Schlagwort: Bild-Zeitung

Der Heinlein

Peter Heinlein ist möglicherweise der traurigste Medienjournalist der Welt. Er ist schon ziemlich was rumgekommen, hat für „Die Welt“, den „Spiegel“, die „Welt am Sonntag“, „Max“, das „Handelsblatt“, die „Bunte“ gearbeitet. Aktuell schreibt er eine Medien-Kolumne namens „Der Heinlein“, die mittwochs in der Hamburger Ausgabe von „Bild“ erscheint.

Es ist, aufgrund der vielfältigen Beteiligungen des Verlages, schon nicht leicht, Medienjournalist bei anderen Springer-Blättern zu sein. Bei „Bild“ ist es die Hölle.

Es sei denn, man macht das gerne: aus geschäftlichen Interessen der Zeitung und persönlichen Interessen des Chefredakteurs Texte formen, die unbefangen betrachtet wie „Journalismus“ aussehen.

Die „Zeit“ zum Beispiel steht auf der Liste der meistgehassten Zeitungen von „Bild“ sicher unten den Top Two. Und so schrieb Der Heinlein am 11. Oktober:

Was ist denn bei der „Zeit“ los? Elf Wochen lang hat das Wochenblatt bei seiner Auflage nicht mehr die halbe Million erreicht. Die letzte abgerechnete Ausgabe 36 lag sogar nur bei 477 000 Exemplaren. Auch die Abo-Auflage sank unter die 300 000er-Marke.

Das klingt dramatisch. Und man müsste es eine dreiste Lüge nennen, wenn es nicht stimmen würde: Die Auflage der „Zeit“ hatte tatsächlich elf Wochen lang nicht mehr die halbe Million erreicht. Und die Abo-Auflage war tatsächlich unter die 300.000er-Marke gefallen.

Was Der Heinlein verschweigt: Das Erreichen der halben Million ist für die „Zeit“ nicht die Regel, sondern ein Grund zum Feiern. In den vergangenen zehn Jahren gelang es ihr nur 13-mal. Davon sechsmal in diesem Jahr. Was eigentlich dafür spricht, dass die Auflagenkrise eher nicht so groß ist. Von den ersten 36 „Zeit“-Ausgaben dieses Jahres haben sich nur fünf schlechter verkauft als im Vorjahr. Der Schnitt lag in diesem Zeitraum bei 483.537 Exemplaren, eine Steigerung von 13.093 gegenüber dem Vorjahr. Die Abo-Auflage sank, wie fast immer, im Sommer, lag aber bei jeder einzelnen Ausgabe um mehr als 10.000 Exemplare über der des Vorjahrs.

Ich lese Den Heinlein viel zu selten (deshalb auch die Verspätung in dieser Sache). Seine Kolumne müsste Pflichtlektüre für jeden angehenden Medienjournalisten sein. Als Beispiel dafür, wie ihr Beruf missbraucht werden kann.

BILDblog ist ein „Bild“-Favorit

Im Zusammenhang mit den Merkwürdigkeiten um ein Cover der neuen „Popstars“-Band, das voreilig bei Amazon zu sehen war, zeigt Bild.de einen Screenshot von der entsprechenden Seite — inklusive der Menuleisten des Internet Explorers.

Und wenn man ganz, ganz genau hinsieht, wie es ein aufmerksamer BILDblog-Leser getan hat, kann man sogar erkennen, welche Favoriten der „Bild“- oder Bild.de-Mitarbeiter in seiner Links-Liste als Lesezeichen abgelegt hat:


…Google, Bild.de, SPIEGEL, BILDblog, Agenturen, SpringerNet, Textarchiv…

Ist ja auch egal

„Warum das zwei Jahre gedauert hat, bis das abgedruckt worden ist, kann ich Ihnen nicht sagen, halte ich aber auch für völlig unerheblich.“

Fried von Bismarck, Mitglied der Verlagsleitung des „Spiegel“ und Sprecher des Presserates über die öffentliche Rüge, die die „Bild“-Zeitung erst zwei Jahre danach, kryptisch und winzig abgedruckt hatte. „Bild“ hatte über Sibel Kekilli nach Ansicht des Presserates in entwürdigender Form berichtet und ihre Menschenwürde verletzt.

Der Presserat lässt sich in diesen Tagen für seine aufopferungsvolle Arbeit seinen Ehrgeiz seine Transparenz seine Durchsetzungskraft seine Effizienz das Erreichen des 50. Geburtstages feiern.

Warum nicht Kai Diekmann fotografieren?

Was ist so schlimm daran, Kai Diekmann zu fotografieren?

