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Johannes B. Kerner sucht den „Mini-Mini-Mini-Sinn“ im Tod von Robert Enke

Es ging auf Mitternacht zu, die Medien hatten schon über 24 Stunden lang aus der Sprachlosigkeit über Robert Enkes Tod ein dröhnendes, nicht enden wollendes Geplapper gemacht, als Johannes B. Kerner es schaffte, diese Sprachlosigkeit doch noch einmal kurz wieder herzustellen. Er ließ eine Karte zeigen und sagte zu Jörg Sievers, dem Torwarttrainer von Enke:

„Wir können hier anhand einer Grafik noch einmal darlegen, wie nah [Enkes] Todesort dem Ort ist, wo seine Tochter begraben ist. Das ganze ist ein paar Kilometer nordwestlich von Hannover, Neustadt am Rübenberge, da ist der Friedhof, und ungefähr zwei Kilometer, 2200 Meter entfernt, in Eilvese hat Robert Enke gestern sein Leben beendet. Jörg, glauben Sie, dass es irgendwas miteinander zu tun hat, dass er diesen Ort in der Nähe der Grabstätte seiner vor drei Jahren gestorbenen kleinen Tochter gewählt hat, um sein Leben zu beenden?“

Jörg Sievers, der Torwarttrainer, schnappte einen stillen Moment lang nach Luft, bevor er sich fasste und antwortete:

„Das wäre reine Spekulation, was ich jetzt sage. Wir spekulieren eh sehr, sehr viel. Deswegen möchte ich auf diese Frage nicht antworten.“

Es wäre ein Augenblick gewesen, innezuhalten und kurz zu reflektieren, in welchem Maß sich alle in einen Rausch spekuliert hatten, auf der Suche nach Erklärungen für das Unerklärliche und rationalen Gründen für die Irrationalität einer Krankheit, zu deren Komplikationen der Suizid gehört. Aber Kerner zuckte nicht mit der Wimper, sondern hatte schon ein neues Spekulations-Angebot für Jörg Sievers: Ob nicht vielleicht hinter der rätselhaften Darmerkrankung Enkes vor ein paar Monaten in Wahrheit auch nur die Depression gesteckt habe…

Ein „Fraeulein Tessa“ hatte schon am Dienstagabend, nachdem bekannt wurde, dass Robert Enke sich das Leben genommen hat, getwittert: „Könnte man nun bitte präventiv Kerner und Beckmann absetzen? Danke.“ Es half nichts. Sat.1 kündigte prompt ein „Kerner Spezial“ und wies darauf hin, dass der Fernsehmann den Toten ja von seinen Länderspielen-Moderationen her kenne. Er kam dann aber nicht so schlimm, wie es hätte kommen können.

Dank Kerner hat Sat.1 nun erstmals seit längerer Zeit die Möglichkeit, aktuelle Themen aufmerksamkeitsstark im Programm zu behandeln – und muss die heillosen Spekulationen, das übertriebene Pathos, die pseudojournalistische Aufarbeitung (und vielleicht: die Quote) nicht mehr den Konkurrenten überlassen.

Kerners Gäste Jörg Sievers und Martin Kind, der Präsident von Hannover 96, waren vom NDR herübergekommen, wo sie kurz zuvor in der Sendung „Menschen & Schlagzeilen“ schon von Susanne Stichler zum Spekulieren aufgefordert worden waren. Bei Kerner musste das Drama des Dramas natürlich noch größer werden. Nicht nur von einem trauernden, sondern gleich einem „traumatisierten Land“ sprach er zur Begrüßung, rühmte die Pressekonferenz von Enkes Witwe als „beeindruckenden Auftritt einer wirklich starken Frau“ und stellte dem Vereinspräsidenten zum Einstieg die programmatische Frage: „Herr Kind, wie haben Sie diese Stärke empfunden?“

Nach einem Tag, an dem auf allen Kanälen viel mehr zu dem Thema gesagt wurde, als es zu sagen gab, der Nachrichtensender n-tv selbst die Bilder der Pressekonferenz noch mit dramatisch-kitschiger Musik unterlegte und sich im DSF Sportreporter über Stunden als Experten für das Krankheitsbild Depression versuchten, war dieses „Kerner Spezial“ ein fast unauffälliger Abschluss.

Kerner bemühte sich rührend, das Gespräch vom unbegreiflichen Thema Depression zum viel handlicheren Thema Überforderung und Druck zu lenken, worunter ja nicht nur Profi-Fußballer leiden würden, sondern zum Beispiel auch Geschäftsleute. Und er versuchte, der Tat etwas Gutes abzugewinnen und fragte in seiner unnachahmlichen Art, „ob wir möglicherweise damit rechnen müssen, dass wir in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten vermehrt Fälle hören, wo Fußballprofis den Mut finden zu sagen: Auch ich war einmal in der Situation, wo ich, ganz ehrlich, das Gefühl hatte, ich kann nicht mehr.“ Und wenn nun eine offene Diskussion entstehe über die Notwendigkeit, auch Schwächen zeigen zu können: Ob das „möglicherweise einen Mini-Mini-Mini-Sinn des Freitodes von Robert Enke gewesen sein könnte“? Dabei legte er den Kopf ganz treuherzig schief, bevor jemand auf die Idee kommen konnte, dass auch die Medien mit ihrer Gnadenlosigkeit gerade im Sport zu dem unmenschlichen Druck beitragen könnten.

Und dann schaffte er es, dass Sievers und Kind ganz am Schluss noch die Tränen in die Augen stiegen, als sie den großen Robert Enke auf Kerners Bitte hin noch einmal rühmten, und so gesehen muss man es wohl als eine gelungene Sendung bezeichnen.

Aufklärung unerwünscht? Frank Plasberg und das Wundermittel gegen Neurodermitis

„Besonders bedrückend ist es, wenn man sieht, wie sehr kleine Menschen unter Neurodermitis leiden“, sagt Frank Plasberg. Dann zeigt er, wie sehr der kleine Mensch Bastian unter Neurodermitis leidet, was tatsächlich besonders bedrückend ist, aber nicht nur in dem Sinne, wie Plasberg es meint. Mit den erschütternden Bildern stellte „Hart aber fair“ gestern den Jungen in den Dienst einer zweifelhaften Berichterstattung in der ARD, die wie eine gigantische Werbeaktion für eine Vitamin-Salbe gegen Neurodermitis wirkt, die demnächst auf den Markt kommt, nachdem sie die Pharma-Industrie angeblich jahrelang verhindert hat.

Der Immunologe Beda Stadler fand in der Sendung deutliche Worte:

„Ich bin schwer betroffen. Herr Plasberg, was Sie hier abziehen, ist wirklich eine Schande. Sie missbrauchen ein Kind. Das Kamerateam und der Regisseur hätten dem Kind die blöde Salbe anstreichen sollen, dann wäre es ja anscheinend jetzt wieder gesund. Wenn man hier so tut, als würde ein blödes Avocadoöl mit Vitaminen drin eine schwere Krankheit vom Erdboden verschwinden lassen, dann ist das Betrug.“

Plasberg versuchte zurückzuruden und erklärte, man habe doch gerade „herauspräpariert, dass das Medikament nicht heilt, aber lindert“. Das ist in der Tat ein wesentlicher Unterschied, und vielleicht hätte ihn auch jemand den ARD-Verantwortlichen erklären sollen, die die Dokumentation über die angebliche Verhinderung des angeblichen Wundermedikamentes durch die Pharma-Industrie, aus der auch die bedrückenden Bilder von Bastian stammen, ausgerechnet „Heilung unerwünscht“ nannten.

Oder dem Autor dieser Dokumentation, dem WDR-Redakteur Klaus Martens, der sein demnächst erscheinendes Buch über dasselbe Thema nicht nur ebenfalls „Heilung unerwünscht“ nannte, sondern es auch zuließ, dass auf dessen Umschlag ein Tigel mit der durchaus irreführenden Aufschrift „Inklusive Rezeptur gegen Neurodermitis“ zu sehen ist.

Martens behauptet in seinem Film, der am Montag in der ARD lief, dass ein Tüftler vor zwanzig Jahren eine einfache Rezeptur gefunden habe, die sensationell gegen Neurodermitis und Schuppenflechte helfe und „keine Nebenwirkungen“ habe. Die Pharmaindustrie weigere sich aber, das Mittel auf den Markt zu bringen, weil es nicht so gewinnbringend zu vermarkten sei oder den Verkauf ihrer anderen Produkte gefährde, die aber viel mehr Nebenwirkungen hätten. Seit einigen Tagen macht die Geschichte Furore und wird von vielen Medien undistanziert verbreitet, obwohl es durchaus Zweifel an der Darstellung und insbesondere der Überzeugungskraft der Studien gibt, die die Wirkung der Salbe belegen sollen.

Auch Frank Plasberg, der sich sonst mit seiner journalistischen Distanz brüstet, machte sich ganz zum Anwalt seines Kollegen Klaus Martens und der Creme. Von „besten klinischen Studien“ sprach er gleich in der Einleitung zu dem Thema, und als seine Experten – Vertreter der Pharma-Industrie ebenso wie ihre Kritiker – genau daran zweifelten, wies er dreimal darauf hin, dass man diese Studien am heutigen Donnerstag online stellen werde, im „Faktencheck“ auf hartaberfair.de. „Die gibt es“, sagte er, „das haben wir recherchiert, sonst hätten wir [die Creme] nicht vorgestellt.“

Der Schweizer Immunologe Stadler nannte den Filmautor Klaus Martens unumwunden einen „Scharlatan“ und forderte, Leuten wie ihm „keinen Platz zu geben, um Verschwörungstheorien loszulassen“ gegen die (von ihm sonst kritisierte) Industrie. Plasberg aber gab ihm nicht nur einen Platz, sondern bewahrte ihn vor berechtigten kritischen Nachfragen. „Nochmal“, widersprach er auch dem renommierten „Spiegel“-Journalisten und Pharma-Industrie-Kritiker Markus Grill, der Martens Geschichte aus dem ARD-Film ebenfalls anzweifelte: „Wir werden auch Studien dazu morgen veröffentlichen.“

Der „Faktencheck“ ist inzwischen online, aber von den versprochenen eindeutigen Studien fehlt jede Spur. Der WDR wirbt zwar für die Creme, indem er ihre Rezeptur veröffentlicht, kann aber mit Links zu wissenschaftlichen Untersuchungen nicht aufwarten. Auf einer eigenen Seite dokumentiert WDR.de die Kontroverse und räumt ein, dass sich der Dermatologe Markus Stücker von der Ruhruniversität, der die Studien vor zehn Jahren geleitet habe, heute „verhalten“ zeige und nur von einer „eher schwachen Wirkung“ spreche. Die ARD hat auch einen „offenen Brief“ von Klaus Martens an die Zuschauer veröffentlicht, in dem er allerdings ebenfalls keine Quellen für die „klinischen Studien“ nennt, die „in allen Fällen“ bestätigt hätten, dass durch die Creme „die Symptome verschwinden“.

