Schlagwort: Jörg Kachelmann

Ein lebenslanger Makel: Warum Springer Kachelmann 635.000 Euro zahlen soll

Bei „Bild“ verstehen sie nicht, wie sie vom Landgericht Köln dazu verurteilt werden konnten, Jörg Kachelmann mehrere Hunderttausend Euro Geldentschädigung zu zahlen. „Gibt nun mal Urteile, die man nicht versteht“, twitterte die stellvertretende Chefredakteurin Tanit Koch. Und: „Ganz im Ernst: Wenn ich das erklären könnte, müßten wir ja nicht in Berufung.“ Lustig.

Vielleicht hat sie nur die Pressemitteilung ihres Verlages gelesen, nach deren Lektüre man tatsächlich nicht verstehen kann, warum das Gericht Kachelmann eine Rekordsumme zugesprochen hat. Vielleicht hätten ihr ein paar Stellen aus der Urteilsbegründung beim Verstehen geholfen. Diese zum Beispiel:

[…] Der Kläger [Kachelmann] wurde durch die Berichterstattung der Beklagten [„Bild“] als gewaltaffiner und frauenverachtender Serientäter charakterisiert, der aus eigensüchtigen Motiven nicht nur mehrere Partnerinnen gleichzeitig gehabt, sondern diese auch systematisch zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse belogen haben soll. Dass eine den Kläger derart abqualifizierende Berichterstattung nicht nur eine erhebliche Prangerwirkung entfaltet und zu einer sozialen Isolation führt, sondern den Kläger zudem mit einem Makel belegt, den er trotz des Freispruchs sein Leben lang mit sich führen wird, bedarf sicherlich keiner weiteren Erörterung.

Tatsächlich stellte das Gericht fest, dass es keine konkreten Anhaltspunkte fand, dass „Bild“ „hinsichtlich der rechtswidrigen Persönlichkeitsrechtsverletzungen vorsätzlich und mit Schädigungsabsicht gehandelt hätte“. Ihr könne „nur der Vorwurf gemacht werden, auf einem außerordentlich schwierigen Gebiet der Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen die rechtliche Grenzziehung fahrlässig verfehlt zu haben“. Diese Zitate finden sich in der Pressemitteilung von Springer.

Allerdings belegt das Gericht äußerst detailliert, wie „Bild“ diese Grenze wieder und wieder und wieder und wieder verfehlte. Es spricht von einer „wiederholten und hartnäckigen Verletzung der Privatsphäre des Klägers“. Insgesamt 18 Mal sei Kachelmann von der „Bild“-Berichterstattung „schwerwiegend in seiner Privat- bzw. Intimsphäre verletzt“ worden. Dadurch, dass „Bild“ Kachelmanns private Kommunikation veröffentlichte, ohne dass es einen Zusammenhang zu dem Verfahren gegen ihn gab. Dadurch, dass „Bild“ „detailreich über seine vermeintlichen sexuellen Beziehungen mit diversen Frauen“ berichtete. Dadurch, dass „Bild“ „mehrfach und entgegen der Unschuldsvermutung über vermeintliche weitere sexuelle Übergriffe“ berichtete, „obschon lediglich die Aussage des vermeintlichen Opfers als vermeintliche Beweistatsache vorlag“. Und dadurch, dass „Bild“ „unter hartnäckiger Verletzung der Privatsphäre des Klägers mehrfach Fotos [veröffentlichte], die ihn als Häftling in der JVA und im Hof der Kanzlei seiner Verteidigerin zeigten, ohne dass er die Möglichkeit gehabt hätte, dieser – mitunter heimlichen – Nachstellung zu entkommen“.

Es geht, wie man an dieser Aufzählung erahnt, in diesem Prozess nur am Rande um knifflige Grenzfälle bei der Berichterstattung über ein Strafverfahren, bei dem ein Prominenter einer Vergewaltigung angeklagt wird. Um Fragen wie die, ob das, was vor Gericht verhandelt wird, in jedem Fall auch öffentlich berichtet werden darf.

Ausschlaggebend für die hohe Geldentschädigung waren viele Fälle klarer, schwerer Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Die „Bild“-Leute nahmen – wie andere Medien und insbesondere die des Burda-Verlages auch – den strafrechtlichen Vorwurf als Vorwand, alle möglichen, dafür irrelevanten Details und Behauptungen über das Privat- und Intimleben von Kachelmann öffentlich zu machen. Dass schon die Berichterstattung über Kachelmanns Festnahme, die Anschuldigungen und den Prozess sein Image nachhaltig schädigten, ist sicher richtig. Aber hier geht es um Berichte, die sich in keiner Weise mit einem irgendwie gearteten Informationsinteresse der Öffentlichkeit rechtfertigen lassen – und schon gar nicht mit der Unschuldsvermutung vertragen.

Bleiben wir noch einmal kurz bei den Fotos, die „Bild“ heimlich von Kachelmann beim Hofgang im Gefängnis aufnahm und veröffentlichte. Und staunen, wie die Rechtsabteilung von „Bild“ sie laut Gericht rechtfertigt:

Hinsichtlich der Fotos des Klägers in der JVA sei sich der Kläger der Beobachtung durch Fotografen bewusst gewesen und habe es billigend in Kauf genommen, dass er während des Hofgangs fotografiert worden sei. Ferner zeigten die Fotos den Kläger im Innenhof der JVA, der vom öffentlichen Straßenraum aus einsehbar sei. Zudem habe die Beklagte in Ausübung ihrer „Wachhundfunktion“ aus Anlass einer jeweils neuen Entwicklung im Ermittlungs- und Strafverfahren gegen den Kläger aufgrund eines aktuellen Berichterstattungsinteresses berichtet, so dass die Darstellung der Fotos im Zusammenhang mit dem Strafprozess gegen den Kläger, insbesondere der Untersuchungshaft in der JVA, seinem Umgang mit der wiedergewonnenen Freiheit nach Aufhebung des Haftbefehls und der Gewährung eines Prozessurlaubs in Kanada, stünde.

Das Gericht sieht darin hingegen einen Eingriff „in den Kernbereich der Privatsphäre“:

Denn der Kläger befand sich in einer Situation, in der er nicht erwarten musste, von der Presse behelligt zu werden, wobei dies vorliegend umso mehr gilt, als sich der Kläger in der betroffenen Situation nicht in einem öffentlich zugänglichen Verkehrsraum bewegte. Ein besonderes Gewicht kommt auch der Tatsache zu, dass die Beklagte die Bilder heimlich, d.h. ohne Kenntnis des Klägers und unter Ausnutzung von technischen Mitteln aufnahm.“

Die „Bild“-Zeitung habe die Fotos allein zur Befriedigung der Neugier der Öffentlichkeit veröffentlicht, obwohl sie hätte erkennen können, dass sie dadurch

den Kläger gegenüber der Öffentlichkeit als Häftling in einer Situation vorführte, in der er der Verfolgung durch die Fotografen – selbst wenn er sie wahrgenommen hätte – nur unter Aufgabe des täglichen Hofgangs hätte entkommen können, ihr mithin ausgeliefert war.

„Bild“ veröffentlichte auch rechtswidrig Textnachrichten, die Kachelmann der zeitweise bekannten Popsängerin Indira Weis schrieb (Überschrift: „Er schickte ihr 50 heiße Flirt-SMS“). Das Gericht nennt die Weitergabe und wörtliche Veröffentlichung mit allen Einzelheiten des Ausdrucks mehr als eine „bloße Indiskretion“, nämlich „eine komplexe Preisgabe der Person des Klägers an die Öffentlichkeit.“ Der „Bild“-Zeitung sei insofern

eine rücksichtslose Verfügung über die Person des Klägers vorzuwerfen. Denn der Beklagten war schon aufgrund der Umstände – der Kläger befand sich in Untersuchungshaft, das Ermittlungsverfahren dauerte an – bewusst, dass dieser keine Einwilligung zur wörtlichen Veröffentlichung der betreffenden SMS-Nachrichten erteilen würde.