Das ist keine rhetorische Frage, sondern eine ernst gemeinte: Was ist daran so schlimm? Wenn man zu den sorgfältig ausgewählten Bildern des „Bild“-Chefredakteurs und seiner Frau bei öffentlichen Empfängen oder Privataudienzen beim Papst auch mal eins sieht, wo er sich vielleicht etwas unglücklich bückt. Wenn man zu den Episoden aus dem Privatleben von Herrn Diekmann und Frau Kessler, die sie über viele Folgen in einer Kolumne für die „Für Sie“ beschrieben hat, auch die passenden optischen Eindrücke bekommt. Wenn man sich ein Bild machen kann vom dem Mann, der so viel Einfluss auf das hat, worüber wir alle reden, und ihn in zutiefst menschlichen Posen sieht: beim Joggen, beim Nasepopeln, in dem Moment, wo er sich versehentlich im Café mit Kuchen bekleckert hat.

Ist das Schlimme daran, dass man Kai Diekmann die Kontrolle darüber nimmt, welche Bilder er von sich in der Öffentlichkeit sehen will? Dass man ihn der lästigen Situation aussetzt, gelegentlich ein Fotohandy auf sich gerichtet zu sehen? Dass er das Gefühl bekommt, nichts mehr tun zu können, ohne dabei beobachtet zu werden? Dass auf diese Weise Details über Diekmanns Privatleben herauskommen könnten, die er eigentlich privat halten wollte? Dass die Gefahr besteht, dass Leute im falschen Ehrgeiz, ein ganz besonderes Foto zu schießen, strafrechtliche Grenzen überschreiten?

Was genau ist so schlimm daran, Kai Diekmann zu fotografieren?

Oder ist das Schlimme der öffentliche Aufruf dazu? Menschen überhaupt erst auf die Idee zu bringen, etwas zu tun, was sie (als Bewohner bestimmter Stadtteile, als Besucher bestimmter Veranstaltungen, bei zufälligen Begegnungen) jederzeit tun könnten?

Natürlich haben wir mit kritischen Reaktionen auf die BILDblog-Aktion „Fotografiert Kai Diekmann!“ gerechnet. Diese Debatte ist eines ihrer Ziele. Aber in vielen Fällen erscheint mir die Kritik bislang sehr reflexhaft. Als ob es einen Konsens gebe, dass solche Fotos von jemandem, die nicht bei offiziellen Auftritten entstehen, eigentlich unzulässig sind. Das Gegenteil ist der Fall: Es gibt einen breiten Konsens in unserer Gesellschaft, jenseits irgendwelcher Gesetze, dass solche Fotos zulässig sind. Dass Prominente sich sowas gefallen lassen müssen. Alle Medien sind voll von solchen Aufnahmen, nicht nur „Bild“. Auch der „Stern“, die „Bunte“, ARD und ZDF, die Boulevardmagazine der Privatsender. Das ist nichts besonderes mehr, das ist Alltag, ob mir das gefällt oder nicht. (Mir gefällt es nicht.) So zu tun, als sei diese Art von Fotos geächtet und nur das vermeintliche Schmuddelblatt „Bild“ würde sich darüber hinwegsetzen, ist absurd.

Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte, dass auch Prominente wie Caroline von Monaco das Recht haben, auf der Straße zu gehen, im Café zu sitzen oder Fahrrad zu fahren, ohne dass Aufnahmen davon hunderttausendfach kommerziell verbreitet werden, entrüstete sich nicht nur Kai Diekmann über das Urteil. Die Chefredakteure von „Stern“, „Spiegel“, „Focus“, „Bunte“ und anderen protestierten mit einem gemeinsamen Aufruf, und die Verlegerverbände übten massiven Druck auf die Bundesregierung aus, gegen das Urteil vorzugehen. Anscheinend ist eine große Mehrheit der deutschen Medien der Meinung, dass sie (und wir, die Leser) auf solche privaten Aufnahmen nicht verzichten können.

Ich bin anderer Meinung. Aber dass die Mehrheit der Medien solche privaten Aufnahmen, die keinem anderen Interesse dienen, als die Schaulust des Publikums zu bedienen, für unverzichtbar hält, ist eine Tatsache.

Woher kommt dann aber dieses Ausmaß an Empörung, wenn wir angekündigt haben, diesen vielen Fotos auch welche von Kai Diekmann hinzufügen zu wollen? Nur weil das auch gegen das Caroline-Urteil verstoßen könnte, das von einem großen Teil der Öffentlichkeit ohnehin nicht wirklich anerkannt wird?

Wie kommt es, dass Kritiker von einer „Hetzjagd“ reden? Dass einer, der falsch behauptet, wir wollten „heimlich“, etwa vor Diekmanns Haustür geschossene Fotos, sich sogar an die Kriegshetze der Nationalsozialisten im Dritten Reich erinnert fühlt: Es scheine, als führten wir „so eine Art ‚Wollt Ihr den totalen Krieg‘-Strategie“?

Warum sind sich so viele anscheinend einig, dass unsere Aktion eine „‚Bild‘-Methode“ ist und wir damit auf „‚Bild‘-Niveau“ abgerutscht sind? Wo wir noch nicht ein Foto veröffentlicht haben? Der Einsatz von Leser-Reportern ist keine „Bild“-Methode: Die „Saarbrücker Zeitung“ war eine der ersten, die das Mittel eingesetzt hat, der „Stern“ ist auch groß eingestiegen.

