Spendenaufruf

Vor kurzem brachten eine Frau und ihr Mann ihren zweijährigen Jungen namens Yusuf zu uns. Er war nur noch Haut und Knochen und zu schwach, um zu atmen. Die Familie waren Hirten und all ihre Tiere sind gestorben. Die Mutter erzählte mir, dass das Kind Durchfall hatte und nichts mehr essen konnte. Der Junge war in so einem schlechten Zustand, dass man mit dem Stethoskop seinen Herzschlag hören musste, um sagen zu können, dass er noch am Leben war. Seine Eltern hatten ihn aufgegeben. Sie glaubten, er habe keine Überlebenschance. Sie wollten die Klinik verlassen, um sich um ihre anderen Kinder zu kümmern. Der Vater ging zu seinen anderen Kindern, doch wir konnten die Mutter überzeugen, den kleinen Yusuf nicht aufzugeben.

Wir brachten das Kind auf unsere Intensivstation. Dort reanimierten wir ihn zwei Stunden lang, bis er endlich seine Augen öffnete. Danach haben wir ihn mit spezieller Milch und Nahrung durch einen Schlauch gefüttert. Nach 24 Stunden bewegte er schon wieder seine Arme. In diesem Moment begannen die Augen der Mutter plötzlich zu leuchten — wir konnten sehen, dass sie wieder Hoffnung schöpfte.

Nach einer Woche konnte Yusuf wieder selbständig Milch trinken und „Mama“ sagen. Wenn man seinen Namen sagte, dann lächelte er sogar schon wieder. Innerhalb von zehn Tagen hat sich sein Gewicht mehr als verdreifacht. Nach drei Wochen in der Klinik spielte Yusuf mit den anderen Kindern.

Dr. Hussein Sheikh, Arzt im Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Marere, Süd-Somalia

Am Horn von Afrika sind mehr als zehn Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. In acht Ländern leiden die Menschen; die Ursachen sind ausbleibende Regenfälle, Missernten und Preissteigerungen.

Was außer Regen noch ausbleibt, ist Hilfe:

Das Welternährungsprogramm, das die humanitäre Soforthilfe leisten sollte, verlangte am 1. Juli für diesen Monat einen Sonderbeitrag seiner Mitgliedstaaten von 180 Millionen Euro. Nur 62 Millionen kamen herein. Das normale WPF (World-Food-Programm) Budget betrug 2008 sechs Milliarden Dollar. 2011 liegt das reguläre Jahresbudget noch bei 2,8 Milliarden.

Warum? Weil die reichen Geberländer — insbesondere die EU-Staaten, die USA, Kanada und Australien — viele tausend Milliarden Euro und Dollars ihren einheimischen Bank-Halunken bezahlen mussten: zur Wiederbelebung des Interbanken-Kredits zur Rettung der Spekulations-Banditen. Für die humanitäre Soforthilfe (und die reguläre Entwicklungshilfe) blieb und bleibt praktisch kein Geld.

Wegen des Zusammenbruchs der Finanzmärkte sind die Hedgefonds und andere Groß-Spekulanten auf die Agrarrohstoffbörsen (Chicago Commodity Stock Exchange, u. a.) umgestiegen. Mit Termingeschäften, Futures, etc. treiben sie die Grundnahrungsmittelpreise in astronomische Höhen.

Die Tonne Getreide kostet heute auf dem Weltmarkt 270 Euro. Ihr Preis lag im Jahr zuvor genau bei der Hälfte. Reis ist um 110% gestiegen. Mais um 63%.

Was ist die Folge? Weder Äthiopien, noch Somalia, Djibouti oder Kenia konnten Nahrungsmittelvorräte anlegen — obschon die Katastrophe seit fünf Jahren voraussehbar war. Dazu kommt: Die Länder des Horns von Afrika werden von ihren Auslandsschulden erdrückt. Für Infrastrukturinvestitionen fehlt das Geld. In Afrika südlich der Sahara sind lediglich 3,8% des bebaubaren Bodens künstlich bewässert. In Wollo, Tigray und Shoa auf dem äthiopischen Hochland, in Nordkenia und Somalia noch weniger.

Die Dürre tötet ungestört. Diesmal wird sie viele Zehntausende töten.

Jean Ziegler in seiner nicht gehaltenen Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele

Spenden:

Spenden!

Handgeschriebene Visitenkarten sind so schwer zu entziffern

Und dann war da noch Norbert Tiemann, Chefredakteur der „Westfälischen Nachrichten“. Ich glaube, man tut ihm kein Unrecht, wenn man unterstellt, dass er am Freitagabend, als er den folgenden Text schrieb, nichts wusste über die Attentate, ihre Hintergründe und das Leben in Norwegen. Trotzdem wusste er all das zu kommentieren und den Lesern seiner Zeitung zu erklären:

Der Terror macht die Freiheit zur Falle
Entsetzliche Gewalt

Tote, Verletzte, Bilder der Verwüstung, die an den 11. September erinnern: Der feige und blutrünstige Terrorismus versetzt Europa und die gesamte westliche Welt wieder in Schockstarre. Schwere Explosionen erschüttern das Regierungsviertel in Oslo, ein Regierungschef ist auf der Flucht vor perfider Gewalt. Und die Visitenkarte der Attentäter trägt, das lassen die Indizien vermuten, die Handschrift islamistischer Terroristen. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurfte, dass der Tod Osama bin Ladens nicht das Ende kaltblütigen Terrornetzwerkes El Kaida bedeuten würde — der katastrophale Anschlag könnte alle Zweifel beseitigen. Noch gibt es dafür aber keine Bestätigung. Obwohl es in der Vergangenheit in Skandinavien Anschläge gegeben hat, wähnte sich das liberale Norwegen — trotz seines militärischen Engagements in Afghanistan und Libyen — offenbar nicht direkt im Fokus der fanatischen “Gotteskrieger” und leistete sich womöglich laxere Sicherheitsvorkehrungen. Die islamistischen Terrorbanden in ihrem blindwütigen Hass auf die westliche Zivilisation und deren Werte schrecken nicht davor zurück, die gelebte Freiheit der demokratischen Welt als todbringende Falle zu missbrauchen. Mit Mord und martialischer Verwüstung hat sich der fundamentalistische Terror inmitten einer westeuropäischen Metropole entsetzlich in Erinnerung gebracht.

Vielleicht könnte man diesen Text in einem dieser „Zeitung in der Schule“-Projekte verwenden, die für das Lesen von Gedrucktem werben. Gemeinsam können Lehrer und Schüler staunen, wie schnell ein souveräner Chefredakteur es schafft, all das Gerümpel aus Würdes und Könntes, Offenbars und Womöglichs, die er erst in seinen Text stellen musste, sofort wieder aus dem Weg und aus dem Kopf zu räumen, um am Ende in stolzem Indikativ formulieren zu können.

Andererseits zeigt das Beispiel auch die große Stärke des Mediums Internet für Zeitungen, denn als sich herausstellte, dass Tiemanns Kommentar nicht vollständig realitätskompatibel war, wurde der Artikel online natürlich ohne weitere Erklärung entfernt.

[via Kommentare]

Elmar Theveßen und der „saubere Journalismus“ der Terrorismusexperten

Elmar Theveßen, der vom ZDF ernannte „Terrorismusexperte“, hat sich in einem ZDF-Blog über „selbsternannte Fernsehkritiker“ beschwert, die von seinen Auftritten am Freitag nach den Anschlägen in Norwegen nicht beeindruckt waren. Sie würden sich „Gesagtes für einen flockigen Artikel gern ein wenig zurechtbiegen“, meint Theveßen. Da ich in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ einen Artikel geschrieben habe, in dem Theveßen eine prominente negative Rolle einnimmt, fühle ich mich einfach mal angesprochen.

