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Die geheimnisvolle Fionnghuala

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Seit Anrufsendern, die gutgläubige Zuschauer in die Irre führen, Bußgelder drohen, ist das Geschäft fairer geworden – und schlechter. Dabei hat noch keiner bezahlt.

Heute würde es Schlag auf Schlag gehen. Kein Gerede, keine Verzögerungen, garantiert zwanzig Gewinner in fünfzehn Minuten. Dirk Löbling, der Animateur, der an diesem späten Donnerstagabend Dienst hat bei 9Live, scheint angemessen aufgeregt. So ein „Gewinner-Countdown“, erklärt er, sei „sehr speziell“. Und weil er von der Regie vorgegeben werde, könne man sich darauf verlassen, dass das damit verbundene Versprechen eingehalten werde.

Vierzehneinhalb Minuten später ist ein Gewinner gefunden. Es stehen noch 25 Sekunden auf der Uhr, es fehlen noch 19 Gewinner, und Löbling macht Geräusche und Gesten, die seine Fassungslosigkeit ausdrücken sollen. Wie soll das zu schaffen sein?

Es ging dann doch recht entspannt. Es stellte sich nämlich heraus, dass der Anrufsender bei seinem „Gewinner-Countdown“ nur die Zeit zählt, die er zählt. Bis die nächsten zwanzig Sekunden Spielzeit abgelaufen waren, verging eine Dreiviertelstunde, in der der Moderator sich zeitweise mit einem Menschen in seinem Ohr über die Blumen in der Studiodekoration unterhielt. Nach endlosen Minuten erbarmte er sich, zählte einen Countdown runter, dann lief der „Gewinner-Countdown“ wieder weiter, jemand wurde durchgestellt, nannte einen Beruf, der auf „-er“ endet, und gewann einen zweistelligen Eurobetrag. Es schien, als müsse man sofort anrufen, weil das Spiel sofort vorbei sei. Aber 9Live könnte im Notfall einen solchen „Gewinner-Countdown“ von wenigen Sekunden über Jahre strecken.
Sie machen sich immer noch einen Spaß – und vor allem natürlich: ein Geschäft – daraus, die Zuschauer in die Irre zu führen. Aber die Hoch-Zeiten des Call-TV sind vorbei, im Guten wie im Schlechten. Die Tricks, die 9Live heute einsetzt, sind vergleichsweise harmlos. Aber auch die Erlöse sind nicht mehr, was sie mal waren. Der Marktanteil des Senders liegt bei nur noch 0,1 Prozent – bei jüngeren Zuschauern ist er nicht mehr messbar. Für die Schwestersender Sat.1, Pro Sieben und Kabel 1 produziert 9Live noch Anrufsendungen tief in der Nacht; eine Sendung wie „Quiz Night“ auf Sat.1 läuft regelmäßig vor immerhin ein- bis zweihunderttausend Zuschauern – aber wer weiß, wie viele von denen wach sind.

Auch der Spartenkanal Sport 1 bessert sein Einkommen mit den Telefongebühren dummer Zuschauer auf und lässt werktags nachmittags zum Beispiel weibliche Vornamen mit „A“ am Ende raten (gesucht waren am Freitag: „Notburga, Immacolata, Inmaculada, Fatoumata, Fearchara, Femmechina, Fionnghuala, Flordeliza, Rizalia, Boglarka“). Aber Sender wie Super-RTL, MTV, Viva, Nickelodeon, Tele 5 und Das Vierte haben sich inzwischen von dem zwielichtigen Geschäft verabschiedet; in der Schweiz sorgte ein Gerichtsurteil für das abrupte Ende der Branche.

Warum das Geschäft nicht mehr so läuft? Die einfachste Erklärung ist, dass die Teilnehmer im Laufe der Zeit entweder zu klug oder zu arm geworden sind, um noch mitzumachen. Pro-Sieben-Sat.1 nennt in seinem Geschäftsbericht als Grund für die sinkenden Anruferzahlen und Erlöse „die Einführung einer neuen Gewinnspielsatzung der Landesmedienanstalten“. Neu daran waren weniger die Regeln, die Mindeststandards an Fairness und Transparenz sicherstellen sollen und in ähnlicher Form schon vorher galten; neu war die Möglichkeit, Bußgeld gegen Sender zu verhängen, die sich nicht an sie hielten.

Seit die Satzung vor eineinhalb Jahren in Kraft getreten ist, hat die Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) der Medienanstalten 54 Beanstandungen ausgesprochen und Bußgeld in Höhe von 575 500 Euro verhängt, den größten Teil gegen 9Live. Die Mängel sind fast immer dieselben: Es sei unzulässig Zeitdruck aufgebaut, über die Auswahlverfahren und Einwahlchancen in die Irre geführt oder über den Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe getäuscht worden.

Dem 9Live-Animateur Jürgen Milski, der als „Big Brother“-Kandidat und Kumpel des selig vergessenen Ztlatko aufgefallen war, wurde jetzt eine besondere Ehre zuteil: Erstmals sprach die ZAK ein Bußgeld nicht nur gegen den Sender, sondern auch den Moderator persönlich aus. Gesucht waren: „Tiere mit Doppelbedeutung“. Keine einzige der achtzehn 9Live-Lösungen (darunter Holzbohrer, Feuerwalze, Perlhuhn, Rammbock) wurde erraten. Inwiefern es sich zum Beispiel beim Rammbock überhaupt um ein Tier handele, ließ der Sender offen. Milski erweckte dafür wiederholt den Eindruck, es handle sich um ein leichtes Spiel. „Normalerweise halten wir uns an die Geschäftsführung und den Sender, weil es um strukturelle Probleme oder seine Aufsichtspflicht geht“, sagt Axel Dürr, Sprecher der in der ZAK geschäftsführenden baden-württembergischen Landesmedienanstalt LfK. In diesem Fall aber habe es den Eindruck gegeben, dass Milski besonders eigenmächtig die Regeln brach.

Jeder dieser Bußgeldbescheide ist ein kleines Wunder, denn er ist das Ergebnis eines bürokratischen Kraftaktes: Die zuständige Landesmedienanstalt stellt einen Verstoß fest, gibt dem Sender Gelegenheit zur Stellungnahme, wertet sie und gibt den Fall an die Prüfgruppe der ZAK, die ihn an die eigentliche Kommission aus den 14 Direktoren der Medienanstalten weiterleitet, die über den Bußgeldbescheid entscheidet, dessen Ausstellung dann wieder der zuständigen Medienanstalt obliegt. Gegen den Bescheid kann der Sender Beschwerde einlegen, womit sich wiederum die Medienanstalt beschäftigt und dann erneut die ZAK.

Am Ende, wenn die Sender das Bußgeld nicht akzeptieren, geht es vor Gericht. Und weil das dauert und die Sender bislang gegen jede Beanstandung Beschwerde eingelegt haben, ist nach Auskunft von Dürr bislang kein Cent tatsächlich bezahlt worden. Gegen verschiedene Pflichten, die Spiele transparent und fair zu veranstalten, wehrt sich 9Live zudem mit einer Klage und bestreitet die Rechtmäßigkeit der Satzung insgesamt. In einzelnen Punkten gab ihm das Verwaltungsgericht München im vergangenen Jahr Recht, beide Seiten sind in Revision gegangen.