„Bild“ verbreitete mehrmals Vorwürfe von anderen angeblichen Affären Kachelmanns, wonach er zum Beispiel ihnen gegenüber gewalttätig geworden sei – auch dann, wenn jeder Beweis für die Richtigkeit dieser ihn stigmatisierenden Behauptungen fehlte:

Basiert […] der Vorwurf einzig auf einer Anzeige/Aussage einer Person, gehört es zu der journalistischen Pflicht eines Presseorgans auch, die Glaubhaftigkeit derselben zu hinterfragen. Dies ist hier offenkundig nicht geschehen, obschon der Beklagten diese Pflicht hätte bekannt sein müssen. […]

Im Ergebnis bleibt der den Kläger stigmatisierende Verdacht, eine weitere Frau misshandelt zu haben, stehen, ohne dass seitens der Beklagten ausgewogen berichtet worden wäre.

„Bild“ veröffentlichte Auszüge aus privaten Emails, die „keinen über die allgemeine charakterliche Abqualifizierung des Klägers hinausgehenden Bezug zu der ihm vorgeworfenen konkreten Tat, seinen vermeintlichen Motiven, anderen angeblichen Tatvoraussetzungen oder der Bewertung seiner Schuld“ herstellten. Das Gericht schreibt:

Vor diesem Hintergrund läuft der Kläger aber Gefahr, ungeachtet der rehabilitierenden Wirkung eines Freispruches von dem Vorwurf der schweren Vergewaltigung und gefährlichen Körperverletzung in den Augen einer breiten Öffentlichkeit weiterhin mit dem Makel eines charakterlich defizitären, lügnerischen und perfiden Verhaltens gegenüber Frauen gebrandmarkt zu sein, ohne dass ein über die Befriedigung der bloßen Neugier hinausreichendes Informationsinteresse erkennbar wäre.

Das Gericht räumt ein, dass das Berichterstattungsinteresse über das Strafverfahren aufgrund der Prominenz Kachelmanns und der Schwere des Vorwurfs immens gewesen sei.

Gleichwohl rechtfertigt dieses außergewöhnlich große Informationsinteresse der Öffentlichkeit […] nicht jedwede Berichterstattung, da gerade bei der Berichterstattung über das Bestehen eines Verdachts der Begehung einer Straftat durch die Medien besondere Gefahren für den jeweils Betroffenen bestehen. Denn Verdächtigungen, Gerüchte und insbesondere Berichterstattungen durch die Medien werden oft für wahr genommen, ihre später erwiesene Haltlosigkeit beseitigt den einmal entstandenen Mangel kaum und Korrekturen finden selten die gleiche Aufmerksamkeit wie die Bezichtigung, insbesondere wenn es später zu einem Freispruch unter dem Gesichtspunkt in dubio pro reo kommt. Deswegen gebietet die bis zur rechtskräftigen Verurteilung zu Gunsten des Angeklagten sprechende Unschuldsvermutung eine entsprechende Pflicht der Medien, die Stichhaltigkeit der ihr zugeleiteten Informationen unter Berücksichtigung der den Verdächtigen bei identifizierender Berichterstattung drohenden Nachteile gewissenhaft nachzugehen, und eine entsprechende Zurückhaltung, gegebenenfalls einhergehend mit einer Beschränkung auf eine ausgewogene Berichterstattung.

Die Entschädigung, die Kachelmann zugesprochen wurde, soll zum einen den ihm entstandenen (immateriellen) Schaden wieder gutmachen, andererseits aber auch abschrecken – das Gericht spricht von „Kompensationszweck“ und „Präventionsgedanken“: Durch die Höhe der Geldentschädigung solle „Bild“ „verdeutlicht werden, in Zukunft bei der Berichterstattung über vergleichbare Geschehnisse eine größere Sorgfalt und Zurückhaltung an den Tag zu legen“.

Der entstandene Schaden für Kachelmann sei aber auch immens und anhaltend:

Zum anderen ist zu beachten, dass der Kläger zumindest auch durch die seine Intim- und Privatsphäre verletzende sowie in weiten Teilen reißerische Berichterstattung der Beklagten nicht nur während des Zeitraums derselben, sondern auch in Zukunft als frauenverachtender und gewaltbereiter Wiederholungstäter stigmatisiert wurde bzw. bleiben wird, wodurch sowohl sein berufliches Wirken als auch sein Privatleben massiv beeinträchtigt wurden bzw. bleiben werden.

Die „Bild“-Zeitung hingegen meinte laut Gericht, dass „sämtliche zum Beleg einer angeblich systematischen Verletzung seiner Privatsphäre genannten Berichterstattungen harmlos seien“. Auch hätte sie ihn nicht diffamiert, „da jeweils die Auseinandersetzung in der Sache im Vordergrund gestanden habe“. Und weiter:

Jedenfalls habe der Kläger sich durch den persönlichen Rundumschlag gegen Justiz, die Presse, das vermeintliche Opfer und die Frauenwelt in seinem Buch selbst hinreichend Genugtuung verschafft und Details zu seinem Intim- und Sexualleben preisgegeben. Es gebe deshalb keinerlei Grund, ihm zusätzlich nun auch noch eine Geldentschädigung in Millionenhöhe zuzusprechen.

In Millionenhöhe nicht, entschied das Kölner Landgericht. Aber in Höhe von 635.000 Euro.

Jörg Kachelmann und die Verbrecher von kabel eins

Schalten wir um zu kabel eins. Dort läuft am Sonntag eine neue Doku des Grauens: „Die spektakulärsten Kriminalfälle – dem Verbrechen auf der Spur“.

Der Sender bewirbt sie mit einem dreißigsekündigem Trailer, in dem es heißt:

Dunkle Geheimnisse.

Undurchschaubare Abgründe.

Verhängnisvolle Taten.

Diese Menschen sind bis zum Äußersten gegangen und wurden zu Verbrechern, die jeder kennt.

Welche Motive hatten sie? Und warum ziehen uns wahre Kriminalfälle so in ihren Bann?

Die Faszination des Grauens in der neuen Doku.

„Die spektakulärsten Kriminalfälle – dem Verbrechen auf der Spur“. Am Sonntag um 20:15 Uhr.

Man muss es im Original gesehen und die Stimme des Sprechers und die dramatische Musik gehört haben, um es angemessen würdigen zu können:


 

Im Bild, unter anderem: Hans-Jürgen Rösner und O.J. Simpson, Marianne Bachmeier und Jürgen Harksen – und Jörg Kachelmann, der Wettermoderator, der von dem Vorwurf, eine Frau vergewaltigt zu haben, freigesprochen wurde.


Und kabel eins zeigt den — noch einmal: rechtskräftig freigesprochenen — Moderator als Verbrecher, den jeder kennt – was auf eine ironische Weise fast schon wieder treffend ist, angesichts der Vorverurteilung und der anhaltenden Folgen des Prozesses und der Berichterstattung für Kachelmann.

Kachelmanns Anwalt hat die Sendergruppe ProSiebenSat.1, zu der kabel eins gehört, abgemahnt. Die „Behauptungen“ über Kachelmann seien „allesamt unwahr“: Es habe schon keine Tat gegeben, deshalb auch kein Motiv und kein „Grauen“, das faszinieren könnte. Die Behauptung, Kachelmann sei ein „Täter“ bzw. „Verbrecher“ werde „in ehrenrühriger Weise und wider besseres Wissen aufgestellt“.

ProSiebenSat.1 bestätigte auf Anfrage, die geforderte Unterlassungserklärung abgegeben zu haben und den Trailer nicht mehr zu zeigen. In der Sendung selbst werde Kachelmann selbstverständlich in keiner Weise als Verbrecher dargestellt.

Kachelmann behält sich vor, eine Geldentschädigung zu verlangen.

Das Unwetter, Kachelmann, der WDR — und der Fluch der Routine

Der WDR will künftig bei drohenden Unwettern seine Zuschauer mit Einblendungen im laufenden TV-Programm warnen. Das ist eine Lehre, die der Sender aus den Abläufen am Pfingstmontag gezogen hat. Mehrere Menschen in Nordrhein-Westfalen waren an diesem Tag bei außerordentlich heftigen Unwettern ums Leben gekommen; Kritiker wie Jörg Kachelmann hatten dem WDR vorgeworfen, dafür eine Mitverantwortung zu tragen, weil er in seinen Programmen nicht angemessen gewarnt habe.

