Vergessen und vergessen machen

Neulich schrieb ein Mann, der früher an prominenter Stelle für „Bild“ gearbeitet hat, eine Mail an BILDblog. Es ging um einen Eintrag, inzwischen zwei Jahre alt, in dem wir ihm vorwerfen, einen Artikel anderswo abgeschrieben zu haben. Angeblich hatte das Plagiat (oder seine Aufdeckung) Folgen, jedenfalls endete die Zusammenarbeit mit „Bild“ wohl wenig später. Nun arbeitet der Mann frei und leidet. Er fragt uns:

Könnten Sie den Artikel aus ihrem Archiv löschen? Es wäre nett, da ich bei jedem Bewerbungsgespräch auf Bildblog angesprochen werde. Das mag Sie stolz machen, für mich ist das Ganze aber inzwischen existenzgefährdend.

Macht mich das stolz? „Stolz“ ist das falsche Wort, aber, zugegeben: Es ist ein gutes Gefühl, wenn die eigene Arbeit Wirkung zeigt und wenn sie nicht flüchtig ist. BILDblog hat immer eher darauf abgezielt, die Rezeption der „Bild“-Zeitung zu verändern als die „Bild“-Zeitung selbst — schon weil wir uns nicht vorstellen konnten, die „Bild“-Zeitung zu verändern. Gerade deshalb ist es immer wieder etwas besonderes, wenn wir auf irgendeinem Weg erfahren, dass unsere Arbeit
gelegentlich Folgen hat für die Leute von „Bild“. Es nimmt ein winziges Bisschen von der Macht von „Bild“.

Vor vier Jahren schrieb uns einmal ein Ressortleiter von „Bild“ wegen eines Eintrags, in dem es um ein angeblich exklusives „Bild“-Interview ging, dessen Inhalt erstaunlicherweise wörtlich mit einer Pressekonferenz zwei Tage zuvor übereinstimmte. Der Ressortleiter beklagte sich, dass die Mitarbeiterin wegen unseres Eintrages nun dauernd von Kollegen und Bekannten darauf angesprochen würde und sich rechtfertigen müsse. Ich weiß nicht, ob er dachte, dass uns das bestürzt.

Sollen sie sich wenigstens erklären müssen.

Aber wie weit geht das? Was, wenn ein alter BILDblog-Eintrag wirklich existenzgefährdend für einen ehemaligen „Bild“-Mann ist? Im konkreten Fall ist das schwer vorstellbar, aber auch nicht auszuschließen.

Es ist eine merkwürdige Sache mit dem Internet, das von so vielen Leuten, nicht zuletzt Verlagsmanagern, behandelt wird, als wäre es ein flüchtiges Medium. Wäre der Artikel über das Plagiat des ehemaligen „Bild“-Mannes in einer Zeitung erschienen, wäre er heute zwar nicht unauffindbar, aber gut genug versteckt, um in Vergessenheit zu geraten. So taucht er schon bei einer flüchtigen Google-Suche nach dem Namen des Mannes weit vorne auf. Andererseits erscheint dabei auch noch ein bizarr lobhudelnder Bild.de-Artikel über ihn — anscheinend
geht es ihm nicht darum, diese ganze Periode seines Schaffens vergessen zu machen, sondern nur den heute lästigen Teil.

Ich weiß nicht, warum es ihm offenbar unmöglich ist, potentiellen Arbeit- oder Auftraggebern zu erklären, wie das damals passiert ist.

Vielleicht wird es noch einige Zeit dauern, bis wir uns alle an diese Nebenwirkung des Internets gewöhnt haben, dass es plötzlich ganz leicht ist, Dinge über uns herauszufinden, von denen wir wünschten, sie wären in Vergessenheit geraten, nicht nur die peinlichen Party-Fotos, auch die journalistischen Fehltritte. Das wird normaler werden und Personalchefs werden damit umgehen können. Andererseits gibt es journalistische Fehltritte, die auch nicht jeder gemacht hätte, auch nicht als Jugendsünde.

Totale Erinnerung ist nicht unbedingt ein Segen. Ich halte es durchaus in einigen Fällen für richtig, Namen aus kritischen Blog-Einträgen zu löschen — wenn mir die dauerhafte Form der Bestrafung, die damit verbunden sein kann, unangemessen erscheint.

Es wäre sicher auch falsch, so gnadenlos zu sein, wie es die „Bild“-Zeitung sicher bei ähnlichen Fragen wäre. Aber warum sollten ausgerechnet Menschen, die sich dafür entschieden haben, für ein skrupelloses Lügenblatt wie „Bild“ zu arbeiten, besondere Rücksichtnahme bekommen, wenn sich das im Nachhinein als nicht in jeder Hinsicht karrierefördernd herausstellt?

Manche Fälle finde ich trotzdem einfacher zu entscheiden als diesen.

Vor ein paar Monaten schrieb ein Moderator, der mehrere Jahre lang im Fernsehen Zuschauer mit irreführenden Versprechungen dazu animiert hat, ihr Geld für zweifelhafte Anrufsendungen auszugeben. Wenn man heute seinen Namen bei Google eingibt, steht an erster Stelle ein Eintrag aus diesem Blog, in dem die Frage diskutiert wird, ob Leute wie er sich womöglich des Betruges strafbar gemacht haben.

Das ist für ihn nicht ganz ideal, also schrieb mir der Mann:

Wäre es von Ihrer Seite aus möglich meinen Namen aus diesem Blog herauszulöschen?

So wie Sie die Dinge hier darstellen, wird mein Name mit Betrug in Verbindung gebracht, dass nicht gerade ruffördernd für mich ist. (…)

Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Sie es besonders klasse fänden, wenn Ihr Name unnachweislich mit Betrug in Verbindung gesetzt wird und Sie somit bei Suchmaschinen als erstes in dem Zusammenhang auftauchen würden.

