aber irgendjemand hatte nun offensichtlich entschieden, dass er es vermutlich in den restlichen fünf Minuten Sendezeit auch nicht mehr tun würde, und so zeigte der „Brennpunkt“ zwei Sätze, die Mayer vorher schon zum Thema in die Kameras des HR gesagt hatte.

Darauf Theisen:

„Ja, leider müssen wir ihnen weitere Antworten von Thomas Mayer schuldig bleiben. Er ist weiter nicht eingetroffen neben mir.“

Und so musste Frau Bröker in New York nochmal ran und wurde von Theisen einfach nochmal dasselbe gefragt:

„Was sagen denn die Experten an der Börse? Rutscht es heute noch weiter ab? Oder kann man davon sagen, die Börse in New York hat sich gefangen? Die Kurse geben nicht weiter nach? Haben wir am Ende des Tages vielleicht einen kleinen Lichtblick?“

Frau Bröker hatte auch jetzt keine aufmunterndere Antwort als fünf Minuten zuvor. Und so verabschiedete sich Theisen mit der oben zitierten Aufzählung sämtlicher Fragen, die dieser „Brennpunkt“ offen lassen musste, weil der einige Mensch auf der Welt, der sie nach Ansicht des Hessischen Rundfunks hätte beantworten können, nicht ins Studio gekommen war. Und fast möchte man diese Art von Journalismus loben, der nicht vorgibt, Antworten zu kennen. Aber es wäre doch schön gewesen, sich wenigstens mit den Fragen beschäftigt zu haben.

Das „Eigentor“ der ARD

Eigentlich produziert die ARD genug echte Skandale — man müsste ihr nicht noch zusätzliche Aufreger unterschieben. Aber wer will schon zurückstehen, wenn es so leicht scheint, einen Skandal zu erfinden, der all die Zutaten enthält, die dieser Tage das Blut des interessierten Publikums und besonders der unermüdlichen anti-öffentlich-rechtlichen Lobby in Wallung bringen.

Auslöser war unwahrscheinlicherweise ein Artikel in der „Financial Times Deutschland“ vom vergangenen Donnerstag, der eigentlich nur noch einmal all das aufwärmte, was zum Streit um Digitalkanäle und Smartphone-Anwendungen längst bekannt war, und mit ein bisschen Alarmismus („Es geht um die Zukunft der Medienbranche“) würzte. Darin standen die Sätze:

Die Öffentlich-Rechtlichen dagegen haben ihre sicheren Einnahmen. Und werden in diesem Jahr ihre Internetinvestitionen in etwa verdoppeln.

Das ist natürlich falsch. Die ARD will in diesem Jahr 113,9 Millionen Euro für Telemedien ausgeben — gegenüber 109,9 Millionen 2010. Beim ZDF ist ein Anstieg von 38,8 Millionen Euro auf 40,6 Millionen Euro geplant.

Was die FTD vermutlich meint: Der Gesamtaufwand für Online ist in der Gebührenperiode von 2009 bis 2013 ist mehr als doppelt so hoch wie in den vier Jahren zuvor. Das liegt aber zu einem großen Teil daran, dass die Systematik geändert wurde, welche Ausgaben der öffentlich-rechtlichen Sender dem Internet zugeordnet werden.

Die ARD hat in einer Stellungnahme auf den Fehler hingewiesen. Der Medienaggregator turi2 macht daraus nun einen Skandal und ein „Eigentor“. Die ARD habe:

mit ihrem Dementi bestätigt, was Insider schon lange vermutet hatten: Dass die ARD ihre Web-Investitionen jahrelang kleingerechnet hat.

Ich nehme mal an, dass Peter Turi sich diese „Insider“ der Einfachheit halber ausgedacht hat. Denn jeder Interessierte konnte die Zahlen und die Änderung der Systematik, die die ARD vermeintlich jetzt „bestätigt“ hat, immer schon öffentlich nachlesen.

Im 17. Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der öffentlich-rechtlichen Sender KEF heißt es:

In den Telemedienkonzepten weisen die Anstalten darauf hin, dass den Meldungen des Aufwands eine neue, gegenüber dem letzten KEF-Bericht deutlich erweiterte Systematik zugrunde liegt. Die Beträge seien deshalb mit den Zahlen in früheren Berichten der Kommission nicht mehr vergleichbar. Durch die neue Systematik soll der Aufwand für Telemedien vollständig erfasst werden.