Immerhin räumt der WDR online ein, dass Martens auch ein Buch zu dem Thema veröffentlicht hat – eine Tatsache, die der „harte“ Frank Plasberg noch als „Verschwörungstheorie“ abzutun schien, als Siegfried Throm, der Geschäftsführer des Verbandes forschender Pharmaunternehmen, das aussprach, was viele Kritiker Martens und der ARD vorwerfen:

„Herzlichen Glückwunsch, das ist ein genialer Marketingcoup. Mithilfe eines Filmes ein Buch zu protegieren, das demnächst herauskommen soll, und dann passend auch noch die entsprechende Salbe. Da können sich selbst unsere Marketingabteilungen noch eine Scheibe abschneiden.“

Ist das nicht bemerkenswert? Dass eine Sendung die angebliche Verhinderung eines Medikamentes dokumentiert, das ihr Autor als außerordentlich wirksam und frei von Nebenwirkungen beschreibt, und diese Salbe dann passend zur Ausstrahlung plötzlich doch auf den Markt kommt? Ein kleines Schweizer Unternehmen hat sich aufgeopfert, und vertreibt plötzlich die „Regividerm B12 Salbe“ – angeblich als Reaktion auf die große Resonanz der Fernsehausstrahlung, was zeitlich allerdings höchst unwahrscheinlich ist.

Und Frank Plasberg? Erwähnte diese erstaunliche Koinzidenz nicht einmal.

Mehr über die Zweifel an dem ARD-Film und die Wirkung der Salbe im Pharma-kritischen Medizinblog „Stationäre Aufnahme“.

Nachtrag/Korrektur: Die Studien sind, offenbar seit spätem Nachmittag, auf der Rezeptseite verlinkt – halten aber einem kritischen Vergleich mit den vollmundigen Versprechen von Martens und Plasberg kaum stand. So wurde zum Beispiel die Wirkung der Salbe nur mit wenigen Probanden und über einen kurzen Zeitraum überprüft.

Schlag den Raab: Wie man eine halbe Million er- und alle Sympathien verspielt

Selten hat das Publikum einem Kandidaten seinen Gewinn so sehr missgönnt wie diesem. Hans-Martin Schulze, ein 24-jähriger Pharmazie-Praktikant aus Oldenburg, ist seit dieser Nacht um eine halbe Million Euro reicher. Er musste dafür nicht nur den Raab, sondern auch das Publikum schlagen. Am Ende, als er mit verzerrtem Gesicht und einem Triumphschrei den Geldkoffer in die Höhe streckte, buhten sie ihn hemmungslos aus.

Das ist nicht die übliche Rollenverteilung bei „Schlag den Raab“, und es war nicht so, dass dieser Hans-Martin in irgendeiner Weise gefoult hätte. Er hat nur alles getan, um die Sympathien zu verspielen.

Es begann schon, als er und eine Kandidatin auf das Ergebnis warteten, wer von ihnen beiden die meisten Zuschauerstimmen erhalten hatten und überhaupt gegen Raab um die 500.000 Euro spielen durfte. Das ist so ein Moment, in dem man schon einmal angespannt sein darf, aber die Art, wie Hans-Martin sich verkrampfte und wirkte, als wollte er mit seinem ganzen Körper seine Teilnahme erpressen, wirkte merkwürdig abstoßend und brachte den Moderator Matthias Opdenhövel zum ersten höhnischen Witz, fürs Beten sei es nun zu spät.

Der psychologisch vermutlich entscheidende Moment war aber ein anderer: Als er beim Diskuswerfen gegen einen sich ziemlich ungeschickt anstellenden Raab weit vorne lag, bot er gönnerhaft-ironisch an, die letzten Würfe gar nicht mehr zu machen. Das ist schon grundsätzlich keine so gute Idee, aber bei einem Gegner wie Raab erst recht nicht, bei dem genau eine solche Situation die Ausschüttung irgendeines Ehrgeiz-Hormones auslöst, das ihn dann im letzten Wurf das Spiel doch noch unerwartet gewinnen lässt. Und der, noch wichtiger, damit sofort alle Sympathien des Publikums auf seiner Seite hat (das es ihm in anderen Fällen, bei anderen Gegnern, auch gerne gönnt, wenn seine Verbissenheit keine Früchte trägt). Aber spätestens von diesem Moment beim Diskuswurf im Stadion an war das Saalpublikum fast geschlossen auf Seiten Raabs und machte keinen Hehl daraus.

Man weiß ja nicht, was man selbst für eine Figur abgeben würde unter den Bedingungen einer solchen Show, aber man kann zukünftigen Kandidaten den Auftritt von Hans-Martin als reichhaltiges Anschauungsmaterial geben für all das, was sie vermeiden sollten. Er freute sich immer viel zu sehr und oft zu früh über die Fehler seines Gegners, duschte sich in Schadenfreude. Als läppisch verlachte er die Frage, ob es stimmt, dass die Insel Lummerland drei Berge hat. „Klar, das Lied: ‚Eine Insel mit drei Bergen'“, eine Kindergartenaufgabe. Blöd nur, dass das Lied geht: „Eine Insel mit zwei Bergen…“ Seine aggressiven Siegesgesten kamen so wenig an wie sein beunruhigender Hang, sich im Selbstgespräch anzufeuern: „Komm schon“ / „Du schaffst das“ / „Geht doch“.

Er hatte sie bald alle gegen sich: das Publikum, die Moderatoren, den Kommentator. Auch Raab selbst sagte einmal bösartig (und für Hans-Martin vermutlich unerklärlich), er verliere ja immer ungern, in diesem Fall aber besonders. Es tat der Spannung der Sendung keinen Abbruch, gegen den Kandidaten zu fiebern statt mit ihm, aber je deutlicher und einmütiger die Ablehung wurde, desto grausamer wurde die Situation. Opdenhövel sagte zu einer Begleiterin Hans-Martins, dass es ja besser sei, viel Geld zu gewinnen als viele Freunde, und als sie freundlich in die Falle tappte und widersprach, viele Freunde seien ja auch ganz schön, forderte er das Publikum auf, per Applaus zu demonstrieren, für wen sie sind. Sie waren für Raab.

Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter formierte sich unterdessen eine wachsende Horde von Leuten, die sich in immer gröberem Spott über den jungen Mann überboten, für den sie früh und konsequent den Spitz- und Erkennungsnamen #hassmartin erfunden hatten. (Unklar blieb dabei allerdings, welchen Grund nun ausgerechnet diese Leute haben sollten, sich mit ihrer begeistert zur Schau gestellten Asozialität dem sozial ungeschickten Kandidaten überlegen zu fühlen.)

Doch dem Urteil, dass hier jemand sensationell unsymphatisch auftrat, kann man nur schwer widersprechen. Der Abend war eine faszinierende und etwas beunruhigende Lektion, wie schnell und vollständig man sich ins Aus katapultieren kann. Dabei wird die Pose des übertrieben selbstbewussten Herausforderers eigentlich schon vom Format und dem Casting vorgegeben. Und viele der Eigenschaften, die bei Hans-Martin so abstoßend wirkten, gehören auch zum Repertoire Raabs, der aber als langjähriger Profi natürlich viel geschickter darin ist, sie in den Spitzen auf ein Maß herunterzuregeln, das im Fernsehen nicht zu peinlich aussieht.

Das war der Hauptfehler des Kandidaten an diesem Abend: Dass er nicht erkannt hat, was seine Rolle ist in diesem Spiel. Relativ früh, bevor sie beim 2000-Meter-Bahnradfahren gegeneinander antraten und nicht nur die Kondition gegen Raab sprach, sagte er, da würde er sich aber sehr schämen, wenn er das nicht gewinnen würde, und tätschelte dabei tatsächlich Raabs Bäuchlein. Es war einer dieser Fremdschäm-Augenblicke, die man schwer mit ansehen kann, und Raab hat danach fast instinktiv die Arme vor dieser vermeintlichen Schwachstelle verschränkt. Aber interessanterweise hätte die Szene umgekehrt funktioniert: Raab hätte sich über eine Schwäche des Gegners auf diese Weise lustig machen können, ohne dass es so peinlich gewesen wäre: Er hätte es professionell augenzwinkernd abfedern können, und wenn er durch so eine Form von Arroganz das Publikum gegen sich aufbringt, verschafft er dem Kandidaten nur zusätzliche Sympathien, was sehr in Ordnung geht.

Trotzdem war das Maß, in dem Raabs Erfolge von den Zuschauern im Studio gefeiert wurden, und Punkte von Hans-Martin Schulze fast schweigend quittiert wurden, fast schockierend, und bei den Buhrufen ganz am Ende musste sogar Raab selbst eingreifen. Wie geht man als Mensch eigentlich mit der Erfahrung um, dass die eigene Art auf andere anscheinend derart abstoßend wirkt?

Insofern erinnerte der Abend ein wenig an die erste Staffel von „Big Brother“: Als die Bewohnerin Kerstin Manuela irgendwann schockiert feststellen musste, dass dass sie im Laufe der Wochen im Container für die Zuschauer zuhause zu einer Hassfigur geworden war, und viele ihr das auch zeigten. Hans-Martin verspielte die Sympathien in nur einem Abend. Das hätte er auch nicht geahnt: Dass der Preis für die 500.000 Euro so hoch sein könnte.

Mit CDU/CSU und SPD sitzen Sie in der ersten Reihe

Womöglich hätte er es gemacht. Womöglich hätte sich Guido Westerwelle schnell noch, wie schon einmal 2002, zum „Kanzlerkandidaten“ seiner Partei küren lassen. Und womöglich hätten Grüne und Linke es geschafft, die Funktion ihrer „Spitzenkandidaten“ kurzfristig ebenfalls entsprechend umzuwidmen. Und die ARD hätte sich was einfallen lassen müssen.