Ein Sendersprecher sagte mir auf Anfrage: „Im Rückblick wäre ein Crawl“, also ein Laufband am Bildschirmrand, „am Abend im WDR Fernsehen besser gewesen. Das haben unsere Fernsehkolleginnen und -kollegen so nachbesprochen und werden es künftig in vergleichbaren Fällen entsprechend handhaben.“

Dass die zu erwartenden Gewitter in der „Aktuelle Stunde“ am Montag eher routiniert wegmoderiert wurden, lag angeblich aber auch daran, dass die aktuelle Unwetterwarnung des Deutschen Wetterdienstes für den Abend erst um 19.32 Uhr gekommen sei, also kurz nach dem Ende der „Aktuellen Stunde“, so der WDR.

· · ·

Kachelmann hatte am Dienstag den Rücktritt von WDR-Intendant Tom Buhrow gefordert. Er trage eine Verantwortung für den Tod der Menschen im Unwetter.

Durch diese Zuspitzung schaffte er es, das Thema in die Medien zu bringen, die zuverlässig auf das lauteste Krakeele anspringen, selbst wenn sie es gleichzeitig als bloßes Krakeele abtun. Es ist der pure, besinnungslose, unausweichliche Reflex.

Andererseits verhinderte Kachelmann durch die Art der Zuspitzung natürlich eine fruchtbare Auseinandersetzung. Es war damit getan, leicht kopfschüttelnd seine Kritik zu zitieren und die vergleichsweise sachlich klingende Antwort des Senders zu zitieren.

Dabei ließ die einige Fragen offen. „Der WDR hat am Pfingstmontag ab 6 Uhr morgens durchgehend Unwetterwarnungen und Schlechtwetterprognosen gemeldet“, erklärte der Sender. „Durchgehend“? Was heißt denn „durchgehend“?

Die Antwort ist eher ernüchternd: Halt immer wieder im Wetterbericht, am Ende der Nachrichten.

Das klang in den 6-Uhr-Nachrichten zum Beispiel so:

„Der deutsche Wetterdienst warnt zur Zeit vor Unwettern in ganz NRW. Von Westen können schwere Gewitter, Starkregen und Hagelschlag aufziehen. Ansonsten wird es wieder sehr sonnig, bei bis zu 34 Grad. Nachmittags und abends können sich örtlich wieder Gewitter mit Hagel und auch schweren Sturmböen bilden.“

Ja, das ist eine Unwetterwarnung. Nein, ich glaube nicht, dass irgendjemand, der das im Radio hört, dadurch in irgendeiner Weise alarmiert wird. Das ist halt der Wetterbericht. Man überlegt sich danach bestenfalls, ob man noch einen Ersatzort für die Grill-Verantstaltung hat, denn es „können“ sich ja „örtlich wieder Gewitter mit Hagel“ bilden.

Das Adjektiv „örtlich“, das seit dem Verschwinden lokaler Telefonbücher in der deutschen Sprache fast ausschließlich in Wetterberichten lebt, nimmt jeder Warnung die Bedrohlichkeit — wer wohnt da schon? („Wo soll es gewittern?“ — „Örtlich.“ — „Ach, na dann.“)

Ich glaube, dass der Streit zwischen Kachelmann und dem WDR jenseits der Wetter-Sache viel mit einem grundsätzlichen Medien-Phänomen zu tun hat: der Routine. Der Formatierung und Gleichförmigkeit, der Konfektionierung und Belanglosigkeit.

Nehmen wir den „WDR-Check“ von letzter Woche. Man würde beim Betrachten einer solchen Sendung nicht erkennen, ob es zum Beispiel heftige Kritik gab an der Ukraine-Berichterstattung der ARD, ein massives Unbehagen. Es wird alles professionell wegmoderiert, jeder nur eine Frage, fassen Sie sich bitte kurz, na, wir können ja nach der Sendung vielleicht nochmal darauf zurückkommen, und jetzt Musik! Dass eine solche Sendung nicht nur stattfindet, sondern in ihr etwas passiert, ist weder vorgesehen noch erwünscht.

Die Leute vom WDR-Fernsehen und insbesondere von der „Aktuellen Stunde“ sind Meister im professionellen Konfektionieren. Die ganze Verpackung, das Synchronkartenhalten, das perfekt einstudierte und vorgetragene Doppel-Geplauder poliert jeden informativen Inhalt zu einem glatten, hochglänzenden Nichts.

Schauen Sie sich da einmal den Wetterbericht an, mit dem gut gelaunten Geplänkel zwischen Moderatorin oder Moderator im AKS-Studio und Wettermensch im Nachrichtenstudio. Es geht da nur sehr am Rande darum, Informationen zu vermitteln. Es geht um kuscheliges Wohlfühlfernsehen, berechenbar, wiedererkennbar.

Nun gab es aber am Pfingstmontag eh nur eine Rumpfausgabe der „Aktuellen Stunde“ und nur eine Kurzausgabe des Wetterberichtes. Wörtlich hieß es darin:

„In der Nacht, da gibt es Regen, auch heftige Gewitter, Hagel und Sturmböen sind drin. Später klart es auf. Die Temperaturen: Ja, es bleibt mild, 21 bis 16 Grad. Es kühlt also wenig ab. Morgen am Dienstag dann sommerlich und wieder schwül warm. Erste Gewitter am Vormittag. Nachmittags und abends wieder heftige Gewitter; Hagel und Sturmböen möglich. Temperaturen 26 bis 30 Grad, an der Weser auch bei 32 Grad. Am Mittwoch auch Gewitter, später dann vom Münsterland her Sonne. 22 bis 26 Grad, es ist nicht mehr ganz so warm. Donnerstag und Freitag heiter und trocken und angenehm warm.“

Irgendein Wetter halt, wie jeden Tag.

Vorher hatte es einen Filmbeitrag gegeben, in dem ein Meteorologe sagte, man könne „erst einige Stunden vorher“ warnen, welche Regionen am Abend konkret von Unwetter bedroht sei. Das war also lange aufgezeichnet, denn inzwischen war es ja Abend bzw. „einige Stunden vorher“, aber offenbar sah niemand einen Anlass, genau jetzt noch einmal nachzufragen.

Alles business as usual. Keine Spur von dem Gedanken, dass man in dieser Sendung nicht nur irgendwelche Berichte machen könnte, sondern ihnen relevante, wichtige Informationen übermitteln müsste.

Richtig ist aber auch, dass die Wetterberichte im Radio im Laufe des Montags eine besondere Dringlichkeit entwickelten. Zum Beispiel um 14 Uhr:

„Der deutsche Wetterdienst warnt vor Unwettern. Im Rhein-Sieg-Kreis, im Raum Bonn und von Köln über Düsseldorf in Richtung Nordost ziehen schwere Gewitter mit Starkregen, orkanartigen Böen und Blitz- und Hagelschlag. Straßen und Keller können überflutet werden.“

16 Uhr:

„Der deutsche Wetterdienst warnt weiter vor Unwettern. Im nördlichen Münsterland kommt es zu schweren, im südlichen Ostwestfalen zu extrem schweren Gewittern mit Starkregen, großem Hagel und schweren Sturmböen um 110 km/h.“

Und trotzdem: Das ist der Wetterbericht. Das ist der Ort, an dem das Wetter stattfindet, wenn es normales Wetter ist. Ich habe den WDR gefragt, ob er auch außerhalb dessen auf das drohende Unwetter hingewiesen und Empfehlungen für angemessenes Verhalten gegeben hat. Die Antwort:

Das WDR Radio hat vielfältig und aktuell reagiert. Auf drohende Unwetter wurde mehrfach zu Beginn der Nachrichten im Kurzüberblick hingewiesen, also an sehr prominenter Stelle. (…) Den ganzen Tag über gab es Wettergespräche und moderative Hinweise, in denen mögliche Unwetter thematisiert wurden, vor allem auf unserer aktuellen Welle WDR 2. Am Abend — als der Sturm los ging — hat WDR 2 sein Programm umgestellt und neben den üblichen Reporterberichten, auch direkt die betroffenen Menschen ins Programm eingebunden — dies geschah auch unter Beteiligung der vielen Einträge in den sozialen Netzwerken. (…)

Was Empfehlungen angeht: Es gab zum Beispiel Hinweise im Hörfunk wie: in Häuser oder Autos gehen, nicht unter Bäume stellen, Sachen rein räumen. Generell sind wir im Programm zurückhaltend mit solchen Hinweisen, weil es gerade im Sommer viele Unwetterwarnungen gibt.