Dieser Bericht stammt aus dem Dezember 2009. Nun kann man es tatsächlich problematisch finden, dass ARD und ZDF in den Jahren zuvor viele Ausgaben, die ihre Online-Aktivitäten betrafen, nicht in ihre Internet-Etats einberechnet hatten. Die Öffentlich-Rechtlichen hatten ein Interesse daran, diese Etats möglichst kleinzurechnen, weil damals noch Selbstverpflichtungen galten, die die Ausgaben deckeln sollten.

Nichts an dieser Tatsache ist aber neu oder bislang nur von „Insidern“ „vermutet“ worden. Es war, im Gegenteil, detailliert bekannt, wie ARD und ZDF vorgegangen sind. So berichtete etwa die „Zeit“ am 22. November 2007 unter der Überschrift:

ARD und ZDF geben offenbar mehr für ihre Online-Angebote aus als versprochen — die private Konkurrenz schäumt.

Nicht nur die privaten Fernsehsender protestierten damals; auch die KEF war damit nicht einverstanden, wie ARD und ZDF Posten aus den Internet-Etats (teils mit besseren, teils mit schlechteren Argumenten) herausrechneten. Umstritten war zum Beispiel etwas, das den schönen Namen „Überwiegenheitsprinzip“ trug: Die ARD rechnete nur solche Kosten als Internet-Kosten, wenn sie überwiegend für das Internet entstanden sind.

So entstehen Branchennachrichten und Kampagnenstoff im Sommer 2011: Die „FTD“ macht einen Fehler; turi2 entdeckt einen Skandal aus dem Jahr 2007 als neu; „Meedia“, das nicht Abschreibedienst genannt werden will, schreibt ab: „ARD machte falsche Angaben zu Online-Investitionen“.

Und der einschlägig bekannte Ekkehard Kern nutzt es als Munition für die Springer-Propaganda gegen die Öffentlich-Rechtlichen und fragt in der „Berliner Morgenpost“ treuherzig: „Hat die ARD ihre Onlineausgaben kleingerechnet?“

Man könnte sich jetzt noch streiten, ob der Versuch der ARD, die Behauptung der FTD richtigzustellen, tatsächlich, wie Turi behauptet, ein „Eigentor“ war. Oder ob die scheinbaren Schiedsrichter nur, aus Ignoranz oder Eigeninteresse, fälschlicherweise behaupten, dass da ein Ball eine Linie überquert habe. Das Ergebnis ist natürlich leider dasselbe.

Interkonfessionelle Metheologie


Foto: icelight (Lizenz)

Diese beiden Jungs posieren für ein Meteoritenbild. Mithilfe solcher Aufnahmen sagen Meteorologen — daher der Name — das Wetter voraus, allerdings — wen wundert’s — nicht besonders gut.

Ich weiß das aus dem Online-Angebot der „Welt“, das am Donnerstag vergangener Woche berichtete:

Das steht in einem Text über die angeblichen Probleme Jörg Kachelmanns, mit seiner Firma Meteomedia auch in Zukunft Wettervorhersagen fürs Erste Programm machen zu dürfen. Der Kern des hanebüchenen Artikelimitats in drei Original-Metaphern: „Es braut sich was zusammen im Wetterfernsehen“, „schon wittert man im DWD Morgenluft“, „Jörg Kachelmann muss sich warm anziehen.“

Ich habe die Kollegin, von der das Stück stammt, schon länger im Verdacht, unter dem Deckmantel freier journalistischer Arbeit einen groß angelegten Feldversuch zu machen, ob man deutschen Online- und Print-Medien eigentlich alles andrehen kann. Vorläufige Antwort: Ja.

Der Online-Auftritt der „Berliner Morgenpost“ hat die Sache mit den „Meteoritenbildern“ jedenfalls ebenfalls gekauft:

Der Bremer „Weser Kurier“ auch:

Und schließlich gestern der „Kölner Stadt-Anzeiger“ in Print und online ebenso:

Immerhin schenkten die beiden Letztgenannten den „Meteologen“ ein „ro“ und korrigierten diverse Flüchtigkeitsfehler.