Die „Bild“-Methode ist etwas anderes. Die „Bild“-Methode ist es, Menschen zu bezahlen, die das Haus von Prominenten rund um die Uhr beschatten. Die „Bild“-Methode ist es nach Aussage von Betroffenen, Menschen mit Fotos zu erpressen und zum Wohlverhalten zu erzwingen. Die „Bild“-Methode ist es, auch Kinder in die Recherche einzuspannen. Die „Bild“-Methode ist es, sich bei der Veröffentlichung von Fotos immer und immer wieder über elementarste Rechte der Betroffenen und der Angehörigen hinwegzusetzen. Die „Bild“-Methode ist es, nicht nur Prominente in privaten Situationen zu zeigen, sondern auch Nichtprominente, die von Leser-Reportern „erwischt“ wurden, nach Belieben und mit nicht immer ausreichender Recherche an den Pranger zu stellen.

Es ist keine rhetorische Frage: Was ist so schlimm daran, Kai Diekmann zu fotografieren? Was ist so schlimm daran, dazu aufzurufen?


Abbildung: „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann probiert eine Kirsche auf dem Hamburger Isemarkt. Aus einer NDR-Reportage über „Hamburgs heimliche Herrscher“ vom 21.12.2004. Unkenntlichmachung von mir.

Tom Junkersdorf packt aus

Tom Junkersdorf, seit einem Jahr mit einigem Erfolg Chefredakteur der „Bravo“, war vorher bei „Bild“. Zu seiner Amtszeit als Unterhaltungschef nahm sich „Bild“ Sibel Kekilli in einer Weise vor, die das Berliner Landgericht als höhnische Herabsetzung und Eingriff in die Menschenwürde bezeichnete.

Junkersdorf sagt von sich, er habe mit „Bravo“ Tokio Hotel „gemacht“. Dem „Kress-Report“ sagte er:

„Ich habe von Kai Diekmann bei ‚Bild‘ einiges gelernt, was mir jetzt bei ‚Bravo‘ nützt: Themen setzen, an Themen glauben und sie mit Gewalt durchziehen.“

Ein spannender Gesprächspartner also. Und das einstündige Telefonat, das Planet-Interview.de mit Junkersdorf führte, muss ein richtig interessantes Gespräch gewesen sein. So interessant, dass der Verlag zwei Drittel der Antworten Junkersdorfs nicht zur Veröffentlichung freigab.

Zum Glück haben die Leute von Planet-Interview.de (ähnlich wie die „Zeit“ vor ein paar Wochen bei einem Interview mit Oliver Kahn) die wunderbare Idee gehabt, das Interview auch ohne die Antworten Junkersdorfs zu veröffentlichen. Das liest sich ganz wunderbar:

Was hören Sie eigentlich selber für Musik?
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Und so:

Haben Sie sich schon mal einen Klingelton runtergeladen?
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Und (offensichtlich im Zusammenhang mit dem Fall Sibel Kekilli) auch so:

Die Folgen, die diese Kampagne für die Schauspielerin hatte, sind Ihnen wohl bekannt.
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Vielleicht wäre sie auf anderem Wege nicht zu dieser tollen Rolle gekommen.
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Sollen wir denn eigentlich alles wissen über die Vorgeschichten von Schauspielern? Ist das Ihr Streben, alles im Privatleben aufzudecken?
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Also, ein Goldener Bär ist ja schon noch etwas anderes als das Amt der Bundeskanzlerin.
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Sie haben dann auch Bilder aus Ihren Pornofilmen abgedruckt.
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Empfanden Sie das als würdevoll?
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Man hätte ganz normale Portraits verwenden können. Doch so, wie die Bild verfahren ist, hat es Frau Kekilli enorm geschadet, auch psychisch glaube ich.
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Sie empfinden keinerlei Reue?
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

(…) Wenn ich Sie richtig verstehe: Sie führen sämtliche Unwahrheiten in der Bild auf den großen Redaktions-Apparat zurück, in dem viele Sachen schief laufen, weil so viele Redakteure zusammenarbeiten? Die zahlreichen Klagen von Personen des öffentlichen Lebens und die Gegendarstellungen, welche Bild regelmäßig abdrucken muss: alles nur ein Resultat von schlechter Organisation?
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Und warum hat dann der Deutsche Presserat die Berichterstattung der Bild über Frau Kekilli gerügt und eine Verletzung der Menschenwürde beanstandet?
Junkersdorf: — Antwort wurde gestrichen —

Das ganze Interview steht hier.

 

(Mein bittere, vernichtende Pointe wurde von mir gestrichen.)

„Ehrwürdige Institutionen müssen sich unterstützen“

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Deshalb unterstützt „Bild“ den Papst. Chefredakteur Kai Diekmann über den erstaunlichen neuen Katholizismus einer Boulevardzeitung.