Theveßen widerspricht der Kritik, sich vorschnell auf einen islamistischen Hintergrund festgelegt zu haben. Er schreibt:

Tatsächlich waren die norwegischen Sicherheitsbehörden am Freitag ziemlich überzeugt, dass Islamisten hinter den Anschlägen steckten (…).

Deshalb war die Arbeitshypothese der Behörden in Norwegen – Islamismus – eindeutig, ohne andere Möglichkeiten auszuschließen: Organisiertes Verbrechen, Rechtsxtremismus, Amokläufer. Genauso haben wir am Freitag berichtet und dabei Quellen genannt, Fakten von Vermutungen getrennt und auch die anderen möglichen Tätergruppen besprochen.

Schön wär’s gewesen. Im Gespräch mit Theveßen in der „heute“-Sendung um 19 Uhr kam die Möglichkeit, dass es sich nicht um Islamisten handelt, mit keinem Wort vor:

Petra Gerster: Bei mir im Studio ist jetzt Elmar Theveßen, unser Terrorismus-Experte. Elmar, wer könnte denn überhaupt als Urheber für diese Tat in Frage kommen?

Theveßen: Wir hatten heute am Nachmittag Kontakt mit norwegischen Sicherheitsbehörden. Und diese Behörden gehen davon aus, dass Al-Qaida oder islamistische Terroristen hinter diesen Anschlägen stecken. (…) Das sieht auch nach Sicht der Behörden nach einer organisierten Terrorwelle in Norwegen aus. (…) Wir wissen, dass ein führender Hassprediger in Norwegen seit vielen Jahren residiert. Und wir wissen auch, dass in der islamistischen Szene in Norwegen die Beteiligung an den Angriffen in Libyen in den vergangenen Monaten sehr viel Hass und Ärger und Wut verursacht haben.

Auch das „heute journal“, das um 22 Uhr begann, ging von einem islamistischen Hintergrund aus. Daran ließen schon die einleitenden Worte von Moderatorin Maybrit Illner keinen Zweifel:

Illner: Das ist ein bitterer Tag für Norwegen, und ein bitterer Tag für Europa. Der Terror ist zurück.

Das Gespräch mit Theveßen verlief dann so:

Illner: Und bei uns im Studio ist jetzt Elmar Theveßen, der ZDF-Terrorismusexperte. Elmar, die Polizei hat gerade bestätigt, dass diese beiden Taten in einem Zusammenhang stehen. Macht das die Suche nach dem Täter oder den Tätern leichter?

Theveßen: (…) Insofern [ist es] völlig möglich, dass ein einzelner Täter beide Taten verübt hat. Das heißt noch nicht, dass er nicht Helfer und Unterstützer hatte. Die Polizei sagte auch, dass man davon ausgeht, dass es sich bei diesem Mann um einen Norweger handelt, einen Mann nordischen Aussehens auch, und das nährt natürlich den Verdacht, dass es sich um eine lokale, örtliche Gruppe handeln könnte. Das hat auch die Polizei gesagt, ohne aber detailliert dann zu sagen, ob es auch islamistische Kreise innerhalb des Landes sein können oder politisch orientierte Gruppierungen – international organisierter Terrorismus scheint zunehmend unwahrscheinlich.

Illner: Und dennoch gibt es ja ein Bekennerschreiben.

Theveßen: Ja. Es gibt ein Bekennerschreiben. Das ist eine Gruppe, die sich auf den einschlägigen Foren im Internet zu Wort gemeldet hat, eine islamistische Gruppe, deren Namen man bisher nicht kannte. Und die bekennt sich zu diesen Anschlägen. Sie behauptet, dass sie zu tun hätten mit den norwegischen Soldaten, die in Afghanistan Dienst leisten, und auch mit Beleidigungen gegen den Propheten. Das heißt, es wurde zumindest der Eindruck erweckt, dass ein islamistischer Hintergrund da ist. Das ist auch nach wie vor nicht ausgeschlossen. Die Polizei gibt keine weiteren Details zum Täter derzeit bekannt, und insofern muss man die Ermittlungen abwarten.

Illner: In beiden Fällen erscheint es ein gezielter Angriff auf die norwegische Regierung zu sein, also muss man politische Gründe vermuten?

Theveßen: Davon geht die Polizei auch nach jetzigem Stand aus, dass es eher politische Gründe hat. Das könnte einerseits natürlich Islamismus sein, der Einsatz in Afghanistan beispielsweise, die massive Beteiligung Norwegens an den Luftangriffen in Libyen beispielsweise, im Rahmen der Nato-Einsätze, das alles hat in Islamisten-Kreisen für jede Menge Hass und Ärger gesorgt. Einer der führenden Hassprediger der Islamisten in Norwegen selber ist vor zwei Wochen angeklagt worden, hat wüste Drohungen gegen die Regierung ausgestoßen. Aber es gibt offenbar auch andere Bereiche in der Gesellschaft, die wegen einer Politik in der Welt auch massiv Wut und Ärger empfindet über die Politik dieser Regierung, auch da aus diesem Umfeld. Man will es nicht genauer qualifizieren, Rechtsextremismus möglicherweise, da ist die Polizei sehr vorsichtig, aber auch aus diesem Umfeld wären solche Angriffe vorstellbar.

Illner: Die letzte große Terrorwelle hat es in Schweden im letzten Jahr gegeben. Nun Norwegen. Warum konzentriert sich das auf Skandinavien, wenigstens möchte man den Eindruck haben?

Theveßen: Naja, momentan sagt die europäische Polizeibehörde, konzentriert es sich in der Tat auf Skandinavien. Wir hatten einen Anschlagsversuch in Stockholm, wir hatten Festnahmen in Norwegen. Wir hatten eine Festnahme auch in Kopenhagen. Islamisten gerade in diesen Ländern sind sehr stark, finden fruchtbaren Boden, um junge Leute zu rekrutieren. Aber, und hier liegt das große Fragezeichen, es ist eben nicht klar, ob es Islamistenkreise waren, die hinter diesen schrecklichen Attacken heute stecken.

Theveßens Thema an diesem Tag ist: Islamismus. Jedesmal, wenn das Gespräch für einen Moment auf eine der anderen Möglichkeiten schwenkt, bringt er es zum Islamismus zurück. Wenn die Polizei sagt, die Taten hätten wohl einen norwegischen Hintergrund, sagt Theveßen, das könnten ja auch islamistische Norweger sein. Wenn die Polizei sagt, man müsse die Ermittlungen abwarten, deutet Theveßen das als Aufforderung, solange weiter über einen islamistischen Hintergrund zu spekulieren. Nach der winzigen Andeutung, es könnten auch rechtsradikale Motive hinter den Anschlägen stecken, folgt erneut ein Ausflug in Häufung islamistischer Aktivitäten in Skandinavien. Das „große Fragezeichen“, das Theveßen ausmacht, ist bei ihm ein winziger Satzzeichenkrümel.

Das setzt sich auch am Ende der Sendung fort, als eigentlich Zeit genug vergangen wäre, um sich als Terrorismusexperte zu fragen, wie plausibel es ist, dass Islamisten ausgerechnet ein Massaker unter sozialdemokratischen Jugendlichen anrichten sollten.

Illner: Elmar, nochmal die Frage, wenn es sich dann eher um regionale oder gegebenenfalls eben nationale Täter handelt, ist damit die Spekulation um einen islamistischen Hintergrund perdü? Eher nein.