Überhaupt täuscht der Eindruck, dass solche Texte völlig unbesehen in die deutschen Qualitätsmedien gelangen. Bei „Welt Online“ zum Beispiel wurde nachträglich der Name des zitierten Sprechers des Hessischen Rundfunks korrigiert, der „Häuser“ heißt, nicht „Häusler“.

Und beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ muss jemandem die verwirrende Behauptung des Originaltextes aufgefallen sein, wonach das Geschäftsmodell, den Wetterbericht vor acht von einem Sponsoren präsentieren zu lassen, vom neuen Rundfunkstaatsvertrag bedroht werde, der Sponsoring nach acht verbietet. Doch das ließ sich ja leicht korrigieren. Nun heißt es in der Kölner Version des Artikels: „Ab 2013 wird Sponsoring bis 20 Uhr verboten“.

Das ist zwar falsch, rettet aber die innere Logik des Textes, und das ist doch was.

„Akte“ deckt auf: Alle iPads kaputt

Ich mag den Gedanken, dass Mathias Döpfner Schuld daran sein könnte, dass die Menschen massenhaft ihre iPads zurückgeben. Voraussetzung dafür wäre aber, dass die Masse der Menschen sich nur ein iPad kauft, um darauf Bild.de zu lesen, was nicht das einzige Unwahrscheinliche an der folgenden Geschichte ist.

Die Sat.1-Servicejournalisten von „Akte 20.11“ haben am Dienstag einfach mal getestet, ob Verkäufer sich wehren, wenn Kunden auf ihren Rechten bestehen und zum Beispiel das Pfand auf verbeulten Bierdosen zurückfordern, einen drei Jahre alten Parfümerie-Gutschein einlösen wollen oder ihr iPad zurückgeben, weil darauf das kostenlose Online-Angebot der „Bild“-Zeitung nicht läuft.

Das letzte betrifft eine Linda, die sich, wie der Sprecher sagt, vor zwei Monaten ein iPad gekauft hat und jetzt gerne ihre Lieblingsseite Bild.de damit aufrufen würde:

„Doch die Seite ist auf diesem Gerät gesperrt. Stattdessen soll sie ein Zusatzprogramm für 12,99 Euro im Monat kaufen. Auf den Geräten der Konkurrenz ist die gewünschte Seite jedoch problemlos und kostenfrei zu erreichen. Linda ärgert sich über das neue Gerät und will es nun nicht mehr.“

Nun würden mir an dieser Stelle viele Dinge einfallen, die ich dieser Linda sagen würde, aber die „Akte“-Leute haben leider nur einen Anwalt gefragt, der ihr und uns erklärt, dass das ihr gutes Recht sei:

„Juristisch geht es nicht in Ordnung, dass ein Gerät das nicht kann, wofür es verkauft worden ist, zum Beispiel im Internet surfen. Alle anderen Geräte am Markt erlauben es, nur dieses Gerät nicht. Und man ist vorher als Kunde nicht darauf hingewiesen worden. Hier wird etwas kostenpflichtig verkauft, was man vorher nicht wusste.“

Entsprechend ermutigt nimmt der freundliche „Akte“-Reporter Sache und iPad in die Hand und reklamiert das Gerät im Laden mit den schönen Worten:

„Ich hab einen Tablet-PC gekauft und der geht nicht richtig.“

Die Erwiderung der Verkäuferin — „Ist aber nicht ein Fehler von uns.“ — lässt den „Akte“-Mann mit der versteckten Kamera unbeeindruckt: „Aber die Seite geht nicht!“

Es folgt meine Lieblingsstelle im ganzen Beitrag:

Verkäufer: Wenn Sie die App kaufen, geht die Seite wieder.
Kunde: Ich kauf doch nicht ’ne App! Das steht ja auch nicht auf dem Karton.

(Nur falls Sie sich fragen, ob irgendjemand an irgendeiner Stelle in dieser Fernsehsendung erwähnt, dass es nicht der Gerätehersteller Apple, sondern der Lieblingsseitenanbieter Bild.de selbst ist, der auf diesem exklusiven Gerät den sonst überall vorgehaltenen kostenfreien Zugang zum Angebot gesperrt hat: Nein.)