Trotz des langen, schwierigen Prozesses meint Dürr, dass die Satzung und die Bußgelder Wirkung gezeigt hätten. Neben den drohenden Kosten schmerze die Sender vor allem, dass die ZAK ihre Beanstandungen konsequent öffentlich macht. „Es ist immer noch nicht alles Gold, und wir lehnen uns nicht zurück, aber es hat sich einiges getan. Ein Großteil der Beanstandungen ist abgestellt worden.“ Tatsächlich warnt 9Live zum Beispiel regelmäßig, dass die Zuschauer auf ihr „Telefonverhalten“ achten sollen. Es läuft sogar immer wieder der Hinweis durchs Bild, dass die Chance, durchgestellt zu werden, nicht von der Zahl der angeblich offenen „Telefonleitungen“ abhänge – diesen Eindruck haben die Produzenten sonst immer gerne erweckt.

Auch Marc Doehler meint, es gebe „definitiv Fortschritte“. Er verfolgt mit anderen Verrückten seit Jahren die Call-TV-Programme und protokolliert den Ablauf in einem Forum (citv.nl). Es sind ausführliche und erschütternde Dokumente der Täuschungen und Lügen, die wohl einen wesentlichen Beitrag geleistet haben, die schlimmsten Auswüchse abzustellen. Viel weniger Regelverstöße entdeckt Doehler heute im Programm, auch weil nur noch eine Handvoll einfacher Spiele immer wieder wiederholt werde. Teilweise würden die Zuschauer zwar mit ausgeklügelten Tricks noch in die Irre geführt. Aber wer auf die idiotischen Aussagen der Moderatorinnen hereinfalle, die die Aufgabe, eine deutsche Stadt mit A an zweiter Stelle zu finden, als „ziemlich schwer“ bezeichnen, sei schon selbst schuld. Warum er trotzdem noch guckt? „Der Unterhaltungsfaktor ist immer noch groß“, gibt Doehler zu. „Und ehe ich mir ‚Frauentausch‘ ansehe…“

9Live möchte sich zu alldem nicht äußern, weil man „derzeit konstruktive Gespräche mit der ZAK“ führe. Deren Sprecher Dürr bestätigt, dass geredet wird: „Da ist Bewegung drin.“ Im September werde die ZAK eine Bilanz der Gewinnspielsatzung vorlegen, womöglich gäbe es bis dahin auch eine Absprache mit 9Live, die die endlosen Verfahren unnötig mache. Das Ziel beider Seiten sei dasselbe: dass weniger Bußgelder verhängt werden müssen.

Eine andere Auseinandersetzung mit Call-TV-Veranstaltern eskaliert dagegen gerade: Es geht um die Firmen Mass Response und Primavera, die mit besonders dubiosen Methoden unter anderem im Schweizer Fernsehen auffielen. Zu den Unregelmäßigkeiten, die von Beobachtern wie Doehler und der Seite fernsehkritik.tv dokumentiert wurden, gehört, dass Umschläge mit den Lösungen in der Live-Sendung plötzlich verschwanden und an anderer Stelle wieder auftauchten, was den Verdacht von Manipulationen nährte. Die Firmen bestreiten dies und gehen juristisch gegen die Kritiker vor. Einiges deutet darauf hin, dass es in den anstehenden Prozessen endlich nicht mehr um Formalien geht oder sich die Firmen mit einem Verwirrspiel um die Verantwortlichkeiten herausreden können, sondern sich die Gerichte in der Sache mit den Betrugsvorwürfen auseinandersetzen werden. [Nachtrag, 26. September: Bislang sind gerichtliche Verfahren, die von Primavera gegen diese Vorwürfe eingeleitet hat, zu Gunsten der Call-TV-Firma ausgegangen oder noch nicht rechtskräftig beendet.] Als Zeugen sind auch viele Producer und Moderatoren benannt, die die unwahrscheinlich klingenden Erklärungen der Produktionsfirmen plausibel machen sollen.

Der Countdown läuft.

Lothar Matthäus

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Bei jedem anderen würde man sich fragen, warum er sich das jetzt noch wieder antut, aber wir reden hier von Lothar Matthäus, und da hat diese Frage irgendwann bei den letzten hundert Malen ihren Sinn verloren. So sitzt er am Donnerstag bei „Markus Lanz“ und sagt: „Es gibt eigentlich gar nichts mehr zu erzählen, weil ich mit meiner Frau vor ein paar Tagen eine dolle Aussprache gemacht habe“.

Es ist nicht leicht, in der Dramaturgie einer solchen Boulevardschlacht noch einen drunterzusetzen unter die Fotos, auf denen man sieht, wie Matthäus die Fotos von der Affäre seiner jungen Frau sieht, unter deren tränenersticktes Bekenntnis, sie habe „mit ihm auch ihre Jungfräulichkeit geschenkt“, unter die Diskussion, wer ihre Brust-Verkleinerung nun bezahlen soll. Matthäus hält es tatsächlich durch, in der ZDF-Show keine schmutzige Wäsche zu waschen. Er verrät nur, dass er ein sehr ordentlicher Mensch sei und im Hotelzimmer Stehlampen, die zu nah an der Wand stehen, immer sofort verrückt, denn sonst hätte man da ja gleich eine Wandlampe hinmachen können.

Dass Matthäus sich auch noch diesen Auftritt antut, hat eine Logik: Die öffentliche Demütigung, der sich der frühere Nationalspieler seit Wochen ausgesetzt sieht und aussetzt, wäre nicht komplett ohne die Erbärmlichkeit, die es bedeutet, sich den Zudringlichkeiten von Markus Lanz auszusetzen. Beste Motoröle neiden dem ZDF-Moderator inzwischen seine Schmierigkeit, und das Gespräch mit Matthäus hat er als Psycho-Verhör angelegt. Er fragt: „Wenn Sie morgens in den Spiegel schauen, mögen Sie sich dann?“ Er setzt nach: „Was mögen Sie an sich?“, und lässt ihm den Ausfluchtversuch, das sollten andere entscheiden, nicht durchgehen: „Sie haben doch ein Bild von sich!“, fordert er streng. Die anderen Gäste, die Moderatorinnen Vera Int-Veen und Sonja Zietlow, schlagen mit grausamer Hilfsbereitschaft Matthäus‘ Ohren und „Super-Haare“ als attraktive Elemente vor. Matthäus lässt sich schließlich dazu hinreißen, seine „sportliche Figur“, die er noch „im hohen Alter“ habe, zu loben. Lanz belohnt ihn mit dem Satz: „Er hat sich unheimlich entwickelt, ist ein Weltenbürger geworden: perfekte Schuhe, perfekte Uhr, perfekt sitzender Anzug.“

Es ist schwer zu beurteilen, ob Matthäus diese Aufmerksamkeit wie alle Aufmerksamkeit genießt. Er wirkt eher wie jemand, der keine Wahl hat, als so lange in allen Medien über sein Privatleben zu reden, bis die Menschen endlich verstanden haben, dass er keiner ist, der in allen Medien über sein Privatleben redet. Lanz beendet das Gespräch mit dem Hinweis, Matthäus sei das ein oder andere Mal enttäuscht worden, „deshalb an Sonja Zietlow die Frage: Sind Hunde die besseren Menschen?“

Loveparade

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ein einziger Blick in die Zukunft hätte doch gezeigt… Wie Journalisten nach dem Unglück auf der Duisburger Loveparade zu selbstgerechten Propheten der Rückschau wurden.