Im November vergangenen Jahres reist eine Delegation der „Bild“-Zeitung nach Rom. Chefredakteur Kai Diekmann überreicht Papst Johannes Paul II. im Rahmen einer Privataudienz eine Bibel — ein Exemplar der sogenannten „Volksbibel“, die das Blatt zusammen mit dem Weltbild-Verlag eine Viertelmillion Mal verkaufen wird. Diekmann verspricht dem Oberhaupt der katholischen Kirche: „Mit über zwölf Millionen Lesern täglich ist uns auch die Verbreitung der christlichen Glaubensbotschaft ein ernstes Anliegen.“

Ungefähr seit diesem Tag versucht „Bild“, sich als papsttreueste Zeitung der Welt zu positionieren. Sie feiert Worte und Werke Johannes Pauls II., sie hängt an seinen Lippen, sie berichtet in großer Detailtreue (wenn auch nicht immer zutreffend) über jede neue Wendung in seiner Krankengeschichte. Als andere davon ausgehen, daß der Papst vorübergehend nicht sprechen kann, befürchtet sie, er sei für immer stumm. Als er dann doch wieder ein paar Worte sagen kann, nennt sie es ein Wunder. Wer die Politik des Vatikans kritisiert, zum Beispiel das strikte Verbot, im Kampf gegen Aids auch Kondome benutzen zu dürfen, wird von „Bild“ als durchgeknallt dargestellt und in der Rubrik „Verlierer des Tages“ oder der Kolumne von Franz Josef Wagner abgewatscht.

Die „Bild“-Zeitung hat einen Mitarbeiter in Rom, der eine Biographie über den Papst verfaßt hat und den sie ihren „Vatikan-Korrespondenten“ nennt. Wenn er schreibt, zeigt sie häufig ein Bild von ihm, in dem er vor dem Papst kniet. Als der Papst stirbt, tritt dieser Vatikan-Korrespondent in verschiedenen Fernsehsendungen auf und weint mehrfach. Auch noch Tage nach dem Tod des Papstes übermannen ihn seine Gefühle. Seine Zeitung führt unterdessen die „Wunder“ auf, die Papst Johannes Paul II. angeblich bewirkt habe, und fordert quasi seine sofortige Heiligsprechung.

Als Kardinal Ratzinger gewählt wird, titelt „Bild“: „Wir sind Papst“. Die Zeitung berichtet, daß Ratzingers Eltern Joseph und Maria „waren“. Sie kritisiert, daß der neue Papst „in keinem Land der Welt so unerbittlich kritisiert“ werde wie in Deutschland und daß britische Zeitungen übel gegen ihn „hetzten“, die seine Jugend im Dritten Reich unangemessen groß in den Mittelpunkt rücken. Daß diese Blätter über die Mitgliedschaft Ratzingers in der Hitler-Jugend berichten, nennt „Bild“ einerseits eine „Beleidigung“, betont aber andererseits, niemand müsse sich dafür „schämen“, Hitler-Junge gewesen zu sein. In ihrem Eifer verleugnet „Bild“ sogar die Existenz eines KZ in der Nähe von Ratzingers Heimat Traunstein.

Der strenge Katholizismus wirkt sich auch auf die Berichterstattung jenseits des Vatikans aus. Massiv kämpft „Bild“ gegen den Beschluß der Berliner SPD, konfessionsungebundenen Werteunterricht an den Schulen einzuführen, und veröffentlicht „Zehn ‚Bild‘-Gebote für alle Politiker“, in denen es unter anderem heißt: „Du sollst deinen Amtseid auf Gott schwören“ und: „Du sollst das Gottvertrauen, das Kinder haben, nicht aus ihren Seelen vertreiben.“ Sie kommentiert eine Demonstration von deutschen Moslems gegen Gewalt mit den Worten: „Schön, daß das auch andere, die in unserer freiheitlichen Gesellschaft mit uns leben, genau so sehen.“ Sie illustriert Überlegungen, einen islamischen Feiertag in Deutschland einzuführen, mit einer Fotomontage, in der Tausende Moslems vor dem Reichstag beten.

Nicht verändert hat sich die Position von „Bild“ in anderen Fragen. Gegner der „Bild“-Zeitung werden weiter mit heiligem Zorn und nicht selten falschen Anschuldigungen verfolgt, Unschuldige zu Tätern gemacht und Schwache zu Witzfiguren, und weder die sexsüchtigen halbnackten Frauen von Seite eins noch die Prostituiertenanzeigen hinten im Blatt traf bisher ein Bannstrahl.

Über die neue Religiosität von „Bild“ wollten wir mit Chefredakteur Kai Diekmann reden. Ein persönliches oder telefonisches Interview lehnte er „aus Zeitgründen“ ab. Möglich war nur, ihm Fragen zu schicken, die er schriftlich beantwortete. Nachfragen konnten nicht gestellt werden.

Die „Süddeutsche“ nannte „Bild“ am Freitag einen „Osservatore Tedesco“. Fühlen Sie sich wohl oder unwohl mit dieser Beschreibung?

Das ist ein Kompliment: Der „Osservatore Romano“, die Zeitung des Vatikans, hat in seiner Heimat eine Reichweite von einhundert Prozent. So weit sind wir leider noch nicht.