Die Verkäuferin bietet dann tatsächlich an, das unbrauchbare iPad zurückzunehmen, allerdings vermutlich eher aus Kulanz und um nicht unnötig zu testen, wozu Leute noch alles fähig sind, die sich ein iPad kaufen, um darauf kostenlos Bild.de zu lesen.

„Akte“ aber behauptet, dass es sogar einen Rechtsanspruch auf die Rückgabe gab, denn:

(Ein bisschen verwirrend ist, dass sich im nächsten Beispiel im „Akte“-Beitrag herausstellt, dass man einen Mobilfunkvertrag nicht stornieren kann, wenn man in der eigenen Wohnung keinen Empfang hat, denn da hätte man sich schon vorher informieren müssen. Aber das ist vermutlich etwas anderes, bei Mobiltelefonen gibt es ja auch nicht diese Gratiskultur.)

Der „Akte“-Beitrag kommt aus einem Bereich des Blöden, in dem die Beklopptheit so groß ist, dass sie an Genialität grenzt, und der genaue Grenzverlauf unklar ist.

Was für ein toller Gedanke, dass Springer das schöne iPad durch die Sperrung von Bild.de und damit verbundene Zwangsumleitung zur kostenpflichtigen App quasi mutwillig zerstört hat. Nach dieser Logik könnte ich Computer bestimmter Art kaputt machen, indem ich den Zugang von solchen Rechnern auf mein Blog blockiere — technisch ein Klacks. Andererseits müsste Springer nur den freien Bild.de-Zugriff auch auf anderen Tablet-Computern sperren (vermutlich eh nur eine Frage der Zeit), und die ganze Alle-anderen-Geräte-können-das-Argumentation fiele in sich zusammen.

Aber vielleicht könnte man auch den schönen Gedanken „Das steht ja nicht auf dem Karton!“ aufnehmen und iPads in Zukunft ausschließlich mit bunten Bapperln verkaufen: „Garantiert ohne Bild.de im Browser!“. Muss ja nicht verkaufsschädigend sein.

[entdeckt und eingesandt von Andre S.]

Jörg-Olaf Schäfers

Er hat mich nach Paderborn gebracht und ich ihn in die „Sonntagszeitung“.

Erstaunlicherweise war das erste die viel schwerere Geburt, weil ich die Antwort auf die Terminanfrage, einen Vortrag an seiner Uni zu halten, wie üblich und trotz großer Sympathie ewig verschleppt hatte, weshalb er mir dann Mails mit Betreffzeilen wie „Weihnachtspferd, trojanisches“ schickte:

gerade die unglaubliche geniale Idee gehabt, meine Weihnachtsgrüße mit der Nachfrage zu verbinden, ob wg. unten alles klar geht.

Der Weg zum FAS-Kolumnisten war dagegen ein leichter — der „Geld & Mehr“-Teil suchte Ende 2006 jemanden, der über das Internet schreibt; von meiner spontanen Empfehlung bis zu seiner ersten „Notizblog“-Kolumne verging nicht einmal ein Monat. Umso mehr hat mich gefreut, dass daraus eine feste Institution wurde.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich auf ihn aufmerksam wurde. Es müsste entweder über „Medienrauschen“ gewesen sein oder über seine eigene Seite YAMB (Yet Another Media Blog), die er leider später plötzlich löschte. Ich weiß nur noch, dass ich mochte, wie er schrieb, und uns eine Abneigung verband gegen die Leute von „Politically Incorrect“ und den Mann, der sich „Don Alphonso“ nannte.

Später wandte er sich dann relevanteren Themen zu und kümmerte sich auf netzpolitik.org um, nun ja: Netzpolitik. Torsten Kleinz schreibt über ihn:

Wenn er ein Ziel auserkoren hatte, war er durch fast nichts zu stoppen. Er sammelte Informationen, dokumentierte und rief zur Aktivität auf. Doch so aktiv wie er konnte kaum jemand anderes sein. Er beließ es nicht dabei, sich lauthals zu beschweren und Verschwörung zu rufen, sondern arbeitete sich in komplizierte Materie ein, sichtete Sitzungsprotokolle, telefonierte mit Verantwortlichen und warb für seine Ziele. Für unsere Ziele.

