Schlagwort: Journalist

Vorurteil im Schnellgericht

Wer SPUTNIK hört oder auf SPUTNIK.de klickt, kann sich sicher sein, dass alles, was wir erzählen auf Fakten basiert. Mit der journalistischen Sorgfaltspflicht nehmen es aber nicht alle Medien so genau. (SPUTNIK.de)

Die Zeitschrift „Journalist“, die MDR-Jugendwelle „Sputnik“ und der Online-Dienst „Meedia“ erheben schwere Vorwürfe gegen w., einen 25-jährigen Journalisten, der auch für BILDblog arbeitet. Er soll in Artikeln, die er an „Spiegel Online“, „Welt Online“ und den „Südkurier“ verkauft hat, Zitate frei erfunden haben.

W. erwidert auf seiner Homepage:

Ich habe keine Zitate erfunden. Ich habe keine Zitate gefälscht. Aufgrund einer Leserbeschwerde beim Presserat hat sich herausgestellt, dass ein vermeintlicher Anwalt, den ich in mehreren Artikeln zitiert habe, ein Hochstapler war. Das ärgert mich und war ein Fehler von mir – ich hätte den Hintergrund dieser Person genauer prüfen müssen. Ich protestiere aber gegen die vorverurteilende und mich identifizierende Berichterstattung über diesen Fall auf journalist.de und meedia.de. Sie ist einseitig und falsch.

Ich habe W. als zuverlässigen und vertrauenswürdigen Kollegen kennengelernt. Mir fehlen aber bislang die Grundlagen, um die konkreten Vorwürfe gegen ihn abschließend beurteilen zu können. Unabhängig davon halte ich die Art, wie das vermeintlich seriöse Branchenblatt „Journalist“ sowie der Abschreibedienst „Meedia“ in ihrer Berichterstattung mutwillig oder fahrlässig die Existenz eines jungen Journalisten riskieren, für skandalös.

Und fast müsste man die Beteiligten dafür bewundern, mit welcher journalistischen Sorglosigkeit sie anderen journalistische Sorglosigkeit vorwerfen, wenn es nicht so ein trauriges Lehrstück darüber wäre, wie Medien aus dem Nichts den Anschein eines Zeitdruck produzieren, dem sie dann alle Sorgfaltspflichten opfern.

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Als die Medienzeitschrift „Journalist“, das Verbandsorgan des Deutschen Journalistenverbandes, am Freitagnachmittag die Vorwürfe auf ihrer Internetseite und mit einer Pressemitteilung öffentlich machte, ließ sie keinen Zweifel an der Schuld des Betroffenen, den sie auch namentlich nannte. Schon im Bildtext heißt es unmissverständlich: „Von Welt bis Spiegel Online brachte ein Journalist ausgedachte Experten-Statements unter“, im Text selbst wirft der Autor ihm „Betrug“ vor. W. kommt nicht zu Wort. Der Artikel endet mit dem Satz:

[W.] war trotz mehrerer Anfragen per E-Mail und Telefon für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Zwischen der ersten Anfrage bei W. und der Veröffentlichung lagen gerade einmal 26 Stunden. Das Presseratsverfahren, das die ganze Geschichte auslöste, liegt fast ein halbes Jahr zurück. W. hat nach eigenen Angaben seit November 2009 über den Fall nichts mehr gehört. Aber als der „Journalist“ Monate später das Thema aufgriff, erwartete er von dem Beschuldigten, innerhalb eines Tages zu antworten.

Ohne einen erkennbaren Grund wird aus einer höchstens sehr latent aktuellen Geschichte eine Eilmeldung, die um jeden Preis so schnell wie möglich veröffentlicht werden muss. Und natürlich von anderen Medien, wiederum so schnell wie möglich und wiederum journalistische Pflichten dieser Eile opfernd, weiter verbreitet werden muss.

Der „Journalist“-Autor hatte am Donnerstag Nachmittag erstmals versucht, W. zu erreichen. Der aber hatte gerade Urlaub, war mit seinen Eltern unterwegs und kontrollierte deshalb nach eigenen Angaben weder Anrufe noch E-Mails. Er hatte keinen Grund zur Annahme, dass es einen aktuellen Anlass geben könnte, dessentwegen er unbedingt erreichbar sein müsse.