„Wir sind Papst“, hat „Bild“ am Mittwoch getitelt. Wer sind „wir“? Wir Deutschen? Wir deutschen Katholiken? Die „Bild“-Redaktion?

Wir alle. Und ich bin mir ganz sicher: Sie von der „Sonntagszeitung“ doch hoffentlich auch?

Wem ist diese Schlagzeile eingefallen?

Meinem Kollegen Georg Streiter. Er ist Politikchef bei „Bild“.

Die „Bild“-Zeitung hat sich in den vergangenen Monaten als besonders papsttreue Zeitung positioniert. Warum?

Weil ehrwürdige Institutionen sich unterstützen müssen.

Welche Bedeutung hatte die Audienz der „Bild“-Führungsriege beim Papst für Sie?

Eine große Ehre, eine sehr bewegende Begegnung.

Glauben Sie an Gott? Sind Sie katholisch?

Ja.

In den Grundsätzen und Leitlinien von Axel Springer fehlt ein Bezug auf das Christentum. Glauben Sie, daß eine Ergänzung sinnvoll wäre? Oder versteht es sich ohnehin von selbst, daß die Medien der Axel Springer AG sich den abendländisch-christlichen Werten verpflichtet fühlen?

Anima naturaliter Christiana*.

Die „Bild“-Zeitung berichtet seit einigen Monaten viel stärker als früher über kirchliche Themen, betrachtet auch gesellschaftliche Fragen häufiger aus religiöser, insbesondere katholischer Sicht. Nehmen Sie damit eine Stimmung in der Bevölkerung auf? Oder versuchen Sie umgekehrt, die Bevölkerung zu beeinflussen, quasi zu missionieren?

Jeden Montag heißt unsere Mission „Bundesliga“, im Sommer sind wir auf der Mission „Bikini“, und 365 Tage im Jahr missionieren wir für besseres Wetter. Im Ernst: Wir missionieren nicht, wir berichten, was ist.

Ist der „Bild“-Leser katholisch?

Die „Bild“-Leser sind Katholiken, Protestanten, Moslems, Juden, Atheisten und so weiter. Frei nach dem Neuen Testament: In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.

Sie haben sich im vergangenen Jahr ausdrücklich zu Kampagnen als legitimem und positivem Mittel einer Boulevardzeitung bekannt. Ist der Katholizismus nur die aktuelle Kampagne der „Bild“-Zeitung, die in wenigen Monaten durch eine andere abgelöst wird?

Große Ereignisse verdienen große Schlagzeilen, wie nach der erfolgreichen Landung von Apollo 11: „Der Mond ist jetzt ein Ami“.

Im ersten Quartal 2005, das schon von vielen Berichten über Johannes Paul II. geprägt war, ist die Auflage der „Bild“-Zeitung weiter gefallen. Läßt sich mit dem Papst und Themen der katholischen Kirche womöglich gar keine Auflage machen? Würden Sie das in Kauf nehmen als Preis dafür, eine im Sinne der katholischen Kirche und ihrer Werte bessere Zeitung zu machen?

Ich kann Ihre Frage nur mit einem eindeutigen „je nachdem“ beantworten.

Ihr Kolumnist Franz Josef Wagner hat in seiner Kolumne in dieser Woche gemutmaßt, Gott habe den Deutschen „diesen Papst geschenkt, damit wir endlich aufhören, an falsche Götter zu glauben“. Glauben Sie das auch?

Jeder Kolumnist soll nach seiner Fasson selig werden.

Für die Kirche, nicht nur die katholische, ist Keuschheit eine Tugend. Für die „Bild“-Zeitung offensichtlich nicht. Müßte eine Zeitung, die nicht nur in ihrer Berichterstattung über den Papst, sondern auch in der Bewertung aktueller politischer Streitfragen die Prinzipien der Kirche und des christlichen Glaubens als Maßstab anlegt, aufhören, jede versehentlich herausgerutschte weibliche Brustwarze überlebensgroß abzubilden und zu feiern?

Ich glaube, wir müssen uns mal zusammen in der Sixtinischen Kapelle Michelangelos Deckenfresko anschauen. Nackt kommst du auf Erden, nackt wirst du von ihr gehen.

Wie christlich kann eine Boulevardzeitung überhaupt sein? Sehen Sie nicht die Gefahr, je mehr Sie sich als papsttreueste Zeitung positionieren, desto pharisäerhafter zu erscheinen?

Wir alle sind Sünder, ausgenommen natürlich die Kollegen von der Sonntagspresse: Wer am Tag des Herrn das Wort verkündet, tut dies natürlich mit reiner Seele.

Glauben Sie, daß sich Kritik am (neuen) Papst per se verbietet?

Ach, Bruder Niggemeier . . .

Mißbraucht „Bild“ das Pathos der katholischen Kirche und letztlich den Glauben nicht, um in einer Zeit, in der alles beliebig erscheint, sich mit scheinbarer Bedeutung aufzuladen?