Auch wdr.de habe vor den Unwettern gewarnt — ein Text von der Startseite, den mir der WDR als Beleg geschickt hat, wurde allerdings so angeteasert:

Das Wetter an Pfingsten
Tropenhitze mit Blitz und Donner

Heiß bis feucht-schwül präsentiert sich das Wetter in NRW auch heute. Deshalb kann es wie gestern im ganzen Land immer wieder mal schwere Gewitter geben. Und ein neuer Temperaturrekord für dieses Jahr ist ebenfalls drin.

Wenn das die Warnungen des WDR vor Unwettern sind, ist es kein Wunder, wenn sich die Menschen nicht gewarnt fühlen. Aber, hey, vielleicht Temperaturrekord!

Der Einsatz eines Crawls im WDR-Fernsehen in solchen Situationen mag wie eine läppische Kleinigkeit wirken. Aber er hat die Chance, Wirkung zu zeigen, weil er den Zuschauern symbolisiert, dass etwas Besonderes passiert, etwas Ungewöhnliches, das — im Gegensatz zur „Aktuellen Stunde“ — ihre Aufmerksamkeit verlangen könnte.

Die Löwenmutter und der böse Wolf

Anfang der Woche bekam ich eine Interview-Anfrage vom Medienmagazin „Zapp“. Sie wollten sich in der Sendung in dieser Woche Frau Kachelmann widmen und ihrer Rolle im Medienspektakel um Herrn Kachelmann: „Wie tritt sie auf, warum, woher nimmt sie ihre Selbstsicherheit, warum macht sie seine Sache zu ihrer?“ In den gemeinsamen Interviews der beiden sei den „Zapp“-Leuten unter anderem aufgefallen, dass Frau Kachelmann oft das Wort ergreife, wenn Herr Kachelmann gefragt werde.

Das geht natürlich gar nicht: Dass Ehefrauen einfach für ihre Ehemänner antworten. Sowas hätte es früher nicht gegeben, und wenn es das heute gibt, ist das natürlich ein dringender Auftrag für das Medienmagazin des NDR, dieser Absonderlichkeit auf den Grund zu gehen.

Ich habe „Zapp“ geantwortet, dass ich Miriam Kachelmann nicht kenne. Dass ich über alle in der Anfrage genannten Fragen spekulieren müsste. Dass ich aber nicht wüsste, warum ich das tun sollte.

Es haben sich dann glücklicherweise andere Leute gefunden. Christopher Lesko, der Leiter der Pferdeakademie Berlin. Und ein Experte für Krisenkommunikation. (mehr …)

Was Günther Jauch alles egal ist

Vielleicht könnten wir uns als Mindestanforderung für öffentlich-rechtliche Moderatoren darauf einigen, dass sie nicht so ahnungslos sein sollten wie Hans-Hermann Tiedje. Das Problem ist, dass Günther Jauch selbst diese Latte reißt.

Ich wünschte mir, man könnte ein Experiment machen und jemandem, der das deutsche Fernsehen nicht kennt, die „Günther Jauch“-Sendung vom vergangenen Sonntag zeigen. Und ihm dann sagen, dass der Moderator der berühmteste deutsche Fernsehmoderator ist, und dass die ARD Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, um ihn diese Show auf diesem Sendeplatz moderieren lassen zu können. Und dann sehen, wie groß der Unglaube ist.

Am Montag sagte der ARD-Chefredakteur Thomas Baumann zu dpa, man werde aus dem kritischen Echo auf die Jauch-Sendung mit Jörg Kachelmann „keine Lehren ziehen, weil wir unsere redaktionelle Linie für richtig erachten“.

Andreas Zaik, Chefredakteur und Geschäftsführer von Jauchs Produktionsfirma, suggerierte, dass man aus Kritik ohnehin nichts lernen könnte, weil unterschiedliche Kritiker ja unterschiedliche Meinungen hätten. Und gerade die Diskussion um den Fall Kachelmann habe gezeigt, dass es „keine allgemeingültige ‚Wahrheit‘ gibt und jeder Standpunkt einem bestimmten Blickwinkel geschuldet ist. Diese Argumente, durch den Moderator strukturiert, gerade in ihrer Widersprüchlichkeit zuzulassen, ist Aufgabe der Sendung.“

Ach?

Am Sonntag behauptete der Boulevard- und PR-Mann Hans-Hermann Tiedje bei „Günther Jauch“, dass der Fernsehmoderator Andreas Türck im Gegensatz zu Jörg Kachelmann vom Vorwurf der Vergewaltigung wegen erwiesener Unschuld freigesprochen wurde. Kachelmann widersprach. Und Strukturator Jauch ließ beide Argumente in ihrer Widersprüchlichkeit zu.

Die Wahrheit, sie liegt hier nicht irgendwo in der Mitte. Sie ist auch nicht einem bestimmten Blickwinkel geschuldet. Kachelmann hat Recht, Tiejde hat Unrecht.

Wäre es zuviel verlangt, wenn ein Moderator das wüsste? In einer Diskussion zum Thema „Was ist ein Freispruch wert“, zwei Tage, nachdem Andreas Türck seine Rückkehr auf den Bildschirm angekündigt hat?

Kachelmann sagte, er habe „Hundert und noch mehr Verfahren“ gegen Medien geführt. Tiedje sagte, es waren „höchstens fünf“, weil Kachelmann jeden einzelnen Fall mit der Zahl der Medien multipliziert habe. Tja, das muss man wohl in seiner Widersprüchlichkeit so stehen lassen, wenn das die Aufgabe der Sendung ist (und gerade nichts passendes auf der Moderationskarte steht). Sonst könnte man das Buch von Kachelmann gelesen haben und wissen, dass es sich tatsächlich um viele Dutzend verschiedene einstweilige Verfügungen handelt.

Wäre es zuviel verlangt, von der am wichtigsten gemeinten Talkshow im deutschen Fernsehen zu erwarten, dass sie ihre Zuschauer ein bisschen klüger machen will? Der Jauch-Sendung vom vergangenen Sonntag ist das in spektakulärer Weise nicht gelungen, und die Äußerungen von Baumann und Zaik verstärken den Eindruck, dass sie es nicht einmal versuchen wollte.

Man hätte sonst zum Beispiel darauf verzichtet, einen Heini wie Hans-Hermann Tiedje einzuladen, der nichts mit dem Fall zu tun hat, der Wenigerwissen durch Lautermeinen kompensiert und der die bequeme Position hat, stellvertretend für seine Kumpel von „Bild“ Kachelmann angreifen zu können, ohne sich für das Handeln von „Bild“ rechtfertigen zu müssen.

Aber das Problem ist natürlich nicht Tiedje. Das Problem sind Jauch und seine Redaktion. Jauch erweckte zum Beispiel in der Sendung den Eindruck, Kachelmann dürfe das angebliche Opfer nicht der „Falschbeschuldigung“ bezichtigen, dabei gibt es nach Angaben von Kachelmanns Anwalt bisher kein entsprechendes Verbot.

Jauchs Redaktion machte nicht nur den Fehler, den falschen Anwalt von Kachelmanns Beschuldigerin Claudia D. einzublenden. Sie stellte auch die Ergebnisse einer Studie falsch dar, mit der Jauch die Behauptung Kachelmanns widerlegen wollte, dass Falschbeschuldigungen von Frauen in Vergewaltigungsfällen ein weit verbreitetes Problem seien.

In einem Einspielfilm sagte der Off-Sprecher:

Die Fakten: Eine von der EU in Auftrag gegebene Studie der London Metropolitan University geht für Deutschland davon aus, dass nur etwa vier Prozent aller angezeigten Vergewaltigungen Falschbeschuldigungen sind.

Das ist falsch. Das sagt die Studie nicht, und das sagt insbesondere die Grafik aus der Studie nicht, die „Günther Jauch“ zeigt. Die eingekringelte „4“ steht in einer Tabelle, die die Überschrift trägt: „Why cases were discontinued before court across case-tracking samples“.