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Wenn Journalisten diese Loveparade organisiert hätten, wäre das nicht passiert.

Ungefähr in der Sekunde, in der am Samstag voriger Woche bekannt wurde, was für eine Katastrophe sich in Duisburg ereignet hatte, schlich sich in die Berichterstattung der Gedanke ein, dass genau eine solche Katastrophe absehbar gewesen sei. Bereits in der Live-Berichterstattung des WDR am frühen Abend, als die Moderatoren im Studio und die Reporter vor Ort noch so gut wie nichts wussten, fielen angesichts von Meldungen von Absperrungen erste Formulierungen wie: „Man fragt sich natürlich: Was war das für eine Idee? Das musste doch schiefgehen!“

Später empörten sich Journalisten, dass das doch klar war, dass 1,4 Millionen Menschen nicht auf diesen Platz passen würden (das war, bevor sich herausstellte, dass es viel weniger waren, wobei die Journalisten dann natürlich auch wussten, dass Veranstalter diese Zahlen immer übertreiben). Und schließlich reichte angeblich ein Blick auf eine Karte der Örtlichkeiten, um zu wissen, dass das nicht gutgehen konnte.

Jeder Laie schreibt und sendet, dass jeder Laie das unausweichliche Unglück hätte erkennen können, und die Laien, die als Journalisten arbeiten, fragten schnell, warum das niemand von den Verantwortlichen erkannt hat. Weitgehend ungestellt blieb die Frage, warum, wenn die Mängel so unübersehbar waren, all die Journalisten sie vorher übersehen hatten. Und ob man zu den vielen, die ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden, nicht auch die Medien zählen muss.

Ausgenommen natürlich Götz Middeldorf, den Duisburger Lokalchef der „Neuen Ruhr Zeitung“ (NRZ). Die „International Herald Tribune“ zitierte ihn mit den Worten: „Wir waren die einzige Zeitung, die gesagt hat: Nein. Stoppt das. Die Stadt ist nicht vorbereitet. Wir können nicht mit diesen ganzen Leuten fertigwerden.“

Fragt man Middeldorf nach dem entsprechenden Artikel, faxt er einem tatsächlich einen Kommentar vom 3. Dezember 2009 mit der Überschrift: „Stoppt die Loveparade!“ In dem geht es aber mit keinem Wort um die Frage, ob die Stadt für so viele Besucher gerüstet ist. Es geht ausschließlich ums Geld. „Es ist grotesk, ja geradezu pervers“, empörte sich Middeldorf damals, „den Duisburgern über Jahre millionenschwere Kürzungen im Bildungs- und Kulturbereich zuzumuten und zumeist ortsfremden, feierwütigen Jugendlichen einen Tag zum Abfeiern zu bieten.“

Auf Nachfrage räumt Middeldorf ein, dass Sicherheitsbedenken nicht das Thema waren. „Wir waren immer gegen die Loveparade, aber aus anderen Gründen.“ Dann muss die „International Herald Tribune“ ihn mit seinem Lob für die eigene, einzigartige Weitsichtigkeit wohl falsch verstanden haben? „Das vermute ich mal“, antwortet Middeldorf. „Das ist nicht ganz richtig.“ Er klingt nicht zerknirscht.

Er findet dann immerhin noch den Kommentar eines Kollegen, der „eine Party mit Millionen-Publikum neben einer Hauptverkehrsstrecke der Deutschen Bahn“ als „ein Riesenproblem“ bezeichnet hatte. Unaufgefordert schickt seine Redaktion schließlich noch einen Artikel von der Konkurrenz: aus der „Rheinischen Post“ vom 28. Januar. Darin stellt die Zeitung in der Debatte um die Loveparade in Duisburg „Vorurteile“ „Fakten“ gegenüber.

Das liest sich so: „Vorurteil: Die Sicherheit der Besucher, besonders am Ex-Güterbahnhof, ist nicht gewährleistet. Fakt: An den vorbereitenden Gesprächen waren unter anderem auch Polizei, Autobahnpolizei, städtisches Dezernat für Recht und Sicherheit, Feuerwehr und Zivilschutzamt, Ordnungsamt, [die Bahn-Immobilientochter] Aurelis, Bahn AG, Verkehrsverbund Rhein-Ruhr und die Duisburger Verkehrsgesellschaft beteiligt. Die Experten halten die Loveparade in Duisburg im Hinblick auf Sicherheit grundsätzlich für machbar.“

Vielleicht sagt das Fehlen von Recherchen und kritischen Würdigungen des Sicherheitskonzeptes vor dem Ereignis etwas aus über den Zustand des Lokaljournalismus. (WDR und Bild.de waren Medienpartner und also in der Rolle der Jubelperser.) Ganz sicher aber sagt die fehlende Auseinandersetzung der Medien mit ihrem Versagen etwas aus über ihr Selbstverständnis.

Ein einziger Artikel im Internetangebot der WAZ-Gruppe muss als Beleg dafür dienen, dass die Medien vorher schon vor Problemen gewarnt haben. Er referierte mit leichter Skepsis fünf Tage vorher den Optimismus der Planer und trägt die Überschrift „Loveparade wird zum Tanz auf dem Drahtseil“. Unter diesem Artikel finden sich auch mehrere Leserkommentare, die die Planungen als äußerst riskant bewerten – und die im Nachhinein nun wiederum als Beweis dafür gewertet wurden, dass man es vorher hätte wissen müssen.

So wie viele Medien in dem Moment, in dem die Katastrophe passiert war, wussten, dass sie passieren musste, erwarteten sie auch von den Beteiligten unmittelbar Antworten und Schuldbekenntnisse. Keine Frage: Die Pressekonferenz, die Stadt, Behörden und Veranstalter am Sonntagmittag abhielten, war erschütternd. Aber der Anspruch von Medien, angetrieben durch die Taktgeber von „Spiegel Online“, dass keine vierundzwanzig Stunden nach einem solchen Ereignis keine Fragen offen bleiben dürfen, spiegelte nicht nur das Quengeln einer unter Aufmerksamkeits-Defizit-Störung leidenden Branche wider, sondern auch die ganze Anmaßung der Rolle als Ankläger, die viele Medien nun eingenommen hatten – und sich irgendwann mit der Forderung nach Rücktritten zufriedengaben. (Götz Middeldorf, natürlich, der in seiner Rücktrittsaufforderung an den Oberbürgermeister schrieb: „Sie haben die Augen verschlossen vor möglichen Risiken, die nicht nur im NRZ-Internetportal Der Westen seit Wochen geäußert wurden.“ Middeldorfs eigene geschlossene Augen sind offenbar weder der Rede noch des Rücktritts wert.)

