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Patricia Dreyer, Nachtrag

Um noch einmal auf Patricia Dreyer zurückzukommen: „Spiegel Online“-Chef Mathias Müller von Blumencron hat gegenüber onlinejournalismus.de einige bemerkenswerte Sätze gesagt:

Warum kommt jemand aus einer aussichtsreichen Position bei der „Bild“-Zeitung zu deutlich schlechteren Konditionen zu uns? Frau Dreyer verlässt die „Bild“-Zeitung, weil sie eine andere Art von Journalismus will. Sie war damals ein Jahr bei dem Blatt, als sie diesen Anruf von dem Menschen entgegengenommen hat, der Kekilli in einem Video erkannt haben will. Sie war deshalb für einen Tag dem Thema zugeordnet und hat sich danach nicht mehr Frau Kekilli gewidmet. Für sie war diese Story ein Tiefpunkt.

„Spiegel Online“ in die Psycho-Klinik

„Spiegel Online“-Chef Mathias Müller von Blumencron hat gegenüber der „taz“ die Entscheidung verteidigt, die „Bild“-Unterhaltungschefin Patricia Dreyer im nächsten April zur neuen Leiterin des „Panorama“-Ressorts zu machen — obwohl deren Name u.a. über dem Artikel stand, mit dem die „Bild“-Zeitung 2004 ihre Schmutzkampagne gegen Sibel Kekilli begann:

Dreyer sei für diese Geschichte und ihre Aufmachung nicht zuständig gewesen. „Man kann sich auch fragen: Muss man jemanden sein Leben lang für eine solche Geschichte verantwortlich machen?“

Ja, das kann man sich auch fragen. Man müsste es vielleicht nicht so formulieren, dass es klingt, als hätte Dreyer den Artikel in den frühen 60er Jahren geschrieben oder in der Pubertät und nicht im Februar 2004. Aber natürlich sollte man niemanden auf einen einzigen Artikel reduzieren, den er geschrieben hat.

Patricia Dreyer hat ja auch andere Sachen geschrieben.

Im März 2005 eine „Bild“-Serie über Sarah Connor, über der grotesk irreführende Überschriften standen wie: „Ich sollte mein Baby abtreiben … nur für die Karriere“ oder: „Mit meiner Freundin übte ich Zungenküsse“ — aber vermutlich war sie auch da für die Geschichte und ihre Aufmachung nicht „zuständig“ gewesen.

Und im Oktober 2003 einen „Bild“-Artikel, der mit den Worten begann:

Jetzt ist die zweite, zensierte Fassung von Dieter Bohlens Enthüllungsbuch im Handel. Viele pikante Stellen mussten geschwärzt oder gestrichen werden. Lesen Sie exklusiv in BILD die Enthüllungen, die Prominente verbieten ließen.

Und natürlich war sie für die Beleidigungen und Unterstellungen, die dann folgten, nicht „zuständig“, die waren ja von Bohlen.

Patricia Dreyer schrieb Artikel wie..

  • Ingrid Steeger in der Psycho-Klinik
  • „Sie muss weg von der Familie! Weg von den Freunden! Rettet meine Frau!“ — TV-Star Bernd Herzsprung (61) will, dass seine kranke Frau Barbara (50) wieder in die Psycho-Klinik geht.
  • Jetzt gehe ich erst mal in die Nerven-Klinik. Jimmy Hartwig – Abschied vom Dschungel-Camp
  • Yvonne Wussow Brustkrebs-Drama
  • Arme Jutta Speidel! / Warum fällt sie immer auf die falschen Männer rein?
  • Jetzt redet Michelle Hunziker über ihren Ehekrieg: Eros lügt und will mich fertigmachen!
  • Nackt-Eva triumphiert in der Lippenschlacht
  • Michael Jackson: Was trieb er mit diesem Hamburger Jungen
  • Macht Dschungel-TV dumm?
  • Fleißig büffelt Naddel für den Idioten-Test
  • Rod Stewart größter Pop(p)-Star aller Zeiten.

Und womöglich sind all diese Artikel sogar journalistisch unangreifbar. Aber man kann sich auch fragen, was es bedeutet, wenn der „Spiegel Online“-Chef sagt: „Wir wollen die Berichterstattung im Panorama-Ressort verstärken und originärer machen“, und dafür die Autorin dieser Texte einstellt.

Fotostrecke ohne Sehenswürdigkeiten

Persönlich würde ich die Qualität eines Online-Mediums auch daran messen, ob es mir zu einem Artikel ein, zwei ausgewählte Fotos präsentiert. Oder eine uferlose Bildergalerie mit allen Agenturfotos, die die Datenbank automatisch zum Thema auswirft.

Bei „Spiegel Online“ zum Beispiel erscheint mit großer Berechenbarkeit seit einigen Wochen bei jedem Artikel, der mit dem Streit um den Berliner Hauptbahnhof zu tun hat, um die nicht gebaute Gewölbedecke im Untergeschoss oder das verkürzten Glasdach oben, exakt dieselbe siebenteilige Bildergalerie:

Hier und hier und hier und hier.

Und als sei das an sich nicht schon albern genug, zeigt leider keines der sieben Fotos das, worum gestritten wird: die ursprünglich geplante Decke, die nun doch gebaut werden soll, oder das Glasdach, weder in der geplanten Länge noch in der real exisiterenden Stummelversion. Der Bildtext „Ursprüngliche Planung des Architekten ‚erheblich entstellt'“ steht neben einem Foto vom nicht entstellten Teil des Bahnhofs. Und neben der vielversprechenden Zeile „Im Prozess ging es um die Decke im Untergeschoss“ sieht man das Foto eines einfahrenden Zuges im Obergeschoss.