Ulrich Deppendorf, der Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, hatte den drei Oppositionsparteien im Bundestag nämlich am Dienstagabend in der ARD-Sendung „Klartext“ einen verführerisch einfachen Weg angeboten, wie sie doch noch am „Duell“ am 13. September zwischen der Kanzlerin und ihrem Stellvertreter teilnehmen könnten. „Herr Westerwelle“, sagte Deppendorf süffisant, „Sie hätten das schnell ändern können. Sie hätten sich bloß zum Spitzenkandidaten auch fürs Kanzleramt aufstellen lassen können. Dann wären Sie zu dritt dabei. Sie haben ja noch eine Woche Zeit.“ Deppendorf sah dabei nicht aus, als hätte er einen Witz gemacht. Westerwelle wirkte nicht, als fände er es lustig.

Aber es stellt sich heraus: Deppendorfs Wort gilt nicht. Es reicht nicht, sich „Kanzlerkandidat“ zu nennen – obwohl das eine irgendwie dem Wahlkampf und seiner Inszenierung im Fernsehen angemessen absurde Regel gewesen wäre und die interessante weitere Frage aufgeworfen hätte, ob dann nicht auch Helga Zepp-LaRouche mitdiskutieren dürfen müsste, die „Kanzlerkandidatin“ der durchgeknallten „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“.

ARD-Chefredakteur Thomas Baumann jedenfalls erklärt auf Nachfrage des Fernsehblogs, welche Voraussetzungen der Spitzenkandidat einer Partei, die nicht SPD oder CDU heißt, erfüllen müsste, um zum Fernseh-„Duell“ zugelassen zu werden:

„Wenn er eine echte, reale Chance hätte, nach der Wahl tatsächlich zum Bundeskanzler gewählt zu werden. In Deutschland werden traditionsgemäß bei Koalitionsregierungen jene Spitzenkandidaten zum Kanzler gewählt, deren Partei die meisten Mandate erzielt hat.“

Nun weiß man weder, wer diesen Test mit der „echten, realen Chance“, Bundeskanzler werden zu können, durchführt, noch warum Frank-Walter Steinmeier ihn offenbar bestanden hat. Aber ein „Duell“ mit einer einzigen Teilnehmerin wäre womöglich sogar den Fernsehleuten, die sonst gar kein Gefühl für die Absurdität ihres Tuns haben, merkwürdig vorgekommen. Und wer weiß, ob Angela Merkel zugesagt hätte, gegen sich selbst anzutreten.

Sie mag ja offenbar auch der Einladung des ZDF zu einem Gespräch aller Spitzen- und Kanzlerkandidaten nicht folgen. Chefredakteur Nikolaus Brender hat seinen Frust darüber jetzt öffentlich gemacht, dass die Kanzlerin immer etwas Besseres zu tun habe, als sich mit den ganzen anderen vor Fernsehkameras auseinanderzusetzen. „Mit Händen und Füßen, scharfem Timbre in der Stimme und auch gutem Zureden“ versuche man, alle zusammen zu bekommen – dabei fragt man sich, wo das Problem liegt. Wenn Frau Merkel nicht mag, findet die Veranstaltung eben ohne sie statt. Aber nicht so, dass sie einfach fehlt und es wirkt, als stünde sie über dem Zank der Parteipolitiker. Sondern mit einer Papp-Merkel an ihrem Platz, die schweigend in der Redezeit, die der Kanzlerin eigentlich zustünde, eingeblendet wird. Oder alternativ mit Kanzlerkandidatin Zepp-LeRouche an ihrer Stelle.

Mag sein, dass es naiv ist anzunehmen, dass ARD und ZDF (und im Zweifelsfall auch RTL und Sat.1) sich trauen würden, die CDU-Vorsitzende in dieser Weise vor den Kopf zu stoßen. Aber natürlich könnte man es tun. Man müsste es nur wollen. Und dann würde man schon sehen.

Jedenfalls war es ein bemerkenswerter Moment in der Diskussionsendung „Klartext“ mit Deppendorf und Sandra Maischberger am Dienstagabend, als die Vertreter der Oppositionsparteien die ersten Minuten der Sendung dazu nutzten, den Vorwurf des langweiligen Wahlkampfes an die Fernsehleute zurückzugeben. „Wie soll denn da Spannung aufkommen“, fragte Gregor Gysi angesichts des „Kanzlerduells“. „Wenn Sie wenigstens einen kleinen Oppositionspolitiker wie mich einlüden, damit da ein bisschen was los wäre.“ Westerwelle gab ihm Recht und sagte an die Adresse der Moderatoren: „Beklagen Sie sich nicht darüber, dass der Wahlkampf Ihnen nicht spannend genug ist, wenn Sie ihn im Wesentlichen auf eine Auseinandersetzung beschränken zwischen der Regierungschefin und ihrem Stellvertreter.“

Die Schuldfrage um die empfundene Langeweile des Wahlkampfes war nicht der einzige schwarze Peter, um den es an diesem Abend ging. Der andere heißt mit Nachnamen Ramsauer, ist Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag und hätte in der Runde eigentlich nichts zu suchen gehabt. Angekündigt war eine Diskussion der „Fraktionsspitzen“ im Deutschen Bundestag, und die CSU bildet bekanntlich eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. Auf Nachfrage erklärt der für die Sendung verantwortliche WDR, dass im Untertitel genau deshalb die Rede nicht von „Fraktions-„, sondern von „Polit-Spitzen bei Maischberger und Deppendorf“ gewesen sei – die vage Formulierung umfasst natürlich nach Belieben auch weitere (semi)prominente Gäste, also auch Ramsauer.

Die Redaktion lässt verlauten, dass die CSU zwar keine Fraktion im Bundestag bilde, aber immerhin „in Fraktionsstärke“ vertreten sei. Außerdem hätte das Verwaltungsgericht schon bei den traditionellen Fernsehrunden der Parteivorsitzenden am Wahlabend entschieden, dass es rechtens sei, einen Vertreter der CSU einzuladen. Aber so absurd schon bei der „Berliner Runde“ nach Landtagswahlen außerhalb Bayerns die Präsenz eines CSU-Vertreters ist – dort sitzen wenigstens die Parteivorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien. Bei „Klartext“ saßen die Fraktionsvorsitzenden – und einen solchen kann die CSU nicht bieten.

Dass die Union doppelt vertreten war, sei eine redaktionelle Entscheidung, keine Vorgabe der Parteien gewesen, sagt der WDR. De facto konkurrierten die beiden Schwesterparteien in diesem Wahlkampf miteinander, und auch angesichts der Kabbeleien zwischen CSU und FDP habe man die Anwesenheit des Landesgruppenchefs für nötig gehalten: „Man kann es der CDU nicht überlassen, die CSU mit zu vertreten.“ Aha.

Deppendorf hätte vermutlich gesagt, „Sie können ja selber schnell noch den ein oder anderen Landesverband abspalten und wären auch doppelt mit dabei“, aber darauf hätte man sich natürlich auch wieder nicht verlassen können.

Und der MDR zeigt heute, zufällig drei Tage vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, eine viertelstündige Sondersendung „Wie weiter im Osten, Frau Merkel?“ mit der Bundeskanzlerin. Den Fragesteller spielt der CDUMDR-Chefredakteur Wolfgang Kenntemich. Kein Wunder, dass Frau Merkel da gerne zugesagt hat.

Und es wird keiner im Studio sein, der Kenntemich vor laufender Kamera die entscheidende Frage stellen könnte: Geht’s noch?

Nachtrag, 12.55 Uhr: Der MDR hat das Merkel-Interview abgesagt. Intendant Udo Reiter sagte, die Terminwahl sei unglücklich gewesen.

Ulrich Deppendorfs Schweißausbruch am Ufer des Sommerlochs

Man kann diese Geschichte natürlich als Sommerloch-Thema abtun (schon weil das Sommerloch ihr Thema ist), aber das wäre schade, denn man kann etwas aus ihr lernen, und zwar über das publizistische Selbstverständnis von Ulrich Deppendorf, dem Leiter des Hauptstadtstudios der ARD.

Deppendorf hat sich über seinen Kollegen Kai Gniffke geärgert, der die Redaktion von „ARD aktuell“ leitet und am Dienstag kurz vor Feierabend und Mitternacht im Blog der „Tagesschau“ schnell noch verkündet hatte: „Es ist da!“:

„… heute öffnete das Sommerloch erstmals für diese Saison sein sonnendurchflutetes Maul.“

Es war ein kurzer, launiger Eintrag – einer von dieser Sorte, die Blogs so lesenswert machen, weil sein Inhalt offensichtlich nicht vor der Veröffentlichung vom diensthabenden Bedenkenträger in Abstimmung mit der Stabsabteilung für Kommunikation, Unterabteilung Nichtkommunikation, geprüft wurde. „Wenn wir ehrlich sind“, plauderte Gniffke über die 20-Uhr-Ausgabe der „Tagesschau“ jenes Tages, „hätte man jedes, ja wirklich jedes unserer heutigen Themen auch lassen können.“ Dann scherzte er noch:

„Da schaut man sich gerne mal an, was den Kollegen der anderen Nachrichtensendungen einfällt. Habe schon gewitzelt, ob wir im Erklärraum heute ein 3D-Modell des Sommerlochs sehen.“

Ein „Ulrich Deppendorf“ fand’s nicht so lustig und kommentierte am nächsten Tag lesbar angesäuert:

„Lieber Herr Dr. Gniffke,

wie schön, dass Sie gestern fast jeden Beitrag der Tagesschau um 20 Uhr für entbehrlich hielten. Das hätten Sie uns ja dann auch schon etwas früher mitteilen können. Dann hätten die Kollegen und Kolleginnen aus dem Hauptstadtstudio und in der Republik ja schon eher die Arbeit für die Tagesschau einstellen können. Im Übrigen halte ich keines der Themen gestern für entbehrlich oder dem Sommerloch geschuldet. (…) Nun warten wir jeden Tag auf Ihre Einordnung, was entbehrlich ist. Heute vielleicht Porsche, Opel oder Afghanistan?“

Auch in der tagesschau.de-Redaktion konnten sie es erst nicht glauben, aber dieser „Ulrich Deppendorf“ ist tatsächlich Ulrich Deppendorf. Nun muss man trotz des Tonfalls einen solchen öffentlichen Widerspruch nicht gleich als ARD-internen Zickenkrieg interpretieren – auch dafür sind Blogs ja ein wunderbares Medium, dass sie diese Art von Transparenz herstellen können. Aber Deppendorfs Kommentar ging noch weiter:

„Und warum schielen Sie immer auf das ZDF? Sie sind Chefredakteur von ARD-Aktuell. Bitte mehr Selbstvertrauen. Wir sollten auch nicht mit zu viel Hochmut auf das neue ZDF-Studio schauen. Warten wir erst einmal ab, ob unser neues Studio 2011 der große Hit wird. Ein wenig mehr Solidarität durch Schweigen mit dem anderen öffentlich-rechtlichen System wäre nicht schlecht. Vielleicht benötigen wir dessen Unterstützung ja irgendwann auch einmal.“

Da hört der Spaß aber auf. Ich kenne diese Argumentation aus eigener Erfahrung und der von anderen Medienjournalisten, vor allem aus Zeiten, in denen es den Medien schlecht geht. Berichten wir lieber nicht kritisch über das, was bei den anderen schiefgeht, dann können wir darauf hoffen, dass die anderen auch wattehaft mit uns umgehen. Es ist eine Haltung, die das Gegenteil von Journalismus ist, eine Kombination aus Kumpanei und Kalkül, Duckmäusertum und Angst, von der ich nicht gedacht hätte, dass ein ARD-Hauptstadtstudio-Leiter öffentlich für sie plädieren könnte.