Am Freitagnachmittag versuchte der „Journalist“-Autor auch über andere Wege, W. zu erreichen. Er fragte BILDblog-Chef Lukas Heinser nach der Nummer, und als der ihm die spontan nicht geben konnte, sagte er sinngemäß: Es eilt ja nicht, es ist ja für ein Monatsmagazin. In einer Mail an W. kündigte er allerdings an, „auf jeden Fall etwas Kleines“ veröffentlichen zu wollen, „möglicherweise heute noch“.

Kurz darauf veröffentlichte der „Journalist“ die Anschuldigungen, ohne mit W. gesprochen zu haben. Der Autor erklärt auf meine Anfrage, „wir hatten den Eindruck, dass Herr [W.] sich nicht mehr äußern wird – egal, wie lange wir noch warten“ und begründet das unter anderem damit, dass W. am Freitagnachmittag seines Wissens im Internet-Netzwerk Xing eingeloggt gewesen sei, also Zugang zu seinen Mails gehabt habe.

Irgendwann berichtete der „Journalist“-Autor offenbar auch im Programm von MDR-„Sputnik“ über die Vorwürfe. Auf der Senderhomepage wird W. zum „Spiegel-Online Redakteur“.

Der Branchendienst „Meedia“ machte aus den Vorwürfen des „Journalist“ noch am selben Tag eine „Top-Story“. Wie bei „Meedia“ üblich wurden die Formulierungen des „Journalist“ fast wörtlich und mit nur geringsten Änderungen übernommen.

Aber „Meedia“-Chef Georg Altrogge hat auch recherchiert. Er hat zwar nicht versucht, W. zu erreichen, aber mir und Lukas Heinser eine eilige Mail geschickt, in der er wissen wollte, ob W., den er [mit dem falschen Vornamen] Stefan nennt, Autor oder Mitarbeiter bei BILDblog ist, und uns wörtlich fragte: „Ziehen aus dem Verdacht Konsequenzen?“

„Meedia“ beließ es nicht bei der Namensnennung, sondern zeigt W. auch groß im Bild. Das Foto hat „Meedia“ kurzerhand und ohne Genehmigung von dessen Homepage genommen.

Auch die Nachrichtenagentur ddp nahm den Fall auf. Sie anonymisierte aber den Beschuldigten, und widersprach in einem entscheidenden Punkt der Darstellung von „Journalist“, „MDR Sputnik“ und „Meedia“: Der Springer-Verlag habe nach eigenen Angaben Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet, nicht gegen W. Auf einen entsprechenden Hinweis von W. hin, der inzwischen die Kontaktversuche und die Berichterstattung auf journalist.de bemerkt hatte, wurde dem Text dort ein Nachtrag mit einer entsprechenden Aussage W.s hinzugefügt.

Ebenfalls noch am selben Abend schrieb W. an „Meedia“, dass die Vorwürfe gegen ihn falsch seien, und forderte den Mediendienst auf, das Foto zu entfernen. Altrogge hielt sein Schreiben für merkwürdig und ignorierte es.

Nachdem sich W. am Freitag beim „Journalist“ über die Berichterstattung beschwert hatte, macht dessen Chefredakteur Matthias Daniel ihm am Samstag ein Angebot, sich in einem Interview mit dem Autor der Geschichte nachträglich zu dem Sachverhalt zu äußern. Das halte er „für die sauberste Lösung“, schrieb er ohne erkennbare Ironie. W. aber machte zur Bedingung, dass zunächst die fehlerhaften Passagen in dem journalist.de-Text korrigiert werden. Weil er nicht mit einer fairen Berichterstattung rechnete, nahm er das Interview-Angebot nicht an und behält sich juristische Schritte gegen den „Journalist“ vor.

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Ich habe „Meedia“-Chefredakteur Georg Altrogge Freitagnacht per Mail gefragt, ob er vor der Berichterstattung versucht hat, W. zu erreichen und auf welcher Rechtsgrundlage er glaubt, sein Foto zeigen zu dürfen. Erst 19 Stunden später und auf nochmalige Nachfrage bekomme ich eine Antwort, die ich aber nicht zitieren darf. Er sei über die Sache gut genug informiert, um sich ein Urteil erlauben zu können, und kenne beide Seiten.