Es folgte später eine Abmahnung, in der es hieß:

Den Zuschauern der gegenständlichen Sendungen (…) sind die Namen der Moderatoren weder bekannt, noch sind diese für die Zuschauer von Interesse. Insoweit besteht lediglich ein Bedürfnis der Allgemeinheit, über das Geschäftsgebaren des Senders und dessen rechtliche Einordnung informiert zu werden. (…)

Dem Informationsinteresse und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung steht das Persönlichkeitsrecht der jeweiligen Moderatoren entgegen, deren Namensnennung in ihren Beitrag für mögliche Auftrag- und Arbeitgeber unmittelbar in Zusammenhang mit der Verwirklichung eines Straftatbestandes gebracht wird.

Immerhin wird das Motiv der Abmahnung deutlich formuliert: Auch diesem Mann erschwert das, was er früher gemacht hat, nun die Jobsuche.

Mein Anwalt musste eine Antwort formulieren, dann habe ich nichts mehr von der Sache gehört. Ob der Moderator vergeblich versucht hat, eine einstweilige Verfügung gegen mich zu erwirken, weiß ich nicht.

Das ist die andere Seite dieses merkwürdigen Mediums: Es bleibt zwar viel für die Ewigkeit erhalten, aber die Leute glauben, sie können das, was ihnen nicht gefällt, einfach entfernen lassen. Teilweise haben sie damit sogar Erfolg, wie der Fall eines Hamburger Geschäftsmanns gezeigt hat.

Bei der Diskussion um den „digitalen Radiergummi“ geht es vor allem um irgendwelche Dokumente, die man einmal von sich ins Netz gestellt hat und von denen man sich wünschte, sie wären nicht mehr da. Aber wie ist das mit ganzen Teilen der eigenen Biographie? Kriminelle haben in gewissem Rahmen ein Recht auf einen Neuanfang und auf die Chance, dass ihre Taten nach Verbüßung der Strafe in Vergessenheit geraten. Aber die Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und dem Recht auf Meinungs- und Medienfreiheit ist außerordentlich knifflig, wie der Fall der beiden Männer zeigt, die wegen des Mordes an dem Schauspieler Walter Sedlmayr verurteilt wurden und seit einiger Zeit versuchen, ihre Namen aus den Online-Archiven zu klagen. Der Bundesgerichtshof wies ihre Unterlassungsforderung zurück — wollte daraus aber keine pauschale Regel ableiten.

Müssen auch ehemalige Call-TV-Moderatoren eine Chance zur Resozialisierung bekommen? Und bin ich dazu verpflichtet, ihnen dabei zu helfen?

Der österreichische Informationstheoretiker Viktor Mayer-Schönberger sagt:

„Vergessen und vergeben sind ungemein wichtig. Wer sich der Erinnerung an eigene Fehler oder die der anderen nicht entledigen kann, räumt der Vergangenheit zu viel Macht ein. Nur durch Vergessen können wir uns von alten Verhaltensmustern frei machen. Das schafft Raum für neue Ideen, lässt Individuen und ganze Organisationen wachsen und sich weiter entwickeln.“

„Vergessen“ und „vergeben“ sind zwei sehr unterschiedliche Dinge, und bei ersterem bin mir nicht so sicher, dass Mayer-Schönberger recht hat. Natürlich lässt es, zum Beispiel, eine Fernsehmoderatorin, die heute beim Evangelischen Rundfunk die christliche Talkshow „Gott sei Dank“ präsentiert, leichter „wachsen und sich weiter entwickeln“, wenn sich niemand mehr daran erinnert, dass sie vorher als Animateurin beim sehr unchristlichen Call-TV gearbeitet hat.

Aber führt es nicht, umgekehrt, oft zu wünschenswerteren Entscheidungen, wenn Menschen davon ausgehen müssen, dass das, was sie tun, nicht hinterher gleich wieder vergessen ist? Es geht nicht darum, dass Menschen keine Fehler machen dürfen oder ihr Leben lang unter Jugendsünden leiden sollen. Es geht auch nicht um einen allumfassenden Pranger. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Tun — ganz besonders, wenn dieses Tun, wie bei Journalisten, in der Öffentlichkeit und genau genommen sogar für die Öffentlichkeit geschieht.

Es gibt dazu letztlich keine Alternative. Die merkwürdigen technischen Konstruktionen, mit denen dem Internet das Vergessen beigebracht werden soll, werden nicht funktionieren — außer, womöglich, für diejenigen, die die schlechtesten Motive und die größten Mittel haben.

Wir werden lernen müssen, mit all dem ungewollten Informationsgerümpel über uns zu leben, und deshalb werden wir es lernen, die vielen Dinge einzuordnen, die wir plötzlich mühelos über andere Leute herausfinden. Wir müssen sie dazu nicht vergessen oder vergessen machen.

Diese theoretisch-philosophische Frage bekommt natürlich eine ganz andere Ebene, wenn man selbst plötzlich derjenige ist, der dafür sorgen könnte, dass jemand nicht mehr bei jedem Vorstellungsgespräch auf die Geschichte angesprochen wird, die in einem BILDblog-Eintrag steht, die der dritte Treffer ist, wenn man bei Google nach seinem Namen sucht.

Eine grundsätzliche und allgemeingültige moralische Antwort, wie mit Löschwünschen zu verfahren sei, habe ich nicht. Wenn man weder gnadenlos sein noch seine Arbeit pauschal mit einem Verfallsdatum versehen will, bleibt wenig übrig, als sich in jedem einzelnen Fall ein Urteil zu bilden, das einem gerecht erscheint.

