Im Nachrichtenstollen der FR

Die Meldung war Chefredakteur Uwe Vorkötter so wichtig, dass er sich am vergangenen Samstag auf Seite 1 der „Frankfurter Rundschau“ an seine Leser wandte:

(…) Es gibt (…) viele starke Argumente für die FR. Auf ein weiteres möchte ich Sie, aus aktuellem Anlass, hinweisen.

„Frankfurter Rundschau veröffentlicht Deutschlands meistzitierte Nachricht“ – so lautet die Schlagzeile einer Untersuchung, die gestern veröffentlicht wurde. Das Institut Landau Media hat 62 meinungsführende deutsche Publikationen ausgewertet und festgestellt, dass die FR die Exklusiv-Story des Jahres 2008 hatte: Es ging um den Datenklau bei der Landesbank Berlin, von dem Zehntausende Kreditkarten-Kunden betroffen waren. 111 Mal wurde die Enthüllung unseres Autors Matthias Thieme in anderen Medien zitiert.

Na, herzlichen Glückwunsch — wobei: Der „Datenklau“? Die „Enthüllung“?

Die „Exklusiv-Story des Jahres 2008“, die älteren werden sich erinnern, war jene, mit der die FR am Samstag, den 13. Dezember unter der Überschrift „Gigantisches Datenleck“ aufmachte. Ein „neuer Datenskandal“ zeichne sich ab, der zehntausende Kunden betreffe, die Daten seien der FR „anonym per Post zugespielt“ worden. Die Polizei könne nicht ausschließen, hyperventilierte die FR zwei Tage später, dass mit den „Zehntausenden Kreditkarten-Daten illegale Käufe im Internet getätigt wurden“ — obwohl derzeit keine Anzeigen vorlägen. „Nach Informationen der FR“, schrieb die FR, „ist es bereits zu kriminellen Abbuchungen bei Kunden gekommen, deren Daten vom Finanzdienstleister Atos Worldline bearbeitet wurden. Bei der FR gingen Schreiben von Kunden aus ganz Deutschland ein, von deren Konten Unbekannte Beträge bis zu 5000 Euro abgebucht hatten.“

Die Zeitung versuchte noch ein paar Tage, aus allem, was nicht völlig auszuschließen war, eine Aufregermeldung zu machen. Dann gab die Polizei bekannt, was hinter dem „Datenklau“ steckte: Zwei Kurierfahrer hatten ein an Vorkötter adressiertes Paket mit einem Christstollen geöffnet und den Inhalt gegessen. Das Adressen-Etikett klebten sie stattdessen auf die für die Landesbank Berlin bestimmte Lieferung. (Die „FAZ“ meldete am nächsten Tag: „Ungeklärt blieb gestern nur noch, ob dem Chefredakteur noch rechtzeitig zum Fest ein Ersatzstollen zugeschickt werden kann. Der Markt der Kurierdienste, so heißt es in Frankfurt, sei derzeit sehr verunsichert.“)

Das „starke Argument“ für die „Frankfurter Rundschau“, das der Chefredakteur seinen Lesern am Samstag nicht vorenthalten wollte, ist das erfolgreiche Öffnen eines Christstollenersatzpaketes. Man kann sich seine größten Erfolge nicht aussuchen.

33 Replies to “Im Nachrichtenstollen der FR”

  1. He, kann ja nicht jeder in Berlin leben, so wie Du. Uns geht es in Frankfurt schon dreckig genug, mit dem ganzen Sub-Prime Kredit Finanzmarkt Bankenkrisengedönszeugs. Dann kann der Herr Hauptstadtmedienjournalist schön auf uns arme Hessen und unsere minderbemittelten Parteiblättern Lokalzeitungen und deren tollem Führungspersonal rumhacken.

    *g*

  2. Sorry, aber Stollen schmeckt ja wohl auch nicht. Bei einem Baumkuchen wäre das was anderes gewesen…

    …aber schon interessant, inwieweit anonyme Informationszuspielungen von extrem banalen Zufällen abhängig sein können.

  3. Besonders scharf ist ja, dass Vorkötter die Geschichte heute noch als „Datenklau bei der Landesbank Berlin“ bezeichnet. Das einzige, was geklaut wurde war ja wohl der mutmaßlich äußerst schmackhafte Chefredakteursstollen.

  4. Gnihi, und dann auch noch eine Geschichte, die dem Chefredakteur per Päckchen direkt auf den Schreibtisch geliefert wurde. Wer hätte als erstes berichten können, wenn nicht die FR?

    (Plädiere ebenfalls für Baumkuchen.)