Es ist eine bemerkenswerte Selbstgerechtigkeit, die durch viele Berichte schimmert, befeuert durch publizistische Glücksfälle wie den, dass der neue Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller sein Engagement einmal als „Himmelfahrtskommando“ bezeichnet hatte. Reflexartig wiederholt wurde auch die angebliche Ultra-Kommerzialität der Veranstaltung – ein Vorwurf, den man trotz freien Eintritts anscheinend nicht einmal belegen muss. „Monitor“ fand es irgendwie schon anrüchig, dass ein Limonadenhersteller als Sponsor einen „fünfstelligen Beitrag“ zahlte. Der Vorwurf der Geldmacherei gipfelte auf paradoxe Art darin, zu erwähnen, dass Schaller die Loveparade Millionen koste, die er aber als Verlust von den Steuern abziehen könne. Für „Spiegel-TV“ ist das gar „die einzig gute Nachricht an diesem Wochenende in Duisburg: Der kommerzielle Massenwahn hat keine Zukunft mehr.“

Die Leute von „Spiegel-TV“ waren mit vielen Kameras vor Ort, um eigentlich ihre übliche herablassende Event-Reportage zu produzieren. Sie waren sich im Rausch des Schreckens für nichts zu schade. „Die Marke Loveparade wird für immer überschattet von einem einzigen tödlichen Wort“, knarzt der Sprecher am Anfang: „Duisburg.“ Die Gesichter haben sie unkenntlich gemacht, immerhin, aber sonst zeigen sie alles: Wir sehen die verzweifelten Wiederbelebungsmaßnahmen vor Ort und das Durcheinander in der Notaufnahme („Emergency Room Duisburg“), wo die „Spiegel-TV“-Leute allem Anschein nach Ärzte von der Arbeit abhalten.

Die Reportage erzählt das Geschehen vor der Katastrophe in dem Wissen um das, was später passieren wird. Schon das Aufstellen von Absperrungen hat da etwas Anrüchiges: „Auch die Polizei glaubt noch, etwaige Probleme mit Gittern aus Eisen lösen zu können“, kommentiert der Sprecher. Was nicht passt, wird passend gemacht: Zu Szenen, wie sich verzweifelte Menschen gegenseitig helfen, heißt es: „Es herrscht das Gesetz des Stärkeren. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod in einer Menschenmenge außer Kontrolle.“ Die üblichen Kriterien bei der Auswahl, wer zuerst behandelt wird, werden bedeutungsschwanger zu einer „Methode der Militärmedizin“, denn natürlich: „Es sind Szenen wie im Krieg.“

Das als „Rekonstruktion“ verbrämte Machwerk zeigt, wie am Morgen im Bahnhof ankommende Jugendliche von Polizisten gebeten werden, das Rauchverbot zu beachten. Der Kommentar dazu lautet: „Eine tragische Geste der Ordnungsmacht, angesichts der Ereignisse, die die Stadt wenige Stunden später erschüttern wird.“ Man könnte diesen Satz sinnlos nennen, frivol oder zynisch. Er wirkt auch als Symbol für die Haltung einer Branche, die hinterher immer alles schon vorher gewusst hat.

Sven Lorig

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Der Plan war, über Sven Lorig zu schreiben, einen der Nachfolger Jörg Pilawas am ARD-Show-Fließband, was, zugegeben, angesichts der Schlafhormone, die er verströmt, ein gewagter Plan war, aber immerhin nicht ganz unmöglich erschien. Doch dann war in der „großen ARD-Weltreise“, die Lorig nun moderiert, auch noch Jens Riewa als Kandidat zu Gast, der erzählte, dass er immer seine Nachtischlampe in den Urlaub mitnimmt, weil die so schönes rotes Licht macht, und vor lauter Langewwwww

Die neue BBC-Serie „Mongrels“ beginnt damit, dass die Katze Marion ihrer betagten Besitzerin erzählt, wie sehr sie sie mag. Dann fällt die Frau über ein Wollknäuel und fällt die Treppe hinunter, und in der nächsten Szene sehen wir, wie Marion versucht, sie durch Maul-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben. „Gib’s auf, das wird nichts mehr“, sagt eine Katze neben ihr. „Das weißt du nicht, du bist kein Arzt.“ – „Aber es sind jetzt vier Monate!“ Marion lässt ab von der Frau, die anderen Tiere machen sich über die Leiche her, und der Zuschauer hat keinen Zweifel mehr, dass dies keine normale Puppenserie ist. „Mongrels“ läuft erst um 22.30 Uhr auf dem schmutzig-kleinen Digitalkanal BBC Three und überschreitet in den Geschichten über Marion, zwei Füchse, eine eitle Afghanische Windhündin und eine gewalttätige Taube in London fast alle Grenzen. Weder echte Serienkiller noch Anne Frank sind als Themen für Anspielungen tabu, und so unglaublich geschmacklos die Witze sind: Sie sind lustig.

Die Charaktere schillern clever zwischen menschlichen Verhaltensweisen und den unüberwindlichen Einschränkungen eines Tieres und erzählen typische Dramen moderner Großstädter: Wie das von dem Fuchs, der sich auf Facebook als Mensch ausgibt und so in eine Frau verliebt, die sich beim ersten Date aber als Huhn herausstellt, was sich langfristig trotz aller gemeinsamen Interessen als ein unüberwindliches Hindernis erweist. (Am Ende verliert das Huhn seinen Kopf, aber nur, weil es den Fuchs, nachdem er aus der Mikrowelle flüchten konnte, mit dem Tranchiermesser angegriffen hat.)

„Mongrels“ sprüht vor Originalität und Lust an der Provokation. Wäre es nicht schön, wenn sowas im deutschen Fernsehen wenigstens denkbar wäre?

Paul

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Falls Sie die letzten vier Wochen von der Außenwelt abgeschnitten waren: Paul ist ein Oktopus, der in einem Aquarium lebt und scheinbar alle Spiele der deutschen Nationalmannschaft richtig vorhergesagt hat (er wählte jeweils aus zwei Essensbehältern mit Flaggen). Das ist statistisch gesehen nicht viel unwahrscheinlicher als die FDP, gibt aber Anlass zu lustigen Wortspielen wie „Okrakel“ und den Medien die Möglichkeit, über etwas anderes zu berichten als Fußball, ohne über etwas anderes zu berichten als Fußball.