Theveßen: Die Polizei ist da sehr vorsichtig. Man muss noch den Hintergrund dieses Mannes erkunden, es gibt tatsächlich Hinweise darauf, dass derselbe Mann, der auf der Insel so viele Jugendliche getötet hat, auch derjenige ist, der in Oslo selber für das Bombenattentat heute verantwortlich ist. (…) Also, ganz ausgeschlossen ist nicht, dass er in Netzwerke eingeschlossen ist. Welcher Art diese Netzwerke sind, Islamisten oder nicht, das können nur die Ermittlungen der nächsten Tage zeigen.

Illner: Und insofern kann dieses Bekennerschreiben auch schlicht ein Fake gewesen sein?

Theveßen: Absolut möglich, dass es Trittbrettfahrer waren. Schon einmal haben wir ja eben gesagt, dass diese Gruppe bisher unbekannt war. Man weiß, dass Islamisten Skandinavien im Visier haben, insofern passt das alles zusammen. Auch die Sicherheitsbehörden, mit denen wir heute am Tag geredet haben, gingen erstmal deutlich von einem Al-Qaida-Hintergrund aus, weil alles zusammenpasste. Aber wir merken, dass jetzt im Internet beispielsweise in den Chat-Rooms, gerade Islamisten sich sehr freuen über diese schreckliche Tat, sie nutzen das für ihre eigene Propaganda und spornen momentan im Internet ihre Mitglieder an, selber auch aktiv zu werden. Wenn es denn am Ende sich herausstellt, dass dieses dann doch ein Islamist wäre, dann würde das umso mehr obendrein auch noch ein Propaganda-Erfolg für die Islamisten sein.

Illner: Wie groß ist, alles in allem, die Gefahr, dass Teile dieser Bewegung, Teile dieser Anschlagsserie auch Deutschland erreichen in irgendeiner Form?

Theveßen: Es hängt wirklich von diesem Hintergrund ab. Ist es ein Einzeltäter, der in der Lage war, all das vorzubereiten und durchzuführen, dann ist die Bedrohung für Deutschland natürlich gering. (…) Aber das Szenario, was wir heute gesehen haben, eine Bombenattacke mit einer Autobombe und dann einer Schießerei, das entspricht den Szenarien, die in den vergangenen Monaten Gegenstand von Terrorwarnungen in Europa, auch in Deutschland, gewesen sind, und die Sicherheitsbehörden sind überzeugt, dass ähnliche Planungen auch in Deutschland in Gange sind, aber ganz offenbar bisher nicht ausgeführt werden konnten. Also erhöhte Wachsamkeit, aber nicht notwendigerweise aus dem, was heute in Norwegen passiert ist, rückfolgern, dass auch in Deutschland Anschläge geschehen.

Illner: (…) Glauben Sie, dass das jetzt auch [in Skandinavien] zu einer zusätzlichen Alarmsituation führen wird?

Theveßen: Also, wir wissen, das die skandinavischen Behörden gerade im vergangenen Jahr sehr wachsam geworden sind. Weil sie gemerkt haben, Skandinavien steht im Visier islamischer Terroristen. Es gab mehrere Anschlagsversuche, nicht erfolgreich, Gott sei dank. Es gab eine Menge von Festnahmen. Aber man hat vielleicht auch zu sehr in diese Richtung geguckt – genau so wie man heute Nachmittag vermutete, aha, islamistischer Hintergrund. Und deswegen werden die Sicherheitsbehören in Skandinavien jetzt sehr genau hingucken, wer vielleicht noch in einer solchen Gesellschaft in Frage kommt, solche schrecklichen Angriffe durchzuführen.

Man hört es im Nachhinein förmlich Knirschen im Gebälk der Islamistenthese, die sich Theveßen zusammengezimmert hat. Sicher, sagt er, das Bekennerschreiben könnte falsch sein, aber es würde schon alles gut zusammen passen. Und ob es sich nun bei diesen Anschlägen um islamistischen Terror handelt oder nicht, ist fast egal, denn der islamistische Terror plant genau solche Anschläge wie diese.

Ganz am Schluss, im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Skandinavien besonders im Visier von Islamisten stehe, kriegt Theveßen die Kurve und deutet an, was im Kontext seiner völligen Fixierung auf Islamismus paradox wirken muss: Dass „man vielleicht auch zu sehr in diese Richtung geguckt“ habe. In seinem Blogeintrag erklärt er, wie er diesen winzigen Schlenker verstanden wissen will:

Schon im heute journal redeten wir über die Möglichkeit, dass die Sicherheitsbehörden und wir alle – nicht nur an diesem Tag, sondern auch längst vorher – zu sehr in nur eine Richtung geschaut hätten.

Und hier, als Vergleich zu dem oben dokumentierten Ablauf der Gespräche in „heute“ und „heute journal“ noch einmal, wie der Terrorismusexperte den Abend und seine Auftritte im ZDF-Blog erinnert:

Deshalb war die Arbeitshypothese der Behörden in Norwegen – Islamismus – eindeutig, ohne andere Möglichkeiten auszuschließen: Organisiertes Verbrechen, Rechtsxtremismus, Amokläufer. Genauso haben wir am Freitag berichtet und dabei Quellen genannt, Fakten von Vermutungen getrennt und auch die anderen möglichen Tätergruppen besprochen. Thema war auch das faktisch vorliegende Bekennerschreiben einer „unbekannten“ Gruppierung, die wir im ZDF aber als „mögliche Trittbrettfahrer“ qualifiziert haben. Dass wir dennoch am Ende nicht richtig lagen, ist ärgerlich – zumal auch bei früheren Anschlägen manchmal schnell falsche Annahmen die Runde machten: Nach den Anschlägen von Oklahoma City in Richtung Islamismus und nach denen von Madrid in Richtung ETA. In beiden Fällen aber geschah dies auf Basis der Informationen von Regierungs- und Sicherheitsbehörden. Solange diese Quellen genannt werden – wie bei uns geschehen – und auch ansonsten vorsichtig formuliert wird, war die journalistische Arbeit sauber.

Theveßen hat hier offenbar seinen Terrorismusexperten-Hut gegen seinen Stellvertretender-Chefredakteur-Hut ausgetauscht und bescheinigt sich selbst, „journalistisch sauber“ gearbeitet zu haben. Das heißt wohl soviel wie: Wir haben uns zwar komplett verfahren, aber immer die Geschwindigkeitsbegrenzung eingehalten.

Außerdem, fügt er hinzu, habe das ZDF schon 2007 über die Gefahr der Islamhasser-Szene berichtet; zumindest bei Theveßen scheint das aber ja keinen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.

Theveßens Blogeintrag ist ein pampiges „Wohl!“ oder „Selber!“ ohne eine Spur von Selbstkritik. Und vielleicht der beunruhigendste Gedanke ist der, den er gleich am Anfang formuliert:

Kreuzzügler oder Islamisten – wenn wir am Freitagnachmittag und -abend diese beiden Möglichkeiten als Hintergrund der brutalen Anschläge in Norwegen diskutiert hätten, dann hätten viele gesagt: „Die sind ja verrückt“.

Ich glaube nicht, dass Theveßen am Freitag überhaupt auf die Idee gekommen wäre, diese beiden Möglichkeiten zu diskutieren, dazu war er viel zu fixiert auf eine von beiden. Aber mit seiner Sorge, dann für verrückt gehalten worden zu sein, trifft er einen Kern des Problems: Die Medien sind viel zu sehr darauf bedacht, die (vermeintlichen) Erwartungen des Publikums zu erfüllen, und sie nicht mit Dingen zu konfrontieren, die sie nicht hören wollen. Das Publikum erwartet, dass die Medien (und zumal ihre „Terrorexperten“ mit Zugang zu privilegierten Informationen) ihnen unmittelbar nach einem solchen Anschlag sagen, wer dahintersteckt. Und natürlich haben viele Medien-Rezipienten denselben Reflex wie die Medien-Produzenten: Großer Bombenanschlag? Al-Qaida!