  5. @ Stefan: Hättest du was gesagt, meine Mutter hat welchen gebacken. Ich hätte gern geteilt.

  6. @Alex: da wurde keine Information anonym zugespielt, darüber hinaus war mit den Kreditkartendaten GAR NIX gemacht worden.

    Die FR hat sich die ganze Geschichte komplett aus dem Hintern gezogen. Bei der Sendung handelte es sich um ein ganz normales Paket das so sicherlich schon mehrfach verschickt wurde. Jetzt kann man darüber diskutieren, wie gut es ist, solcherlei Daten auf diesem Weg zu verschicken, es handelte sich aber weder um irgendwas Anonymes, noch was Geklautes und darüber hinaus auch nicht um irgendwas Geheimes.

    Das, was sich als Frage stellte, nämlich warum man wenn man ein Paket zu wenig hat einfach das Etikett des geöffneten auf ein verschlossenes klebt, DAS wurde überhaupt nicht angesprochen. Ich meine wie doof muss man sein, einen Stollen zu essen und dann dem Empfänger einfach irgendein anderes Paket zuzustellen. Da hätte ich gerne die Aussagen der Kurierfahrer zu gehabt.

    Außer Mutmaßungen hat die FR nichts geleistet und ist dafür auch noch bombig zitiert worden. Wenn ich mir solcherlei Räuberpistolen ausdenken würde, dann wäre mir das Zitiertwerden peinlich.

  7. Die Geschichte kannte ich auch noch nicht. Und bis ich sie ergoogelt habe, dachte ich wirklich, Stefan hat sie sich ausgedacht, und das sei irgendein Witz, den ich nicht verstehe.

    Was für Dinge so passieren. Das könnte ein Drehbuch für eine Mediensatire sein, nur würde irgendjemand dann sagen: Wer soll uns denn so ne Geschichte abnehmen…

  8. @Sebastian: Ich meinte natürlich nicht anonyme Informationszuspielungen sondern „anonyme Informationszuspielungen“ mit Gänsefüßchen.

  9. Ein Datenleck ist da meiner Meinung nach schon vorhanden. Wieso werden solche Daten einfach als Päckchen verschickt und zudem noch unkodiert? (Es ist mir egal, wwie das bei Microfiches geht.)

    Und was ich von Paketdienstmitarbeitern halten kann, weiß ich nun auch. (U.a., dass sie Stefan seinen Stollen auch weggefressen haben. ;-)

  10. Ok, das war ein Zufall. Nicht von einem Sicherheitsleck zu sprechen, ist aber dennoch nicht richtig. Denn Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, heißt Zufälle auszuschließen. Hier wurde doch die Gefahr in Kauf genommen, dass sensible Daten (Kreditkartendaten dürften diese Eigenschaft erfüllen) wie und wo auch immer verloren gehen – wahrscheinlich, um Kosten für einen anderen Transportweg zu sparen. So etwas nennt man ein Leck.

    Nur, weil die Auflösung so albern war, ist es deshalb nicht wirklich kein Skandal gewesen. Hätte die „FR“ die Auflösung abgewartet, wäre die Geschichte eine etwas andere, aber keine schwächere Geschichte. Die Frage ist nur: Hätte es jemals eine Auflösung gegeben ohne den öffentlichen Druck auf die Bank? Unwahrscheinlich.

    Es war von Interesse, egal, wie es ausging; und der journalistische Reflex war richtig. Nachher ist man immer klüger – die Frage ist doch, ob jeder von uns im Moment des Paketöffnens ähnlich schlau oder gar schlauer gewesen wäre… Erneut: Unwahrscheinlich.

  11. Ich bin mir sicher, dass es sich hierbei um eine Verschwörung handelt, deren ganze Ausmaße noch lange nicht erfasst sind – was sich allerdings wohl bald ändern wird: Ron Howard (Regisseur des GröVerschfiklaZ = größte Verschwörungsfilmklassiker aller Zeiten, also des Da Vinci Codes), plant „Christstollen-Gate“ bald in die Kinos zu bringen. Während es im Zickenkrieg um die Hauptrolle zwischen Orangeat und Zitronat bisher zu keiner Entscheidung kam, ist zumindest unstrittig, mit Ron Howard den besten man für die Regie gefunden zu haben. Schließlich sollte von dem Mastermind hinter einem Weihnachtsepos wie „How the Grinch stole Christmas“ ein besonders sensibler Umgang mit der Thematik zugetraut werden.

  12. @Karteninhaber: es ist nur ein „Datenleck“, weil das Briefgeheimnis verletzt wurde. Haftbar dafür ist das Transportunternehmen.