Das ist ein bisschen erstaunlich, denn noch am Tag zuvor teilte er mir mit, dass er nicht beurteilen könne, was an den Vorwüfen von „Journalist“ und „Sputnik“ dran ist. An dem „Meedia“-Bericht hat jemand in der Zwischenzeit offenbar in großer Hektik Reparaturarbeiten ausgeführt. Hinzugefügt wurde u.a. auch folgender Nachtrag:

Nachtrag, 27. März: Wie aus dem MEEDIA-Artikel hervorgeht, ist dort nicht die Behauptung aufgestellt worden, das [sic!] Springer eine Anzeige gegen Stefan [sic!] [W.] erstattet hätte, sondern lediglich, dass der Verlag Strafanzeige erstattet hat. Auf Wunsch des Autoren hat MEEDIA in einem Nachtrag oben deutlich gemacht, dass die Anzeige (wie offenbar eine weitere der Spiegel-Gruppe) gegen Unbekannt erfolgten.

Bei dem von Stefan [sic!] [W.] genannten „Kölner Rechtsanwalts“ [sic!] handelt es sich um einen aller Wahrscheinlichkeit nicht existenten Anwalt, unter dessen Namensnennung Zitate in mehreren Texten des 25-Jährigen zu verschiedenen Themen enthalten waren. Mit diesem Thema sind derzeit die Staatsanwaltschaften in Berlin und Hamburg befasst, wobei zu klären ist, wer was erfunden hat und ob unter Umständen ein unbekannter Dritter den Autoren [sic!] hinters Licht geführt haben könnte. Wie dem Artikel oben zu entnehmen ist, geht es aber offensichtlich um weitere von [W.] angeführte Experten, deren Existenz ebenfalls strittig ist. Bis zur endgültigen Aufklärung wird also noch einige Zeit vergehen.

Heute vormittag bekam ich folgendes Statement von Altrogge:

Ein Autor, der sich selbst so exponiert zu Fragen der journalistischen Berufsethik äußert, muss es auch hinnehmen, dass über die Methoden und Qualität seiner Artikel ebenso öffentlich diskutiert wird. Nach unserem Kenntnisstand gibt es dabei eine solche Fülle von Ungereimtheiten, dass es abwegig erscheint, dies durch Zufälle oder Pech bei der Recherche zu erklären. Dafür spricht auch, dass mehrere große Medienhäuser wie berichtet nach intensiver Prüfung die Zusammenarbeit mit diesem Autoren beendet und die betroffenen Artikel aus dem Archiv gelöscht haben.

Ich habe auch den „Journalist“-Chefredakteur Mathias Daniel gefragt, warum er die die Vorwürfe veröffentlicht hat, ohne eine Stellungnahme des Betroffenen abzuwarten, ob die Sache eine besondere Dringlichkeit hatte, die es nicht erlaubt hätte, eine Antwort von W. abzuwarten, und ob er es für gerechtfertigt hält, den Namen des 25-jährigen Studenten zu veröffentlichen und per Pressemitteilung zu verbreiten und damit seinen beruflichen Ruin zu riskieren. Daniel antwortete:

Bei [W.] handelt es sich eben nicht um einen 25-jährigen Berufsanfänger, sondern um einen bereits etablierten Journalisten, der nach Aussage mehrere Medien Zitate erdichtet hat. Nachweislich gibt es den mehrfach zitierten Experten nicht.

Nicht wir haben behauptet, dass gegen [W.] eine Strafanzeige gestellt wurde; das hat Welt Online getan.

Wir haben selbst keine Vorwürfe erhoben, sondern über bestehende Vorwürfe berichtet.

Den Namen haben wir genannt, weil ein Journalist qua seines Berufes in der Öffentlichkeit steht und agiert. Was er publiziert, ist stets öffentlich und nicht privat. Wenn ihm vorgeworfen wird, zu lügen oder Dinge zu erfinden, ist das von Bedeutung für die Öffentlichkeit, jedenfalls in unserer Branche. Wir haben aber in der Tat länger darüber diskutiert, ob die Namensnennung klug ist. Letztlich stehen aber die Vorwürfe seine öffentliche Funktion betreffend im Raum, und nachdem wir mit allen Beteiligten gesprochen haben (und davon ausgehen mussten, dass [W.] nicht mit uns reden will), haben wir uns entschlossen, den Namen zu nennen.