Es wäre eine erste gute Konsequenz aus dem kollektiven Medienversagen am Freitag, wenn der Gedanke Raum fände, dass eine wichtige Aufgabe von Journalismus in solchen Situationen wäre, den Wunsch des Publikums nach schnellen und einfachen Antworten zu enttäuschen. Nicht Wissen und Expertentum zu simulieren und nicht unmittelbar mit der Thesenproduktion zu beginnen. Und in Sätzen wie „Die Ermittlungen müssen abgewartet werden“ nicht Floskeln, sondern Handlungsaufforderungen zu sehen. Das wäre eine tolle Aufgabe für echte Terrorismusexperten in den Medien: Mit großer Beharrlichkeit dem Drängen der Moderatoren, sofort Antworten und Erklärungen parat zu haben, zu widerstehen, und als retadierendes Moment im Breaking-News-Hysterie zu funktionieren: „Nein, Frau Illner, man kann das wirklich noch nicht sagen / Es ist zu früh dafür / Wir wissen es noch nicht / Seriös lässt sich das nicht beantworten / Lassen Sie uns da nicht spekulieren.“

Ich bin kein Terrorismusexperte. Ich weiß nicht, was die norwegischen Sicherheitsbehörden, die am Freitagnachmittag Zeit fanden, mit der Terrorismusexpertenredaktion des ZDF zu sprechen, zu diesem Zeitpunkt wirklich annahmen. Offiziell haben sie sich nicht geäußert. Es liegt in der Natur des Journalismus, gerade auch Dinge herausfinden zu wollen, die (noch) nicht öffentlich und offiziell gemacht wurden. Aber Theveßen scheint auch im Nachhinein nicht auf die Idee zu kommen, dass es Situationen gibt, in denen es gute Gründe für Behörden gibt, unbestätigte Annahmen noch nicht öffentlich zu machen, und es dann auch gute Gründe für Journalisten geben könnte, solche Spekulationen zumindest nicht zur Grundlage für ihre Berichterstattung zu machen.

Es muss eine schmerzhafte Erkenntnis für die Theveßens der Welt sein, dass die Menschen am Freitag besser informiert gewesen wären, wenn es sie nicht gegeben hätte. „Expertise oder Spekulation?“ hat Theveßen seinen Blogeintrag überschrieben. Ich fürchte, er hält das für eine rhetorische Frage.

Feiges Journalistenpack

Es war angesichts der riesigen Konkurrenz nicht leicht, sich am gestrigen Tag für den Titel des dümmsten voreiligen Kommentars zu den Anschlägen von Oslo zu qualifizieren. Aber ich glaube, Manfred Schermer von der Politikredaktion der „Fuldaer Zeitung“ liegt dennoch mit diesem Kommentar uneinholbar in Führung:

Und selbst wenn es so gewesen wäre, dass Islamisten für dieses Massaker verantwortlich gewesen wären, müsste man ihn verachten für seine erbärmliche Scheinargumentation, die ihn in direkter Linie vom „Dialog mit muslimischen Zuwanderen“ zum „feigen Terrorpack“ bringt.

Bislang waren die Norweger stolz auf ihre offene Gesellschaft. Die Mitte-Links-Regierung mit Regierungschef Jens Stoltenberg an der Spitze hat im Gegensatz zur Regierung im benachbarten Dänemark auf eine liberale Ausländerpolitik und einen Dialog mit muslimischen Zuwanderern gesetzt. Nun muss sie bitter erfahren, wie ihnen ihre Liberalität gedankt wird. So sympathisch eine offene Gesellschaft ist — sie lässt eben nicht nur ihren gesetzestreuen Mitgliedern, sondern auch Kriminellen und Terroristen Freiheiten, die in etlichen anderen Ländern seit den Anschlägen von New York, London und Madrid teils drastisch eingeschränkt worden sind. Offensichtlich nicht ohne Grund. Diesem feigen Terrorpack mit Großzügigkeit zu begegnen, hieße, ein Feuer mit Benzin löschen zu wollen. Wer diesen Fanatikern versöhnlich kommen will, muss damit rechnen, dass ihm dies als Schwäche ausgelegt und skrupellos ausgenutzt wird.

Wer nett zu Moslems ist, darf sich also nicht wundern, von ihnen umgebracht zu werden.

Apropos feige: Als die „Fuldaer Zeitung“ irgendwann feststellen musste, dass es — anders als sie automatisch annahm — keine Moslems waren, die da gemordet hatten. Da hat sie den Artikel nicht ersetzt durch einen Hinweis, dass sie sich geirrt hatte. Hat sich nicht bei ihren Lesern entschuldigt, dass ihre Fantasien mit ihr durchgegangen sind. Hat nicht erklärt, dass der Kommentar — um mal das kleinstmögliche Adjektiv zu nehmen — unpassend war, und deshalb entfernt wurde.

Sie hat ihn einfach gelöscht. Als hätte es ihn nie gegeben. Wer dem Link folgt, bekommt nur noch die Meldung: „Es ist ein Fehler aufgetreten.“ In der Tat.
 
Lesenswert:

Nachtrag, 24. Juli. Ich habe in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ über die Reflexe der Medien und ihrer vermeintlichen Experten geschrieben.

Nachtrag, 24. Juli, 18.30 Uhr. Die „Fuldaer Zeitung“ meldet „in eigener Sache“:

Lange Zeit hat am Freitagabend Vieles darauf hingedeutet, dass die beiden Anschläge in Norwegen von islamistischen Terrorristen begangen worden sein könnten. In diese Stunden vager und sich leider erst am späten Abend konkretisierender Hinweise auf einen einheimischen Täter fiel die Produktion des Kommentars zu den Attentaten. Wir möchten an dieser Stelle um Entschuldigung bitten, dass wir Indizien falsch interpretiert und Vermutungen anstelle von Fakten gesetzt haben. Dies geschah im Verlauf hektischer Arbeitsstunden. Es hätte nicht geschehen dürfen.

Der betreffende Kommentar wurde auch in der Onlineausgabe der Fuldaer Zeitung veröffentlicht. Dort wurde er dann am Samstag aufgrund der neuen Erkenntnisse zu den Anschlägen in Norwegen wieder entfernt.

ARD-Aktion „BILDstörung“

Die ARD ist bereit, im Kampf gegen die „Bild“-Zeitung zum Äußersten zu gehen. Wenn das Blatt mit seiner erwarteten Anti-ARD-Kampagne beginnt, droht der WDR, mit einer täglichen einminütigen Comedy auf 1Live zu antworten. Titel: „1LIVE — Brüllt dir deine Meinung“. Zwei Folgen der Reihe, die „satirisch den Alltag in der Redaktion“ zeigen soll, sind nach internen Angaben bereits fertig; weitere würden dann kurzfristig realisiert.

Er ist in mancher Hinsicht furchteinflößend, der Themenplan der „Redaktion BILDstörung“, die den publizistischen Gegenangriff der ARD-Anstalten koordiniert. 30 Themen umfasste er, Stand letzte Woche, wobei nicht alle gleich originell sind.