Im Fall des ehemaligen „Bild“-Journalisten vom Anfang haben wir uns dafür entschieden, seinen Namen nicht zu löschen.

Nicht mein Willy

In unserer Reihe „Etablierte Medien beklagen die Fehlerhaftigkeit der Wikipedia“ lesen Sie heute: die „Berliner Zeitung“.

Seit Bestehen der Internet-Enzyklopädie gab es immer wieder inhaltliche Fehler oder Auslassungen, die teilweise bewusst eingestreut wurden. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier prüfte mittels Wikipedia die Recherchemethoden deutscher Redaktionen, als er Karl-Theodor zu Guttenberg nach dessen Ernennung zum Wirtschaftsminister einen weiteren Vornamen andichtete.

Nee.

Dschungel-Journalismus aus erster Hand

Immer mittags verschickt RTL in diesen Tagen eine Pressemitteilung, in der (mit einer Sperrfrist bis nach der Sendung) steht, was am vergangenen Tag im Dschungelcamp passiert ist und am späten Abend im Fernsehen gezeigt werden wird. Das ist ein Angebot, das von einem Qualitätsmedium wie welt.de für die eigene, äh, Nachberichterstattung natürlich dankbar angenommen wird.
 

RTL-Pressemitteilung Welt.de-Artikel
Indira Weis und Mathieu Carrière müssen zur ersten Dschungelprüfung antreten. (…) Dirk Bach: „Die gute Nachricht: Ihr müsst nichts Unangenehmes essen. Die schlechte Nachricht: Ihr müsst etwas Unangenehmes in den Mund nehmen“. Indira Weis und Mathieu Carrière mussten zur ersten Urwald-Prüfung antreten. „Die gute Nachricht: Ihr müsst nichts Unangenehmes essen. Die schlechte Nachricht: Ihr müsst etwas Unangenehmes in den Mund nehmen“, kündigte Dirk Bach die Aufgabe für die beiden an.
Die Aufgabe: Auf einem Zahnarztstuhl sitzend müssen Indira und Mathieu nacheinander jeweils vier lebende Tiere für 20 Sekunden in den Mund nehmen. Dabei dürfen die Tiere nur mit den Lippen und so sanft wie möglich festgehalten werden, damit kein Tier verletzt wird. Was war konkret zu tun? Auf einem Zahnarztstuhl sitzend nacheinander jeweils vier lebende Tiere für 20 Sekunden in den Mund nehmen. Dabei dürfen die Tiere nur mit den Lippen und so sanft wie möglich festgehalten werden, damit kein Tier verletzt wird.
Und wie beim Zahnarzt üblich wird anschließend ein Abdruck genommen – in diesem Fall allerdings aus essbarem Schleim mit Mehlwürmern. Wenn das geschafft ist, kann jeder fünf Sterne holen (…). Den elften Stern gibt es für eine „Dschungel-Spülung“, die nur ein Kandidat vollständig austrinken muss. Und mit den magischen Worten „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ können Indira und Mathieu die Prüfung jederzeit abbrechen. Und wie beim Zahnarzt üblich wurde anschließend ein Abdruck genommen – in diesem Fall allerdings aus essbarem Schleim mit Mehlwürmern. Dafür bekam jeder fünf Sterne. Den elften Stern gab es für eine „Dschungel-Spülung“, die nur ein Kandidat vollständig austrinken muss. Mit den Worten „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ konnten Indira und Mathieu die Prüfung jederzeit abbrechen.
Tapfer nehmen Indira und Mathieu die Prüfung an und setzen sich auf die Zahnarztstühle. (…) Indira beginnt und bekommt in einer Nierenschale einen 20 cm großen Blauen Flusskrebs serviert. Sie greift das Schalentier, steckt es in ihren Mund und gibt mit Daumen hoch das „Go“. Tapfer nahmen Indira und Mathieu die Prüfung an und setzten sich auf die Zahnarztstühle. Indira begann und bekam in einer Nierenschale einen 20 Zentimeter großen Blauen Flusskrebs serviert. Sie griff das Schalentier, steckte es in ihren Mund und gab mit Daumen hoch das „Go“.
Der hintere Teil des Flusskrebses zappelt in ihrem Mund, die Scheren kneifen kräftig. Vor Schreck reißt Indira den Mund auf – der Flusskrebs fällt zu Boden, die Prüfung: nicht bestanden! Mathieu behält das Schalentier ohne Probleme 20 Sekunden im Mund. Der hintere Teil des Flusskrebses zappelte in ihrem Mund, die Scheren kniffen kräftig. Vor Schreck riss Indira den Mund auf – der Flusskrebs fiel zu Boden, die Prüfung: nicht bestanden! Mathieu behielt das Schalentier ohne Probleme 20 Sekunden im Mund.
2. Runde: Die Stars müssen nun eine Wasserspinne komplett in den Mund nehmen. Indira öffnet ihren Mund, empfängt die Spinne und lässt sie tapfer 20 Sekunden im Mund. (…) Indira: „Oh, Gott. Ich dachte, ich bekomme ein Zungenpiercing“. Die Stars mussten in der zweiten Runde eine Wasserspinne komplett in den Mund nehmen. Indira bestand dieses Mal. „Oh, Gott. Ich dachte, ich bekomme ein Zungenpiercing“, sagte sie.
3. Runde: Nun wird eine große Rhinozeros-Kakerlake gereicht. Deren Hinterteil muss in den Mund. Sonja Zietlow: „Du musst aufpassen, diese Kakerlake hat scharfe Füße und kann kratzen“. Indira öffnet den Mund (…). Das Tier spuckt, doch Indira hält durch. Mathieu Carrière wirft im Zahnarztstuhl seinen Kopf nach hinten, presst die Lippen zusammen und behält die Rhinozeros-Kakerlake 20 Sekunden im Mund. Eine große Rhinozeros-Kakerlake wurde in der dritten Runde gereicht. Deren Hinterteil muss in den Mund. Sonja Zietlow warnte: „Du musst aufpassen, diese Kakerlake hat scharfe Füße und kann kratzen“. Als Indira es in den Mund nahm, spuckte das Tier, doch die Sängerin hielt durch. Mathieu Carrière musste dieses Mal mit sich kämpfen. Er warf im Zahnarztstuhl seinen Kopf nach hinten, presste die Lippen zusammen. Geschafft.
Jetzt bekommen die Stars eine Stabheuschrecke in der Nierenschale serviert. Diese müssen sie quer in den Mund nehmen. Stabheuschrecken in der Nierenschale wurden als nächstes serviert. Diese mussten die beiden Dschungelcamper quer in den Mund nehmen.
Richtig zubeißen heißt es jetzt! Ein Abdruck aus essbarem Schleim mit Mehlwürmern muss in den Mund. Richtig zubeißen, hieß es zuguterletzt. Ein Abdruck aus essbarem Schleim mit Mehlwürmern musste in den Mund.
Die zweite Dschungelprüfung steht bereits fest: „Friedhof der Kuscheltiere“. Dafür wird der prominente Teilnehmer in einen Sarg gelegt, den er oder sie sich mit einigen Ratten teilen darf. Für jede ausgehaltene Minute erhält der Kandidat einen Stern. Doch damit nicht genug: Während des Sargaufenthalts wird die ursprünglich gläserne Kiste nach und nach freigelegt und dabei über eine 70 Meter hohe Schlucht gezogen. Nichts für einen Star mit Rattenphobie oder Höhenangst also! Der „Friedhof der Kuscheltiere“ wartet in der nächsten Folge von Dschungelcamp auf die prominenten Teilnehmer. Sie werden in einen Sarg gelegt, den er oder sie sich mit einigen Ratten teilen darf. Für jede ausgehaltene Minute erhält der Kandidat einen Stern. Doch damit nicht genug: Während des Sargaufenthalts wird die ursprünglich gläserne Kiste nach und nach freigelegt und dabei über eine 70 Meter hohe Schlucht gezogen. Nichts für einen Star mit Rattenphobie oder Höhenangst also.