Jetzt werden Sie mir etwas zu protestantisch.

Welches ist Ihr Lieblings-Gebot?

Bei dieser Frage möchte ich das Beichtgeheimnis in Anspruch nehmen.

Welches christliche Gebot ist für eine Boulevardzeitung am schwierigsten in der Praxis zu beherzigen?

Du sollst nicht stehlen. Eine alte Journalistenweisheit besagt nämlich: Besser gut geklaut, als schlecht erfunden . . .

Welche christlichen Werte sind Ihrer Meinung nach heute besonders wichtig?

Glaube, Liebe, Hoffnung.

Was antworten Sie gläubigen Christen, die sich daran stoßen, daß „Bild“ Anzeigen von Prostituierten veröffentlicht?

„Bild“-Volksbibel, Seite 1046. Für alle anderen: Johannes-Evangelium, Kapitel 8, Vers 7.**

*) „Die Seele ist natürlicherweise christlich“, mit anderen Worten: das Christentum ist genau das, was der Mensch im Innersten sucht. Wort des Kirchenführers Tertullian, 197 nach Christus.

**) „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

Mißbrauch

Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Bild“ rückt Oliver Pocher in die Nähe von Kinderschändern.

Am 8. Oktober war der Fernsehkomiker Oliver Pocher zu Gast in der Talkshow von Johannes B. Kerner. Man plauderte über dies und das, und nach gut zehn Minuten erkundigte sich Kerner, ob es auch ein Thema gebe, bei dem der Witzbold ernst wäre. Ja, sagte Pocher, beim Thema Kindesmißbrauch sei er „extrem sensibilisiert“. Der Sechsundzwanzigjährige berichtete dann von einem Fall, der sich in seiner Jugend in seinem Heimatort zugetragen habe. Was konkret passierte, ließ er offen, er habe es auch erst „viel später mitbekommen“. Man habe versucht, dem Mädchen zu helfen. Aber der Fall sei kompliziert, weil die Betroffene offensichtlich nicht bereit war, eine Aussage zu machen. „Man kann nicht einfach nur hingehen und sagen: Der macht das. Es ist schwieriger, das vor Gericht auch durchzubringen“, sagte er. Wütend mache ihn, daß der Verdächtige immer noch frei herumlaufe. Pocher sagte, auch aufgrund dieser Erfahrung engagiere er sich für ein Kinderhaus in Nepal, das ein Freund gegründet habe.

Gestern griff die „Bild“-Zeitung den Fall bundesweit auf. Sie zeigte auf ihrer ersten Seite ein Foto von Pocher mit der Schlagzeile: „Oliver Pocher – TV-Star schützt Kinder-Schänder“. Sie sprach von einem „Skandal“: „Der Komiker gab zu, von einem Kindesmißbrauch zu wissen. Den Täter zeigte er aber nicht an!“ Sein Zitat, daß man nicht einfach jemanden beschuldigen und damit vor Gericht Erfolg haben könne, wird von „Bild“ mit den Worten kommentiert: „Was denkt sich der TV-Star bloß bei solchen Aussagen – in Zeiten, wo fast täglich Kinder in Deutschland geschändet werden?“ Pocher müsse jetzt „zum Polizeiverhör“.

„Bild“ erwähnte nicht, daß es um keinen aktuellen Fall geht: Nach Angaben Pochers hat er als Vierzehnjähriger davon erfahren; der Mißbrauch liege noch weiter zurück. Der Artikel erweckt den Eindruck, Pocher decke einen Kinderschänder und verharmlose das Thema, obwohl Pochers Auftritt keinen Zweifel daran ließ, daß seine Absicht das Gegenteil war.

Pochers Managerin Nina Brkan sagte, man werde mit allen juristischen Mitteln gegen die „böswillige Verleumdung“ vorgehen. Weder Pocher noch sie seien vor der Veröffentlichung von der Zeitung angesprochen worden. Dafür habe sich gestern eine „Bild“-Redakteurin telefonisch bei ihr gemeldet und unverholen damit gedroht, weitere belastende Infos zu veröffentlichen, die sie recherchiert habe, wenn Pocher nicht bereit sei, mit „Bild“ zu reden. Tatsächlich sei Pocher von der Polizei als Zeuge vorgeladen worden, sagte Brkan. Auch das Opfer des Mißbrauchsfalls, über den Pocher berichtete, habe sich nun dazu durchgerungen, gegenüber einem Notar Angaben zu machen, um der Darstellung der Zeitung zu widersprechen. Warum „Bild“ in dieser Form gegen Pocher vorgeht, wisse sie nicht, sagte Brkan. Es gebe „keine Vorgeschichte“ – außer daß der Komiker grundsätzlich keine Boulevardgeschichten mache.

„Bild“-Sprecher Tobias Fröhlich sagte, die Zeitung habe die Fakten korrekt wiedergegeben. Daß Pocher nichts gegen den vermeintlichen Täter unternommen habe, sei ein Skandal, daß er dann noch bei Kerner darüber rede, ein weiterer. „Das ist doch nicht okay, da müssen wir doch drüber schreiben!“

Wie „Bild“ Corinna May vor Männern schützt

Sex, Macht, Politik – und Estland als Testland: Was uns der Grand Prix in der kommenden Woche bescheren wird.