Es geht hier also ausschließlich um (echte oder angebliche) Vergewaltigungsfälle, die eingestellt wurden, bevor sie ein Gericht erreichten. Bei vier Prozent davon war die explizite Begründung der Behörden, dass die Vorwürfe falsch seien. Das besagt die Zahl „4“.

Die Studie weist ausdrücklich darauf hin, dass es sich nicht um eine Schätzung der tatsächlichen Fälle von Falschbeschuldigungen handelt, sondern nur um offiziell als solche gekennzeichnete. Und sie weist auch darauf hin, dass unklar ist, wie viele Falschbeschuldigungen nicht eindeutig als solche erkannt wurden und sich in der Kategorie von Verfahren verbergen, die wegen „ungenügender Beweise“ eingestellt wurden. Das sind (in der gleichen Tabelle angegeben) in Deutschland immerhin 19 Prozent der eingestellten Verfahren.

Tatsächlich kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass die Öffentlichkeit und auch die Ermittlungsbehörden die Zahl von Falschanschuldigungen eher überschätzten, und widerspricht insofern deutlich Kachelmanns These. Was die Redaktion von „Günther Jauch“ ihm aber als „Fakten“ entgegenhält, ist schlicht unwahr.

Man könnte das als Schlamperei abtun, aber nach den Aussagen von Zaik nehme ich an, dass es Desinteresse an der Wahrheit ist, die ja für die Verantwortlichen der ARD-Sendung doch eh nur relativ ist.

Der Sprecher im Einspielfilm sagt weiter:

Im Gegenteil: Die Hemmschwelle, eine Vergewaltigung überhaupt anzuzeigen, sei gewaltig.

Das wird, auch im weiteren Verlauf der Diskussion, als Widerspruch zur Position der Kachelmanns dargestellt. Das ist es aber gar nicht. Jörg Kachelmann behauptet zwar: Eine Mehrzahl der angezeigten Vergewaltigungen hat nicht stattgefunden. Aber er sagt gleichzeitig: Eine Mehrheit der Vergewaltigungen, die stattgefunden haben, wird nicht angezeigt.

Das steht auch so in seinem Buch:

Es ist eine furchtbare Schere: Die Mehrheit der Vergewaltigungen wird nicht angezeigt — die Mehrheit der Anzeigen sind Falschbeschuldigungen.

Hier sind wir nun tatsächlich in einem Bereich, in dem sich die „Wahrheit“ nicht einfach ermitteln lässt. Aber es ließen sich Anhaltspunkte, Annäherungen, Zeugen auftreiben und, ja: widersprüchliche Argumente austauschen. Dazu müsste man aber als Redaktion entsprechende Studien richtig lesen, verstehen und wiedergeben können. Und überhaupt müsste man Kachelmanns These verstehen und richtig wiedergeben. Günther Jauch und „Günther Jauch“ haben das nicht geschafft.

Deshalb mussten sich Miriam und Jörg Kachelmann die Sendung lang nicht nur für das rechtfertigen, was sie behaupten, sondern auch für das, was sie nicht behaupten. Ein guter Moderator, eine gute Redaktion, hätten das verhindert.

Es musste dem unbefangenen Zuschauer auch so scheinen, als seien Kachelmanns Angriffe auf das Mannheimer Gericht nur Auswüchse einer blinden Rachsucht. Das liegt auch an Kachelmann selbst, der sicher nicht der beste Kämpfer in eigener Sache ist. Aber es gibt handfeste Gründe dafür, die Prozessführung skandalös zu finden. Man muss, wenn man sie kennt, nicht Kachelmanns Wut teilen. Aber man muss sie kennen, um über Kachelmanns Wut fundiert urteilen zu können. Ist der Gedanke völlig abwegig, dass eine Talkshow das versuchen könnte? Dass die Vorzeige-Talkshow der ARD das versuchen müsste?

Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass Jauch und seine Redaktion sich für die Wahrheit interessieren und an Tatsachen glauben: Als Grund, auf dem man stehen kann, und von dem aus man dann über Folgen, Ursachen, Interpretationen streitet.

Die Kachelmann-Sendung war vielleicht auch deshalb besonders schlimm, weil Jauch nicht einmal auf dem Gebiet des Menschelns Tritt fand. Er fragte Miriam Kachelmann angesichts der Tatsache, dass sie nach der Festnahme ihres damaligen Freundes erfahren musste, dass er noch andere Frauen hatte, zu Beginn der Sendung allen Ernstes: „Kam Ihnen nicht der Gedanke, naja, wenn der mich schon so belogen hat, dann wird er möglicherweise demzufolge auch eine Vergewaltigung leugnen?“

Die Kachelmann-Sendung war vielleicht besonders schlimm, aber sie war auch typisch. Typisch für die zutiefst unjournalistische Art, eine Sendung zu machen und zu moderieren. Ich habe vor einem Jahr im „Spiegel“ über Jauchs erste Sendungen geschrieben:

Gelegentlich liest er mit großem Ernst Zuschriften von Zuschauern vor wie den Hinweis eines Mannes, man müsse die Frau Merkel doch auch mal loben für ihre Konstanz: „Fragen Sie doch mal zwei Wirtschaftsexperten, und Sie bekommen drei Meinungen.“ Diese Kapitulation vor einem gemeinschaftlichen Versuch, zu verstehen und im Streit die beste Lösung zu finden, steht dank Jauch und seiner Redaktion stolz am Ende einer einstündigen Gesprächssendung mit der Kanzlerin.

Bei dieser Kapitulation ist es bis heute geblieben.

Der Wetter-Astrologe

In Hamburg, Köln und Berlin wurden am 2. Weihnachtstag mehr als zehn Grad gemessen. Es ist warm in Deutschland.

So warm, dass der Online-Auftritt von „Bild“ von einem „Tropenwinter“ spricht. Dabei sind die Temperaturen auch ein persönlicher Affront gegen das Blatt. Offenbar will sich das Wetter partout nicht an den Trend halten, den „Bild“ Ende Oktober vorgegeben hatte:

(Die warmen Tage der vergangenen Woche sind das, was auf der Grafik mit dem tiefsten roten Punkt, der Schneewolke und dem blauen „-12°C“ beschriftet sind.)

Seit einiger Zeit veröffentlicht die „Bild“-Zeitung alle drei Monate solche Langfristprognosen über das Wetter. Sie denkt sie sich nicht selber aus, sondern lässt sie sich ausdenken von den Experten von wetter.net.

Redaktionsleiter von wetter.net ist Dominik Jung. Er bezeichnet sich als „Diplom-Meteorologe und Langfrist-Experte“. Er lässt sich nicht davon beirren, dass seriöse Meteorologen sagen, man könne das Wetter gar nicht für mehrere Monate im Voraus vorhersagen. Er hat vor zehn Jahren ein Langfristmodell entwickelt, das er „Prognostica Magna“ nennt und für einen Erfolg hält.

In publizistischer Hinsicht stimmt das sicher. Jung und sein kommerzieller Wetterdienst, der zur Firma Q.met gehört, schaffen es mit ihren Langfristtrends immer wieder in die Medien. Sie erscheinen nicht nur regelmäßig in „Bild“, Bild.de und „Bild am Sonntag“, sondern wurden u.a. auch von „Focus Online“, „Freier Presse“, „Express“, „Berliner Zeitung“, „tz“, „Wiesbadener Kurier“ und dpa erwähnt.

Aber die Zukunft vorherzusagen, ist leicht. Das Kunststück besteht darin, sie richtig vorherzusagen.