Ich weiß schon, dass das mit Paul ein Spaß ist. Ich weiß nur nicht, ob alle anderen das noch wissen. 600 Fernsehsender sollen Pauls letzte Essenswahl am Freitag gezeigt haben. N24 unterbrach sein Programm und übertrug live. Konkurrent n-tv machte noch die Abendnachrichten mit Pauls Prognose auf. Weil Paul vor dem deutschen Spiel gegen Spanien die spanische Kiste wählte und Spanien tatsächlich gewann, wurde aus dem Aberglauben, dass das Tier den Ausgang eines Spieles richtig vorhersagen kann, plötzlich der Aberglaube, dass das Tier den Ausgang eines Spieles bestimme (entsprechend wurden nun Tintenfisch-Rezepte veröffentlicht).

In vielen Meldungen über Pauls Prognosen wirkt es, als sei die Möglichkeit, mithilfe einfachster Mathematik die Wahrscheinlichkeit einer solcher Trefferserie zu berechnen, der größere Akt der Magie als die Möglichkeit, dass Paul das Ergebnis vorhersagen kann. Die vermutlich dümmste Paul-Geschichte kam im Gewand der Schein-Aufklärung daher: In einem dpa-Korrespondentenbericht sagte ein Tintenfisch-Forscher, man könne auf die Vorhersagen gar nichts geben — weil der Kraken zum Beispiel vermutlich gar nicht die Farben auf den Fahnen erkennen könnte! „Krakenexperte gibt Entwarnung“, titelte dpa.

Ich wollt ich wär / unter dem Meer / im Garten eines Kraken… und zusammen würden wir den ganzen Tag über die Beklopptheit der Menschen lachen und weinen.

Zielgroupies

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Der werberelevante Zuschauer altert: aus „14-49“ könnte „20-59“ werden.

Jetzt will es natürlich keiner gewesen sein. Die werbungtreibende Industrie erklärt, sie hätte sich noch nie auf die Altersgruppe der 14- bis 49-Jährigen fixiert. Die Agenturen, die die Fernsehspots buchen, erklären, sie würden sich ohnehin je nach Auftraggeber ganz spezielle Zielgruppen ansehen. Und große private Fernsehsender wie RTL erklären, sie machten ohnehin Programm auch für die Zuschauer jenseits der fünfzig – würden sie sonst bei einer Sendung wie „Let’s Dance“ auch Kandidatinnen wie Heide Simonis oder Katja Ebstein einladen? Also.

Dabei war und ist „14-49“ das Maß aller Dinge; der Gott, dem das Programm als Opfergabe dargebracht wurde. Ungezählte Fernsehmenschen beginnen ihren Arbeitstag damit, morgens auf dem Blackberry oder mit zitternder Fernbedienung im Videotext nachzuschlagen, welche Marktanteile in dieser Altersgruppe ihre Sendungen am Tag zuvor erzielten. Mediendienste erstellen täglich Hitlisten, die auf diesen Werten basieren, küren danach Quotensieger und Flops. Die Sender schicken Pressemitteilungen in die Welt, in denen sie kunstvoll aus den Werten und Veränderungen hinter dem Komma Erfolgsmeldungen stricken. Bei RTL 2 richtete sich früher sogar der Preis des Essens in der Kantine nach dem Marktanteil von „Big Brother“ am Vortag.

Rational erklären ließ sich diese Fixierung noch nie. Es war eine Konvention – so wie die Verabredung, das Gewicht von Gegenständen in Kilogramm zu messen, der Masse von einem Liter Wasser, oder die Länge in Meter, einem willkürlich bestimmten Bruchteil des Erdumfangs. Die Einheit „14-49“, die in Deutschland vor allem von RTL-Gründungschef Helmut Thoma propagiert wurde, diente vor allem einem Ziel: den im Gesamtpublikum noch schwachen Sender im Vergleich zu ARD und ZDF gut dastehen zu lassen. Womöglich ließ sich damals, Ende der achtziger Jahre, auch noch erklären, warum Über-Fünfzigjährige so anders sein sollen als die darunter: Es war grob die Grenze zur Nachkriegsgeneration.

Heute hat die Altersgruppe der Fünfzig- bis Sechzigjährigen viel Geld, ist flexibel und aufgeschlossen für Werbung. Und der einzige Grund, sie nicht in die zentrale Vergleichsgröße des Fernsehens einzubeziehen, ist der, dass man das bislang auch nicht gemacht hat.

Die Beharrungskräfte des Systems sind enorm, und über die Sinnlosigkeit der Größe „14-49“ ist schon oft folgenlos diskutiert worden. Doch diesmal könnte es anders sein. Diesmal ist nämlich RTL eine treibende Kraft. Der Sender und seine Vermarktungstochter IP schlagen eine Verschiebung der „werberelevanten Zielgruppe“ vor: 20 bis 59 soll die neue Einheit sein.

Bei der ARD-Werbung freut man sich. „Es ist durchaus gerechtfertigt, dass diejenigen, die diesen Unsinn in die Welt geschafft haben, ihn auch wieder beseitigen“, sagt ihr Geschäftsführer Dieter Müller auf RTL gemünzt. Die neuen Altersgrenzen seien aus Sicht der Werbeindustrie auch einigermaßen logisch zu erklären: Teenager haben zumeist nur Taschengeld zur Verfügung, und ab sechzig steigt schnell der Anteil derjenigen, die auch nur über ein reduziertes Einkommen verfügen.

Die Verschiebung der Einheit, auf welcher „der komplette vergleichende Wettbewerb basiert“, wie Müller sagt, wäre nur eine überfällige Anpassung an die demographische Realität. Sie ist deshalb auch im Interesse des Mediums: Die Zahl der 14- bis 49-Jährigen nimmt von Jahr zu Jahr ab. Die schönen Prozentzahlen entsprechen immer weniger tatsächlichen Fernsehzuschauern, die man den Werbekunden in Rechnung stellen kann.

Das ist vermutlich auch ein Grund, warum RTL sich plötzlich für eine Veränderung starkmacht, von der der Sender selbst oberflächlich gesehen gar nicht profitiert. Gemessen in der neuen Bezugsgröße wäre der Sender zwar immer noch mit großem Vorsprung Marktführer, würde aber Anteile verlieren (siehe Tabelle). Noch erheblich mehr schrumpft aber Pro Sieben – eine Folge davon, dass der Sender zwar erfolgreich junge Zuschauer anspricht, aber auch nur die. Plötzlich erschiene ein breiter aufgestellter Sender wie Vox, der nach bisheriger Rechnung in einer anderen, kleineren Liga spielt, in Reichweite. Der Effekt wäre vor allem ein psychologischer: Pro Sieben würde sich mit Sicherheit auch in Zukunft auf die Ansprache junger Zielgruppen konzentrieren. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung und den täglichen Quotenauswertungen würde die Bedeutung des Senders auf ein realistischeres Maß als Beinahe-Spartenkanal schrumpfen.