Und falls Ihnen dieser Eintrag bekannt vorkommt, ist das kein Zufall. Manche Dinge ändern sich nicht.

(Auch beim Online-Auftritt des „Express“ verlässt man sich der Einfachheit halber auf die praktischen PR-Texte von RTL.)

Programmhinweis (35)

Am Mittwoch war ich zu Gast bei Jana Wuttke und Philip Banse im „Medienradio“. Wir haben zwei Stunden lang über alles Mögliche geplaudert, darunter, wenn ich mich recht erinnere, die Kontaktversuche Konstantin Neven DuMonts, die lustige Konstruktion des privaten Rundfunks in Bayern, die Spiegelhaftigkeit des aktuellen „Spiegel“-Titels, die Bedeutung von Facebook für meinen Hund sowie die Frage, was die Magazin-Apps auf dem iPad mit dem Einsatz von Blue-Box-Effekten in den siebziger Jahren im Fernsehen zu tun haben.

Ich hoffe, ich habe nicht zuviel Unsinn geredet. Es war spät und gemütlich und ich bekam Rotwein.

Mick Werup

Nach dem Tod von Robert Enke habe ich hier einen Eintrag über den sogenannten Werther-Effekt geschrieben. Er beginnt mit dem Satz: „Die Medien arbeiten seit einer Woche daran, die Zahl der Selbstmorde in Deutschland in die Höhe zu treiben.“

Es gab dafür vielfältigen Widerspruch. Einige waren der Meinung, es sei unrealistisch anzunehmen, dass Medien anders über Suizide von Prominenten berichten könnten. Andere sagten, es sei nicht Aufgabe von Journalisten, Informationen zurückzuhalten, selbst wenn sie eine negative Wirkung haben könnten. Manche bestritten, dass es überhaupt den von mir beschriebenen Zusammenhang zwischen der Berichterstattung über Selbsttötungen und der Zunahme von Selbsttötungen gebe.

Die Nachrichtenagentur dpa berichtete am 23. November 2010, dass die Zahl der Suizide nach dem Tod von Robert Enke sprunghaft angestiegen sei:

Für den November 2009 registrierte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden die höchste Steigerungsrate des Jahres. In anderen Monaten hatte es zum Teil Rückgänge gegeben.

Zudem war im Dezember auffällig, dass sich im Vergleich zum Vorjahr doppelt so viele Männer zwischen 20 und 25 Jahre das Leben nahmen.

Wie das Bundesamt auf Nachfrage mitteilte, ist in Deutschland die Zahl der Selbsttötungen im November 2009 um rund 15,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat angestiegen. Im Dezember waren es insgesamt noch 10,7 Prozent.

Nach Angaben der Deutschen Bahn nahm die Zahl der Schienensuizide drastisch zu. Der Vorstandsvorsitzende Rüdiger Grube sagte dem „Spiegel“, dass sich die Zahl der Menschen, die sich täglich von einem Zug überrollen lassen, nach dem Suizid von Robert Enke verfünft- bis versechsfacht habe, „wochenlang“.

Ich komme darauf, weil sich Mick Werup anscheinend das Leben genommen hat. Er hatte den Sohn Chris in den „Drombuschs“ gespielt und damit meine Fernsehbiographie maßgeblich mitgeprägt.

Die Boulevardzeitungen ignorieren auch diesmal wieder die zentralen Empfehlungen, durch die sich die negativen Folgen der Berichterstattung über Suizide minimieren ließen. „Bild“ und „Berliner Kurier“ machen groß mit dem Fall auf, sie und andere berichten detailliert über die Umstände des Todes, nennen mögliche Motive, wecken Verständnis und Mitleid.