Und nun ist Kai Gniffke wahrlich nicht der Holzer, der mit polemischen Angriffen auf die Konkurrenz im Blog jahrzehntelange Senderdiplomatie zunichte machte. Wenn schon seine harmlosen Frotzeleien über den Virtualitätspomp des ZDF Anlass genug für Deppendorf sind, sich um eine Retourkutsche in zwei Jahren (!) zu sorgen, mag man sich nicht ausmalen, was ernste Kritikversuche für Schweißausbrüche bei ihm auslösten – und wie oft er entsprechende Formen des Journalismus womöglich verhindert.

Gniffke antwortet Deppendorf übrigens im Blog behutsam, dass es „uns vielleicht gut zu Gesicht“ stünde, „etwas weniger breitbeinig durch’s Leben zu gehen“. Als wäre Deppendorfs Problem der breitbeinige Gang. Und nicht der aufrechte.

Heuchler auf allen Seiten: Die Hysterie um „Erwachsen auf Probe“

Ist es nicht toll, in einem Land zu leben, in dem es mehr Kinderschutzvereine gibt als Kinder? Und in dem die größte Gefahr, die diesen Kindern droht, die Produktion und Ausstrahlung einer Fernsehsendung ist?

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Man bräuchte längst ein neues Wort, um das zu beschreiben, was um die RTL-Sendung „Erwachsen auf Probe“ tobt, in der vier jugendliche Paare unter Aufsicht und vor Kameras lernen, was es bedeutet, Kinder zu haben. „Hysterie“ war ganz treffend, um die Stimmung vor zehn Tagen zu beschreiben, aber seitdem ist alles viel schlimmer geworden.

60 Verbände haben den Sender Ende vergangener Woche in einer gemeinsamen Erklärung [doc] dazu aufgerufen, die Reality-Reihe nicht auszustrahlen. 60 klingt nach viel, aber das täuscht. Dabei ist zum Beispiel der „Pflege- und Adoptivelternkreis Kreis Wesel“, und da fragt man sich doch sofort, ob es in den Landkreisen Cochem-Zell, Sonneberg, Steinfurt und Alzey-Worms keine Elternkreise gibt, die hätten unterschreiben können. Oder warum von der Arbeiterwohlfahrt nur der Bezirksverband Hannover unterschrieben hat, obwohl die Organisation noch 28 weitere Landes- und Bezirksverbände hat. Und ob es nicht noch mehr obskure Organisationen wie „TQL – Total Quality Life“ gibt, die ihr Eingetragenes-Warenzeichen-Zeichen mit unter die Erklärung gepackt hätten.

Nein, da geht noch was. Bestimmt kommt morgen eine Erklärung, die 6000 Verbände unterschrieben haben, und natürlich wird das den Agenturen wieder Anlass sein für eine Meldung.

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All diese Verbände (darunter zu meinem persönlichen Entsetzen auch die Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg) haben eine Erklärung unterschrieben, die davon ausgeht, dass in der Sendung „Eltern ihre Kinder für mehrere Tage in einem kameraüberwachten Haus an Jugendliche abgeben“. Keiner dieser ach-so-besorgten Verbände hat zur Kenntnis genommen, dass RTL das inzwischen bestreitet. Der Sender behauptet, die Eltern seien „die ganze Zeit bei ihren Kindern dabei“ gewesen, „oft nur wenige Meter von ihren Kindern entfernt“ und „mitunter direkt hinter dem Kameramann“. Katrin B., eine der Mütter, sagt, ihr Sohn sei „nie über mehrere Stunden alleine bei den Probeeltern“ gewesen und habe jede Nacht bei ihr geschlafen.

Die Erklärung der Dutzenden Vereine geht von einer falschen oder wenigstens unbewiesenen Annahme aus. Ob man, wenn man die Situation korrekt dargestellt hätte, wohl mehr oder weniger Unterzeichner bekommen hätte?

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Das Deutsche Jugend-Institut (DJI) hat die Erklärung nicht unterzeichnet, brauchte das aber vielleicht auch nicht, weil es seinen Beitrag zur Eskalation des Irrsinns auch so schon geleistet hat. Christian Lüders, Leiter der Abteilung Jugend und Jugendhilfe, brachte die Möglichkeit ins Gespräch, dass man den Eltern, die an der Sendung teilnahmen, eventuell die Kinder wegnehmen müsse. Wenn man bedenkt, dass der der brisanteste Vorwurf gegenüber der Sendung lautet, dass bei Kleinkindern, die vorübergehend von ihren vertrauten Bezugspersonen getrennt werden, irreparable Bindungsprobleme entstehen können, ist der Vorstoß des DJI von betörender Konsequenz: Warum Kinder nur ein paar Stunden von ihren vertrauten Bezugspersonen trennen, wenn man es gleich für Jahre tun und den Schaden maximieren kann?

Auch die Erklärung der 60 Verbände fordert die zuständigen Jugendämter auf, mit den beteiligten Eltern zu sprechen und „notfalls einzuschreiten“. Wie muss man sich einen solchen Notfall vorstellen? Die Sendung wurde im vergangenen Jahr produziert, alle irreparablen Schäden sind längst irreparabel. Aber da die Verbände davon sprechen, dass die Kleinkinder „prostituiert“ wurden, gehen sie vermutlich davon aus, dass die Eltern ohnehin nur darauf warten, dass ihr Nachwuchs endlich alt genug ist, um auf den Strich geschickt zu werden. Das könnten die Jugendämter natürlich „notfalls“ noch verhindern.

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Ist es nicht bemerkenswert, in welchem Maß diese vielen sozialen Organisationen bereit sind, im angeblichen Kampf für die Rechte der Kinder die der Eltern zu missachten? Ohne Hemmungen werden diese Paare als gewissenlose, geldgierige Monster dargestellt. Natürlich ist es richtig, Kinder notfalls auch vor ihren Eltern zu schützen, aber woher nehmen die krakeelenden Kinderschützer die Gewissheit, dass dies so ein Fall ist? Die Eltern des damals zehn Monate alten Lasse erzählen, wenn man sie fragt, dass ihr Sohn viel Spaß an dem Experiment hatte. Er sei ein aufgeschlossenes, neugieriges Kind, das nie gefremdelt habe, sagt die Mutter, und mit dem Tonmann habe er sich besonders gut verstanden.

Angesichts der ersten Folgen, die RTL der Presse vorführte, spricht nichts dafür, dass die Teilnahme an der Sendung Ausdruck dafür ist, dass die Eltern asozial sind, dass ihnen Mutter- und Vaterinstinkte fehlen, dass sie bereit sind, ihre Kinder für ein paar Euro Gefahren für Leib und Seele aussetzen.

Man kann ja die Position vertreten, dass der Einsatz der kleinen Kinder überhaupt oder im konkreten Fall unnötig, unanständig oder unzulässig ist, und dafür lassen sich auch gute Argumente vorbingen. Aber wer hier von Kindesmissbrauch oder Kindesmisshandlung spricht, verharmlost Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung.

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Angeblich können nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen schon durch eine relativ kurze Trennung von der Mutter Gehirnschäden entstehen. Bedeutet das, dass Amokläufe in Zukunft nicht mehr reflexartig durch den Gebrauch von „Killerspielen“ erklärt werden, sondern dadurch, dass die Mutter eines Amokläufers einmal drei Tage krank war und ihn als Kleinkind für mehrere Stunden in die Obhut fremder Pflegeeltern geben musste? Was glauben all die Kinderschützer denn, unter welchen Bedingungen Kinder in Deutschland und anderswo aufwachsen, wenn das Fernsehen nicht dabei ist? Wie unzulänglich die Bedinungen sind, wie viele Fehler Eltern machen, obwohl sie überzeugt sind, im besten Sinne für ihr Kind zu handeln?

Letzte Woche war ich bei einem Imbiss und ein Vater kam mit seiner vielleicht zweijährigen Tochter. Er setzte sie neben ein paar andere Gäste an den Tisch und bat sie dann, kurz auf das Kind aufzupassen, während er nochmal losging, die Getränke zu holen. Hätte ich die Polizei rufen müssen?

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Fast noch schlimmer als die Hysterie ist die Heuchelei. Als die Debatte um „Erwachsen auf Probe“ zu entgleiten begann, erklärte RTL plötzlich, mit dem Programm einen Beitrag zu einem akuten gesellschaftlichen Problem zu leisten und behauptete, um auf Nummer sicher zu gehen, dass die Zahl der Teenager-Schwangerschaften in Deutschland steige – in Wahrheit geht sie deutlich zurück. Genauso heuchlerisch ist es aber, wenn Familienministerin Ursula von der Leyen die Berechtigung eines solchen Formates mit dem Hinweis ablehnt, in Deutschland sei die Zahl der Teenager-Schwangerschaften „sehr niedrig“. Immerhin bekommen jährlich noch fast 6000 Mädchen und minderjährige Frauen ein Kind. Und über 5000 Minderjährige lassen ihr Kind abtreiben. Das hat schon eine soziale Relevanz, auf die sich ein Sender, der sich des Themas annimmt, berufen darf.