    Von daher kann von „Leck“ keine Rede sein. PINs und TANs werden auch mit der Briefpost verschickt. Ich sehe da keinen Unterschied insofern das Paket mit den Kreditkartendaten ein Siegel gehabt hat, welches nur ungebrochen als solches Akzeptiert wird vom Empfänger.

    Was hier vorliegt ist allenfalls Sorglosigkeit seitens des Kreditkartenunternehmens, aber dass die auf die Sicherheit der Kundengelder seit Jahrzehnten *zensiert von mir* ist mir spätestens nach der vierten Eidesstattlichen Versicherung klar. Und das bei bisher sechs Kreditkarten. Ich bekomme in der Regel nicht beim Bankwechsel eine neue Karte sondern wenn mal wieder irgendein Shop im Internet gehackt wurde oder sich jemand in den USA vom Servicepersonal mal eben die 12stellige Nummer aufgeschrieben hat und dann dutzende Mexikaner mit meiner Goldkarte Flüge nach Florida buchen.

    Wo liegt da der größere, finanzielle Schaden, der über Kartengebühren wieder reingeholt werden muss?

  13. Der Duden: Frankfurter Rundschau – Deutsch:

    „Enthüllung“ = Ein an die Redaktion adressiertes Paket öffnen, dass per Post kommt.

    Demnächst erwarten sie folgende grandiose Enthüllungen in der FR:

    – Knallharte Recherche-Enthüllung: Der Werbeprospekt eines Supermarktes wird enthüllt, der trotz „keine Werbung“-Schild eingeworfen wurde

    – Die Rechnung eines freies Mitarbeiters im Monat Februar – Sensationsenthüllung im Bereich „Wirtschaft & Arbeit“

    – Boulevard-Enthüllung des Monats: Die Blonde vom Empfang erhält einen anonymen Liebesbrief!

  14. Ein wenig erschreckend bei den ganzen Datenskandalen des vergangenen Jahres fand ich ja das unheimliche Einvernehmen der meisten Berichterstatter darüber, die Tatsache zu ignorieren, dass Daten eigentlich nicht zählbar sind. Ich habe viel über die Zehntausend Kreditkarten-Daten und Tausenden durchgesickerten Telekom-Kundendaten gelesen, aber nie erfahren, ob meine Kundendate bzw. mein Kundendatum bei der Telekom auch unter den verlorengegangenen war.

  15. Oh man, mir fehlen die Worte. Aber vielleicht erhalten diejenigen, die sich aus diesem Grunde die FR abonnieren einen vorweihnachtlichen Christstollen frei Haus:-) Habe mir schon ueberlegt, eine Zeitung hier in Suedafrika zu abonnieren, aber die FR wird es definitv nicht…

  16. Immerhin ham sie einen guten Sportteil. Was man immerhin so noch nicht mal über den HR sagen kann.

    Es ist schon ein Kreuz in Frankfurt…

  17. Sagt mal, glaubt ihr die story eigentlich???
    Ok, Paketdienst-Mitarbeiter öffnen aus Spaß Pakete, vernaschen den Inhalt. Dann beschließen sie, lieber aufzuhören und die Sache möglichst geschickt zu vertuschen. Sie haben dann ein paar Möglichkeiten, u.a. den ganzen geöffneten Kladderadatsch einfach verschwinden zu lassen. Aber nein, sie sollen sich für die absolut end-schwachsinnigste aller Möglichkeiten entschieden haben, nämlich umzuettikettieren. Wobei der Logik halber darauf hinzuweisen ist, dass dann zwar ein gewisser Herr Vorkötter irgendein anderes Paket bekommt, dafür aber wiederum jemand anderes gar keins. Warum haben sie nicht gleich das ganze Lager einmal umettikettiert?
    Welcher Journalist hat die beiden Deppen eigentlich interviewen dürfen? Überhaupt einer? Normalerweise bekommen Journalisten ja feuchte Lefzen, wenn eine story unglaubwürdig ist. Hier etwa nicht?!?
    Solange ich u.a. das Interview nicht sehe, gehe ich davon aus, dass man mich mit dieser Christstollen-„Nachricht“ für dumm verkaufen will.

  18. @21: Nach dem was oben steht, beruht das auf Polizeiangaben, nicht auf einem Interview.

    Wir müssen uns damit abfinden: Menschen sind manchmal eben echt sehr dumm!