Viele Beiträge sind — bis auf Statements von „Bild“, die dann noch eingeholt werden würden — bereits fertig produziert, darunter:

Zum Konzept der Operation „BILDstörung“ gehört auch Eigenlob. Ein Beitrag des NDR lässt unter anderem einen „Roger Wilhelmsen“ zu Wort kommen, der die Orchester und Chöre der ARD rühmt. Ein weiterer Bericht behauptet, dass die umstrittene „Tagesschau-App“ „in Wahrheit kein Geld extra“ koste. In dem Kampf gegen die App sieht die ARD offenbar den Anlass für „Bild“, bei ihrem regelmäßigen ARD-Bashing in diesem Jahr besonders heftig zuzuschlagen. Ein anderer geplanter „BmE“ (Beitrag mit Einspielern) soll erklären, warum die „Verlegerträume vom Geldverdienen mit der App platzen könnten“.

Die ARD hat sich intern verboten, von einer „Kampagne“ und entsprechend einer „Gegenkampagne“ zu sprechen. Immerhin dementiert der Senderverbund inzwischen nicht mehr, dass es solche Planungen gibt, wie sie es Anfang der Woche noch getan hatte. Am Dienstag zitierte die „Berliner Zeitung“ aus Papieren der „virtuellen Medienredaktion“, die die ARD gegründet hatte, und pulverisierte damit die offenkundige Strategie von ARD-Sprecher Stefan Wirtz, das Thema mit einer Mischung aus Schweigen und Leugnen zu erledigen — sowie mit der erstaunlichen Argumentation, es sei ganz normal, Anfragen an die Pressestelle an die hauseigene Medienredaktion zu weiterzureichen.

Wolfgang Schmitz, der Hörfunkdirektor des WDR, nennt die detaillierten Themenpläne ein „Brainstorming von Redaktionskollegen“. Nichts davon sei bereits zur Sendung freigegeben; kein einziger Beitrag liege auf Halde bereit. Der Umfang der Anfragen von „Bild“ in den vergangenen Wochen deute darauf hin, dass „Bild“ „nicht nur einen Einspalter“ plane. „Wir wären schlecht beraten, wenn wir uns nicht darauf einstellen würden.“ Man bereite sich vor, wie man auf Themen reagieren könne, die offensichtlich bei „Bild“ in der Recherche sind. Und all das stehe unter dem Vorbehalt, dass es zu einem solchen Angriff von „Bild“ überhaupt komme.

Aber wenn er kommt, reiche es nicht, darauf nur mit Pressemitteilungen zu antworten; man müsse natürlich auch im Programm reagieren. Schmitz sagt, er habe eine „Einladung“ an die Medienredaktionen ausgesprochen, sich Gedanken zu machen. Aber es gebe „kein angeordnetes Programm mit vorgegebenem Ergebnis“. Dazu würde sich auch kein ARD-Redakteur hergeben, auch nicht im Auftrag des Hörfunkdirektors. „Wir instrumentalisieren keine Journalisten für Kampagnen, die einem Unternehmensziel dienen“, beteuert Schmitz.

Die redaktionellen Standards würden durch eine solche koordinierte Aktion nicht außer Kraft gesetzt — selbstverständlich müsse zum Beispiel die Gegenseite gehört werden. Schmitz sagt, er werde sich an den tatsächlichen, gesendeten Beiträgen messen lassen. Aber die Vorbereitung solcher Maßnahmen sei noch kein Kampagnenjournalismus.

Das mag nicht ganz falsch sein. Und doch ist die Aufweichung einer klaren Grenze zwischen Unternehmenskommunikation und Medienjournalismus ein prinzipielles Problem. Tatsächlich aber kann die ARD in der Reaktion auf die erwartete „Bild“-Kampagne Punkte machen, wenn sie es schafft, sich nicht in eine Schlammschlacht zu stürzen, sondern journalistisch angemessen und, ja: unabhängig über die Vorwürfe, ihre Berechtigung und ihre vermuteten verlagspolitischen Hintergründe zu berichten. Das mit der Unabhängigkeit ist schon unter normalen Bedingungen schwierig und mit einer solchen Vorgeschichte wie hier fast unmöglich. Es sei denn, die Verantwortlichen insbesondere um die ungeschickte ARD-Vorsitzende Monika Piel lernten etwas aus der (auch internen) Aufregung um ihr Vorgehen.

Übrigens hat der RBB in seinem Politmagazin „Kontraste“ gestern gezeigt, dass es möglich ist, in eigener Sache unvoreingenommen und fair zu berichten: Selbst Springer-Außenminister Christoph Keese war zumindest als Privatperson einigermaßen zufrieden mit dem Beitrag über den Kampf um die „Tagesschau“-App. „Es verlangt Mut, als Journalist über das eigene Haus zu berichten und dabei auch Kritikern angemessenen Raum zur Stellungnahme zu geben“, bloggte er. Was vermutlich auch der Grund ist, weshalb es etwa bei der „Welt“ niemand tut.

Nachtrag, 23.00 Uhr. Die ARD leugnet nach wie vor. Gegenüber „Spiegel Online“ sagt Sendersprecher Wirtz, die ARD plane keine Gegenkampagne gegen „Bild“. Das Papier (das detailliert Themen, Autoren, Gesprächspartner, den aktuellen Recherche- oder Produktions-Fortschritt, das Fertigungsdatum und den verantwortlichen Sender nennt) sei bloß Ergebnis eines Brainstormings. Keineswegs habe man die Produktion der Beiträge daran geknüpft, dass in der „Bild“ die erwartete Artikelserie zur ARD erscheine, sagt er — in direktem Widerspruch zur Aussage von Hörfunkdirektor Wolfgang Schmitz mir gegenüber.

Ich wette, er liebt Magritte.

Die Klage der Verlage

Drei von fünf Menschen, die ein iPad besitzen, wollen ihre Zeitungsabonnements kündigen.

Das ist eine Zahl, die erklärt, warum Verleger so hypersensibel sind, wenn es um den Markt der Smartphone- und Tablet-Anwendungen geht. Sie steht in der Klageschrift, mit der acht deutsche Zeitungsverlage juristisch gegen die „Tagesschau“-App vorgehen, und sie ist falsch.

In Wahrheit bezieht sich dieser Anteil nur auf diejenigen iPad-Nutzer, die auf ihrem Gerät täglich mindestens eine Stunde lang Nachrichten sehen oder lesen. Insgesamt wollen nur 18 Prozent der iPad-Nutzer, die eine Zeitung abonniert haben, diese „sehr wahrscheinlich“ kündigen. Und genau genommen lautete die entsprechende Frage in der Studie, aus der diese Zahlen stammen: „Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie in den nächsten sechs Monaten Ihr Zeitungs-Abo kündigen und stattdessen eine elektronische Version jener Zeitung auf dem iPad oder einem ähnlichen Gerät abonnieren werden?“ (Hervorhebung von mir.)

Es ist ein bisschen schwierig, aus der Antwort auf diese Frage (noch dazu in einer nicht-repräsentativen Umfrage unter Amerikanern) Rückschlüsse zu ziehen, wie sehr eine kostenlose Nachrichten-App wie die der „Tagesschau“ die Zeitungslandschaft in Deutschland bedroht. Doch die Zeitungsverleger ziehen in der Begründung ihrer Klage gegen die „Tagesschau“-App sogar noch einen weiteren Schluss daraus: Wenn so viele Leute wegen elektronischer Ausgaben von Printmedien und Verlags-Apps ihre Zeitungsabos kündigen, muss das bedeuten, dass solche Apps „presseähnlich“ sind.

Ich bin mir nicht sicher, ob das Gericht das überzeugend findet, selbst wenn es nicht über die falschen Daten stolpert.