Man muss RTL ja nicht abnehmen, das Programm aus Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft zu machen. Aber genau so kurzsichtig wäre es, jeder Sendung eine positive Absicht schon deshalb abzusprechen, weil sie von einem Privatsender ausgestrahlt wird, der naturgemäß Fernsehen macht, um damit Geld zu verdienen.

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In die Irre läuft auch der Vorwurf, man dürfe so eine Sendung nicht als Unterhaltung inszenieren. Auch Sendungen wie „Die Super-Nanny“ und „Raus aus den Schulden“ folgen den Inszenierungs-Regeln des Reality-Genres. Die sind natürlich nicht unproblematisch und dürfen und müssen diskutiert werden. Aber sie diskreditieren auch nicht von vornherein den Versuch, gesellschaftlich relevante Themen aufzubereiten, und sie verhindern nicht automatisch eine positive, pädagogische Wirkung.

Gerade und vermutlich nur durch die Inszenierung als spannende Unterhaltung hat „Erwachsen auf Probe“ die Chance, Jugendliche zu erreichen, die sich eine seriöse Dokumentation über das Problem von Teenagerschwangerschaften nicht ansehen würden. Und bei aller Schlichtheit der Dramaturgie ist die Botschaft der Serie durchaus differenziert: Wir sehen, dass der gute Wille, sich um ein Kind zu kümmern, und die Begeisterung für das kleine Wesen, das vor einem liegt, nicht reicht. Dass schon ein Besuch im Supermarkt mit einem Kleinkind eine gewaltige Überforderung sein kann. Wir sehen, wie junge Menschen an den einfachsten Aufgaben scheitern. Und wie sie, andererseits, mit diesen Aufgaben wachsen. Es gibt Szenen von erschütternder Überforderung und rührendem Engagement.

Die Reihe vermittelt keineswegs die Botschaft, dass es okay ist, Kinder einfach abzugeben wie eine Sache. Wenn sie eine Botschaft hat, dann die, dass Kinder etwas Besonderes sind, eine Bereicherung, die aber auch extrem hohe Anforderungen an (junge) Eltern stellt. Nach den Folgen zu urteilen, die RTL vorab der Presse gezeigt hat, ist die Sendung keine Warnung davor, Kinder zu bekommen, aber eine Mahnung, die damit verbundene Verantwortung nicht zu unterschätzen.

Und es stimmt schon, dass die Fernsehmacher die Jugendlichen gelegentlich bloß stellen, sich über sie lustig machen und ihre gezielt herbeigeführte Überforderung ausschlachten. Aber verglichen mit vielen anderen Reality-Formaten gehen sie dabei behutsam mit ihren Protagonisten um und zeigen ein differenziertes Bild, nicht nur Karikaturen.

Es ist keineswegs abwegig, dass die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen in ihrer Prüfung der Sendung zu dem Urteil kam: „Die Teilnehmer werden nicht verächtlich gemacht oder zu bloßen Objekten voyeuristischer Begierden der Zuschauer herabgewürdigt. (…) Darstellungsform und -inhalt der vorliegenden Sendungen fördern keineswegs eine die Menschenwürde negierende Einstellung, im Gegenteil: Dass es sich bei Babys und Kleinkindern nicht um süße Objekte, sondern um Persönlichkeiten mit nicht nur physischen, sondern auch kommunikativen und sozialen Bedürfnissen handelt, wird sehr deutlich vermittelt – und damit werden auch verzerrte Vorstellungen bei den Teenagern zurechtgerückt.“

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Die Debatte um „Erwachsen auf Probe“ hat nun auch die Landesmedienanstalten in ihrem Büroschlaf gestört und dazu gebracht, eine Pressemitteilung herauszugeben, in der im Zusammenhang mit ihrer Arbeit sogar das Wort „prompt“ vorkommt. Ein „Eilprüfverfahren“ werde die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) durchführen: Drei Mitglieder würden sich die erste Folge am Tag nach der Sendung anschauen und „vor allem auf einen möglichen Verstoß gegen die Menschenwürde und eine die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigende Wirkung hin untersuchen“.

Stolz weist KJM-Chef Wolf-Dieter Ring darauf hin, dass das kein Ausnahmefall sei und auch keine Reaktion auf die Debatte, sondern die Jugendschützer ganz alleine recherchierten, welche möglicherweise problematischen Sendungen die Sender planten.

Der Aktionismus ist rührend, aber vermutlich kontraproduktiv. Die ersten Doppelfolge stellt nämlich erst einmal die Teilnehmer und das Experiment selbst vor; die eigentliche Baby-Betreuung scheint erst in der nächsten Folge zu sehen zu sein, die in der nächsten Woche läuft.

Auch deshalb könnte die erhitzte Debatte bei all den Zuschauern, die morgen einschalten und sich werweißwas erwarten, eine merkwürdige Enttäuschung produzieren – oder Unverständnis über die Skandalisierung im Vorfeld.

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Die meisten lautstarken Pressemitteilungen irgendwelcher Vereine lassen keinen Zweifel daran, dass ihnen an einer ehrlichen Debatte über die Chancen und Risiken der Sendung nicht gelegen ist. Das haben sie mit RTL gemein. Dem Sender gelingt es nicht einmal, die Illusion einer Gesprächsbereitschaft aufrecht zu erhalten. Er erklärte in einer Mitteilung, „alle Aspekte und Argumente“, die bei einem Pressegespräch mit den Kritikern ausgetauscht wurden, seien „nochmals in die interne Prüfung der bereits fertig gestellten achtteiligen Sendereihe“ eingeflossen. Dabei hatte RTL-Generalsekretär Thomas Kreyes in Vertretung von Geschäftsführerin Anke Schäferkordt jenes Pressegespräch mit der Aussage eröffnet: „Wir stehen ausdrücklich zu dem Format.“ Die Sendung stand für RTL nie zur Disposition, so wie für die organisierten Kinderschützer deren Ablehnung nie zur Disposition stand.

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Manche halten die Aufregung um „Erwachsen auf Probe“ für den Anfang einer überfälligen Debatte über die Werte und Grenzen des Fernsehens heute. Aber dafür müsste man schon das taube Festhalten an der eigenen Position bei kontinuierlicher Steigerung der Lautstärke mit einer solchen Debatte verwechseln.

Die Diskussion, ob eine solche Sendung ausgestrahlt werden darf oder verboten werden muss, verhindert die Frage, in welcher Form sich das Fernsehen brisanten Themen und der Lebenswirklichkeit widmen sollte und wie es seiner Verantwortung gegenüber den Protagonisten gerecht wird. Das wären Fragen, die nicht nur angesichts der Explosion von billigsten und höchst zweifelhaften Reality-Formaten im Tagesprogramm der Sender notwendig und brisant wären.

Von dem Geschrei über die Produktion von „Erwachsen auf Probe“ bleibt, nüchtern betrachtet, vor allem eine sehr berechtigte Forderung: die Mitwirkung von Kindern bei Reality-Formaten zu regeln. Bislang gibt es nur Vorschriften für Dreharbeiten mit Kindern als Schauspielern. Sinnvoll wäre zum Beispiel die Pflicht, dass ein fachkundiger Betreuer vor Ort ist, der ausschließlich den Interessen der Kinder verpflichtet ist und nicht denen der Produktion. Eine solche, vom Jugendamt vermittelte Aufsicht könnte auch dann einschreiten, wenn die Eltern der Protagonisten sich vielleicht nicht trauen. Und er könnte, wenn – wie im Fall von „Erwachsen auf Probe“ – umstritten ist, welche Bedingungen tatsächlich vor Ort herrschten, für Klarheit sorgen.

Könnten wir bitte darüber reden, wie wir das organisieren?

Ah, können wir nicht.

Die Agenturen melden, dass das ultrakonservative „Deutsche Familiennetzwerk“ beim Kölner Verwaltungsgericht eine einstweilige Verfügung beantragt hat, um die Ausstrahlung zu verbieten, weil „bereits schwangere Mädchen im Teenageralter“ durch die Sendung „ermuntert und geradezu aufgefordert werden könnten, die Schwangerschaft abzubrechen oder ihr Kind abzutreiben“. Lassen Sie alle Hoffnung fahren.f

Stell dir vor, es ist Grand-Prix, und ich seh nicht hin

Hätten Sie’s gedacht? In neun Tagen ist Eurovision Song Contest. In Moskau haben längst die Proben begonnen. Und mich lässt das alles schrecklich kalt.

Gut, werden Sie sagen, das geht den meisten Leuten immer schon so, aber für mich war der Grand-Prix ein prägendes Fernseherlebnis. Als Kind war es der einzige Abend (außer Silvester), an dem ich bis Mitternacht aufbleiben durfte – vorausgesetzt, ich hatte am Mittag brav „vorgeschlafen“. Es war die perfekte Kombination der beiden großen, tragischen Lieben meiner Jugend: Schlager und Statistik.

Ich fieberte mit Katja Ebstein, Hoffmann & Hoffmann, Ingrid Peters und Mary Roos (die Gruppe Wind fand ich zum Glück damals schon furchtbar) und trug die Punkte in die dafür vorgesehene Tabelle der „Hörzu“ ein. Während der neunziger Jahre mit den schrecklichsten deutschen Teilnehmern verlor sich mein Interesse ein bisschen, aber im Revolutionsjahr 1998 war ich in Bremen dabei, als Guildo Horn und seine Fans alles überrannten (und mir mit ihrer aggressiven Party- und Eroberungsstimmung Angst machten). Ich durfte Stefan Raab nach Stockholm begleiten (und mein einziges Seite-3-Stück in der „Süddeutschen Zeitung“ schreiben), verfasste aus Kopenhagen meinen ersten Quasi-BILDblog-Eintrag, verbrachte dank des Wettbewerbs einen Urlaub im Baltikum und erlebte in Tallinn Ralph Siegel und Bernd Meinunger so hautnah, dass daraus zwei Texte entstanden, auf die ich heute noch ein bisschen stolz bin.

In den letzten Jahren ging ich dann wieder ein bisschen auf Abstand, konnte es dann aber doch nicht lassen, den Wettbewerb ausführlich zu begleiten – und insbesondere, ihn immer wieder gegen ungerechte Kritik in Schutz zu nehmen.

Und eh jetzt jemand ankommt und sagt, dass es abwegig sei, sich überhaupt so viel mit einer solchen Quatschveranstaltung zu beschäftigen: Der Grand-Prix ist exakt so wichtig, wie man ihn nimmt. Das hat er zum Beispiel mit der Fußball-Bundesliga gemein, nur dass deren Fans sich nicht so oft dafür rechtfertigen müssen.