  19. Ja ja die FR. Über eine weitaus größere Panne will die FR lieber nichts sagen. Das Interview mit Jessica Schwarz vom 23.12.08 war in weiten Teilen wohl erfunden. Dazu die FR am 30.12.08: „Hierzu stellen wir richtig: Frau Schwarz hat sich weder wörtlich noch sinngemäß so gegenüber FR-online über den Film „Die Buddenbrooks“ geäußert. Sie hat derartige Aussagen auch zu keinem Zeitpunkt autorisiert“.

    Aber da schweigt die FR. Tolle Zeitung!

  20. Paketdienstmitarbeiter bekommen nur Hungerlohn. Hungrige aber entwickeln einen guten Geruchssinn. Sie spüren Esswaren in Paketen sofort auf und vernaschen diese. Wenn sie Christstollen erwischen, beten sie fünf Paternoster extra. Aus Dank und zur Buße.

    Wer an Christstollenliebe glaubt, glaubt auch an den Weihnachtsmann – und an das Christstollenkind.

  21. Auch wenn die FR hier masslos uebertreibt (und wichtige Fakten ganz weglaesst) — wenn einige (zehn?)tausend sensible Datensaetze an einen voellig Unbefugten geliefert werden, ist das mMn sehr wohl ein ziemlich uebles Datenleck, egal wer die Verantwortung traegt. Nur dass es halt in diesem speziellen Fall fuer die Kunden (allerdings nicht fuer die Bank) sehr glimpfig ausgegangen ist, weil der Empfaenger gluecklicherweise einer war, der mit den Daten, die ihm in den Schoss gefallen sind, verantwortlich umgegangen ist. Das war allerdings Glueckssache … wenn die Sendung an moralisch weniger integre Leute gegangen waere (Finanzamt bei Liechtenteiner Kontodaten z.B. ;) ), haette das schon ganz anders ausgehen koennen.

  22. #24, polyphem u. #21, paternoster:

    Mit einer kleinen Korrektur: Der eigentliche Empfänger bekam nicht kein Paket, sondern ein Paket zu wenig – es waren mehrere gleichartige unterwegs.

    Und wenn ich das jetzt nicht glauben soll – was sonst soll ich glauben? Wer würde einerseits die Daten unterschlagen, diese aber an die FR senden, und dafür einen Stollen aufspüren und essen? Bietet mir mal einen lustigen Thriller an!

    Und was soll bitte eine Zeitung denken, wenn unbestellte Kreditkartendaten in großer Zahl ohne weitere Erklärung (z.B.: „kalorienarm“) ankommt?

    Ich würde auch eher denken, daß hier eine anonyme Zuspielung erfolgt, als daß es sich um eine idiotische Vertuschung eines Stollendiebstahls handelt.

    Oder dachten die Täter vielleicht, daß die Zeitung ihre Quelle schützt, und daher die Haupttat (Stollenunterschlagung) nicht angezeigt wird?

  23. Dass die FR das damals für einen Datenklau und eine gezielte Zuspielung brisanter Daten hielt, ist ja völlig nachvollziehbar. Vielleicht müsste man sich mit dieser Geschichte, wenn sie längst aufgeklärt, nur nicht mehr als journalistische Glanztat brüsten.

  24. Ok. Es fällt einem halt schwer, beim Thema LBB noch an Zufälle zu glauben.
    Hab mich gestern noch mal über die Sache informiert und muss in diesem speziellen Fall wohl an den gesunden Menschenverst ungesunden Menschenunverstand glauben.

  25. Die FR ist ein Laden voller Wichtigtuer. Wichtigtun ist das, was die meisten Leute dort am besten können.

  26. LOOOOOOOL

    also die damalige Sache kann man einer Boulev…. einer Zeitung wohl kam vorwerfe, eine solche Story „lässt man sich nicht entgehen“ (ok, man KÖNNTE auch ein klitzekleines bisschen recherchieren und nicht gleich den Missbrauch dazudichten). Was sie für die FR wirklich peinlich macht, ist m.E. erst das sich-selbst-auf-die-Schulter-klopfen durch den Chefredakteur.

    @Sebastian:
    >Außer Mutmaßungen hat die FR nichts geleistet und ist dafür auch
    >noch bombig zitiert worden. Wenn ich mir solcherlei
    >Räuberpistolen ausdenken würde, dann wäre mir das
    >Zitiertwerden peinlich.

    mir auch, aber deshalb bringen wir’s ja auflagentechnisch auch zu nix ;-)

  27. […] auf die Christstollengeschichte der Profis des journalistischen Geschäfts, die Stefan Niggemeier so schön beschreibt. Und vielleicht noch auf den genialen Blog-G, den die FR nach einem Gespräch zwischen Journal […]

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