· · ·

Sie hätte es längst getan haben können, zum ersten Mal seit drei Jahren. Sie hätte längst einen gefunden haben können, vielleicht einen estnischen Recken, wie ihre Sängerinnen sich wünschen, vielleicht einen sechzigjährigen türkischen Tänzer, wie ihn die „Bild“-Zeitung gefunden hat, jedenfalls jemanden, der sich „gut anfühlt“, wie sie selber sagt.

Und wir könnten längst weiter sein in dem Liebesdrama um Corinna May, vielleicht schon in der Phase, wo sie erzählt, wie zärtlich er im Bett war, oder in der, wo er erzählt, wie sie beim Sex leise singt, oder auch nur in der, wo „Bild“ beschreibt, wie liebevoll er ihr über die vielen Klippen hilft, die in dem wunderschönen alten, aber hoffnungslos verwinkelten Hotel Schlößle in Tallinn zwischen dem Eingang und ihrem Zimmer im Erdgeschoß liegen. Denn eigentlich wollte die „Bild“-Zeitung die große Corinna-May-sucht-einen-Mann-Serie schon im März bringen, aber dann kam Uschi Glas dazwischen.

Seit die schönsten Geschichten nicht mehr das Leben, sondern Mark Pittelkau in der „Bild“-Zeitung schreibt, muß man mit solchen Unbillen rechnen. Wenigstens besteht bei Corinna May nicht die Gefahr, daß sie, wie Michelle im vergangenen Jahr, im Beisein von Journalisten „ihr“ Grand-Prix-Tagebuch in „Bild“ liest und erschrickt und widerspricht.

Die anfänglichen Sorgen des NDR-Unterhaltungschefs und deutschen Grand-Prix-Beauftragten Jürgen Meier-Beer sind also verflogen, daß er nach den Jahren mit Stefan Raab und seiner eigenen PR-Maschine und Michelle und ihrem Riesenpack Kindheits- und Trennungsdramen sich diesmal gewaltig anstrengen müßte, um aus einer steifen, sperrigen, blinden Sängerin genug Medienstoff für eine Woche zu generieren. Und wenn Corinna May wieder solo bleiben sollte, kann sich die Rekordzahl von rund 120 anreisenden deutschen Journalisten (mehr als bei Raab!) immer noch auf schmutzige Details aus der Suite von Ralph Siegel verlassen.

Der Song-Contest ist nicht nur nicht totzukriegen, er lebt mehr denn je. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wird sich in der kommenden Woche sogar das amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ mit ihm beschäftigen. Das freut vor allem das Gastgeberland, das sich so viel verspricht von diesem Ereignis.

„Eine Milliarden-Dollar-Chance für Estland“ hat der Generaldi-rektor des estnischen Fernsehens die Ausrichtung des Grand Prix genannt. Über die Zahl kann man streiten, über den Kern der Aussage nicht. „Jetzt sind wir auf der Landkarte präsent“, beschreibt Jörg-Dietrich Nackmayr, Direktor der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tallinn die Stimmung im Land, „jetzt sehen die anderen Länder, wie toll wir sind.“ Zunächst einmal lernen sie: „Estland liegt nicht in der Tundra“, nennt der deutsche Botschafter in Tallinn, Gerhard Enver Schrömbgens, das Minimalziel. Er lädt am Dienstag zu einem Empfang in seine Residenz auf dem Domhügel in Tallinn. Dort wird Ralph Siegel sich an den Flügel setzen und mit Corinna May und estnischen Kindern singen und möglicherweise, so Schrömbgens‘ Hoffnung, einen kleinen Beitrag dazu leisten, daß die Deutschen sich an ein Land erinnern, das ihnen eigentlich nahe sein müßte. Im Grunde teilt er die Meinung der stolzen Esten, daß sich ihr Land sehen lassen kann: „Estland nutzt seine Kleinheit für Flexibilität und Agilität“, sagt er, und daß es in den üblichen Nationenvergleichen nicht ganz vorne auftauche, liege nur daran, daß es zu klein sei, um überhaupt aufzutauchen. Beispiel Olympia: Würden die Medaillenspiegel pro Kopf der Bevölkerung erstellt, läge Estland mit seinen drei Medaillen der letzten Winterspiele bei seinen 1,4 Millionen Einwohnern ganz vorne.