Torsten schreibt: „Immer war ein Chat-Fenster auf, in dem wir uns austauschen konnten“, das habe ich auch so erlebt. Und Alvar Freude fügt hinzu:

Man konnte ihm nachts um 4 Uhr Fragen stellen, zu deren Beantwortung andere noch nicht einmal tagsüber in der Lage waren. Wenn man ein Sitzungsprotokoll oder einen Mitschnitt brauchte – flugs stellte er die gewünschte Datei auf seinem Server bereit. Ruckzuck holte er alte Artikel oder Hintergrundinformationen aus seinem Archiv oder den Untiefen des Internets.

Mich versorgte er naturgemäß weniger mit Sitzungsprotokollen als mit sachdienlichen Hinweisen und mit Empfehlungen für Sonntagsflausch. Manchmal hat er sogar alle Kommentare unter Blogeinträgen hier gelesen, und als ich mein Unverständnis darüber äußerte, antwortete er:

Andere fahren mit dem Bus oder lassen sich von älteren Frauen in Leder auspeitschen. Ich schaffe es meinen Hass durch das Lesen von Blogkommentaren zu kanalisieren.

Ich ahne, dass es auf viele Leute merkwürdig wirken mag, jemandem anhand alter Chatprotokolle zu gedenken. Aber das hier ist der Olaf, den ich kannte und in Erinnerung behalten werde:

13:15:47 ix: Ha!
13:19:57 Stefan Niggemeier: ha?
13:20:07 ix: Nun!
13:20:29 ix: Ich suche spontan jemand, der mir die Titelseite der Bild von heute abknippsen könnte.
13:20:39 ix: Und dann ist mir aufgefallen, dass ich keine Bild-Leser kenne.
13:20:59 ix: Und kurz darauf, dass ich keine Hose anhabe, also nicht zum Kiosk fahren kann.

Oder das hier:

01:13:09 ix: Kannst du mir kurz einen Gefallen tun und: „Olaf, lass dich nicht von deinen dunklen Instinkten leiten und kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram“ hier in das Fenster tippen (Kopieren geht auch…). Danke.
01:14:03 Stefan Niggemeier: Olaf, höre auf deine dunklen Instinkte und verzettel dich gründlich mit….
01:14:07 Stefan Niggemeier: Moment, wie war der Satz?
01:14:13 ix: *seufz* ,)
01:14:41 Stefan Niggemeier: wer ist denn dein, äh, opfer?
01:15:07 ix: Ein gemeinsamer, äh, Freund.
01:15:23 ix: Ich hatte vorhin nochmal über Fonsis Besinnungsaufsätze in Blogform nachgedacht.
01:15:57 Stefan Niggemeier: warum?!
01:16:05 Stefan Niggemeier: (im sinne von: WARUM???)
01:17:26 ix: Ich bin ein naiver Idealist. Die Diskrepanz zwischen den Tiraden an der Blogbar und dem realweltlichen Ergebnis macht mir Bauchweh.
01:18:23 Stefan Niggemeier: verstehe.
01:18:35 Stefan Niggemeier: andererseits: Olaf, lass dich nicht von deinen dunklen Instinkten leiten und kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram
01:18:44 ix: Danke.

Wie Netzpolitik berichtet, ist Jörg-Olaf Schäfers, „ix“, gestorben. Ich werde ihn, seinen Humor und sein offenes Chat-Fenster vermissen.

So sieht die Welt ohne Will aus

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wenn die Leute und die Talkshows im Urlaub sind, entspannt sich das Fernsehen. Dann schaffen es auch mal schwerere Stoffe ins Programm. Ein Lob der Sommerpause.