Dass der „Journalist“ selbst keine Vorwürfe erhoben hat, ist natürlich falsch. Und bei der Frage der Namensnennung geht es nicht nur darum, was „klug“ ist, sondern auch, was journalistisch und juristisch erlaubt ist.

Immerhin wurde auf meine Nachfrage unauffällig die Bildzeile geändert. Statt „Von Welt bis Spiegel Online brachte ein Journalist ausgedachte Experten-Statements unter“ steht da nun plötzlich: „Falsche Zitate in Spiegel Online, Welt Online und Südkurier?“ Ob das bedeutet, dass die Leute vom „Journalist“ mit einem Mal auch nicht mehr der Meinung sind, dass der Sachverhalt „ziemlich klar ist, bloß Autor äußert sich nicht“, wie sie gestern noch twitterten, weiß ich nicht.

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Da sind also gestandene Journalisten und Chefredakteure von Medienmagazinen. Sie glauben genau zu wissen, was passiert ist, müssen es aber kurz darauf zurücknehmen. Sie schaffen es nicht, den Verdacht anderer so zu zitieren, dass sie ihn sich nicht zu eigen machen. Sie verzichten auf elementarste Grundregeln von Fairness, Recherche und Journalismus. Ihre Artikel sind hastig zusammen geschludert und strotzen teilweise vor Fehlern. Sie glauben, in größter Eile eine Monate alte Geschichte berichten zu müssen. Und sie sind überzeugt, mal eben die Glaubwürdigkeit, die Existenz eines 25-jährigen Journalistikstudenten zerstören zu dürfen, weil der sauberer hätte arbeiten müssen?

*) Nachtrag, 1. April. Aus juristischen Gründen habe ich den Namen des Beschuldigten nachträglich anonymisiert, auch in den Kommentaren.

Journalisten, nackt im Gegenwind

Hans Hoff hat mit mir für die Medienzeitschrift „journalist“ ein langes Interview geführt. Es geht um die Frage, ob Journalisten es ertragen müssen, wenn sie im Netz „herabgesetzt, beleidigt, verhöhnt“ werden, und ob es in der Verantwortung von Bloggern liegt, einen „Internetmob“ zu bremsen.

Wie viel Öffentlichkeit muss ein Journalist ertragen?
Alle Öffentlichkeit. Seine Arbeit ist ja öffentlich, also hat er in der Rolle als Journalist alle Öffentlichkeit zu ertragen.

Wenn ich früher einen Fehler gemacht habe, musste ich das Gelächter der Kollegen und den Rüffel des Chefs ertragen. Heute werde ich auf großer Bühne kleingelacht, lande bei stefan-niggemeier.de oder bei bildblog.de, und Tausende ergötzen sich an meiner Fehlleistung.
Ich finde es richtig, dass ich mit diesem Risiko leben muss. Das heißt natürlich nicht, dass all die Reaktionen auch legitim sind. Da stellt sich dann die Frage, ob ich mich von den Leuten beleidigen lassen muss. Grundsätzlich muss ich aber hinnehmen, dass andere Leute entscheiden, wie groß sie meinen Fehler aufblasen wollen.

Wie viel Kritik und Beleidigung muss man denn als Journalist einstecken?
Bei Kritik gilt: jede. Beleidigungen: gar nicht. Es gibt kein Recht darauf, Journalisten beleidigen zu dürfen. Man muss das nicht alles hinnehmen, aber es ist auch nicht hilfreich, sich über alles aufzuregen. Wenn sich in irgendeinem Blog irgendwelche Leute auf mich eingeschossen haben und sich gegenseitig beim Beleidigen überbieten, kann die richtige Reaktion auch sein, das zu ignorieren.

Steigt das, was ich ertragen muss, mit dem Verbreitungsgrad? Muss ich mehr ertragen, wenn ich im Fernsehen auftauche?
Da gelten keine besonderen Regeln. Wir nehmen uns als Journalisten doch auch das Recht heraus zu sagen: Dieser Politiker oder dieser Verbandsfunktionär gehört jetzt aber mal an den Pranger gestellt, weil er dieses oder jenes macht. Man bietet natürlich mehr Angriffsfläche, wenn man im Fernsehen auftritt.

Wenn eine Spiegel-Redakteurin wie Kerstin Kullmann im ZDF-„Morgenmagazin“ auftaucht und bei der Vorstellung einer Spiegel-Titelgeschichte übers Internet etwas Falsches sagt, ruiniert sie in anderthalb Minuten ihren Ruf, weil sie anschließend in Blogs wie Ihrem zerfleischt wird. Da fehlt doch jede Verhältnismäßigkeit.
Einerseits ja, vor allem, wenn es um Frau Kullmann persönlich geht. Sie hat ja niemandem etwas getan. Andererseits sitzt sie da als Vertreterin des Spiegels, der selbst einen besonderen Anspruch an sich hat und gut im Austeilen ist, und das ergibt schon eine besondere Fallhöhe – daraus erklärt sich auch die Wucht der Reaktion.

Muss sie sich dann als „Porzellanpüppchen“ und als „fleischgewordener Blondinenwitz“ beschimpfen lassen?
Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Sie schien in diesen unglücklichen Sekunden ja tatsächlich alle Klischees zu bestätigen. Aber die Debatte auch bei mir im Blog war ja nicht so einseitig. Es gab ja durchaus Leute, die Kullmann in Schutz genommen haben. Man spricht so leicht von einem Mob, übersieht aber, dass keineswegs alle in eine Richtung rennen, sondern viele auch sagen: Ihr spinnt ja wohl. Ich weiß nicht, ob das die Angriffe erträglicher macht, aber das relativiert dieses Mobhafte schon.

Gibt es ihn denn, den Mob im Internet?
Natürlich gibt es eine Dynamik, die es überall gibt, wo mehrere Menschen zusammenkommen. Wenn da drei Beleidigungen stehen, setzt der Vierte noch einen drauf. Ich sehe das manchmal auch bei mir, wenn ich einen Eintrag wirklich scharf formuliere und an die Grenze dessen gehe, was ich an Kritik zulässig finde. Das ist dann gelegentlich für einige Kommentatoren Ansporn, noch einen draufzusetzen und damit zumindest meine Grenze des Zulässigen zu überschreiten. Daraus muss ich selbstkritisch schließen: Eigentlich hätte ich nicht so weit vorlegen dürfen.

Gibt es einen typischen Verlauf der Erregungswellen? Im Fall von Eva Schweitzer, die einen Blogger wegen eines zu üppigen Zitats abgemahnt hat, kamen bei Ihnen schnell 200 Kommentare zusammen, aber nach ein paar Tagen stagnierte die Zahl unter der 300er-Marke.
Es geht ganz schnell los, ist aber oft auch ganz schnell wieder vorbei. Deshalb meine ich, dass man das manchmal einfach aushalten sollte, weil nach zwei Tagen vermutlich eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird. Es gibt aber Themen, bei denen man hundertprozentig darauf setzen kann, dass sie einen Entrüstungssturm auslösen. Das war die Spiegel-Geschichte zum Thema Internet, das war Frau Schweitzer zum Thema Urheberrecht.

Sobald es netzbezogene Themen sind, schwappt die Welle höher?
Ja. Viele derjenigen, die im Netz besonders aktiv sind, haben das Gefühl: Das ist unser Internet. Und fühlen sich herausgefordert, ihre Empörung auch noch auszudrücken, selbst wenn das hundert Leute schon vorher gesagt haben.

Was kann ich als Journalist tun, um mich vor solch einem Mob zu schützen?
Man kann sich nicht davor schützen. Man kann nur überlegen, wie man damit umgeht.

Man könnte Fehler vermeiden.
Das ist ja nicht realistisch. Ich glaube aber, dass es im frühen Stadium oft hilft zu kommunizieren. Sich auf die Diskussion einzulassen und zu zeigen, dass man nicht auf dem hohen Ross sitzt. Fehler zuzugeben, falsche Anschuldigungen mit Argumenten zu kontern und zeigen, dass man auch ein Mensch ist und nicht nur ein Opfer, das zum Abschuss freigegeben ist. Manchmal stachelt das die Leute zwar erst an, die dann jede weitere Wortmeldung wieder zerrupfen, deshalb kann es je nach Mentalität oder Thema auch besser sein, das alles an sich abtropfen zu lassen. Ich habe da keine endgültige Antwort.

Eva Schweitzer hat sich kampfeslustig gegeben.
Ich fand sie eher arrogant. Wenn sie schreibt, dass Blogger solche sind, die nachts im Schlafanzug vor dem Computer sitzen

Tun sie das nicht?
Tun sie auch. Aber nicht nur. Das ist doch ein blödes Klischee.

Bei den Diskussionen verdichtet sich, wenn es um Journalismus im Netz geht, der Eindruck, dass da vorwiegend Männer unterwegs sind.
Ist das nicht bei Journalisten ähnlich? Die Wortführer unter den Journalisten sind doch auch Männer.

Die Fälle, in denen die Erregung besonders hoch schwappte, drehten sich meist um Frauen.
Die Männerfälle gibt es ja auch. Wenn Frau Schweitzer dasselbe als Mann gemacht hätte, wäre die Diskussion genauso verlaufen, minus die zehn Deppen, die da wirklich ihren Sexismus ausleben.

Etablieren sich User und Leser als fünfte Macht im Staate, die die vierte kontrolliert?
Ich finde noch interessanter, was bei der taz passiert ist: Dort gab es Abokündigungen wegen des Verhaltens von Frau Schweitzer.

Ist das noch angemessen?
Ich halte es für übertrieben, aber das ist ja nicht die Frage. Wenn ein Leser sagt: Ich finde es inakzeptabel, dass die taz hinnimmt, was die Frau da bloggt, und deshalb kündige ich mein Abo, dann geht es nicht um angemessen oder nicht, dann muss ich mit der Unzufriedenheit der Kunden leben.

Das erzeugt ja konkreten wirtschaftlichen Schaden. Bei Amazon erschienen plötzlich ganz viele Bewertungen, die einen Verriss von Schweitzers Buch hilfreich fanden. Das ist doch ein bisschen, als würde man an eine Hauswand sprühen: Hier wohnt ein Idiot.
In diesem Fall trifft das aber jemanden, der die ganze Zeit an seinem Fenster gestanden und „kommt doch“ gerufen hat. Ich weiß nicht, ob der wirtschaftliche Schaden so hoch ist.

Aber man kann es als Symbol sehen.
Tatsächlich können plötzlich kleine Dinge größere Auswirkungen haben, aber letztlich sind die Bewertungen bei Amazon doch Ausdruck von Sympathie oder deren Fehlen einem Autor gegenüber — das ist doch erst einmal legitim. Wenn Nutzer oder Leser öffentlich ausdrücken können, was sie von etwas halten, darf man sich nicht wundern, wenn davon Gebrauch gemacht wird. Das ist nicht immer schön, aber das ist Demokratie.

Ist das nicht auch eine Form der Verrohung? Wo ist die Grenze?
Wir haben bei Bildblog mal über den Bild-Redakteur Hauke Brost geschrieben und dabei seine Homepage verlinkt. Anschließend haben ihm unsere Leser massenhaft das Gästebuch vollgekotzt. All unsere Aufforderungen zur Mäßigung haben nichts genutzt. Das war natürlich definitiv jenseits der Grenze, aber ich fürchte, dass man damit leben muss. Das hat aber noch nicht die Qualität von „Ich fackele dir jetzt dein Auto ab“. Ich weiß aber auch nicht, wie man so etwas verhindert.

Radikalisiert die Tatsache, dass ich im Internet mit Pseudonym agieren darf, die Diskussion?
Auf jeden Fall. Ich finde es prinzipiell richtig, dass Leute auch unter Pseudonym kommentieren können, aber oft wünsche ich mir, es wäre nicht so. Manchmal sehe ich als Blogbetreiber an der E-Mail-Adresse, wer das wirklich ist, und dass das nicht irgendwelche Schlafanzugträger sind, sondern Chefs von Nachrichtenagenturen, die unter dem Schutz der Anonymität mal richtig vom Leder ziehen.