Die Sendergruppe Pro-SiebenSat.1 tut sich deshalb schwer mit dem Vorschlag, die angeblich „werberelevante Zielgruppe“ nach oben zu verschieben. Dabei würde Sat.1 als älterer Sender davon sogar im Gegensatz zu RTL profitieren. Senderchef Andreas Bartl hatte kürzlich erst öffentlich beklagt, dass die 50- bis 59-Jährigen, die Sat.1 erreicht, den Werbekunden „fast geschenkt“ werden, und gab als Ziel aus, diese Reichweiten „besser zu kapitalisieren“.

Trotzdem erklärt ein Sprecher des Vermarkters Seven One Media, das Thema sei erledigt – ohne einen der beiden großen Privatsenderblöcke ließe sich so eine Änderung nicht durchsetzen, und man sei halt dagegen. Bei einer Sprecherin von Pro-Sieben-Sat.1 klingt es etwas weniger harsch: Eine Neudefinition sei im Moment kein Thema. Aber das könne in zehn Jahren anders sein. Oder in fünf. Oder nächstes Jahr.

Es scheint also nur jetzt gerade irgendwie ein schlechter Zeitpunkt zu sein; vielleicht liegt’s am Wetter.

Die großen Gewinner einer Umstellung wären scheinbar ARD und ZDF. Aber die Berechnung nach „20-59“ legt auch offen, wie überaltert das Publikum der Öffentlich-Rechtlichen wirklich ist. Auch in einer solchen Währung, die den breiten Kern der arbeitenden Bevölkerung abbildet, landen ARD und ZDF abgeschlagen hinter RTL, Sat.1 und Pro Sieben auf den Plätzen. Denn die Masse der öffentlich-rechtlichen Zuschauer ist nicht Mitte fünfzig, sondern weit über sechzig. Anders als bisher ließen sich diese Werte nicht einfach abtun als Ausdruck einer bizarren Verengung auf eine künstlich geschaffene junge Zielgruppe. Es würde deutlich, wie wenig es den öffentlich-rechtlichen Sendern, die von allen bezahlt werden, gelingt, ein Programm zu machen, das auch alle anspricht.

Der Mythos „14-49“ ist nicht zuletzt für diejenigen ein psychologisches Problem, die diese Altersgruppe verlassen und darunter leiden, dass der Schock, fünfzig zu sein, noch dadurch verstärkt wird, dass sie glauben, nun würde nicht einmal mehr Fernsehen für sie gemacht! Doch auch wenn ihr Zuschauerverhalten plötzlich in den täglichen Standardauswertungen enthalten wäre, würde sich das Programm nicht radikal ändern. So groß unterscheiden sich die Mittfünfziger und ihr Fernsehkonsum nämlich gar nicht von den Mittvierzigern – genau diese Ähnlichkeit im Verhalten spricht ja paradoxerweise dafür, sie mit in die Zielgruppe aufzunehmen. Das Interesse an amerikanischen Serien wie „CSI“ oder „Monk“ auf RTL zum Beispiel reißt relativ abrupt erst ab 60 oder 65 Jahren ab; und eine Show wie „Wer wird Millionär“ kommt in allen Altersgruppen an.

Eine Revolution bliebe aus, und doch würde die Macht des Faktischen in einer Branche, die ununterbrochen auf Zahlen starrt und ihre Entscheidungen davon abhängig macht, zu Veränderungen führen. Auf Dauer würden Programme stärker belohnt, die ein breites Publikum ansprechen; Sendungen mit jungem Altersdurchschnitt, wie „Deutschland sucht den Superstar“, würden die täglichen Erfolgsmeldungen etwas weniger dominieren. Dennoch sieht man auch bei der Ufa Film- & Fernsehproduktion, die unter anderem diverse Daily Soaps herstellt, einer Änderung gelassen entgegen – obwohl deren Marktanteile sänken. Man brauchte dann nur eine Ansage der Sender, ob die Serien auf die neue Zielgruppe optimiert werden sollen, sagt Ufa-Forschungschef Rainer Hassenewert – dann könne man auch entsprechend „breiter“ produzieren. Oder es ließen sich gezielt die als Trendsetter begehrten Jungen ansprechen.

Ein Gremium, das „20-59“ formal beschließen könnte, gibt es nicht – die großen Sender und ihre Vermarkter müssten sich bloß absprechen und auf die neue Standardwährung verständigen. Ein Sender von der Größe wie RTL könnte aber auch einfach damit anfangen. Die Argumente hätte er eh auf seiner Seite.

Peter Hahne

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Das wäre mal ein innovatives Konzept gewesen: dass Peter Hahne seine Gesprächspartner auf Gleis 15 des Berliner Hauptbahnhofs trifft, mit all den heiteren Verständigungsproblemen, wenn die S75 nach Wartenberg einfährt. Es stellt sich aber heraus, dass das ZDF den Mann nur für den Film hierhin gestellt hat, mit dem es für seine neue Talksendung wirbt. „Direkt aus Berlin und mitten aus dem Leben“, ruft er glücklich in die Kamera. „Wir sehen uns! Damit der Zug nicht ohne Sie abfährt.“ Hinter ihm schiebt sich eine Lok ins Bild.

Peter Hahne, der Frühvergleiste. Was genau uns der Sender damit sagen will, bleibt offen. Und doch ist die sinnlose Szene ein wunderbares Symbol für das, was diesen Mann noch mehr ausmacht als sein in freudiger Erregung eingerastetes Kasperlegesicht: Schmerzfreiheit.

Nicht weniger als viermal hat er in den vergangenen Jahren an Pfingsten in seiner „Bild am Sonntag“-Predigt fast wortgleich dieselben Absätze über das Wunder des Heiligen Geistes geschrieben. Zu Joachim Gauck, dem Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, sagte er in dieser Woche: „Mit siebzig noch mal so gefragt zu sein – sind Sie da nicht auch ein bisschen das Opfer Ihrer eigenen Eitelkeit?“ Und: „Haben Sie keine Angst, die Fragen der jungen Generation nicht mehr zu verstehen? Christian Wulff hat noch junge Kinder!“ Und: „Ihr Lebensthema ist die Freiheit. Sind Sie da im Augenblick wirklich der richtige Mann für diese Republik, die doch ganz andere Themen hat? Sind Sie vorbereitet, auf die komplizierten Fragen der Finanzpolitik?“ Horst Köhler hätte aus seiner Kompetenz in diesen Fragen heraus Unterschriften unter Gesetze verweigert, erklärte Hahne, der sich bis zum vergangenen März stellvertretender Chef des ZDF-Hauptstadtbüros nennen durfte, in frappierender Unkenntnis der Tatsachen.

Die „Was nun?“-Sendung mit Gauck war in ihrer Unverfrorenheit und stolz zur Schau gestellten Dummheit der Fragesteller ein Skandal. Aber auch Christian Wulff musste den Moderator zwei Tage zuvor korrigieren, dass die Abstimmung geheim sei – er tat dies sachte, wie mit einem kleinen Kind. (Er hat da Übung, Sie erinnern sich.)

Nun bekommt Hahne also seine eigene Gesprächssendung. Premierengast heute um 13 Uhr ist Margot Käßmann, die bei Hahne, wie Hahne meint, ihr Schweigen über die Vorgänge in der „Schicksalsnacht“, wie er zweimal begeistert sagt, bricht. Im Sinne von: noch einmal bricht, vermutlich.