Journalisten sind Zicken

Seit zwei Tagen dreht ja diese vermeintlich alarmierende ARD-Umfrage ihre Runden durch die Medienwelt, wonach erstmals eine Mehrheit der Deutschen unzufrieden sei mit dem Funktionieren der Demokratie. „Spiegel Online“ griff, wie viele andere, das Thema bebend vor Besorgnis auf, titelte: „Mehrheit der Deutschen zweifelt an der Demokratie“ und reichte seinen Lesern die dramatische Frage weiter: „Demokratie ein Auslaufmodell?“

Während die Medien sich in Rage interpretierten, meldete sich bei „Zeit online“ Gero von Randow zu Wort und wies darauf hin, dass in der Umfrage gar nicht danach gefragt wurde, wie zufrieden die Deutschen mit der Demokratie an sich seien, sondern damit, wie sie funktioniert:

Mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland dürfen, vielleicht sogar: sollten gerade die von dieser Regierungsform besonders Überzeugten sehr wohl unzufrieden sein.

Er schloss:

Kein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen. Schlimm, dass Deutschland derzeit unzureichend regiert wird. Bedenklich auch, dass die Bevölkerung dazu tendiert, die Politik als Ganze negativ zu bewerten. Daraus kann Böses erwachsen.

Doch es könnte auch so kommen, dass, wer jetzt die Umfrage derart missdeutet wie ARD und Spiegel online, unwillentlich den Zweifel an der Demokratie gesellschaftsfähig macht.

Nun sind sie bei „Spiegel Online“ gegenüber Kritik nicht völlig taub. Und so erschien sieben Stunden nach Randows Kommentar ein Interview mit dem Demoskopen Dieter Roth, das exakt die Vorwürfe Randows aufnahm:

SPIEGEL ONLINE: Kann man [von der Umfrage] ableiten, dass die Deutschen die Demokratie nicht mehr wollen?

Roth: Das kann man nicht. (…)

SPIEGEL ONLINE: Wir können somit nicht von einer Demokratiemüdigkeit sprechen?

Roth: Nein (…)

Soweit so gut.

Aber die Kollegen von „Spiegel Online“ konnten das indirekte Eingeständnis, einen Fehler gemacht zu haben, anscheinend nicht machen, ohne dem Kritiker auch eins auszuwischen. Und so fragten sie Roth nebenbei noch nach der Sinnhaftigkeit von Umfragen überhaupt:

SPIEGEL ONLINE: Wie sinnvoll ist zum Beispiel eine Frage, die neulich im Magazin „Zeit Wissen“ veröffentlicht wurde. Danach wollen 58 Prozent der Deutschen intelligenter sein als sie sind. Dienen Umfragen auch als PR-Nummern, um eine Pressemitteilung abzuwerfen?

Roth: Es gibt sehr viel mehr schlechte Fragen als gute. Bei vielen veröffentlichten Umfragen kommt mir das große Grausen.

Und wer ist Herausgeber von „Zeit Wissen“? Gero von Randow.

Lustiges Zahlendrehen mit Spiegel Online

Das Nervige am „Spiegel“ ist, dass im Grunde alle Artikel auf eine These hin geschrieben werden – und widersprüchliche Tatsachen entweder ignoriert oder entsprechend uminterpretiert werden.

„Spiegel Online“ kann das auch schon ganz gut. Heute steht dort ein Bericht über den angeblich „großen Demokratie-Verdruss“ unter den Deutschen. Und dazu diese Statistik zur Frage:

„Wie zufrieden sind Sie mit der Demokratie in Ihrem Land?“

Darunter hat „Spiegel Online“ folgende Legende geschrieben:

„Zufriedenheit der Deutschen mit der Demokratie: Vom Höhepunkt in den siebziger Jahren ging es stetig bergab – vor allem nach der Einheit.“

So möchte „Spiegel Online“ also die Zahlen verstanden wissen. Nur sagen die Zahlen das gar nicht aus. Das kleine Wort „stetig“ zum Beispiel bedeutet „andauernd, gleich bleibend, nicht schwankend“. Die Zufriedenheit der Deutschen mit der Demokratie nimmt aber gerade nicht gleichbleibend ab. Sondern mit erheblichen Schwankungen.

Und der „Höhepunkt“ liegt, genau genommen, auch nicht in den siebziger Jahren, sondern 1990. Dafür liegt lustigerweise der Tiefpunkt in den siebziger Jahren.

Die Art der Darstellung bei „Spiegel Online“ verschleiert auch, dass die Abstände der Erhebungen nicht gleich sind. Mehrere Jahre fehlen ganz, manche sind gleich dreimal vertreten. 1988 betrug die Zustimmung einmal 77 Prozent, einmal 68. Und aus dem Tief von 45 Prozent im Jahr 1997 waren nur zwei Jahre später ansehnliche 66 Prozent geworden.

Wenn diese Statistik irgendetwas beweist, dann dass diese Umfrage bestenfalls flüchtige Stimmungen abbildet, die sich in kürzester Zeit wieder ändern. Anders gesagt: Man darf sie wirklich nicht überinterpretieren.

Aber dann wird natürlich kein „Spiegel“-Stück draus.