Ich glaube auch nicht, dass sich der Grand-Prix nur ironisch gebrochen genießen lässt, mit der Konträrfaszination angesichts all der Demonstrationen schlechten Geschmacks, die da geboten werden. Natürlich ist es eine bizarre Veranstaltung, aber eigentlich reizvolle Bizarre daran ist schon die Idee, Nationen um die Wette singen zu lassen. Und die Inszenierung ist seit einigen Jahren state-of-the-art – man kann den Eurovision Song Contest inzwischen auch als eine Leistungsschau der Fernsehshow-Produktion sehen, insbesondere was die Bühnenbilder angeht.


Aufbau der Bühne in Moskau. Foto: eurovision.tv

Normalerweise hätte ich zu diesem Zeitpunkt schon damit angefangen, meine Umgebung mit ausgewählten Video-Höhe- und Tiefpunkten der Teilnehmer zu nerven. Aber in diesem Jahr – nichts.

Es kann natürlich sein, dass das an mir liegt. Aber der Wettbewerb macht es mir in diesem Jahr auch leicht, mich nicht für ihn zu begeistern. Vor allem mit seinen Entdemokratisierungs-Tendenzen. Weil die Zuschauer sich hartnäckig weigern, ihre Punkte so zu verteilen, wie es die Veranstalter wollen, schrauben die Veranstalter jetzt Jahr für Jahr am Reglement. Dabei sollte man beim Blick auf die Gewinner nicht glauben, dass es ein Problem gäbe: In den vergangenen fünf Jahren gewannen: die Ukraine, Griechenland, Finnland, Serbien und Russland – eine Mischung, wie sie bunter kaum sein könnte. Die Sieger waren: eine pompöse Feuer-Tanz-Performance, eine Gruppe Monsterrocker, eine Mainstream-Popnummer, die schlichte Ballade einer einzelnen Sängerin und eine mit einem Eisläufer aufgepeppte und mit Gimmicks überladene Show-Nummer. Das Votum des europäischen Publikums scheint so unvorhersehbar wie eh und je, aber weil sich der Schwerpunkt der Teilnehmerländer dramatisch nach Osten verlagert hat, haben es Titel leichter, die dem dortigen Geschmack entsprechen.

Und natürlich gibt es Sympathie-, Freundschafts- und Nachbarschaftspunkte, die es zum Beispiel den Ländern Ex-Jugoslawiens oder der früheren Sowjetunion leichter machen, weit nach vorne zu kommen. Das ist auch nicht schlimm: Griechenland und Zypern haben einander immer schon fast immer zwölf Punkte gegeben. Deshalb kann es Zypern – im Gegensatz zu Deutschland – kaum passieren, auf dem letzten Platz zu landen. Andererseits hat Zypern trotzdem – im Gegensatz zu Deutschland – noch nie gewonnen.

Länder wie die Türkei werden immer davon profitieren, dass in Westeuropa viele Türken leben. Aber verfälscht deren (vielleicht patriotisch motivierte, vielleicht auch nur geschmacklich geprägte) Stimmabgabe das Votum aus Deutschland? Oder ist das nur eine angemessene Repräsentation der sonst gern verdrängten Tatsache, dass in der Bundesrepublik viele Türken leben, die andere Musik hören, einen anderen Geschmack haben als „wir“?

Natürlich ist das ungerecht. Es ist alles ungerecht. Auch dass die 84.000 Andorraner zusammen genau so viel Einfluss auf den Sieger haben wie die 142.000.000 Russen, was jedem Einwohner des Pyrenäenstaates fast 1700-mal so viel Macht gibt. Auch dass die Briten einfach in ihrer Landessprache singen können und trotzdem von allen verstanden werden. Auch dass die Skandinavier einander mögen, aber keiner uns. Auch dass den Osteuropäern immer diese Show-Nummern so gefallen, obwohl wir Westeuropäer beschlossen haben, dass es gefälligst nur auf das Lied ankommen soll (jedenfalls wenn wir keine gute Show machen), und wir waren schließlich zuerst da.

Noch bekloppter als der Wettbewerb an sich ist der Glaube, dass in ihm auf eine irgendwie halbwegs objektive Weise das beste Lied gewählt würde. Oder werden sollte. Oder werden könnte.

Es gab Jahre, in denen sich zum Beispiel Großbritannien gefragt hat, ob das Land für seine Unterstützung des Irak-Krieges von den Grand-Prix-Zuschauern abgestraft wurde. Vermutlich hätte man in der Qualität des eigenen Beitrags überzeugendere Gründe finden können, aber ganz abwegig ist der Gedanke nicht. Der Song-Contest ist auch ein Sympathie-Wettbewerb der Nationen, und das trägt erheblich zu seinem Reiz bei.

Andererseits war es immer wieder faszinierend zu sehen, wie einzelne Titel in ganz Fernseheuropa einen Nerv trafen – auch solche, bei denen man das nicht unbedingt vorhersehen konnte, wie der estnisch-amerikanischen Funk-Nummer vor ein paar Jahren.

Aber nun haben die Leute so oft nicht so abgestimmt wie sie sollten, und anders als damals, als Irland in zehn Jahren fünfmal den Wettbewerb gewannt, ist das heute ein Problem. Deshalb zählt das Urteil des Publikums, dem offenkundig nicht zu trauen ist, in diesem Jahr nur noch zur Hälfte – die andere Hälfte jedes Landesvotums bestimmt eine Jury. In der für Deutschland sitzen H. P. Baxxter (Scooter), Jeanette Biedermann, Guildo Horn, Sylvia Kollek und Tobias Künzel (Die Prinzen), und damit hat man die lästigen Türken mit ihren komischen Vorlieben schon mal aus dem Rennen.

Es ist nicht ganz klar, inwiefern es diesen Wettbewerb aufwertet, wenn man das erratische Votum von vielen durch das erratische Votum von wenigen ersetzt – es sei denn, man geht davon aus, dass Frau Biedermann, „Bild“-Schlagerkönigin 1998 und und 1999 trotz der Unterstützung eben dieser Zeitung im Vorentscheid zum Grand-Prix nur vierte, eine Expertin sei, die besser als wir normalen Fernsehzuschauer weiß, was gute Musik und damit siegeswürdig ist.

Natürlich, früher gab es auch schon das Jury-Votum, und es hatte einen gewissen Unterhaltungswert, darüber zu spekulieren, warum die deutsche ungefähr nie für Österreich gestimmt hat, und zu registrieren, wie die griechische Jury die verfeindete Türkei mit Punktentzug strafte. Dem fehlt aber erheblich die Fallhöhe im Vergleich zur Grand-Prix-Begleitfolklore der vergangenen Jahre, die das Abstimmverhalten ganzer Länder zu analysieren versucht und sogar dazu taugt, sich als Nation auf die Couch zu legen, und hysterisch zu fragen, warum uns eigentlich keiner mag (und damit womöglich schon eine halbe Antwort gibt).

Es ist das demokratische Element, das den besonderen Reiz solcher Abstimmungen ausmacht. „Deutschland sucht den Superstar“ demonstriert das gerade eindrucksvoll und zeigt auch das gute Gespür des Publikums, das sein Unterhaltungsbedürfnis dadurch befriedigte, dass es die Skandalnudel Annemarie viel länger im Rennen ließ, als es der Jury gefiel, sie am Ende im Finale aber doch lieber nicht dabei haben wolle. Das schlimmste an der Entmachtung des Publikums aber ist das Misstrauen seiner Urteilskraft, das daraus spricht, und die Bereitschaft, die Regeln so lange anzupassen, bis das gewünschte Ergebnis dabei herauskommt. Wenn sich in diesem Jahr herausstellt, dass sogar trotz Wiedereinführung der Jurys Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Spanien ganz hinten liegen sollte, hat der Grand-Prix ein echtes Problem. Aber vielleicht können Punkte für die großen Geldgeberländer ja doppelt zählen. Oder es werden Punkte für Nachbarländer verboten. Oder man legt gleich eine Reihenfolge fest, bei der am wenigsten wichtige Länder hinterher unglücklich sind.

In Deutschland hat man das Publikum aus der Auswahl des Kandidaten, der „für Deutschland“ singen soll, wie es so schön heißt, in diesem Jahr sicherheitshalber ganz herausgehalten. Die Begründung, man wolle so etablierte Künstler rekrutieren, die sich nicht dem Risiko einer Niederlage in der Vorentscheidung aussetzen wollen, wurde spätestens durch die Kür des Siegers ad absurdum geführt: Es gewann der peinliche Erfolgsproduzent Alex Christensen, mit einem Projekt, dem man schon am Namen anmerkt, dass es nicht von Dauer sein soll: „Alex swings, Oscar sings“. Es wirkt wie ein Rückfall in Zeiten, als Ralph Siegel für diesen Zweck Retortengruppen zusammencastete und zum Beispiel „MeKaDo“ nannte.


Alex (links) swings, Oscar (rechts) sings. Foto: NDR

Nun wäre nichts dagegen zu sagen, den Autor so schlimmer Werke wie „Du hast den schönsten Arsch der Welt“, „Du bist so Porno“ oder „Liebe zu Dritt“ nach Moskau zu schicken, wenn das der Wille des Publikums gewesen wäre – so wie es zum Beispiel sein Wille war, mit Stefan Raab und Guildo Horn der Welt gewaltsam zu demonstrieren, dass man Humor hat. Die Auswahl durch das Publikum hat auch den Vorteil, dass bei einem Debakel wie mit den No Angels im vergangenen Jahr, scheinbar „wir alle“ verloren haben – und dass man lange Nächte diskutieren kann (aber nicht muss), ob Carolin Fortenbacher mit ihrem modernen Schlager erfolgreicher gewesen wäre.

Jürgen Meier-Beer, der für den NDR die Wiederbelebung des Song Contest ab 1998 maßgeblich betrieben hat, griff gerne in die Kiste mit den ganz großen Wörtern, um die Bedeutung des demokratischen Vorentscheids zu beschreiben: „Das deutsche Volk entscheidet, was Ausdruck unseres Nationalstolzes ist“, sagte er 2001 und formulierte: „Die nationale Vorentscheidung ist auf die Verbindung zwischen Popmusik und nationaler Ehre auszurichten. Diese Verbindung ist einmalig: im Fernsehen, in der Popmusik und im Nationalbewusstsein“.