Es sind dann, trotz des Dramas in Norwegen, keine Forderungen laut geworden, dass Frank Plasberg oder Maybrit Illner ihre Sommerpausen unterbrechen und Sonderausgaben ihrer Talkshows einberufen. Dabei ist gerade so eine Rückrufaktion — jedenfalls in der Politik — ein sehr starkes Symbol, das gleichzeitig den Ernst der Lage und die Bereitschaft zum Handeln suggeriert. Aber ganz so groß scheint das Bedürfnis der deutschen Gesellschaft nicht gewesen zu sein, sich das Grauen in einer gemeinsamen Talkrunde von Arnulf Baring, Hajo Schumacher oder Wencke Myhre erklären zu lassen.

Und, offen gestanden, haben ja die anderen Medien eine mögliche Unterversorgung mit reflexartigen Thesen und vorhersagbaren Grabenkämpfen ganz gut ausgeglichen. Aber ist es nicht erstaunlich, wie wenig diese Möbelstücke des deutschen Fernsehens fehlen, wenn sie nicht da sind?

Es ist Sommerpause, und selten war der Begriff irreführender als heute. Womöglich wird die „Bild“- Zeitung sogar die diesjährige Wiederholung ihres Evergreens „Im Fernsehen laufen nur noch Wiederholungen“ ausfallen lassen. Denn in Wahrheit ist der Sommer, wenn all die Talkshows pausieren, eine Zeit geworden, die eine Ahnung davon gibt, wie aufregend und relevant öffentlich-rechtliches Fernsehen sein könnte. Zu keiner anderen Jahreszeit kann es einem so leicht passieren, noch vor Mitternacht auf eine aktuelle, sehenswerte Dokumentation oder einen besonderen Film zu stoßen.

Am vergangenen Mittwoch zum Beispiel gaben Jo Goll und Matthias Deiß den Zuschauern einen Einblick in die Gedankenwelt, die den Berliner Kurden Ayhan Sürücü dazu brachte, seine Schwester Hatun umzubringen, weil sie durch ihren Lebenswandel die „Ehre“ seiner Familie verletzt habe.

Die Dokumentarfilmer von „Verlorene Ehre“ haben den Täter im Gefängnis getroffen, und es war schockierend, wie normal dieser junge Mann wirkte, wie wenig er von einer Bestie hatte, wie plausibel seine Beteuerung war, dass er ja niemanden außerhalb des Weltbildes seiner Familie hatte, an den er sich hätte wenden können, und wie tief trotzdem der Glaube in ihm verwurzelt scheint, dass es nicht ganz ungerecht war, was er da getan hat. Es ist ein Film, der viel erklärt, aber noch mehr ratlos macht, und es ist natürlich banal, hinzuzufügen, dass keine Talkshow zum Thema „Ehrenmord“ diese Nähe und Tiefe, Anschaulichkeit und Intensität erreichen könnte.

Außerhalb des Sommers sind solche Schätze in die Spartenprogramme oder in die Nacht verbannt. Dabei macht gerade am späteren Abend die Anfangszeit viel aus. Niemand weiß das besser als die ARD, die ihre „Tagesthemen“ vor einigen Jahren auch deshalb in einem eigentlich übertrieben wirkenden Kraftakt um eine Viertelstunde auf 22.15 Uhr vorgezogen hat. Die Fernsehnutzung steigt im Verlauf des Abends allmählich an, bis sie um kurz nach neun ihren Höhepunkt erreicht: Knapp 45 Prozent der Menschen schauen jetzt fern. Nach 22 Uhr fällt die Kurve steil ab: innerhalb einer Stunde von 40 Prozent auf 25; um Mitternacht sind es nur noch rund 15 Prozent.

Wer weiß, wie viel Zuschauer mehr man für die leise, unspektakuläre und dadurch sehr bewegende Reportage „Die letzte Loveparade“ vor zwei Wochen hätte gewinnen können, wenn sie nicht erst weit nach Mitternacht geendet hätte. So waren es nur 600 000. „Die verlorene Ehre der Hatun Sürücü“ begann immerhin um 23 Uhr und fand ein Publikum von 1,6 Millionen Zuschauern. Auch Filme, die sperriger sind, haben um diese Zeit die Chance, dass die Menschen vor den Fernsehern noch nicht ganz weggedöst sind. Lutz Hachmeisters anderthalbstündige Collage mit Einblicken in die SPD am Tag zuvor sahen 880 000 Menschen.