Anders als vielleicht bei Robert Enke, dessen Sterben in jeder Hinsicht öffentlich geschah, kann mir niemand erzählen, dass das unvermeidlich war. Dass man diese Nachricht nicht auch klein, ohne Foto, abstrakt hätte vermelden können. Wenn man es gewollt hätte. Ich bleibe dabei: Der Preis für diese Art der Berichterstattung lässt sich in Menschenleben zählen.

Die Online-Version des „Bild“-Artikels von Mark Pittelkau und Thomas Knoop endet mit den Worten:

Zuletzt schien Werup der Tod als einziger Ausweg, seinem unendlich verlorenem Dasein zu entfliehen.

Das ist ein unfassbarer Satz. Nicht nur, weil er sich wie Werbung für die Selbsttötung als Ausweg aus schwierigen Situationen lesen lässt und vermutlich von Gefährdeten auch genau so verstanden wird.

Sein unendlich verlorenes Dasein? Immerhin musste er nicht für „Bild“ arbeiten.

 

Vermieden werden sollte in der Berichterstattung nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention u.a.

  • einen Suizid auf der Titelseite oder als „TOP-News“ erscheinen zu lassen
  • ein Foto der betreffenden Person (besonders auf der Titelseite) zu präsentieren und Abschiedsbriefe zu veröffentlichen.
  • den Suizid als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion oder gar positiv oder billigend darzustellen bzw. den Eindruck zu erwecken, etwas oder jemand habe „in den Suizid getrieben“. („Für ihn gab es keinen Ausweg“).
  • die Suizidmethode und den Ort detailliert zu beschreiben oder abzubilden

Super-Symbolfoto (84)

Dieser Fehler hat tatsächlich Symbolwert. Das, was da auf dem iPhone zu sehen ist, ist nämlich nicht die Verlagsseiten-mordende „Tagesschau“-App, sondern die aus irgendwelchen Gründen ungleich ungefährlichere Internetseite tagesschau.de.

(Die Meldung von „Spiegel Online“ ist übrigens eine Agenturmeldung von dpa, die über einen Inhalt aus dem gedruckten „Spiegel“ informiert. Bestimmt ist das auf irgendeiner Ebene journalistisch, arbeitsökonomisch oder markentechnisch sinnvoll.)

[mit Dank an PD!]

Nachtrag, 13.00 Uhr. Auch der gedruckte „Spiegel“ weiß nicht, wie die „Tagesschau“-App aussieht.

[via Altpapier; hier im Bild die Version aus der „Spiegel“-App]

Florian Stöhr

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wenn es nicht so absurd irreführende Assoziationen von Klasse und Kreativität mit sich brächte, könnte man Florian Stöhr ein Gesamtkunstwerk nennen. Er selbst nennt sich „It-Boy“ beziehungsweise, seit einer Brust-Operation, „It-Girl“. Angeblich ist er Millionenerbe, angeblich ist er zwanzig Jahre alt, angeblich arbeitet er als Model. In den Medien hat sich die Berufsbezeichnung „RTL-Transe“ durchgesetzt.

Das klingt abfällig, würdigt aber immerhin den Anteil, den der Sender daran hat, dass Stöhr statt in Therapie ins Fernsehen gehen und für einen Star halten kann. Mit fast beneidenswerter Ausdauer verfolgt die RTL-Nachrichtenmagazin-Parodie „Punkt 12“ seit einem Jahr das Leben dieser selbsterschaffenen Kunstfigur, die von sich sagt, Botox sei für sie das wichtigste in ihrem Leben. Die RTL-Leute sehen ihm begeistert angewidert zu, wie er sich den letzten Rest Natürlichkeit wegschminkt und operativ entfernen lässt, begleiten ihn zu Geburtstagsfeiern, wo er sich und anderen als Partyspaß die Lippen aufspritzen lässt, zeigen, wie er erzählt, dass er sich zwei Rippen brechen ließ, um dünner zu sein.

Stöhrs Traum ist es angeblich, Kleidergröße „minus zwei“ zu erreichen, das bedeutet, Kindergröße 176. Er sagt: „Ich bin kein Sänger, ich bin kein Schauspieler, ich bin Florian Stöhr, das macht mich aus“, nennt sich aber inzwischen Valencia Vintage.

Ganze Beiträge macht RTL daraus, wenn Stöhr versehentlich auf der gleichen Party in Frankfurt ist wie Tatjana Gsell (einer früheren Freundin, der er vorgeworfen hat, Drogen zu nehmen), selbst wenn sich die beiden, allen Bemühungen des Fernsehteams zum Trotz, nicht einmal begegnen. Und wenn es gerade mal keine Nachrichten gibt, lassen sich die, äh, Journalisten aufregende Experimente einfallen: „Für RTL ist Florian Stöhr zum ersten Mal seit Jahren ungeschminkt vor die Tür gegangen!“ Sie haben ihm einen Pulsmesser mitgegeben, um seinen Stress zu messen – und, womöglich, falls er kollabiert, einzuschreiten, also: weitere Kamerateams hinzuzurufen.

Die „Bild“ hat auch ihren Spaß mit diesem Geschöpf und erfand den interessanten Superlativ „der irrste Busen-Familien-Zoff Deutschlands“: Als Stöhr sich seinem Vater nach der Busen-OP vorgestellt habe, sei der „ein bisschen handgreiflich geworden“. Überschrift: „Millionär-Vater haut TV-Transe Florian Stöhr Lippe kaputt!“ Getoppt zwei Tage später durch: „Der Prügel-Papa der TV-Transe ist eigentlich der Onkel!“

Stöhr soll im Gespräch sein, für die neue Staffel der RTL-Show „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“, die am Freitag beginnt, in den Dschungel zu gehen. Falls nicht, wüsste man nicht, wohin sonst.