Nun:

  • Für Anfang Dezember 2010 hatte wetter.net in „Bild“ Temperaturen von plus zehn bis 15 Grad vorausgesagt. Tatsächlich herrschte in ganz Deutschland zu dieser Zeit Dauerfrost. Das Land lag unter einer geschlossenen Schneedecke. Auch die außerordentlich schneereichen Tage um Weihnachten herum ließen sich aus der wetter.net-Langfristprognose nicht erahnen.
  • Dafür sagte wetter.net für den Januar Dauerfrost vorher. Nun aber war es vor allem Mitte des Monats sehr mild. Die Temperaturen sanken erst Ende Januar / Anfang Februar — genau in dem Zeitraum, für den wetter.net mildes Wetter vorhergesehen hatten.
  • Der Februar 2011 sollte laut wetter.net klirrend kalt werden. Er war zwei Wochen lang sehr mild.
  • Die Langfristprognose für den Juli: „überdurchschnittlich warm“. Tatsächlich lagen die Temperaturen fast überall unter dem langjährigen Mittel.
  • Für Mitte Juli hatte wetter.net vorausgesehen, dass die Temperaturen die 40-Grad-Marke erreichen; auch der August sollte „heiß und trocken beginnen“. Die Abweichungen zwischen der Vorhersage und der tatsächlichen Temperatur betrugen in diesem Zeitraum teilweise 20 Grad.
  • Dann war da der November 2011 — ein Monat, der eher zu warm war und extrem trocken und der mit außerordentlich hoher Sonnenscheindauer für Furore sorgte. Die Aussichten von wetter.net lauteten: Der „graue Monat“ werde „besonders dunkel ausfallen und auch bei der Sonnenscheindauer unter dem langjährigen Schnitt landen.“
  • Laut wetter.net-Prognose hätte bereits Ende November der Winter beginnen sollen. Für Dezember, Januar und Februar kündigte Dominik Jung einen „schneereichen“ und „knackig kalten“ Winter an. Die Chancen auf weiße Weihnachten stünden gut. Tatsächlich war der Dezember bekanntlich außerordentlich warm; der große Schnee blieb bislang aus.

Natürlich lag Jungs „Prognostica Magna“ keineswegs immer daneben — das wäre aber auch schon rein statistisch nicht anzunehmen.

Jung sagt, seine „Langfristtrends“ seien nicht so genau wie Wettervorhersagen, gäben aber „die Marschrichtung vor“. Gegenüber der Fernsehzeitschrift „Gong“ gab er die Trefferquote dieser „Trends“ mit „65 bis 70 Prozent“ an. Wenn er ein bisschen großzügig rechnet, was noch als „Treffer“ gilt, ist er damit gar nicht so weit von der fünfzigprozentigen Trefferquote entfernt, die ich mit meiner erfundenen „Prognostica Gorilla“ erziele, deren Vorhersagen im Wesentlichen auf einer Auswertung beruhen, ob die tägliche Exkrementmenge eines Dutzend speziell dafür trainierter Affen eine gerade oder ungerade Zahl Pfund wiegt.

Bereits Mitte September hatte Jung für Deutschland den „vierten zu kalten Winter in Folge“ prognostiziert und versucht, den PR-Effekt noch zu verstärken, indem er Fallhöhe und Zahl der Konjunktive erhöhte: Er malte sich aus, was möglicherweise passieren könnte, wenn das, was er aus seinen Karten las, einträfe:

Droht uns diesen Winter der große Blackout?

(…) „Der Jahreszeitentrend unseres Langfristmodells Prognostica Magna geht für die Wintermonate Dezember, Januar und Februar erneut von einem ‚zu kalten‘ Winter aus. (…) Das wäre der vierte zu kalte Winter in Folge und damit eine kleine Sensation.“ (…)

Der kommende Winter könnte somit nach der Projektion von WETTER.NET das von den Strombetreibern angemahnte Szenario schneller wahr werden lassen, als uns lieb ist. Durch die Kälte würde der Stromverbrauch erneut sprunghaft in die Höhe schnellen. Und das nicht nur in Deutschland. Auch unsere unmittelbaren Nachbarn wären betroffen und müssten mit höherem Stromverbrauch rechnen. (…)

Jungs Warnung: Dieser Winter kann ziemlich „heiß“ werden — allerdings nur im übertragenen Sinn! Der Winter startet Ende November und es gibt in Deutschland noch viel zu tun!

(Kann natürlich sein, dass ich Jung unrecht tue und er hier gar nicht PR für seine Firma macht, sondern für die Atomstromlobby der Energiekonzerne.)

Die Leute von wetter.net veröffentlichten sogar eine Infografik, aus der eine genaue „Mitteltemperatur für den Winter in Deutschland“ hervorgeht (minus 1 Grad und damit 1,2 Grad unter dem langjährigen Mittel).

Jung schreibt mir auf Nachfrage, jedes Medium werde von wetter.net bei den Langfristprognosen „ausführlich auf die Unsicherheiten hingewiesen. Wir argumentieren hier immer mit entsprechenden Eintreffwahrscheinlichkeiten.“ Angesichts seiner eigenen Pressemitteilungen, die weitgehend ohne solche Warnungen und Argumente auskommen, ist es unwahrscheinlich, dass das stimmt.

Er räumt ein, dass es „derzeit für meinen Wintertrend in der Tat nicht gut aussieht“ — im Gegensatz zu den drei vorangegangenen Jahreszeiten, bei denen er „durchaus eine gewisse Trefferquote sieht“. Ein abschließendes Urteil über die Winterprognose sei aber erst am 1. März 2012 möglich.

Jung meint deshalb auch nicht, dass seine ausführliche Warnung vor Stromengpässen und Problemen bei der Bahn (die „mächtig in die Bredouille geraten dürfte“) voreilig gewesen sei.

Natürlich kann das alles noch kommen, der Horrorwinter, das Schnee- und Energiechaos, vielleicht Ende Januar, womöglich im Februar, sogar im März. Falls ja, wird Jung das sicher als Beweis dafür verkaufen, dass sein Modell funktioniert. Falls nicht, dann eben den nächsten Frühling, Sommer oder Herbst, wann immer er mal wieder richtig liegt.

Jung legt Wert auf die Feststellung, dass die Langfristprognosen nichts mit den Wettervorhersagen zu tun haben, die sein Unternehmen Medien und anderen Kunden verkauft:

Das Thema Langfristtrend läuft bei uns quasi als kleiner Bereich nebenher. Wir haben dafür in den letzten Jahren ein entsprechendes Modell entwickelt bzw. arbeiten daran. Fertig wird man mit so etwas bekanntlich nie, da man immer nur versuchen kann die Qualität hier und da etwas zu verbessern.

Unsere Trends stellen wir dann kostenfrei allen unseren Kunden regelmäßig zur Verfügung. Wie diese dann weiterverarbeitet werden, obliegt den jeweiligen Redaktionen.

Das klingt nach einem erstaunlichen Konzept: mit kostenlosen halbseidenen Prognosen Aufmerksamkeit zu wecken, um damit Kunden für seriösere Arbeiten zu gewinnen. Falls das funktioniert, dann nur deshalb, weil vielen Medien letztlich egal ist, ob die spektakulären Prognosen von Jung je eintreten. Für sie zählt nur, dass es spektakuläre Prognosen sind. Wer anbietet, was die Konkurrenz nicht anbietet, weil sie es für unseriös hält, hat es nicht schwerer, sondern leichter, in die Medien zu kommen — nicht nur in die „Bild“.

Jörg Kachelmann, dessen Firma Meteomedia ein Konkurrent von wetter.net ist, arbeitet sich auf Twitter schon seit einiger Zeit an Jungs schiefen Prognosen ab. Jung prahlte damit sogar in einer Pressemitteilung und schrieb: „Erst vor kurzem hatte Alt-Wettermann Jörg Kachelmann voller Neid gegen Jung´s erfolgreiche Langfristtrends gewettert.“

Kachelmanns Attacken sorgten im Frühjahr schon einmal für Nachrichten — brachten aber die meisten Journalisten nicht dazu, herausfinden zu wollen, ob vielleicht eine Seite recht hat. Viele Medien interpretierten das einfach als eine Art Zickenkrieg: „Bild am Sonntag“ suggerierte böswillige Rufschädigung und unterstellte „Eitelkeiten“ (und vergaß natürlich den Hinweis, dass man selbst Partei ist weil wetter.net dem Blatt die Wetterdaten liefert).

RTL vermutete sendertypisch gehässig-ahnungslos: „Ist das Neid oder kann der gefallene Wetterkönig Kachelmann seinen Imageschaden nicht verschmerzen?“ und urteilte schlicht: „Jörg Kachelmann sorgt mal wieder für Negativ-Schlagzeilen.“

Ein Wetter-Astrologe, der die Zukunft falsch aus dem Kaffeesatz liest, tut das erstaunlicherweise nicht.

[Offenlegung: Jörg Kachelmann hat hier mal einen Gastbeitrag geschrieben.]