Die Frage, was der Begriff „presseähnlich“ bedeutet, ist entscheidend bei der Beurteilung der Frage, ob die „Tagesschau“-App rechtswidrig ist. Die Medienpolitiker der Länder haben sich diesen Begriff ausgedacht, und er ist Ausdruck eines für diese traurige Spezies typischen faulen Kompromisses. Weil sie sich bei der Verabschiedung des 12. Rundfunkstaatsvertrages nicht darauf einigen konnten, in welchem Umfang ARD und ZDF im Internet auch Texte veröffentlichen dürfen sollen, vermieden sie eine klare Festlegung und formulierten stattdessen:

Nichtsendungsbezogene presseähnliche Angebote sind nicht zulässig.

(Das Online-Angebot der „Tagesschau“ und damit auch die App sind „nichtsendungsbezogen“.) Die Definition des Begriffs im Staatsvertrag schafft kaum Klarheit. Als „presseähnliches Angebot“ zu verstehen seien:

nicht nur elektronische Ausgaben von Printmedien, sondern alle journalistisch-redaktionell gestalteten Angebote, die nach Gestaltung und Inhalt Zeitungen und Zeitschriften entsprechen.

Sicherheitshalber haben die Gesetzgeber eine Art Beipackzettel verfasst. Darin erklären sie:

Bei nichtsendungsbezogenen Telemedien sind presseähnliche Angebote unzulässig. Mit dieser Vorschrift trägt der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass für die Nutzung im Internet gestaltete Angebote regelmäßig aus einer von den Nutzern erwarteten Kombination verschiedener Elemente bestehen, die Text, Ton und Bild verbinden. Vor diesem Hintergrund soll der Tendenz begegnet werden, dass von Rundfunkanstalten angebotene nichtsendungsbezogene Telemedien den inhaltlichen und gestalterischen Schwerpunkt in Texten setzen. Im Umkehrschluss kann ein solcher Schwerpunkt vermieden werden, wenn öffentlich-rechtliche nichtsendungsbezogene Telemedienangebote ihren Schwerpunkt in einer hörfunk- und/oder fernsehähnlichen Gestaltung haben.

Bis hierhin zitiert auch der Berliner Blogger Christoph Keese, der tagsüber als Lobbyist der Axel Springer AG arbeitet, den Passus immer wieder und behauptet, damit sei klar, dass ARD und ZDF nur „Hörfunk- und Fernsehangebote“ im Netz machen dürften. Doch der Originaltext geht noch weiter:

Dies bedeutet, dass nichtsendungsbezogene Telemedienangebote der Rundfunkanstalten Texte aufweisen dürfen, denn das Verfassen und Lesen von Texten ist eine Kulturtechnik. Texte werden beispielsweise bereits benötigt, um dem Nutzer überhaupt den zielgerichteten Zugriff auf ein Telemedium zu ermöglichen. Bei nichtsendungsbezogenen Telemedien ist beispielsweise auch zu erwarten, dass Texte erforderlich sind, um durch Ton und Bild dargestellte Gestaltungselemente für den Nutzer kognitiv erfassbar zu machen. Auch vor dem Hintergrund des inhaltlichen Anspruchs, den Absatz 3 über § 11 hinaus formuliert, ist es angemessen, dass nichtsendungsbezogene Telemedien eine dem jeweiligen Thema entsprechende Kombination von Text, Ton und Bild aufweisen.

In jenem Absatz 3 heißt es:

Durch die Telemedienangebote [der Öffentlich-Rechtlichen] soll allen Bevölkerungsgruppen die Teilhabe an der Informationsgesellschaft ermöglicht, Orientierungshilfe geboten sowie die technische und inhaltliche Medienkompetenz aller Generationen und von Minderheiten gefördert werden.

Ich würde daraus einen umfassenden Auftrag an ARD und ZDF lesen, Informationsangebote im Internet zu produzieren und dabei auf eine angemessene, benutzerfreundliche „Kombination aus Text, Ton und Bild“ zu setzen, die es mit der Textlastigkeit nicht übertreiben darf. Ich gebe allerdings zu, dass sich all das vielfältig interpretieren lässt (natürlich nur, wenn man nicht — wie Keese in seinem Propagandablog — den Teil, der einem nicht passt, einfach weglässt).

Die Klageschrift der Verlage hält sich nicht lange mit einer Diskussion auf, was genau unter dem Begriff „presseähnlich“ zu verstehen ist. Im Kern ist die Argumentation gegenüber dem Gericht schlicht: „Presseähnlich“ sei all das, was Presseverlage machen. Wenn die „Tagesschau“ ein Online-Angebot macht, das so aussieht wie ein Online-Angebot eines Verlages, muss es unzulässig sein. Deshalb haben die Verlage der Klage seitenweite Anlagen mit Screenshots aus ihren Apps und der der „Tagesschau“ beigefügt.

In der Klage heißt es:

Die prägenden Elemente der verlegerischen, nach der Definition des RStV [Rundfunkstaatsvertrag] „presseähnlichen Telemedien“ sind in gleicher Weise für das Telemedienangebot „Tagesschau-App“, soweit es nicht fernsehähnlich gestaltet ist, kennzeichnend:

– zeitungstypischer Rubrikenaufbau,
– zeitungstypische Dominanz von Textbeiträgen,
– zeitungstypische Illustration mit Standbildern,
– funktionsäquivalente, ortsunabhängige bzw. mobile Nutzungsmöglichkeiten der Inhalte.

Folglich ist „Tagesschau-App“ in dem hier beanstandeten Umfang funktional in der Lage, die Lektüre von „Presse“ zu ersetzen. Diese Substituierbarkeit dokumentiert die „Presseähnlichkeit“ der mit der Klage angegriffenen Segmente von „Tagesschau-App“. (…)

Die Texte der „Tagesschau-App“ entsprechen in ihrem Aufbau, ihrer Gestaltung und ihrer inhaltlichen Umsetzung nahezu 1:1 den „App“-Artikeln der Tageszeitungsverlage.

Nun bin ich mir nicht ganz klar, wieviele verschiedene Möglichkeiten es gibt, Texte aufzubauen, zu gestalten und inhaltlich umzusetzen — die Varianten, die das Alphabet, Satzzeichen, Absätze u.ä. bieten, sind doch eher überschaubar. Und dass die „Tagesschau“ im Internet Texte veröffentlichen darf, haben die Ministerpräsidenten eindeutig festgehalten.

Die Artikel auf tagesschau.de (und in der „Tageschau“-App) sind aber in einem Maße, das kein deutsches Online-Medium eines Verlages erreicht, mit Audios und Videos verknüpft. Zudem sind die Texte in den meisten Fällen nur redigierte und zum Lesen aufbereitete Fassungen der verlinkten Hörfunk- oder Fernsehberichte. Das verschweigen die Verlage.

Sie beurteilen zudem nicht die „Tagesschau“-App als Ganzes, sondern die Text-Artikel für sich. Mit diesen „Segmenten“ betätigten sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als „Internetverleger“, stellen sie fest. Ob die „Tagesschau“-App zu sehr auf Texte setzt, wird man aber auf der Grundlage des Gesamtangebotes inklusive Video und Audio beurteilen müssen — sonst stünde die Antwort ja von vornherein fest.

Die Verleger müssen mit ihrer Wettbewerbs-Klage nicht nur darlegen, dass die „Tagesschau“-App „presseähnlich“ ist, sondern auch, dass sie ein eigenständiges Angebot darstellt. Der verantwortliche NDR argumentiert bekanntlich, es handele sich nur um eine technisch andere Aufbereitung der Inhalte von tagesschau.de — deshalb habe die „Tagesschau“-App auch keiner eigenen Genehmigung mit Drei-Stufen-Test bedurft.