Auch nach innen ist die Bedeutung des Grand Prix erstaunlich – zumindest die Erwartungen, die an ihn geknüpft werden, sind es. Viel publiziert ist, daß die Zustimmung zu einem EU-Beitritt unter den Esten, die nach ihrer gerade erst erlangten Unabhängigkeit zögern, sich nun schon wieder einem Bündnis eingliedern zu sollen, nach dem Grand-Prix-Sieg im vergangenen Jahr um zehn Prozent anstieg. „Through EBU into EU“ soll die Regierung als Slogan ausgegeben haben – EBU ist die Eurovision, der Veranstalter des Wettbewerbs. Seitdem sind die Umfragewerte zwar wieder zurückgegangen, aber allgemein wird erwartet, daß sie in diesen Wochen, rund um die Veranstaltung, wieder ansteigen werden. „Die Esten freuen sich, daß Europa sie zur Kenntnis nimmt, sich um sie kümmert“, sagt Nackmayr. Er glaubt, daß der Grand Prix ein wichtiger emotionaler Bestandteil auf dem Weg nach Europa ist: „Dadurch werden auch Teile der Bevölkerung nach Europa mitgezogen, denen der schnelle Wandel eher angst macht und die vom Wirtschaftswunder nicht profitiert haben.“

Kein Wunder, daß sich die Regierung überreden ließ, die Ausrichtung zu finanzieren – jedenfalls, nachdem das kleine öffentlich-rechtliche ETV mit der Einstellung seines Sendebetriebes gedroht hatte. Alles, was nicht durch Sponsoren oder den Verkauf von Eintrittskarten hereinkommt, zahlt der Staat. Obwohl die Karten regulär 300 bis 450 Euro kosten (mehr als das durchschnittliche Monatseinkommen eines Esten), bleibt wohl ein Loch von mehreren Millionen Euro. Das weckt Begehrlichkeiten: So wollte die Regierung eine eigene Agentur beauftragen, die kleinen Filme zu drehen, die vor den einzelnen Beiträgen laufen, um Estland im richtigen PR-Licht zu präsentieren. Zum Glück war der estnische Grand-Prix-Chef Juhan Paadam vorher jahrelang so etwas wie der Außenminister seines Senders und entsprechend erfahren in Diplomatie. Mit sanftem Druck überzeugte er die Regierung, daß die beste Werbung für Estland nicht durch Agit-Prop erreicht werde, sondern durch eine gelungene Show ohne politische Einflußnahme.

Wer den Grand Prix nicht als Musik-, sondern als Fernsehereignis versteht, sah schon in den vergangenen beiden Jahren TV-Shows, die zweifelsohne state of the art waren. Nachdem die Schweden sich 2000 das Ziel setzten, eine moderne Show zu veranstalten und die Dänen im vergangenen Jahr aus dem Grand Prix ein Massenereignis im Fußballstadion machten, stellen die Esten den Grand Prix erstmals unter ein Motto: „Ein modernes Märchen“ wollen sie inszenieren und sich, ihre Unabhängigkeit und all die Kontraste aus Mittelalter und 21. Jahrhundert feiern, die das Land ausmachen. Es wird, nach allem was man hört, ein außergewöhnlicher Grand Prix, mit innovativem Bühnenkonzept, schrägem Design, modernster Umsetzung. Staunen soll die Welt, und zwar nicht zu knapp, über die Kreativität eines Landes, dem viele die erfolgreiche Ausrichtung eines solchen Großereignisses gar nicht zugetraut hätten.

Ach ja, bleibt noch die Musik. In diesem Jahr liegen die Griechen beim paneuropäischen Wettbewerb um den absurdesten Beitrag weit vorn. Sie schicken fünf Männer in Leder, die ein elektronisches Lied über Cyber-Sex singen: „Every time you need my love / Before you enter in my world / Give the password.“ Gleich eine Handvoll Länder hat sich entschieden, mit mehr oder (meistens) weniger gelungenen Revivals des Disco-Sounds der siebziger und achtziger Jahre ins Rennen zu gehen, es gibt langweilige Balladen, kalkulierten Pop, mißglückte Anleihen bei modernen Musikeinflüssen und viele Exoten, die sich alle Mühe geben, daß der Trash-Faktor des Ereignisses erhalten bleibt oder, positiv formuliert, die einen beruhigt staunen lassen über die Vielfalt Europas trotz Globalisierung und MTV und allem.

Zum Glück geht es ja nicht um Musik. Der Gewinnertitel des vergangenen Jahres, das Funk-Stück „Everybody“ von Tanel Padar und Dave Benton, war vermutlich der am wenigsten gehörte, gekaufte und gespielte Siegertitel in der Geschichte des Grand Prix, das Duo hat sich längst im Streit getrennt, einer startete seine Solo-Karriere mit einem Live-Konzert vor 41 Zuschauern, beide werden das Stück wohl nie wieder gemeinsam aufführen. Doch das Lied war so erfolglos wie folgenreich und beschert Estland nun die größte Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit seit dem Mittelalter.

Was für Estland gilt, gilt auch für Corinna May. Natürlich würde ein Sieg ihres „I can’t live without music“ den Grand Prix auf seinem zögernden Kurs zu Modernität und musikalischer Relevanz um Jahre zurückwerfen. Aber was kümmert sie das, was kümmern sie die kaum nennenswerten Plattenverkäufe, wenn sie es dank des Grand Prix schafft, nach drei Jahren endlich wieder Sex zu haben?

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung