Callactive mahnt das Wort „angeblich“ ab

In dem Gesellschaftsspiel „Tabu“ geht es darum, Begriffe zu umschreiben, ohne eines von mehreren besonders naheliegenden Wörtern zu benutzen. Wem doch eines herausrutscht, der hat verloren.

Die Callactive-Variante dieses Spiels unterscheidet sich von der bekannten Partyversion dadurch, dass es um viel Geld geht. Und dass der zu umschreibende Gegenstand immer der gleiche ist: die Tatsache, dass es in den von der Firma produzierten Anrufsendungen („Money Express“ auf Viva, Comedy Central, Nick) zu einer merkwürdigen Häufung von grotesken Falschanrufen kommt, und zwar immer dann, wenn es relativ viel zu gewinnen gäbe.

Die sicherste Variante dieses Spiels besteht darin, es gar nicht erst zu spielen. Dann hat Callactive zwar automatisch gewonnen, aber man selbst zumindest nichts verloren.

Ebenfalls ohne Risiko ist es, zur Umschreibung der verdächtigen Abfolge von Falschanrufern ausschließlich Wörter wie „Zufall“, „Glück“ oder „Pech“ zu benutzen. Auf diese Weise kann man zwar nicht verlieren, aber auch nicht gewinnen, da kaum jemand, der die Sendungen kennt, darauf käme, dass man ein Phänomen, das sich so genau vorhersagen lässt, mit diesen Wörtern treffend beschreiben könnte.

Das Forum call-in-tv.de spielt seit ein paar Monaten die riskanteste Form von „Callactive-Tabu“, und verliert eine Runde nach der nächsten. Anfangs sprechen die Nutzer von „Fake-Anrufern“. Callactive geht erfolgreich dagegen vor. Dann sprechen die Nutzer von „verwirrten Anrufern“. Callactive geht erfolgreich dagegen vor. Nun sprechen die Nutzer von „angeblichen Falschantwortern“. Und Callactive geht dagegen vor

Die Firma, eine Endemol-Tochter, die in Deutschland für Sender von MTV Networks arbeitet, ließ den Betreiber Marc Doehler wegen des Gebrauchs des Wortes „angeblich“ abmahnen. Beispielhaft erwähnen die Anwälte u.a. die Stellen in einem Sendungsprotokoll auf call-in-tv.de, in denen es um ein Spiel geht, bei dem Wörter in ein Gitter eingetragen werden, sich die Buchstaben in den einzelnen Spalten sich aber nicht wiederholen dürfen:

[Anruferin] Regine wusste angeblich nicht, das sich die Buchstaben in den Spalten nicht wiederholen dürfen!

Später behauptete die Regie in einer der in „Money Express“ häufiger zu beobachtenden Laienspieldarbietungen mit der Moderatorin, selbst keine richtige Antwort mehr zu wissen, und der Protokollant notierte:

Regie hat angeblich kein Wort mehr will aber dennoch ne Runde spielen.

Die Anwälte von Callactive schreiben, call-in-tv.de verbreite mit solchen Folrmulierungen den Verdacht, die Firma „manipuliere“ die Sendung, „setze gezielt Fake-Anrufe ein“ und „täusche Zuschauer über die Mitmachvoraussetzungen“. Sie fordern von Doehler eine strafbewehrte Verpflichtungserklärung, diesen Verdacht nicht mehr zu verbreiten, insbesondere nicht durch den Einsatz des Wortes „angeblich“ bei der Beschreibung von Vorgängen in der Sendung.

Das ist erstaunlich. Denn „Money Express“ täuscht die Zuschauer ununterbrochen über die Mitmachvoraussetzungen. Die Moderatorin tut so, als sei das Spiel schwer, dabei ist es leicht. Die Moderatorin tut so, als sei das Spiel gleich zuende, dabei dauert es noch ewig. Die Moderatorin tut so, als rufe niemand an, dabei rufen Hunderte an und werden nur nicht durchgestellt. „Money Express“ nimmt sich das Recht heraus, die Zuschauer (angeblich im Dienst der Unterhaltung!) in die Irre zu führen, und demonstriert dies durch ein kleines Laufband, auf dem unter anderem steht:

Ein Spiel dauert maximal bis Sendungsende! Das Sendungsende hängt nicht vom Moderator ab und kann variieren! Sie entscheiden, ob die gestellten Aufgaben leicht oder schwierig sind. Der Moderator ersetzt nicht die Mitmachregeln! Countdowns gehören zum Spannungsbogen der Show. Sie müssen nicht unbedingt das Auslösen des Hot Buttons bedeuten! Der Zeitpunkt der Durchstellung ist ungewiss und kann zu einem beliebigen, auch deutlich später liegenden Zeitpunkt erfolgen.

Noch einmal langsam und zum Mitdenken: Die Moderatorin darf den falschen Eindruck erwecken, man müsse nur möglichst schnell die richtige Leitung treffen, um ins Studio durchgestellt zu werden – der Zuschauer darf ihre Behauptungen nicht ernst nehmen, weil es nur ein Spiel ist. Nimmt er sie aber tatsächlich nicht ernst und distanziert sich durch das Wort „angeblich“ konsequent von sämtlichen schwer zu glaubenden behaupteten Vorgängen bei „Money Express“, ist das nach Ansicht von Callactive auch unzulässig.

Die schlechte Nachricht ist: Es ist nicht völlig auszuschließen, dass Callactive damit vor Gericht durchkommt. Nach dem Stolpe-Urteil reicht es, wenn von mehreren möglichen Interpretationen einer Formulierung eine unzulässig ist, und womöglich lässt sich ein Hamburger Gericht finden, das der Meinung ist, unbedarfte Leser könnten unter „angeblich“ nicht das verstehen, was der Duden sagt („wie behauptet wird“, „vermeintlich“, „nicht verbürgt“), sondern soviel wie: „stimmt gar nicht“.

Es scheint übrigens verschiedene Gewinn-Varianten für Callactive im „Tabu“-Spiel zu geben. Eine besteht im Bankrott des Gegners. Eine andere darin, die deutsche Sprache erfolgreich von sämtlichen Wörtern gereinigt zu haben, die das, was der Sender im Auftrag von MTV Nacht für Nacht produziert, angemessen beschreiben.

[Kommentare aufgrund des juristischen Vorgehens von Callactive gegen mich geschlossen.]

6 Replies to “Callactive mahnt das Wort „angeblich“ ab”

  1. […] Ansonsten faszinieren mich ja diese 9-live-Sendungen (die teilweise nach dem gleichen Konzept auch auf Sat 1 laufen). Mit welchen Methoden da… ähm, an der Unterhaltung der Zuschauer gefeilt wird. Man muss bei Äußerungen zu diesen Sendeformaten juristisch übrigens extrem auf der Hut sein. […]

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