In Klage der Verlage heißt es, dass es sich bei der „Tagesschau“-App

um ein dem selbstständigen Markt der mobilen Kommunikation über „Apps“ zuzurechendes Angebot handelt. Dies ergibt sich zwingend aus der Tatsache, dass das Angebot „Tagesschau-App“ nicht, wie das Portal „tagesschau.de“, dem herkömmlichen Online-Bereich, sondern dem selbstständigen Markt der mobilen Kommunikation über „Apps“ zuzurechnen ist.

Die App muss also deshalb einem eigenen Markt zugerechnet werden, weil sie einem eigenen Markt zugerechnet werden muss. Ich merke mir das mal für mein demnächst erscheinendes Buch „Kreisverkehr ohne Ausfahrt — Wie man mit Zirkelschlüssen alles beweisen kann“, das demnächst erscheint.

Weiter im Text:

Auf diesem Markt konkurriert das Angebot „Tagesschau-App“ mit anderen neuen mobilen elektronischen Kommunikationsangeboten wie etwa den mobilen App-Portalen der Verlage, aber auch mit klassischen Kommunikationsangeboten wie den (gedruckten) Tageszeitungen, die ebenfalls mobil überall genutzt werden können. Denn der Rezipient — daran sei nochmals erinnert — hat die Wahl zwischen dem Kauf einer Tageszeitung, der Nutzung von dessen kostenpflichtigem App-Angebot und dem kostenlosen Portal „Tagesschau-App“ der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.

Das ist eine interessante Argumentation, die Apps und Papiermedien als unmittelbare Konkurrenten in einem Markt tragbarer Nachrichtenmedien zusammenfasst, konventionelle Online-Angebote wie tagesschau.de aber nicht — als könnten solche Internetseiten nur auf schweren oder mindestens festgeschraubten Desktop-Rechnern aufgerufen werden.

Ich bin kein Jurist, und die Definition von „presseähnlich“ ist vermutlich schwammig genug, um zu den unterschiedlichsten Gerichtsurteilen zu führen. Aber so, wie die Verlage in ihrer Klageschrift argumentieren, sollen ARD und ZDF im Netz einfach nur tun dürfen, was die Verlage nicht tun. Das Bundesverfassungsgericht, bei dem die Sache sicher irgendwann landen wird, hat die Rechte von ARD und ZDF aber bisher immer aus ihrer eigenen Legitimation abgeleitet und nicht als Negativdefinition dessen, was andere in einem bestimmten Markt nicht leisten können oder wollen. Es würde mich wundern, wenn das in diesem Fall anders sein sollte.

PS: Ein Bonus-Schmankerl enthält die Klageschrift: An einer Stelle konstatiert sie, dass der aktuelle Rundfunkstaatsvertrag „gravierende inhaltliche und zeitliche Grenzen für das Angebot von Telemedien durch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten enthält“. Vielleicht könnten die Verlagsvertreter, nachdem sie diese Tatsache in ihrer Klageschrift selbst festgestellt haben, nun davon absehen, öffentlich immer wieder die Mär von der „ungehemmten Expansion“ von ARD und ZDF zu verbreiten?

[Offenlegung: Ich schreibe regelmäßig für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, deren Verlag zu den Klägern gehört, und ich habe in den vergangenen zwei Jahren zweimal für die ARD gearbeitet.]

Thomas Gottschalk

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Das Gute für ihn ist: Er kann immer wieder zurückgehen. Wäre ja nicht das erste Mal, dass er sich groß verabschiedet von „Wetten, dass“, um dann nach kurzer Zeit einfach wieder zurückzukommen, fragen Sie mal Wolfgang Lippert. Ab einer bestimmten Liga wirkt das nicht unentschlossen oder unsouverän, sondern als Beweis echter Größe. Hans-Joachim Kulenkampff hat sich schon 1966 zum ersten Mal von „Einer wird gewinnen“ verabschiedet. Vielleicht könnte man sogar eine jährliche Gottschalk-Verabschiedungs- und Rückkehr-Routine daraus machen, quasi eine Meta-Show, mit den Berichterstattern als Kandidaten, die erraten müssen, zu welchem Sender er das nächste Mal geht, wohin er dafür seinen Wohnsitz verlegt und ob Michelle Hunziker ihn begleiten wird.

Vorerst aber zerbrechen sich die Medienprofis und -laien im Land rührend den Kopf, wie genau die ARD denn Platz finden soll für eine fast-werktägliche halbstündige Gottschalk-Show vor der „Tagesschau“, wo diese Strecke doch zugerümpelt ist mit Programmhinweisen, Werbung, einem Miniwissensmagazin, Werbung, einem Minibörsenmagazin, Werbung und dem Wetterbericht. Dabei ist das leicht: Das wird einfach alles Teil der neuen Show.

Gottschalk sitzt also auf dem Sofa und begrüßt die Zuschauer zuhause und die Moni aus Pirmasens, die per Facebook zugeschaltet ist und über deren knappes Kleid er ein paar anzügliche Witze macht, die Kamera zieht auf, man sieht, dass Steffi zu Guttenberg schon neben Gottschalk sitzt, er bietet ihr auf die Frage, wie es so war in Amerika, drei Antwortmöglichkeiten und erkundigt sich, ob sie sich auch schon mal gefragt hat, wie ein Fahrstuhl funktioniert, aha, soso, na dann soll uns das der Ranga mal erklären; es folgt ein Einspielfilm über eine Familie aus der Pfalz, die kleine Nougat-Guttenberge verkauft, ein Quiz, bei dem Moni gegen irgendeinen Twitter-Typ um einen Audi spielt, eine Schalte zur Börse, der Lustige-YouTube-Clip des Tages, die Nachfrage bei Moni, wie denn das Wetter in Pirmasens ist, Überleitung zu Claudia Kleinert, die Moni sagt, dass sie die Grillparty am Wochenende knicken kann, Verabschiedung Steffi zu Guttenberg, morgen auf dem Sofa: Fritz Wepper!

Kampagnen-Kamikaze bei der ARD

Ich habe ein bisschen den Überblick verloren, wie viele ARD-Leute mich in den vergangenen Wochen angerufen haben, um mich zu fragen, ob ich nicht in ihren Sendungen erzählen möchte, wie schlimm die „Bild“-Zeitung ist. Der halbe WDR scheint mit der Recherche (oder jedenfalls: Akquise) beschäftigt zu sein; neben mehreren Radiosendern wollen offenbar auch Fernsehsendungen wie „Monitor“ und „Aktuelle Stunde“ dringend mal etwas über „Bild“ und ihre Methoden und Macher bringen. Hinzu kommen Anfragen aus dem Hauptstadtstudio und vom MDR. Insgesamt sind es sicher ein gutes halbes Dutzend, zwei weitere gingen bei BILDblog-Chef Lukas Heinser ein.

Es klingt undankbar, sich über soviel Aufmerksamkeit und Interesse zu beklagen, und eigentlich freue ich mich, wenn sich jemand kritisch mit der „Bild“-Zeitung beschäftigen möchte. Aber hinter der Flut von Anfragen steht kein journalistisches Interesse an „Bild“, sondern die prophylaktische Munitionierung gegen eine erwartete „Bild“-Kampagne. Sie rechnen bei der ARD mit dem Schlimmsten — wobei nicht ganz klar ist, ob das Schlimmste vernichtende Wahrheiten oder schamlose Lügen wären.