Man darf es ruhig eine Nummer kleiner hängen, aber dass ein Vorentscheid eine wichtige Voraussetzung ist, um eine Identifikation mit dem deutschen Vertreter zu produzieren, steht außer Frage. Nach Ansicht von Meier-Beer schafft der „identitätsstiftende Vorlauf“ überhaupt erst das Interesse am Finale, das „per se nicht interessant genug ist“. Mein Tipp ist, dass die Quote in diesem Jahr entsprechend mies sein wird.

Vielleicht täuscht meine Wahrnehmung, aber kann es sein, dass es noch überhaupt keinen Hype um den deutschen Beitrag gibt? „Miss Kiss Kiss Bang“, diese peinlich betitelte, schrecklich eingängige, irgendwie professionelle, aber furchtbar seelenlose Nummer, ist immerhin bis auf Platz 27 in die deutschen Singlecharts gekommen, aber präsent ist sie in keiner Weise. Beim Echo sind A.S.O.S. (um es jetzt mal abzukürzen) aufgetreten, im ARD-Oma-Programm „Buffet“ waren sie vorgestern, im Sat.1-Frühstücksfernsehen und im RBB-Programmfüllsel „Zibb“ gestern. Ja. In der „Bild“-Zeitung hat die öffentlich-rechtliche ARD einen Medienpartner, der sich nach Kräften und Fähigkeiten abrödelt, den Act interessant zu machen, inklusive Homestory über den Sänger und seine Homosexualität, die vielleicht für ein bisschen mehr Aufsehen gesorgt hätte, wenn man nicht gerade erst zum ersten Mal von ihm gehört hätte und nicht sicher wäre, ihn spätestens am Tag nach dem Grand-Prix schon wieder vergessen zu haben.

Man sieht, wie da mühsam jemand schraubt, um Aufmerksamkeit zu produzieren: Die Edelstripperin Dita von Teese wird auf der Bühne in Moskau tanzen, und angeblich ist die amerikanische Talkmasterin Oprah so begeistert von dem Stück, dass sie es unbedingt in ihrer Show haben wollte. Toll! Dass die deutschen Fernsehzuschauer es unbedingt in ihrer eigenen Show haben wollen, dass sie wollen, dass es gewinnt in Moskau oder ihm den letzten Platz wünschen, ist nicht zu erkennen. Warum auch? Sie haben mit diesem Beitrag ja nichts zu tun.

Natürlich werde ich mir die Show nächste Woche trotzdem angucken, schon aus alter Verbundenheit, und weil der nette hr3-Moderator Tim Frühling als Vertretung oder Nachfolger von Peter Urban moderieren darf und diese Erfüllung seines Jugendtraums schon deshalb verdient hat, weil er der einzige ist, den ich kenne, der auf längeren Autofahrten Mitreisende dazu zwingt, Best-Of-Grand-Prix-CDs zu hören. (Außer mir natürlich.)

Was sich alles nicht vom Privatfernsehen auf ARD und ZDF übertragen lässt

Der „Spiegel“ berichtet in seiner aktuellen Ausgabe darüber, wie die einbrechenden Werbeerlöse dazu führen, dass die privaten Fernsehsender ihre Ausgaben zurückfahren müssen. Für ARD und ZDF seien das gute Zeiten, heißt es:

Weil sie sichere Gebührenmilliarden einnehmen, sind sie für Produzenten so attraktiv wie selten. Die würden ihm fast die Türen einrennen, sagt ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut. Aber manche Hoffnung, bei den Privaten abgelehnte Formate bei den Öffentlich-Rechtlichen unterzubringen, dürfte sich zerschlagen. Das wenigste lasse sich einfach von einem Privatsender auf öffentlich-rechtliches Fernsehen übertragen, meint Bellut.

Recht hat er. Welche Formate lassen sich schon einfach so vom privaten aufs öffentlich-rechtliche Fernsehen übertragen?

Die Daily Soap ist eine Ausnahme, wie „Marienhof“ und „Verbotene Liebe“ in der ARD beweisen (und der ZDF-Versuch, mit „Jede Menge Leben“ eine eigene Variante von „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ im Programm zu etablieren, brachte es auch immerhin auf 313 Folgen).

Ach ja, und die Telenovela ist im Grund natürlich auch ein privates Format, macht sich aber gerade als „Sturm der Liebe“ (ARD), „Rote Rosen“ (ARD) und „Alisa – Folge deinem Herzen“ (ZDF) im öffentlich-rechtlichen Nachmittagsprogramm breit.

Sicher, die tägliche Quizshow wäre noch ein Gegenbeispiel, ein gewisser Jörg Pilawa hatte sie vor ein paar Jahren bei Sat.1 etabliert, kam aber dann damit ins Erste.

Logisch, die große Prime-Time-Quizshow mit Riesengewinnen muss man auch ausnehmen, wenn man die Show „CA$H – Das eine Million Mark Quiz“ kennt, mit der das ZDF 2001 auf den Erfolg von „Wer wird Millionär“ im ZDF reagierte.

Klar, das Konzept eines Boulevardmagazins ließ sich auch relativ mühelos von „Explosiv“ (RTL) auf „Brisant“ (ARD) und „Hallo Deutschland“ (ZDF) übertragen.

Und Castingshows natürlich, aus „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL, 2002) wurde ruckzuck „Die deutsche Stimme“ (ZDF, 2003).

Okay, und Doku-Soaps sind auch eine Ausnahme: Die RTL-Reihe „Papa gesucht“ läuft im ZDF unter dem Titel „Kleine Familie sucht große Liebe“, die RTL-Reihe „Unser neues Zuhause“ heißt in den Dritten Programmen von WDR und NDR „Frau Dr. Haus“ und das Konzept der RTL-Reihe „Rach der Restauranttester“ findet sich im NDR-Fernsehen unter dem Namen „Retten Sie unser Hotel!“

Richtig, Test-Shows müsste man noch nennen: Nachdem bei RTL von 2001 an „Der große IQ-Test“ lief, machte die ARD 2003 aus der Idee unter anderem „Pisa“ mit Jörg Pilawa und das ZDF 2007 „Wie schlau ist Deutschland“ mit Johannes B. Kerner.

Hach, und die Familientauschformate sind natürlich auch Ausnahmen, wie die ZDF-Sendung „Gottschalk zieht ein“ und die ARD-Variante „Hausbesuch“ bewiesen.

Und die Idee, im Talk am Sonntagabend so gegen zehn mit Politikern Woche für Woche die gleichen Themen durchzunudeln, die ließ sich auch ganz leicht vom privaten („Talk im Turm“, Sat.1, ab 1990) ins öffentlich-rechtliche („Sabine Christiansen“, ARD, ab 1998) Fernsehen übertragen.

Gut, und das Format der B-Promi-vor-Filmausschnitt-Shows, in denen unbekannte Menschen Dinge und Ereignisse kommentieren, möglichst verbunden mit irgendeinem Ranking, musste von den Vorbildern wie der „Ultimativen Chart-Show“ oder der „80er Show“ (beide RTL) auch nicht verändert werden, um endlos vervielfacht in den Dritten Programmen wie dem HR-Fernsehen Platz zu finden.

Aber von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen, da hat Herr Bellut schon Recht, lassen sich wirklich die wenigsten Formate einfach vom Privatfernsehen auf öffentlich-rechtliches Fernsehen übertragen.

„Mitten im Leben“: RTL hat noch ein paar Laien im Keller

Tagsüber schwappt das „wahre Leben“ ins RTL-Programm. Der Sender zeigt montags bis freitags je drei einstündige Folgen der Reihe „Mitten im Leben“, der Fortsetzung der täglichen Talkshows mit dokumentarischen Mitteln. Es geht um das übliche: junge Frauen, die sich die Brust vergrößern lassen wollen, ältere Frauen, die in ihrem Müll versinken, Männer, die sich vor ihren Ehefrauen ekeln – nur dass sie sich nicht im Studio entblößen, sondern die Kameras der Produktionsfirmen in ihr Leben lassen, die es dann fernsehgerecht krawallig aufbereiten.

Vorgestern ging es zum Beispiel um den Fall eines Fernfahrers, der plötzlich, aus heiterem Himmel, auf seine Frau losgeht, über Nacht ins Gefängnis kommt, herausfindet, dass seine Frau ihn betrogen hat und damit droht, sie um ihre Existenz zu bringen. Es ist eine Geschichte, die alle Zutaten hat, die das Privatfernsehen liebt, inklusive Vaterschaftstest natürlich — und das Beste: die Kamera ist immer dabei. Wir sehen die Rachepläne des Vaters, die Verzweiflung der Mutter, den lautstarken Streit der beiden auf dem Parkplatz vor dem Gefängnis.

Das muss man erst einmal schaffen, immer so dicht dabei zu sein, oder genauer gesagt: Man muss es nicht. Denn die Geschichte, die RTL in seiner vermeintlichen „Doku-Serie“ zeigte, war nur eine Laienspielaufführung. Die Familie war nicht echt, die Polizisten waren nicht echt, und alles andere war vermutlich auch nicht echt.

In dieser Woche sendet RTL auf dem 16-Uhr-Sendeplatz von „Mitten im Leben“ Fake-Doku-Soaps statt Real-Doku-Soaps. Dahinter steckt die Produktionsfirma Filmpool, die dem deutschen Fernsehen auch Richterin Barbara Salesch beschert und das schlechte Laienspiel als Standardgenre etabliert hat.

Dass sich hinter dem von RTL versprochenen „wahren Leben“ nun nicht nur die üblichen Inszenierungen, sondern komplette Drehbücher verbergen können, erfährt der Zuschauer vor oder während der Sendung nicht. Er kann es höchstens anhand der vergeblichen Versuche der Darsteller erraten, irgendeine Emotion zu spielen – oder gar überzeugend so unrealistische Sätze zu sagen wie: „Es war das erste Mal, dass ich richtig Angst vor meinem Mann hatte“.

Aber wenn er ganz genau hinguckt, kann er für zwei Sekunden am Ende des Abspanns einen dezenten Hinweis entdecken:

RTL folgt damit Sat.1 auf dessen Niveau. Der arme Münchner Konkurrenzsender muss seit Jahren schon sein größere Teile seines Programms mit in jeder Hinsicht billigen Gerichtslaienspielshows und Pseudo-Doku-Soaps wie „K11“ und „Lenßen & Partner“ bestücken. Damit sich deren Zuschauer auch im RTL-Programm heimisch fühlen, liegt unter den „Mitten im Leben“-Folgen sogar Eminems „Lose Yourself“ – die Titelmusik von „Lenßen & Partner“.