Sonnengrüße von der Tanja May

Jörg Kachelmann hat heute Mittag über Twitter ein Dokument veröffentlicht, das einen interessanten Einblick in die journalistischen Methoden des Burda-Verlages bietet. Es ist nach seinen Angaben eine Nachricht, die die „Bunte“-Chefreporterin Tanja May zusammen mit einem großen Blumenstrauß an eine Zeugin verschickt hat. Darin bat sie die Zeugin darum, sie doch noch vor ihrer Aussage vor Gericht zu treffen.

Leider ist das Foto auf Twitpic jetzt gelöscht worden. Von wem oder warum, weiß ich nicht, jedenfalls nach Kachelmanns Angaben nicht von ihm selbst.

So sah das aus:


(Verpixelung von Handynummer und E-Mail-Adresse von mir.)

Kachelmann twittert dazu:

Wann wird man durch Hubert Burda befördert?

Wenn man solche Telegramme mit gaaaanz viel Blumen an Zeuginnen schickt. Man beachte: Erst zu BUNTE, dann Gericht. http://twitpic.com/586fia

Huberts bunte Blumen wurden gegen Ende August verschickt. Woher kannte Burdabunte die Ladungsliste des Gerichts?Woher die Zeuginnenadressen

Zur Vorgeschichte: Die „Bunte“ hatte drei Zeuginnen bis zu 50.000 Euro dafür bezahlt, noch vor der Hauptverhandlung in der Illustrierten ausführlich gegen Kachelmann auszusagen, und war vom Gericht dafür gerügt worden. „Bunte“-Chefredakteurin Patricia Riekel, die die einseitige Berichterstattung ihres Blattes „ausgewogen und neutral“ nannte, hatte gegenüber der FAZ erklärt, es habe sich um Standardverträge gehandelt, wie sie „in allen Redaktionen üblich“ seien. Der Verdacht, Zeuginnen zu manipulieren, sei „ehrverletzend und diskriminierend“.

Kachelmann hat bereits mehrmals auf Twitter auch Paparazzi gezeigt, die er fotografierte, während sie ihm auflauerten. Da er inzwischen weder auf einen Ruf als Sympathieträger noch auf das Wohlwollen der Medien Rücksicht nehmen muss, kann er fast ungehemmt die Auswüchse des Spektakels um ihn herum dokumentieren. Das können bemerkenswerte Einblicke in den journalistischen Alltag in Blättern wie der „Bunten“ werden — wie die Fleurop-Recherche von Tanja May.

Nachtrag, 21:15 Uhr. Die Tanja May schrieb laut NDR-Medienmagazin „Zapp“ übrigens bereits im März 2010 auch an das angebliche Opfer:

Wie ich Ihnen schon mehrfach geschrieben habe, habe ich Ihnen von Anfang an geglaubt, was Herr Kachelmann Ihnen angetan hat. [...] Sonnengrüße schickt Ihnen die Tanja May.

[via Theo in den Kommentaren]

Herdentriebtäter

Die elementarste Aufgabe [der Medien], das Doppelleben des netten Herrn Kachelmann zu enthüllen, war lange vor Prozessbeginn erledigt.

Schreibt Georg Altrogge, Chefredakteur des Braanchendienstes „Meedia“.

Auf mehrmalige Nachfrage von Kommentatoren, ob er (sinngemäß) noch alle Vokale im Alphabet hat, begründet Altrogge diese Definition der „elementarsten Aufgabe“ mit der „Medienrealität“:

Nennen Sie mir ein Leitmedium, das nicht detailreich über eben dieses Thema berichtet hätte. Und natürlich gehört es zu den Aufgaben der Medien, bei prominenten Personen im Zusammenhang mit einem öffentlich geführten Gerichtsverfahren auch über diese Dinge zu berichten. Das war nie anders und wird nie anders sein. Niemand, der in der Branche operativ Verantwortung trägt, würde diesen Grundsatz ernsthaft in Zweifel ziehen.

Bereits vor einem Jahr hatte Altrogge in ähnlichem Zusammenhang erklärt, dass es „rufschädigend für den Journalismus“ sei, auch nur öffentlich darüber nachzudenken, ob es nötig ist, sich an der rufschädigenden Berichterstattung über einen möglicherweise Unschuldigen zu beteiligen. Er kommentierte damals im Blog von Michalis Pantelouris:

Ich kapiere das nicht: Ganz Deutschland diskutiert über den Fall Kachelmann, und Herr Pantelouris würde all das gern wegzensieren. Damit steht er außerhalb der Leitmedien wie Spiegel & Co. Wer so denkt, sollte sich vielleicht einen anderen Job suchen, denn mit Journalismus hat eine solche Einstellung m.E. nichts zu tun.

Ich glaube ihm inzwischen, dass er das wirklich nicht verstehen kann. Vielleicht ist es ein genetischer Defekt. Er kann sich nicht vorstellen, dass das, was alle tun, falsch sein kann. Leitmedien, glaubt Altrogge, heißen Leitmedien, weil man sich danach richten kann, soll und muss, was sie tun.

Er ist nicht nur ein überzeugter Mitläufer. Er verklärt das Mitlaufen zur höchsten Pflicht und Tugend.

Und wenn alle Medien, wie unter Zwang, im Privatleben eines Prominenten wühlen, dann muss das wohl, ja: ihre „elementarste Aufgabe“ sein.

(Ich versuche wirklich, „Meedia“ nicht mehr zu lesen. Ich habe alle Feeds aus meinem Feedreader gelöscht. Aber dann schicken mir Leute sowas per Mail und ich kann mir nicht helfen.)

Vorgerichterstattung und Nachverurteilung: Das Kachelmann-Urteil im Fernsehen

Reporterin: Wieso äußert sich Herr Kachelmann denn jetzt nicht vor der Presse?

Anwalt Johann Schwenn: Warum sollte er das tun? Damit Sie ihn fragen, wie es ihm geht?

* * *

Eines muss man den n-tv-Leuten lassen: Sie schaffen es, ihre eigene Hölle anzumoderieren, als sei sie das Paradies.

Stolz und Vorfreude spiegeln sich im Gesicht von Moderator Ulrich von der Osten, als er um 8.30 Uhr eine Sondersendung zum Kachelmann-Prozess mit den Worten eröffnet:

„Um 9 Uhr verkündigt die Strafkammer des Landgerichts Mannheim das Urteil gegen den ehemaligen Wettermoderator, und wir werden ganz viel bis dahin auch schon nach Mannheim schalten.“

Natürlich hatte n-tv auch zuvor schon „ganz viel“ nach Mannheim geschaltet, zu einem routinierten und doch bemitleidenswerten Reporter namens Thomas Präkelt. Erst dreizehn Minuten zuvor hat der Moderator ihn gefragt: „Wann werden die ersten Beteiligten im Gerichtsgebäude erwartet?“ Und Präkelt hat die Schlange von Zuschauern vor dem Gebäude gezeigt und die „relative Leere“ im Foyer: „Es sind also noch nicht so viele Kollegen reingekommen“, stellt er fest, als hätte das irgendeine Bedeutung für ihn, die Zuschauer, Jörg Kachelmann, das Gericht, die Welt.

* * *

Das tollste und schlimmste an Tagen wie diesen ist immer die Vorberichterstattung im Fernsehen. Der Zuschauer ist das von Sportereignissen so gewohnt, dass man nicht erst anfängt, wenn es losgeht, und für einen Sender wie n-tv ist so ein Prozess („einer der aufsehenerregendsten in der deutschen Nachkriegsgeschichte“) auch nichts anderes als ein Sportereignis. Konsequenterweise bezeichnet n-tv die Urteilsverkündung als „Finale“ im Kachelmann-Prozess.

8.32 Uhr, Nachfrage beim Reporter: „Thomas, was tut sich denn bei Ihnen? Herrscht so kurz vor dem Urteilsspruch weiter reger Andrang?“ Man wünschte sich, er antwortete nur einmal: „Nein, Ulrich, die Leute sind jetzt plötzlich alle nach Hause gegangen, um sich das lieber im Fernsehen anzusehen.“

Er weiß zu berichten, dass Kachelmann „in wenigen Minuten in die Tiefgarage des Landgerichtes einfahren wird“. Er habe den Kopf wieder auf die Hand gestützt, so dass man sein Gesicht nicht so gut erkennen könne: „Auch an diesem letzten, finalen Tag hat er sich der Öffentlichkeit verweigert.“ Im Gerichtssaal sei jede Form von elektronischen Gerät verboten, mit dem man die Urteilsverkündung aufnehmen könne, was streng kontrolliert werde, erzählt Präkelt und weiß auch wieso: „Ich glaube, dass YouTube und andere Verbreitungswege sehr dankbar wären, wenn es sowas gäbe.“ YouTube und andere Verbreitungswege, natürlich.