Jedenfalls wurde offenbar flächendeckend Panik angeordnet, um auf einen Angriff mit einem Gegenangriff reagieren zu können. Das Ausmaß des Aktionismus ist in jüngerer Zeit einzigartig, und auch den Kollegen, die deshalb ausschwärmen, um Kronzeugen wie mich anzusprechen, ist nicht allen wohl bei dem, was sie da tun (müssen).

Ulrike Simon berichtet heute in der „Berliner Zeitung“, dass die ARD-Intendanten beschlossen hätten, eine „virtuelle Medienredaktion“ einzurichten, die eine Kampagne gegen „Bild“ koordiniere. Sie schreibt: „Der Verdacht liegt nah, dass die Intendanten der ARD Medienjournalismus als probates Mittel zur Instrumentalisierung für eigene Interessen sehen.“

Das ist auf Seiten der meisten Verlage insbesondere im Kampf gegen ARD und ZDF nicht anders, aber das macht die Sache nicht besser.

Am Schlimmsten wäre es, wenn das stimmt, was Ulrike Simon noch schreibt: Die ARD-Intendanten wollten mit ihrer Anti-„Bild“-Kampagne „den ersten Schuss“ von „Bild“ gegen den Senderverbund abwarten: „Sollte das Blatt die Serie unter Verschluss halten, werde auch die virtuelle Medienredaktion wieder in der Versenkung verschwinden.“ Wie entlarvend: Die ARD-Oberen wollen die zweifelhaften Methoden der „Bild“-Zeitung nur dann anprangern, wenn sie selbst davon betroffen sind? Solange „Bild“ sich nur an anderen Opfern abarbeitet, ist das kein großes Thema? Schlimm ist an „Bild“ aus ARD-Sicht vor allem, dass sie die ARD angreift?

Der Fairness halber muss man sagen, dass es in der ARD durchaus Medienjournalismus gibt, der sich nicht als Unternehmenskommunikation mit anderen Mitteln versteht, bei „Zapp“ und im Medienmagazin von Radio Eins, zum Beispiel.

Ist es legitim, auf eine Kampagne mit einer Gegenkampagne zu antworten? Insbesondere dann, wenn der Verdacht naheliegt, dass die „Bild“-Kampagne ihrerseits nicht journalistisch motiviert ist, sondern die aktuelle juristische und publizistische Großoffensive des Springer-Verlags begleiten und unterstützen soll?

Natürlich kann die ARD, wenn die Vorwürfe der „Bild“ unberechtigt sind, ihr die Fehler um die Ohren hauen (und ich bin dabei, wenn ich kann, gerne behilflich). Und natürlich kann sie, falls die Vorwürfe der „Bild“ berechtigt sein sollten, ihre Hörer und Zuschauer darauf hinweisen, wie einseitig die Berichterstattung seit Jahren ausfällt und was der Grund dafür ist. Das könnte aber — je nachdem, über was für Vorwürfe wir hier reden — schon nicht mehr ganz so überzeugend sein. Aber auf Kritik reflexartig mit Gegenkritik zu reagieren, ist eigentlich nicht zufällig eine Spezialität der „Bild“-Zeitung. (Als der „Spiegel“ vor ein paar Monaten versucht hat, groß und kritisch über „Bild“ zu schreiben, standen in „Bild“ danach unvermittelt tagelang Abgesänge auf das Magazin. Vielleicht hat das die ARD-Intendanten positiv beeindruckt.)

Der gegenwärtige Aktionismus der ARD ist vor allem eines: sensationell ungeschickt. Man muss die geplante Gegenkampagne nicht einmal medienethisch würdigen, sondern kann sich allein auf die Frage beschränken, ob sie hilfreich ist. Spätestens seit ihrem Bekanntwerden heute lässt sich das klar verneinen.

Vorsprung durch Technik

Keine Sorge, ich habe nicht vor, mich jetzt regelmäßig auch noch an der Fachwerbung der Medien abzuarbeiten. Ich hatte heute morgen nur lachen müssen, als ich auf turi2 diese nicht nur in dieser Woche ungewollt komische Werbung des „Spiegel“ sah:

(Bitte beachten Sie auch den symbolischen Tiefenabstand zwischen dem „SPIEGEL“-Logo und der „DER REST“-Tapete.)

Jedenfalls stutzte ich, als die Anzeige umblätterte auf dieses Bild:

Ich fand den Vorsprung von 718.000 Lesern gegenüber 632.000 Lesern jetzt gar nicht so eindrucksvoll angesichts der dramatisch niedrigeren Auflage (und, zugegeben: Relevanz) des „Focus“. In Säulenform hingegen macht das schon was her.

Kein Wunder: Der „Spiegel“-Verlag hat getrickst. Er hat die „Focus“-Säule einfach kleiner dargestellt, als es den Zahlen entspräche — und zwar um immerhin zehn Prozent. (Oder, je nach Perspektive, den eigenen Penis die eigene Säule künstlich verlängert.)

Zum Vergleich die „Spiegel“-Version der Statistik und die korrekte Darstellung:

Helden wie wir

Fast ein Jahr ist es her, dass auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in Duisburg 21 Menschen getötet und viele Hundert verletzt wurden. Der erste Jahrestag der letzten „Love Parade“ ist Anlass, an die Katastrophe zu erinnern, das Geschehen zu rekonstruieren, der Opfer zu gedenken und zu fragen, was wir aus den Fehlern lernen können.

Eine der wichtigsten Lehren aus dem schrecklichen Geschehen liegt auf der Hand: Wir dürfen nie vergessen, was für eine großartige Zeitung die „Neue Ruhr-Zeitung“ (NRZ) ist. Dankenswerterweise erinnert die NRZ dezent daran.

Am vergangenen Sonntag brachte sie auf ihrer Medienseite einen großen Artikel über die Fernsehsendungen, die in diesen Tagen über die „Love Parade“ laufen. Das Aufmacherbild zeigt, wie könnte es bei diesem Thema anders sein, Rüdiger Oppers, den Chefredakteur der NRZ.

Im Text heißt es:

(…) Viele Beteiligte und Kritiker kommen [in einer ZDF-Doku-Fiction] zu Wort, so auch der NRZ-Chefredakteur Rüdiger Oppers. Während der Dreharbeiten war das Fernsehteam zu Gast bei der NRZ, die sich von Anfang an für eine umfassende Aufarbeitung der Ereignisse eingesetzt hat. Nicht nur die Fernsehteams sahen die NRZ in der Berichterstattung weit vorne. Rüdiger Oppers erinnert an die dramatischen Tage im Sommer 2010 und bezieht Stellung zur Frage der Verantwortung.

Auch „Spiegel TV“ schickte sein Kamerateam zur NRZ. Bei Vox läuft am Vorabend des Jahrestages (…) ein Themen-Spezial, und auch hier stand die NRZ bei den Recherchen im Ruhrgebiet zur Seite, beantwortete NRZ-Chef Oppers die Fragen der TV-Kollegen. (…)

Wenn die NRZ schreibt, dass nicht nur die Fernsehteams die NRZ in der Berichterstattung „weit vorne“ sahen, stimmt das natürlich zumindest in einer Hinsicht: Auch die NRZ sah die NRZ in der Berichterstattung weit vorne und hatte sich schon im vergangenen Jahr dafür und für die „Erarbeitung der Meinungsführerschaft“ mit einem Preis ausgezeichnet.

Wenn in den nächsten Tagen jemand beim NRZ-Verlagshaus vorbeikommt: Mich würde interessieren, ob die Menschen dort vorbeigehen, um Blumen und Dankesschreiben zu deponieren, oder sich zu übergeben.