RTL-Sprecherin Anke Eickmeyer sagt, momentan sei nicht geplant, die ganze Reihe „Mitten im Leben“ auf die Fake-Variante umzustellen. „Nach unseren Erkenntnissen interessiert die Zuschauer nicht, ob es sich um Real-Doku-Soaps oder um gescriptete Dokusoaps mit Laiendarstellern handelt“, sagt sie. „Sie wollen interessante Geschichten sehen, die Machart ist nicht entscheidend.“

Womöglich hat sie Recht: Die erste Fake-Folge am Montag erreichte 18,8 Prozent Marktanteil in der Zielgruppe – das ist nach Angaben von RTL der bisher höchste seit Start der Reihe im Mai 2008. Andererseits: Als Hans Meiser, Birte Karalus und Arabella Kiesbauer damit begannen, in ihren Talkshows ausgedachte Konflikte nachspielen zu lassen, war das der Anfang vom Ende ihrer Sendungen und des Talkshowbooms.

Mit Mistelpräparaten gegen Krebs: Die ARD wirbt wieder für Pharma-Unternehmen

Vor dreieinhalb Jahren deckte der Journalist Volker Lilienthal auf, dass in Serien, die von ARD-Firmen produziert und im Ersten ausgestrahlt worden waren, jahrelang systematisch und rechtswidrig Schleichwerbung betrieben wurde. Gegen Geld konnten zum Beispiel Pharma-Unternehmen in der Krankenhaussoap „In aller Freundschaft“ ganze Handlungsstränge bestimmen. Bis zu 30.000 Euro pro Folge zahlten die Firmen dafür, dass zu bestimmten Krankheitsbildern passende Wirkstoffe genannt wurden.

Das war 2005 – zufällig dem gleichen Jahr, in dem die ARD damit begann, nachmittags die Telenovela „Sturm der Liebe“ auszustrahlen. Deren Handlung wird in diesen Tagen von der Leukämie-Erkrankung der Figur der Viktoria Tarrasch bestimmt. Oder genauer: von der angeblich viel versprechenden Wirkung von Mistel-Präparaten im Kampf gegen den Krebs.

„Sturm der Liebe“, Folge 789, 18. Februar 2009:

Viktoria: Du hast mir doch von der Misteltherapie erzählt. Wie funktioniert die genau?
Fred: Möchtest du dir doch keine dritte Chemo antun?
Viktoria: Jedenfalls keine hochdosierte, die mein Knochenmark komplett zerstört.
Fred: Transplantation.
Viktoria: Die letzte Chance, sagt meine Ärztin.
Fred: (lacht) Jaja, die lieben Möchtegerngötter in Weiß. (ernst) Was eine Mistel ist, weißt du.
Viktoria: Die Zweige mit den weißen Beeren, die man zu Weihnachten aufhängt.
Fred: Unter denen der Herr die Dame küssen darf, genau. Aus denen wird ein Extrakt gewonnen. Das kannst du entweder als Tropfen einnehmen oder unter die Haut spritzen.
Viktoria: Und das hilft gegen Krebs?
Fred: Die Krankheit schreitet langsamer voran oder bildet sich im günstigsten Fall sogar zurück, ja.
Viktoria: Im Ernst?
Fred: Was nicht heißt, dass du schmerzfrei bist. Dagegen musst du noch was andere nehmen.
Viktoria: Aber es ist erwiesen, dass die Misteltherapie anschlägt?
Fred: Es gibt Studien dazu, ja, und vor dir sitzt ein lebender Beweis.
Viktoria: Weil die Ärzte dir vor einem Jahr nur noch ein paar Wochen gegeben haben.
Fred: Genau. Und jetzt sitze ich hier mit dir in diesem wunderschönen Hotelzimmer und genieße das Leben.

(Später. Fred besucht Viktoria und bringt ihr ein Paket mit.)

Fred: Für dich.
Viktoria: Was ist das?
Fred: Das Mistelpräparat. Ich war grad in der Apotheke und da dachte ich, ich bring dir gleich mal was mit.
Viktoria: Danke.
Fred: Du warst gestern so interessiert, und ich hatte mir überlegt, bevor du dich in die Klauen der klassischen Medizin begibst, kannst du’s ja einfach mal ausprobieren.
Viktoria: Wenn bei mir die Therapie genau so gut anschlägt wie bei dir, sehen mich die Ärzte nie wieder.
(Beide lachen.)

„Sturm der Liebe“, Folge 790, 19. Februar 2009:

(Viktorias Bruder Felix versucht, seiner Schwester ins Gewissen zu reden und sie zu der Knochenmarkstransplantation zu raten.)

Felix: Bitte, überleg dir, was du machst!
Viktoria: Recherchier du lieber im internet. Es gibt tausend Studien zur Misteltherapie. Und ihre Erfolge.

(Viktorias Bruder Felix besucht ihre Ärztin.)

Felix: Ich versteh‘ nicht, wieso Sie meiner Schwester diesen Unsinn nicht schon längst ausgeredet haben.
Ärztin: Ich wusste nichts davon!
Felix: Dieser Neumann verblendet sie total mit seinem Humbug.
Ärztin: Naja. Misteltherapie. Ist bei Leukämie kein geeigenetes Mittel, da geb ich Ihnen Recht.
Felix: Aber?
Ärztin: Naja, es gibt Tumorerkrankungen, da hat man tatsächlich eine Besserung feststellen können. Aber immer nur als begleitende Therapie.
Felix: Das hab ich auch gelesen.

(Die Ärztin besucht Viktoria.)

Ärztin: Ich habe gehört, dass Sie sich selbst behandeln mit einem Mistelpräparat.
Viktoria: Stimmt.
Ärztin: Darf ich mir das mal ansehen?
Viktoria: Wozu? Sie halten es sicherlich auch für wirkungslos.
Ärztin: Nein, das würde ich so nicht sagen. Welche Dosierung nehmen Sie denn?
Viktoria: Ich halte mich genau an die Anweisungen im Beipackzettel.
Ärztin: Da kann man nämlich viel falsch machen, und dann ist das Präparat wirkungslos.
Viktoria: Sie denken also nicht, dass die Misteltherapie unsinnig ist?
Ärztin: Neinnein, bei manchen Krebserkankungen hat man ganz gute Erfolge damit.
Viktoria: Also kann ich es weiter nehmen?
Ärztin: Sie haben es von einem anderen Patienten?
Viktoria: Ja. Fred Neumann. Er ist Gast hier im Haus. Er ist wirklich unglaublich. Fred hatte einen Hirntumor, und die Ärzte haben ihn vor über einem Jahr abgeschrieben. Seitdem er es nimmt, geht es ihm wieder gut. Ja, und ich fühl mich auch schon wieder viel besser.
Ärztin: Frau Tarrasch, das freut mich. Aber Ihr Körper erholt sich gerade von der letzten Chemotherapie, und das empfinden Sie als Besserung. Die Mistel-Therapie schützt die noch gesunden Zellen, deshalb kann sie in manchen Fällen begleitend zur Schulmedizin angewendet werden.

Nun muss man wissen, dass die Wirkung von Misteln in der Krebstherapie sehr umstritten ist. Das Deutsche Krebsforschungszentrum urteilt: „Bis heute fehlen zweifelsfreie wissenschaftliche Beweise dafür, dass Mistelpräparate das Tumorwachstum hemmen oder gar Tumore heilen können.“ Dass dank Misteltherapie Krebspatienten länger lebten, sei „nicht belegt“, mögliche Nebenwirkungen seien nicht erforscht. Fazit: „Nach wie vor ist umstritten, ob und wie die Mistelpräparate Krebserkrankungen überhaupt beeinflussen – mit guten wie mit schlechten Folgen für den Patienten.“

Mistelpräparate, die Linderung und mögliche Hemmung der Tumorbildung versprechen, sind in Deutschland rezeptfrei in Apotheken erhältlich. Die Dialoge aus „Sturm der Liebe“ lesen sich bis ins Detail wie Werbefilme für diese Produktgattung – bis hin zum ins Drehbuch eingearbeiteten Hinweis, dass die Misteltherapie selbstverständlich nur ergänzend zu einer klassischen Therapie angewandt werden darf.

Alles, was sich ein Hersteller wünschen würde, ist vorhanden: Immer wieder, sogar in den Programmtexten, fällt der zentrale Begriff „Misteltherapie“. Empfohlen wird das Mittel von einem Krebskranken, der ihm die Verantwortung dafür gibt, überhaupt noch am Leben zu sein. Er demonstriert gleich, wie einfach das Präparat in der Apotheke zu bekommen ist. Später wird der betroffene Zuschauer fast unverhohlen dazu aufgefordert, im Internet nach vermeintlichen Beweisen für die Wirksamkeit zu suchen. Und selbst die Schulmedizinerin behauptet am Ende, dass die Mistel „ganz gute Erfolge“ verzeichnen könne – und ihre ganze Skepsis lässt sich auf die Warnung reduzieren, die Packungsbeilage zu beachten und den Arzt oder Apotheker zu fragen.

Eine Zuschauerin, die sich beim SWR und der ARD über die Schleichwerbung beschwerte, bekam von der Zuschauerredaktion unter anderem zur Antwort, um Schleichwerbung könne es sich ja deshalb schon nicht handeln, weil Schleichwerbung Werbung für ein Produkt sei: „Eine Misteltherapie ist jedoch kein Produkt und wird auch nicht im Zusammenhang mit einem bestimmten Firmennamen erwähnt.“ Die ARD bekomme „auf keinen Fall Geld dafür“, dass sie die Misteltherapie in „Sturm der Liebe“ erwähne, denn: „Dafür hat die ARD eigens eine Clearing-Stelle gegen Schleichwerbung aufgebaut.“

In der Tat. Das war eine Konsequenz aus der Aufdeckung des Schleichwerbeskandals 2005. Man fragt sich, was diese Stelle wohl macht, wenn ihr nicht einmal komplette Handlungsstränge und minutenlange Dialoge auffallen, die so offenkundig im Dienst der Pharma-PR stehen wie die Mistelkampagne im „Sturm der Liebe“.

Produziert wird „Sturm der Liebe“ von der Bavaria. Das ist die ARD-Tochterfirma, die 2005 im Zentrum des Schleichwerbeskandals stand.