Kann man die Öffentlichkeit vermeiden, wenn man sich bedeckt hält und etwa nicht ins Fernsehen geht, auch wenn man gefragt wird?
Ja, durchaus.

Warum sieht man Sie so oft im Fernsehen?
Ich sehe mich nicht unbedingt gerne im Fernsehen, aber es befriedigt natürlich die Eitelkeit, wenn man gefragt wird. Ich bin mir bewusst, dass das auch unangenehme Folgen haben kann. Ich lebe ja als einer, der andauernd anderen ihre Fehler vorhält, ohnehin mit der Angst, dass mir selbst mal ein Riesenfehler passiert, den mir andere dann mit dreifacher Freude um die Ohren hauen werden. Andererseits habe ich das Gefühl, dass es auch dann die Möglichkeit gibt, transparent und selbstkritisch zu sein und glaubwürdig zu bleiben. Uns sind bei Bildblog einige größere Fehler passiert. Und es war eine Erleichterung zu erfahren, dass wir sagen können: Es war völlige Grütze, was wir hier gemacht haben. Entschuldigung, es soll nicht wieder vorkommen.

Der normale Tageszeitungsjournalist googelt sich selbst und findet auf Platz eins seine schönste Verfehlung.
Wir werden lernen müssen, damit umzugehen, dass die eigene Geschichte so leicht zugänglich ist. Auch Personalchefs werden lernen, damit umzugehen. Es ist völlig normal, dass jeder von uns drei blöde Sachen bei Google stehen hat.

Völlig normal?
Man wird sich daran gewöhnen. Da stehen die tollen Selbstdarstellungen, da stehen auch die Fehler. Wir werden im Umgang mit dem Internet lernen …

…, das nicht mehr so ernst zu nehmen?
Zumindest einordnen zu können, was das wirklich bedeutet. Lange Zeit gab es die Diskussion, was passiert, wenn ein Personalchef peinliche Partyfotos von einem Bewerber im Netz findet. Ich war jetzt schon mehrfach bei Diskussionen, wo Personalchefs gesagt haben, dass sie sich Sorgen über einen Bewerber machen würden, bei dem es gar keine solche Spuren gibt, dass er gelebt hat.

Hat Bild-Chef Kai Diekmann das kapiert, wenn er jetzt selbst bloggt und mit Halbinformationen die schlechten über ihn verdrängt?
Ja. Ob er damit Erfolg hat, muss man sehen, aber erst einmal ist es geschickt, den Eindruck zu erwecken, die kritischsten Sachen über Kai Diekmann schreibt er in seinem eigenen Blog.

Ich muss also als Journalist aktiv ins Netz gehen, um mit positiven Nachrichten die schlechten in der Google-Liste nach hinten zu drängen.
Das ist mir zu technisch gedacht. Es geht darum, dass ich dort stattfinde und mit den Menschen kommuniziere; dass man sich von mir ein Bild machen kann, das nicht nur aus den Beschimpfungen meiner Gegner besteht. Wenn es mir nicht ganz egal ist, was da über mich steht, dann muss ich mit den Leuten reden. Das wird nicht den Mob verhindern und auch nicht die Deppen überzeugen, die gar nicht an einem differenzierten Bild interessiert sind, aber auf die kommt es sowieso nicht an. Wenn ich gute Argumente habe, werde ich Menschen überzeugen. Wenn ich daran nicht glauben würde, dürfte ich gar nicht erst Journalist werden.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion; Links von mir.

Zum Titelthema „Journalisten in der Öffentlichkeit: Zwischen abgehoben und bloßgestellt“ im aktuellen „journalist“ gehört noch eine Zusammenfassung der aktuellen Auseinandersetzungen samt frischen Zitaten von Eva Schweitzer, die die deutsche Blogosphäre mit einem von ihr selbst im Hafen in New York gesehenen Kriegsschiff mit 300 Marines vergleicht und für vergleichsweise harmlos hält, und eine Umfrage in den Online-Redaktionen, wie sie mit über die Stränge schlagenden Kommentatoren umgehen.