Die schlechten Menschen von „Deutschland sucht den Superstar“

Bei „Deutschland sucht den Superstar“ gibt es drei Gruppen von Menschen, deren Verhalten ich nicht verstehe.

Die erste sind die Leute, die das gucken. Siebeneinhalb Millionen haben die erste Folge der neuen Staffel gesehen – obwohl die Sendung so berechenbar, formelhaft und ausgewalzt ist wie kaum eine andere.

Das zweite sind die Leute, die da hingehen. Zigtausend Kandidaten hatten sich wieder beworben – obwohl sie wissen könnten, dass sie nur Rohmaterial für eine Maschinerie sind, die bestenfalls verspricht, nach einem absurden Aufwand und vielen Demütigungen, eine einzige erfolgreiche Single zu produzieren.

Das dritte sind die Leute, die das produzieren.

Über die ersten beiden Gruppen ist ausdauernd diskutiert worden. Über die Anziehungskraft der Show auf das Publikum und noch viel mehr über die Frage, ob man die Menschen, die dort mitmachen, vor sich selbst schützen müsste. Einige der Kandidaten, über die sich RTL ausführlich lustig macht, wirken geistig behindert. Aber erstens ist das kein klares Kriterium und zweitens keine Antwort auf die Frage, wie man mit ihnen umgehen müsste. Diese Leute dürfen, mutmaßlich, wählen, Geld ausgeben, heiraten, ihr Leben selbst bestimmen. Womöglich haben sie auch das Recht, sich vor der Nation zu Deppen zu machen.

Es ist wie beim alten Dilemma vom Zwergenweitwurf: Verstößt eine solche Veranstaltung gegen die Menschenwürde oder gehört zu dieser Menschenwürde, im Gegenteil, auch das Recht eines Zwergen, sich aus freien Stücken zum Objekt eines solchen Spektakels zu machen?

Mindestens so interessant finde ich aber eine andere Frage: Was sind das für Menschen, die mit Zwergen werfen wollen?

Auf „Deutschland sucht den Superstar“ bezogen, ist das natürlich diejenige der eingangs genannten Gruppen, deren Verhalten oberflächlich am einfachsten zu erklären ist: Leute arbeiten für „Deutschland sucht den Superstar“, weil sie damit Geld verdienen. Sie tun nur ihren Job.

Und doch verstehe ich diese Gruppe am wenigsten. Ich kann die Schadenfreude beim Gucken nachvollziehen, ich kann die Selbsttäuschung der Kandidaten erahnen, aber ich weiß nicht, wie verkommen man sein muss, um die Liebe einer todkranken Frau zu ihrem Sohn, der sie rund um die Uhr pflegt, als Mittel zu benutzen, um seine öffentliche Demütigung zu maximieren.

Der dreißigjährige Stefan hat nichts von einem Superstar, er hat nicht einmal etwas von einem RTL-„Superstar“. Er kann nicht singen; er ist, wenn er es vor der Jury versucht, eine lächerliche Figur. Andererseits bringt er eine ungewöhnlich tragische Lebensgeschichte mit sich.

Das ist eine ungewöhnliche Kombination von zwei Eigenschaften, die RTL für seine Show braucht, sonst aber streng trennt: Eigentlich sind es die Gewinner, die die persönlichen Schicksale mitbringen und dadurch noch bewundernswerter wirken.

Stefan erzählt Dieter Bohlen und den zwei Jurystatisten von seiner Liebe zur Musik und von seinem harten Leben. Nachdem er gesungen hat, bemühen sich die drei, ihm ungewöhnlich schonend beizubringen, dass er nicht in die nächste Runde kommt. Jedem Zuschauer ist klar, dass das milde Urteil nicht die wahre Leistung widerspiegelt, sonden rausschließlich Zeichen des Respekts ist vor dem persönlichen Schicksal des Kandidaten. Selbst Dieter Bohlen schafft es, eine menschliche Seite von sich zu zeigen.

Kurz.

Dann ist der Kandidat gegangen und Bohlen sagt zu der Frau neben sich: „Hätte er die kranke Mutter nicht, hätte ich ihn fertig gemacht.“

Das war den Zuschauern schon klar. Aber dass Bohlen es ausspricht und dass RTL es ausstrahlt, gibt dem ganzen eine andere Dimension. Bohlen schafft es, gleichzeitig zu betonen, dass er zu Mitleid fähig ist, und seine Mitleidslosigkeit zu demonstrieren, indem er dem Kandidaten und der Welt auf diesem Weg trotzdem noch mitteilt, dass er richtig scheiße war – nur damit da keine Missverständnisse bleiben.

Während des Auftrittes des Kandidaten hatte die Produktion ihre eigene Skrupellosigkeit bewiesen. Während er die letzten Zweifel, ob er wirklich so schlecht ist, wegsang, schnitt sie noch einmal die Aussagen seiner Mutter dazwischen, die sich wünschte, dass DSDS für ihn ein „Sprungbrett“ sein könnte, „weg von seiner kranken Mutter“. Mit billigstem Geigenkitsch und verdunkelten Zeitlupenaufnahmen hatten RTL und die Produktionsfirma Grundy die Geschichte der todkranken Frau, die im Rollstuhl sitzt und einen Sauerstoffschlauch trägt, vorher in Szene gesetzt – reiner Zynismus, wie sich herausstellte.