Im ZDF blockiert sonst „Markus Lanz“ regelmäßig die Sendeplätze, zu denen man Stoffe senden könnte, die sich vielleicht um 20.15 Uhr schwer täten, aber mehr Zuschauer verdient haben, als es in den Nischen und nachts gibt. Leider wiederholt der Sender stattdessen „Lanz kocht“, zeigt aber auch eine zweiteilige Dokumentation von Sandra Maischberger über den Nato-Doppelbeschluss vor dreißig Jahren: „Pershing statt Petting“.

Jetzt schafft es sogar die Reportagereihe „ARD-exklusiv“, die früher einen festen Platz am Hauptabend hatte, bis sie der Wiederholung des „Tatorts“ weichen musste, wieder ins Bewusstsein der Zuschauer. Sie ist der Lückenfüller, wenn „Hart aber fair“ pausiert, und beginnt am Mittwoch um 21.45 Uh r ihre „Sommerstaffel“ mit einem Bericht über „das Hermes-Prinzip“. Während Michael Otto, der Hauptbesitzer des Paketdienstes, sich öffentlich für sein soziales Engagement feiern lässt, bekommen die Fahrer am unteren Ende einer ausgeklügelten Unternehmenspyramide nur beschämende Cent-Beträge pro Paket, das sie ausliefern. In den Wochen daraufgeht es um alte Arbeitslose, um das lukrative Geflecht von Politik und Wirtschaft von Gerhard Schröder und Joschka Fischer und um die industrielle Hähnchenproduktion des „Systems Wiesenhof“, und vermutlich wird nicht jeder dieser Filme gleich gelungen sein. Aber ihre Relevanz und Brisanz ist offenkundig, und sie machen schmerzhaft deutlich, wie selten es die Lebenswirklichkeit sonst jenseits der Magazin-Häppchen ins Fernsehen schafft.

„Das ist bester Journalismus im Ersten“, sagt ARD-Chefredakteur Thomas Baumann. Nur warum kommt der sonst so selten so prominent ins Programm? Die vielen Shows, die sonst die Sendeplätze blockieren, pausieren nicht nur deshalb im Sommer, damit die Mitarbeiter schön mit ihren schulpflichtigen Kindern wegfahren können, sondern vor allem, weil dann am wenigsten Menschen fernsehen. Im Januar 2010 hatten die Deutschen im Schnitt 256 Minuten täglich den Fernseher eingeschaltet; im August war es fast eine Stunde weniger.

Das Programm als Wundertüte mit Relevanz, das wenigstens ansatzweise aus der berechenbaren vollständigen Formatierung ausbricht, leistet sich die ARD nur, wenn eh nicht so viel auf dem Spiel steht. Wenn die Menschen aus dem Alltag ausbrechen, macht sich auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen ein bisschen locker, was paradoxerweise bedeutet, dass auch schwerere Stoffe ins Programm kommen können. Das beschränkt sich nicht auf Dokumentationen. Am Montagabend, wo sonst Reinhold Beckmann am Küchentisch in Gästeseelen bohrt, gibt es im Sommer plötzlich einen Sendeplatz für junge Spielfilme. Morgen läuft dort Junge Parasiten“ von Christian Becker und Oliver Schwabe. Und auch für ein cooles, cleveres, schnelles Fernsehkrimiformat wie die bisher dreiteilige BBC-Reihe „Sherlock“, die sehr gegenwärtige Versionen der Klassiker Holmes und Watson zeigt, hätte die ARD außerhalb der Urlaubszeit gar keinen Sendeplatz, ebenso wenig wie für moderne internationale Serien und Filme. Es ist halt alles vollgestellt.

Dabei können die Zuschauer anscheinend sogar mit dem Schock umgehen, dass sonntags nach dem „Tatort“ etwas anderes kommt als ein Stuhlkreis zum Thema „Ist Deutschland / Europa / die Regierung / der Sommer am Ende“. Viereinhalb Millionen Menschen sahen vergangenen Sonntag um 21.45 Uh r die erste Folge von „Sherlock“ – eineinhalb mal so viel, wie die letzte Folge von „Anne Will“ hatte. Die Sommerpause ist auch nicht mehr, was sie mal war.