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Angela Merkel findet keine Worte mehr

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Man müsste die Menschen inzwischen davon abhalten, versehentlich Sender wie Phoenix einzuschalten. Nicht auszudenken, welchen Einfluss es auf die Politikverdrossenheit im Land hat, wenn eine größere Zahl von Bürgern häufiger die Bundeskanzlerin im ungekürzten Original reden hören würde – wie neulich nach der Sparklausur der Bundesregierung vor der Bundespressekonferenz: „Wir haben ganz klar gesagt, wir müssen jetzt zeigen, 2011, 2012, 2013, 2014, die gesamte mittelfristige Finanzplanung muss überschaubar sein, und damit kommt Stabilität und Verlässlichkeit auch in diese Dinge hinein. Trotz aller schwieriger Entscheidungen sage ich: Dieses ist notwendig. Notwendig für die Zukunft unseres Landes. Auch wenn, das will ich ganz deutlich sagen, es ernste Stunden waren und ich es auch für eine durchaus ernste Situation für unser Land halte, aber ich bin optimistisch, dass wir das schaffen können, wenn wir das jetzt auch so umsetzen, und das ist uns in harter Arbeit gelungen.“

Man sehnt sich fast nach abgegriffenen Bildern wie einem enger zu schnallenden Gürtel, nach irgendeinem Appell, nach etwas Scheinkonkretem, einem Substantiv, an dem man sich festhalten könnte anstelle der ganzen dürren „das“ und „dieses“ und „diese Dinge“. Selbst ihr vermeintliches „Machtwort“, das sie Tage später sprechen wird, mündet in die hilflose Formulierung, es gehe jetzt darum, „dass wir das jetzt Realität werden lassen“.

Das einzig Konkrete, auf das sich Merkel einlässt, ist die Dauer der Verhandlungen. Die siebzehn Stunden müssen den Ernst der Lage symbolisieren und die Ernsthaftigkeit des Lösungsversuches beweisen. Sie dienen als Scheinbeleg dafür, dass es unvernünftig wäre, jetzt noch über den Inhalt des beschlossenen Paketes zu streiten.

Merkel sagt: „Wir haben uns vorgenommen, Deutschland zu einer Bildungsrepublik zu entwickeln. Wir wissen, dass wir auf einem guten Niveau aufbauen können. Aber wir wissen auch, dass noch eine lange Strecke zurückzulegen ist, bevor wir unser Ziel erreichen können.“ Merkel sagt: „Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen.“ Merkel sagt: „Wir haben im Rahmen der Neujustierung von Sozialgesetzen vor allem darauf geachtet, wie wir die Arbeitsmarktpolitik auch effizienter gestalten.“ Merkel will „die Arbeitsvermittlung zielgerichteter ausrichten können, und wir veranschlagen auch durch diese zielgerichtetere Arbeitsmarktpolitik ausgerichtet auf bestimmte Gruppen dann, dass wir in den Jahren 2013 und 2014 dann auch sichtbare Erfolge sehen in Form von geringeren Leistungen für Hartz-IV-Empfänger“. Merkel will „nach der Bewältigung der Krise in die Exit-Strategie einsteigen“. Und Merkel will „die Bundeswehr zukunftsfähig machen. (. . .) Hier werden wir natürlich auch in den nächsten Monaten sehr intensiv darüber sprechen müssen, was das bedeutet und welche notwendigen Strukturänderungen hier vorgesehen sind.“

Das ist das Äußerste, das man von dieser Bundeskanzlerin erwarten kann: dass man „sehr intensiv“ über etwas spricht. Es ist auch ihr Trick, wenn sie selbst zu ahnen scheint, dass ihre Sätze so abgemagert und blutleer sind, dass womöglich selbst die abgestumpftesten professionellen Beobachter sie nicht mehr als berichtenswert oder nachrichtentauglich akzeptieren würden: Sie streut Wörter wie „wirklich“ oder „konkret“ oder gar „sehr praktisch“ über ihre Sätze. Dann schaffen es selbst ihre Sprachhülsen wie die über ihre Gespräche mit Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew in die „Tagesschau“: „Deshalb ist die Zeit gekommen, hier wirklich in eine Phase einzutreten, wo wir sehr konkret sagen, was müsste gemacht werden . . .“ Oder: „Ich hoffe, dass wir auf einem sehr praktischen Pfad dazu kämen, unsere Zusammenarbeit auf eine neue Stufe zu heben.“

Als die Regierungsparteien im Reichstag ihren Präsidentenkandidaten Christian Wulff vorstellten, erklärte die Bundeskanzlerin der Nation diese Wahl damit, dass er „in einer Zeit, in der es um die Zukunft Europas geht, Verantwortung für unser Land übernimmt und bereit ist, auch mit den Menschen einen Weg zu gehen, der sicherlich nicht immer auch in den nächsten Jahren einfach ist, aber auch ein Land zu repräsentieren, das ein wunderbares Land ist, und in dem wir natürlich auch eine gute Zukunft gestalten wollen“.

Man muss davon ausgehen, dass sie das genau so meint, in aller Formelhaftigkeit, die man trotz des Bildes vom gemeinsamen Wandern des Volkes mit dem Bundespräsidenten nicht einmal mehr blumig nennen mag.

Die Sprache der Angela Merkel wirkt längst nicht mehr so, als würde die Kanzlerin bloß, wie es Politiker immer schon getan haben, vage formulieren, um keine Angriffsflächen zu bieten. Es scheint, als habe sich diese hohle, technokratische, abstrakte, phantasielose Sprache, umgekehrt, längst des Denkens bemächtigt. Als sei sie kein Mittel zum Zweck mehr, sondern Ausdruck einer tatsächlichen Beschränktheit. Ohnehin sind die Zeiten vorbei, in denen die alten Verschleierungs- und Beschönigungstaktiken sinnvoll erscheinen könnten – und, wie Merkel, nicht vom Senken von Ausgaben zu sprechen, sondern vom „Verstetigen von Ansätzen“ und vom „Austarieren von Lücken“.

Das Beschreiten von Wegen und das Gestalten von Zukunft sind die beiden Metaphern, die Merkels Sprache dominieren. Vor allem letztere korrespondiert dabei mit einer echten Sorge der Menschen: Ob Politik heute und morgen überhaupt noch die Möglichkeit hat, die Lebensverhältnisse entscheidend zu bestimmen. Umso verheerender ist es, dass Merkel ausgerechnet daraus ihre Lieblingsleerformel geschnitzt hat – es aber natürlich dabei belässt, zu fordern, dass die Zukunft gestaltet können werden muss, ohne zu sagen, welche Gestalt sie denn nach ihren Vorstellungen haben soll.