Während Stefan seine Talentlosigkeit zeigte, zeigte RTL noch einmal, wie seine Mutter schwärmte: „Stefan ist der neue Superstar. Und er hat das Talent.“

Diese Diskrepanz zwischen der Liebe und Hoffnung einer Mutter und der Realität wäre dem Zuschauer auch so schmerzhaft bewusst geworden, aber die Produzenten von „Deutschland sucht den Superstar“ gingen auf Nummer sicher und schnitten das direkt ineinander. Sie benutzten Stefan und seinen missratenen Auftritt, um seine kranke Mutter zu verhöhnen. Und sie nutzten die kranke Mutter und ihren verklärten Blick auf ihren Sohn, um Stefan zu verhöhnen.

Ganz unabhängig davon, wie der Kandidat das fand, der anscheinend dankbar war, dass er überhaupt teilnehmen durfte: Das muss man erst einmal tun wollen.

Das ist die Frage, die ich mehr als jede andere stelle, wenn ich „Deutschland sucht den Superstar“ gucke: Was sind das für Menschen, die an einer solch verkommenen Inszenierung mitwirken? Tom Sänger, der Unterhaltungschef von RTL, hat einmal gesagt: „Wir sind sehr darauf bedacht, die Akteure nicht zu beschädigen.“ Ich weiß nicht, ob das Zynismus ist. Oder ob man, wenn man lange genug in diesem Umfeld gearbeitet hat, abstumpft. Oder ob es doch einfach schlechte Menschen sind, die dort arbeiten.

(Den Auftritt kann man sich bei Clipfish ansehen.)

„Meedia“ schweift ab

Gestern mittag erreicht mich ein Hilferuf von Michael T. Bei diesem Artikel des Braanchendienstes „Meedia“, dass eine Serie im Kinderkanal Kika zur „Porno-Parodie mutiert“ sei, habe es ihm die Sprache verschlagen. Ob mir dazu etwas einfiele.

Lieber Michael T., ich fürchte, da muss ich passen. Manche Sachen sind selbst mir zu doof.

Zum Glück habe ich aber zwei Ersatzkommentatoren gefunden, die sich des Themas auf angemessenem Niveau annehmen:

ARD-Generalsekretärin: „Zugang für alle“

Die Generalsekretärin der ARD, Verena Wiedemann, hat sich in der Debatte über die verstörenden Äußerungen der WDR-Intendantin und neuen ARD-Vorsitzenden Monika Piel zu Wort gemeldet. Piel hatte kostenlose journalistische Online-Angebote von Verlagen als „Holzweg“ bezeichnet und angekündigt, sich „vehement“ dafür einzusetzen, dass die öffentlich-rechtlichen Anwendungen auf mobilen Geräten kostenpflichtig werden, wenn es auch die Anwendungen der Verlage sind.

Wiedemann geht in ihrem Kommentar hier im Blog kaum direkt auf Piel ein, setzt aber markant andere Akzente. Die Präsenz auf mobilen Endgeräten sei für die ARD „keine Frage ihres Beliebens, sondern eine Frage ihres Programmauftrags und damit ihrer Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit und gegenüber den Gebührenzahlern. Für das Privileg, von den Marktkräften ebenso journalistisch unabhängig zu sein wie von staatlicher Kontrolle, ist die ARD im Gegenzug verpflichtet, qualitätsvolle und vielfältige Inhalte anzubieten und den optimalen Zugang zu ihnen für alle Bürger sicherzustellen.“

Innerhalb der Grenzen, die der Rundfunkstaatsvertrag ARD und ZDF im Internet setze, müssten die gebührenfinanzierten Inhalte „ohne zusätzliches Entgelt für jedermann, der sich für den einen oder anderen Empfangsweg entscheidet, frei zugänglich“ sein, das gelte auch für Computer oder Smartphones. Die von Piel ins Spiel gebrachte Möglichkeit, dass „eines Tages alle Inhalte der Verleger im Internet kostenpflichtig sein könnten“, sei „theoretischer Natur“, formuliert sie diplomatisch und dennoch als deutliche Abgrenzung zur WDR-Intendantin.

Wiedemann versucht, den vielfältigen Protest gegen Piels durchschaubaren Anbiederungsversuch an die Verleger umzulenken auf einen gemeinsamen Kampf für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und gegen die Lobby der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger: „Es wird wichtig bleiben, öffentlich wieder und wieder deutlich zu machen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein gesamtgesellschaftliches Anliegen ist. Denn er gehört uns allen.“

Inzwischen rudert auch Piel zurück. Ein ARD-Sprecher sagte, sie „wäre falsch verstanden worden, wenn ihre Äußerungen als generelle Absage an kostenlose Apps interpretiert worden wären“. Angebote, die vorhandene, bereits über die Rundfunkgebühren bezahlte Internet-Inhalte lediglich „optimieren“ wie die „Tagesschau“-App, müssten nach Meinung von Frau Piel selbstverständlich auch weiterhin kostenfrei bleiben.

Verena Wiedemanns Kommentar im Wortlaut:

Die ARD hat seit jeher die unverzichtbare Rolle der Presse für unsere Demokratie und für die Zukunft der Qualitätsmedien in Deutschland betont. Und so macht auch die neue ARD-Vorsitzende, Frau Piel, deutlich, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die Printmedien in der Aufgabe ergänzen, den Bürgern glaubwürdige und umfassende Informationen und das ganze Meinungsspektrum unserer Gesellschaft zu vermitteln. Dort, wo dies sinnvoll und möglich erschien, haben wir bereits seit Jahrzehnten auf vielfältige Kooperationen mit den Verlagen gesetzt: Etwa bei der Berichterstattung über kulturelle Ereignisse oder bei Buchprojekten und in neuerer Zeit auch im Internet, wenn die ARD ausgesuchte audiovisuelle Inhalte für die Webseiten lokaler und regionaler Zeitungen zur Verfügung stellt. All dies stärkt unsere Medienlandschaft insgesamt und trägt zu einem optimalen flächendeckenden Informationsangebot für alle Bürger bei.