Zwei Stunden später wird der n-tv-Kameramann hinter dem Wagen hinterherlaufen, in dem Kachelmann und zwei seiner Anwälte sitzen. „Jeder versucht natürlich, jetzt nochmal ein Foto von Jörg Kachelmann in Freiheit zu bekommen“, erklärt Präkelt. Der n-tv-Kameramann beweist in dem ganzen Chaos besondere Sprintqualitäten, erwischt den Wagen noch einmal an der nächsten Kreuzung und filmt erneut ins Innere. Präkelt kommentiert: „Zufrieden, aber auch auf der Flucht vor der Öffentlichkeit, fährt Kachelmann jetzt nach 43 Verhandlunngstagen in die Freiheit.“

Wohin genau, weiß er nicht zu sagen, es klingt aber so, als hätte Kachelmann noch eine Verabredung mit dem Sonnenuntergang – und wer, wenn nicht Kachelman, wüsste, wo der zu treffen ist?

Etwas später, in „Punkt 12“, nutzt Moderatorin Katja Burkard die Gelegenheit, in dieser wichtigen Sache noch einmal nachzuhaken: „Thomas, wo ist Jörg Kachelmann jetzt? Was wird er heute und in den nächsten Tagen tun, was meinen Sie?“ Thomas Präkelt weiß es nicht, meint aber:

„Er wird sich jetzt natürlich Ruhe gönnen. Er wird auch seine Frau wiedersehen wollen und einige Tage der Ruhe seien ihm auch zu gönnen nach diesem Freispruch.“

Es bleibt unklar, was der RTL- und n-tv-Mann meint, wo Kachelmann in den vergangenen Monaten eingekerkert war.

* * *

Bei der Konkurrenz von N24 ergibt sich nach der Urteilsverkündung die verwirrende Situation, dass der Sender zu seiner Reporterin schaltet, die vor dem Gerichtsgebäude steht und deshalb leider noch nicht die Frage beantworten kann, wie genau das Gericht denn seine Entscheidung begründet habe. Gleichzeitig sieht man aber auf dem Split-Screen, wie Menschen vor dem Saal, aus dem sie gerade gekommen sind, genau das erzählen. Man sieht sie, aber man hört sie nicht, denn zu hören ist ja die N24-Moderatorin draußen. Bis die Regie sich endlich entschließt, sie einfach für den Moment rabiat vom Sender zu nehmen.

* * *

Aus Berlin ist bei n-tv, wie so oft, der Medienbewohner Jo Groebel zugeschaltet. Vor der Urteilsverkündung fragt ihn die Moderatorin, ob in der Berichterstattung über den Prozess oft über das Ziel hinausgeschossen wurde. Groebel antwortet:

„Ganz ehrlich? Ich möchte auch da mit meinem Urteil etwas zurückhaltend sein.“

Um unmittelbar hinzuzufügen:

„Aber mein Eindruck ist, dass hier sehr häufig übers Ziel hinausgeschossen wurde. Ich fand’s, ganz ehrlich, atemberaubend.“

Groebel hat irgendwas mit Medien studiert, deshalb kann er fundiert analysieren, warum dieser Prozess die Menschen und Medien so bewegt hat:

„Sex & Crime, das ist jetzt sehr flapsig formuliert, aber sehr ernst gemeint, Sex & Crime ist natürlich immer etwas, das sehr, sehr, sehr interessant für Menschen ist.“

Das klingt vielleicht banal. Andererseits hätte eine Fernsehserie mit dem Arbeitstitel „Dinge, die sich Jo Groebel vorstellen kann“ durchaus große surreale Momente:

„Ich kann mir gut vorstellen, dass [Kachelmann] im Sinne einer Fast-Rehabilitation auch für sich selbst durchaus vor die Kamera strebt. Nicht als der nette Mann, aber vielleicht als ein Talkmaster für eine Gesprächsrunde, in der schwere menschliche Dramen herauskommen. Und da weiß er dann wahrlich, was er fragen muss und wovon er spricht.“

* * *

Einig ist sich Groebel dennoch mit ungefähr allen Fernsehleuten, dass Kachelmann trotz oder wegen des Freispruchs, den insbesondere RTL konsequent als „Freispruch zweiter Klasse“ bezeichnet, erledigt ist:

„Kachelmann hat nicht nur einen Karriere-Knick, der hat einen kompletten Karriere-Einbruch, eine Karriere-Katastrophe erlebt.“

ZDF-Vormittags-Frau Nadine Krüger formuliert in „Volle Kanne“ volle Kanne:

„Gibt es eine Entschädigung für den verlorenen Ruf? Die Karriere ist ja nun hin, das kann man ja so sagen.“

Bei n-tv wusste die Moderatorin das schon morgens um sechs in den (offenkundig aufgezeichneten) Nachrichten:

„Eines ist klar: Ob das Ergebnis nun gut oder schlecht ausfällt für Kachelmann – Spott und Verachtung werden bleiben.“

Es ist eine typische Form einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Je häufiger Medien behaupten, dass Kachelmanns Rückkehr auf den Bildschirm undenkbar ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass das schließlich auch stimmt.

* * *

Aber für irgendeine Form von Selbstreflexion ist an diesem Vormittag keine Zeit, geben wir lieber noch einmal zu Thomas Präkelt, der vor dem Gerichtssaal gerade in Bezug auf Kachelmanns Anwalt Johann Schwenn formuliert:

„Verteidigung ist Krieg.“

Und Medienberichterstattung, mutmaßlich, auch. Bei RTL gibt man sich jedenfalls alle Mühe, den Eindruck zu erwecken, Kachelmann sei jedenfalls ein Täter. Gleich in der ersten Minute von „Punkt 12“ heißt es zweimal: „Sie konnten ihm die Tat nicht nachweisen“ bzw.: „Man konnte ihm die Vergewaltigung nicht nachweisen“ – so als habe sie zweifellos stattgefunden.

Die Zusammenfassung des Prozessverlaufes ist dann bemerkenswert:

Off-Sprecher: Zuerst sah es so aus, als würde sich die Schlinge um [Kachelmanns] Hals immer weiter zuziehen. Reinhard Birkenstock war Kachelmanns Verteidiger. Doch er hatte immer wieder Probleme, seinen Mandanten als glaubwürdig darzustellen.

Birkenstock: Dieser Prozess (…) wird zu dem Ergebnis kommen, dass Jörg Kachelmann unschuldig ist.

Off-Sprecher: Obwohl genau das jetzt eingetroffen ist: Kachelmann ist offenbar unzufrieden, wechselt den Anwalt.

Das ist eine hübsche Verrückung des Zeit-Kontinuums sowie der Kausalitäten: Obwohl Kachelmann heute freigesprochen wurde, hat er damals den Anwalt gewechselt.

Weiter im Text:

„Kachelmann punktet immer mehr. Und die Nebenklägerin, das angebliche Opfer Sabine W., gerät, wie es aussieht, immer mehr in die Situation, beweisen zu müssen, dass sie Opfer ist.“

Sie geben sich bei RTL also offensichtlich Mühe, dass die vorproduzierten Beiträge sich nicht zu positiv von den hektischen Live-Berichten absetzen. Und Katja Burkard formuliert den hübschen Satz:

„Dann stürmen Journalisten aus dem Saal, um die Nachricht wie ein Lauffeuer zu verbreiten.“

* * *

Bei n-tv hatte sich die Moderatorin, als alles vorbei war und alle alles gesagt hatten, von dem Reporter mit den Worten verabschiedet:

„Vielen Dank für den Moment. Und wir behalten die Lage in Mannheim natürlich weiter im Auge.“

Man weiß nicht, was da noch hätte passieren können. Aber als Abmoderation passt das natürlich immer. Ob da in Mannheim ein Haus brennt, ein Kind weint oder ein Prozess zuende geht.