Tragisch ist es allerdings, wenn der interessierte Bürger nicht einmal mehr in den Journalisten Verbündete hat im Kampf gegen die erschütternde Sprachlosigkeit der Mächtigen. Nach der traurigen Präsentation von Wulff als Präsidentenkandidaten, die weniger als vier Minuten dauerte, an deren Ende die routiniert vorgetragenen Leerformeln schon wieder vergessen waren, zeigte sich die Hauptstadtbüroleiterin des ZDF sehr angetan. „Dieses war, wie es sein sollte“, kommentierte Bettina Schausten direkt im Anschluss, „nämlich eine würdige Präsentation. Alle haben dies kurz und knapp, aber durchaus mit Freude im Gesicht absolviert.“ Als „würdig“ müsste man demnach ungefähr jeden öffentlichen Auftritt bewerten, der ohne Einsatz von Furzkissen auskommt.

Jürgen Hesse

Jürgen Hesse scheint sich für seine Fernsehkarriere die Haare neu gemacht zu haben. In einem Film auf der Homepage seiner Karriereberatungs-Firma ist er noch mit wirrer, leicht toupiert wirkender Mähne zu sehen. In seiner RTL-Sendung „Endlich wieder Arbeit“ trägt er nun einen seriösen, nur dezent verwuschelten Kurzhaarschnitt und grau statt blond.

Haare sind wichtig. In der ersten Folge am vergangenen Sonntag gelang es Hesse, einem verzweifelten arbeitslosen Pferdepfleger allein dadurch einen Traumjob zu verschaffen, dass er mit ihm zum Friseur ging. (Okay, neue Anziehsachen gab’s auch.) Am Ende fragte man sich, wie es sein kann, dass die Bedeutung guter Frisuren für den Arbeitsmarkt all die Jahre so unterschätzt werden konnte und ob Peter Hartz heute gefeierter Bundespräsident sein könnte, wenn er nur damals in seinen Reformen auf den richtigen Dreiklang gesetzt hätte: Fördern, Fordern, Frisieren.

Es hat etwas unfreiwillig Komisches, dabei zuzusehen, wie sehr RTL in seinen eigenen Erfolgsmustern gefangen ist. „Endlich wieder Arbeit“ (heute, 19.05 Uhr) ist natürlich ein weiterer Versuch, Peter Zwegats „Raus aus den Schulden“ zu kopieren, aber weil die Korrektur von Bewerbungsmappen dann doch kein abendfüllendes kommerzielles Fernsehprogramm ist, flüchtet sich die Show in das, was immer geht: Makeovers. Die Sendung wirkt – auch dank erbärmlich schlecht nachgespielter Szenen – so sehr wie eine Parodie auf das Genre, dass es kaum überrascht hätte, wenn Produzentin Vera Int-Veen oder Tine Wittler mittendrin mit einem Trupp Handwerker und einem Ikea-Laster aufgetaucht wären und der betreuten Familie erzählt hätten, dass eine Voraussetzung für den beruflichen Erfolg die richtigen Möbel sind. (Und gute Kurzhaarfrisuren, natürlich.)

Doch die unterschwellige Botschaft der Sendung ist gar nicht komisch, sondern perfide. „Endlich wieder Arbeit“ suggeriert, dass Arbeitslosigkeit ein individuelles Problem ist, und dass Menschen nur arbeitslos sind, weil sie sich nicht genügend anstrengen. Durch die formale Ähnlichkeit zum Schuldenberater oder der „Super-Nanny“ wird eine Parallelität angedeutet, die nicht existiert. Wenn mehr Menschen besser mit ihren Kinder umgehen, hat das tatsächlich positive Auswirkungen für die ganze Gesellschaft. Aber wir können noch so vielen Menschen beibringen, ihre Bewerbungen schön zu formatieren, und schaffen dadurch keinen einzigen Arbeitsplatz.

Hesse war lange Chef der Telefonseelsorge. Das hier aber ist die Westerwelle-Show: Wenn du keinen Job findest, liegt es an dir.

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Annette Frier

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Natürlich wäre es albern, sie als eine „Entdeckung“ zu bezeichnen. Wer Annette Frier und ihr schauspielerisches und komödiantisches Können bislang nicht entdeckt hat, muss schon sehr angestrengt nicht aufgepasst haben beim Fernsehgucken in den vergangenen zehn Jahren. Sie brachte ein Funkeln in die Serien, Shows und Filme, bei denen sie mitspielte, eine ganze eigene Kombination von ironischer Distanz und Lebensfreude. Und Witz, natürlich. Aber tatsächlich schien es oft, als würde das gar nicht genug bemerkt.

Doch wenn sich das Fernsehvolk ab morgen nicht endlich kollektiv in sie verliebt, ist ihm auch nicht zu helfen. Ab morgen (Sat.1, 21.15 Uhr) spielt Annette Frier in der gleichnamigen Serie Danni Lowinski, eine Frau aus kleinen Verhältnissen, die keine Lust mehr hatte, Friseurin zu sein, auf dem zweiten Bildungsweg Anwältin wurde, aber statt einer Stelle in einer Kanzlei nur einen Platz zwischen dem Eingang zum Parkhaus und dem Schlüsseldienst in einer Einkaufspassage fand, wo sie nun für ein Euro die Minute ihre Dienste anbietet. Diese Danni ist natürlich ein typisches Seriengeschöpf mit ihrer Kombination aus Dreistigkeit und Unsicherheit, wie sie abwechselnd ihre im täglichen Kampf ums Überleben gestählte Lebenserfahrung ausspielt und an der Welt verzweifelt. Aber Annette Frier macht diese Figur auch in ihren unwahrscheinlichen Momenten realistisch und lebendig und wahr, gibt ihr eine angenehme natürliche Prolligkeit – und lässt einen über einige papphafte Nebenfiguren, Inszenierungen und vor allem Kulissen hinwegsehen.

Wenn es sich nicht nach einer Beleidigung anhören würde, könnte man sagen: Sie passt wunderbar zu Sat.1. Annette Frier und „Danni Lowinski“ sind so, wie der chronisch nach seiner Identität suchende Sender sein müsste: warmherzig und leicht, aber nicht glatt und doof. Das Schöne an den Geschichten ist, dass sie bei aller Märchenhaftigkeit erkennbar im Hier und Jetzt spielen, auch das soziale Millieu der Zukurzgekommenen aus der Hochhaussiedlung wirkt nicht karikiert oder aufgesetzt. Die 1-Euro-Anwältin lebt hier in einer winzigen Wohnung mit ihrem behinderten Vater, und dass das bei aller Grundsympathie füreinander häufig ein Alptraum ist, verschweigt die Serie auch nicht.

„Das ist das Gute am Armsein“, ruft die trotzig-naive Danni ihrem arroganten Porsche-Kollegen zu: „Man hat so wenig zu verlieren.“ Aber dann steht sie neben einer 16-Jährigen, die sich um ihre kleinen Geschwister kümmern muss, weil die Mutter gestorben und der Vater überfordert und gewalttätig ist, und das Aufmunterndste, das sie ihr sagen kann, ist: „Im nächsten Leben wird’s vielleicht einfacher. Aber durch das hier müssen wir noch durch.“