Wie aber verhält es sich nun mit den Apps? Mit ihnen optimiert die ARD ihre Internet-Angebote für die Welt der mobilen elektronischen Endgeräte, so wie dies alle anderen Medien auch tun, die künftig noch publizistisch relevant sein wollen. Nur ist die Präsens auf mobilen Endgeräten im Falle der ARD keine Frage ihres Beliebens, sondern eine Frage ihres Programmauftrags und damit ihrer Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit und gegenüber den Gebührenzahlern. Für das Privileg, von den Marktkräften ebenso journalistisch unabhängig zu sein wie von staatlicher Kontrolle, ist die ARD im Gegenzug verpflichtet, qualitätsvolle und vielfältige Inhalte anzubieten und den optimalen Zugang zu ihnen für alle Bürger sicherzustellen. In der analogen Welt war dieser Zugang noch übersichtlich: Für die Verbreitung gab es neben der Terrestrik nur noch Satellit und Kabel. Längst aber haben sich die publizistisch relevanten elektronischen Verbreitungswege vervielfacht. Zugang für alle zu gewährleisten ist heute komplexer und aufwendiger als jemals zuvor.

Der Gesetzgeber hat — übrigens mit ausdrücklicher Zustimmung der Europäischen Kommission — aus dieser Entwicklung die einzige zukunftsfähige Konsequenz gezogen: Der öffentlich-rechtliche Programmauftrag gilt grundsätzlich für alle elektronischen Verbreitungswege und Plattformen. Es kommt also zunächst nicht darauf an, ob der gebührenfinanzierte Inhalt im Radio zu hören oder am Fernseh-, Computer- oder Smartphone-Bildschirm zu sehen ist: Er ist ohne zusätzliches Entgelt für jedermann, der sich für den einen oder anderen Empfangsweg entscheidet, frei zugänglich.

Aber ebenso gilt: Der deutsche Gesetzgeber hat dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Internet — weit mehr als in Hörfunk und Fernsehen — auch massive Grenzen gesetzt. Die Verbotsliste der Inhalte, die die ARD gar nicht oder zeitlich nur sehr eng begrenzt ins Internet stellen darf, ist lang. Und ein wesentliches Motiv für diese Zugangsschranken der Bürger zu den von ihnen finanzierten Inhalten waren die Proteste der publizistischen Konkurrenten, allen voran der Verleger, aber auch des kommerziellen Rundfunks. Sie machten geltend, ihre Geschäftsmodelle im Internet könnten durch die öffentlich-rechtlichen frei zugänglichen Inhalte Schaden nehmen.

Diese Befürchtungen haben sich allerdings als unbegründet erwiesen. Seit dem Sommer 2009 gilt ein Rundfunkstaatsvertrag, der ARD, ZDF und DLR verpflichtet, jedes neue oder wesentlich veränderte Internet-Angebot einem sog. Dreistufentest zu unterziehen. Das heißt, wir dürfen den Nutzern nur Angebote machen, die die Aufsichtsgremien zuvor genehmigt haben. Im Rahmen dieser Prüfung müssen die Rundfunkgremien auch die potenziellen Auswirkungen des geplanten Angebots auf den Wettbewerb mit in Betracht ziehen. Bei den zahlreichen Dreistufentests zum Bestand unserer Telemedien in 2009/2010 hat sich jedoch herausgestellt, dass von unseren Angeboten keine oder allenfalls nur sehr geringe Marktauswirkungen ausgehen. Dennoch dürfte die ARD mit ihren Angeboten auf mobilen Endgeräten überhaupt nicht vertreten sein, wenn es allein nach den Forderungen der Verbände der Zeitungs- und der Zeitschriftenverleger gehen würde.

Es ist deshalb ermutigend zu lesen, mit welcher Leidenschaft sich inzwischen viele Stimmen erheben, die ein frei zugängliches vielfältiges ARD-Angebot auf allen publizistisch relevanten Plattformen für notwendig erachten und dies auch öffentlich einfordern. Und natürlich haben diejenigen Recht, die darauf verweisen, dass die Hypothese, wonach eines Tages alle Inhalte der Verleger im Internet kostenpflichtig sein könnten, theoretischer Natur ist. Ist es nicht allen voran der Axel Springer Verlag selbst, der seit vielen Jahren sogar in seinem klassischen Geschäftsfeld der gedruckten Presse noch verbliebene unabhängige Lokalzeitungen mit „kostenlosen“ Anzeigenblättern bedrängt? Und der längst im werbefinanzierten Internet enorme Umsatzsteigerungen und Gewinne realisiert?

Ich würde mir sehr wünschen, dass sich alle, die sich in Ihrem Blog zu unserem Thema zu Wort melden und auch sonst alle, die das Telemedienangebot der ARD mit Interesse verfolgen, beim nächsten Dreistufentest auch gegenüber unseren Aufsichtsgremien äußern. Denn die Rundfunkräte haben die Aufgabe, das Gemeinwohl insgesamt abzuwägen. Schon bei den Dreistufentests zu unseren bestehenden Telemedien haben sich zahlreiche Organisationen und Internet-Nutzer zu Wort gemeldet und freien Zugang zu „ihren“ Inhalten gefordert. Es wird wichtig bleiben, öffentlich wieder und wieder deutlich zu machen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein gesamtgesellschaftliches Anliegen ist. Denn er gehört uns allen. Und die Fans von Tagesschau- und Sportschau-App können beruhigt sein: Diese Apps haben den Dreistufentest mit Erfolg bestanden. Und das heißt, dass die ARD diese Angebote nicht nur machen darf, sondern auch machen muss.

Dr. Verena Wiedemann
ARD-Generalsekretärin